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Ein altes Hotel, der mysteriöse Tod eines Zimmermädchens und ein verschollenes Gemälde Helena hat alles verloren: Ihre Zukunft als talentierte Ballerina, ihre große Liebe und die Unabhängigkeit. Inzwischen ist sie arbeitslos und lebt am Existenzminimum. Als sie endlich einen Job als Zimmermädchen erhält, scheint sich das Schicksal zu wenden. Nur soll sie ausgerechnet in dem Schweizer Hotel arbeiten, dessen Besitzer vor vielen Jahren ihr Leben zerstört hat. Doch Helena hat keine Wahl, sie braucht den Job. Eines Tages erfährt sie im Hotel von dem tragischen Schicksal eines 1942 ermordeten Zimmermädchens. Der Mord scheint mit einem verschollenen Gemälde zusammenzuhängen. Helena beschließt, dem Rätsel auf den Grund zu gehen und das Gemälde zu suchen, doch auch der attraktive Krimiautor Noah ist ihm bereits auf der Spur. Als Noah Helena um einen Gefallen bittet, droht ein jahrelang gehütetes Geheimnis ans Licht zu kommen. Meinungen zum Buch: Ein Buch was einen Eindruck hinterlässt, und welches ich nicht so schnell vergessen werde. (Rezensentin auf Vorablesen) Dieser Roman hat mich wirklich von der ersten Minute an gefesselt, es hat mir richtig Spaß gemacht, das Leben der Familien zu erkunden und hinter das Geheimnis zu kommen. Ich war sogar ein bisschen traurig, dass das Buch nun zu Ende war. Diese Autorin muss ich mir unbedingt merken! (Rezensentin auf Vorablesen) Dieses Buch macht süchtig und ich war nicht fähig, mit dem Lesen aufzuhören. Es ist wirklich ein niveauvoller Bestseller mit viel Humor, Ironie und Kritik. (Rezensentin auf Vorablesen) Von Christine Jaeggi sind bei Forever by Ullstein erschienen: Das Geheimnis der Muschelprinzessin Unvollendet Das Gemälde der Tänzerin
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Seitenzahl: 563
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das Gemälde der Tänzerin
Christine Jaeggi, geboren 1982, lebt mit ihrem Partner in der Schweizer Stadt Luzern. In ihrer Freizeit treibt sie gerne Sport, liest viel und – schreibt! Schon als kleines Mädchen hat sie es geliebt, Geschichten zu erfinden und brachte diese damals in Form von Comics aufs Papier. Als Teenager gründete sie eine Jugendzeitschrift, für die sie viele Stunden an ihrer uralten Schreibmaschine saß. Eine Diskussion über Wundercremes inspirierte sie zu ihrem Debütroman »Fatale Schönheit«, der 2015 mit dem ersten e-ditio Independent Publishing Award ausgezeichnet wurde. Sie schreibt spannende Liebesgeschichten, in denen familiäre Beziehungen eine große Rolle spielen, und lässt gerne historische Begebenheiten einfließen. Wie auch in »Das Geheimnis der Muschelprinzessin« oder »Unvollendet«.
Ein altes Hotel in der Schweiz, der mysteriöse Tod eines Zimmermädchens und ein verschollenes Gemälde
Helena hat alles verloren: Ihre Zukunft als talentierte Ballerina, ihre große Liebe und die Unabhängigkeit. Inzwischen ist sie arbeitslos und lebt am Existenzminimum. Als sie endlich einen Job als Zimmermädchen erhält, scheint sich das Schicksal zu wenden. Nur soll sie ausgerechnet in dem Schweizer Hotel arbeiten, dessen Besitzer vor vielen Jahren ihr Leben zerstört hat. Doch Helena hat keine Wahl, sie braucht den Job. Eines Tages erfährt sie im Hotel von dem tragischen Schicksal eines 1942 ermordeten Zimmermädchens. Der Mord scheint mit einem verschollenen Gemälde zusammenzuhängen. Helena beschließt, dem Rätsel auf den Grund zu gehen und das Gemälde zu suchen, doch auch der attraktive Krimiautor Noah ist ihm bereits auf der Spur. Als Noah Helena um einen Gefallen bittet, droht ein jahrelang gehütetes Geheimnis ans Licht zu kommen.
Von Christine Jaeggi sind bei Forever by Ullstein erschienen:Das Geheimnis der MuschelprinzessinUnvollendetDas Gemälde der Tänzerin
Christine Jaeggi
Roman
Forever by Ullsteinforever.ullstein.de
Originalausgabe bei ForeverForever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2019 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung:zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-95818-374-2
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorwort
Figurenübersicht Gegenwart
Figurenübersicht Vergangenheit
Erster Akt
Die Tänzerin im Regen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Zweiter Akt
Das Gemälde der Tänzerin
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Ballett-Glossar
Danke
Anhang
Leseprobe: Unvollendet
Empfehlungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort
Bereits an dieser Stelle möchte ich mich bei meinen sechs Zeitzeugen bedanken. Durch ihre Erzählungen durfte ich in ein Luzern der Dreißiger-/Vierzigerjahre eintauchen, was unglaublich spannend war.
Nebst diesen Gesprächen diente mir als Quelle und zur authentischen Gestaltung einzelner Figuren auch verschiedene Fachliteratur, insbesondere Thomas Buombergers »Raubkunst, Kunstraub«, eine Studie über das Geschäft mit illegal erworbener Kunst in der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Das Hotel Kronenberg Luzern und sämtliche Figuren sind fiktiv. Ausnahme sind historische Randfiguren, die kurz erwähnt werden.
Hinweis:Am Ende dieses Buches werden die Ballett-Begriffe in einem Glossar erklärt.
Helena SaxerJolina und Jonas Saxer (Helenas Kinder)
Noah KronenbergMichael Kronenberg (Noahs Bruder)Renée Kronenberg (Michaels Frau)Ralph Kronenberg (Noahs Vater)Marie Kronenberg (Noahs Mutter)Moritz Kronenberg (Noahs Onkel)Eberhard und Agnes Kronenberg (Noahs Großeltern)
Jessica Dixon-LöwenfeldHector Löwenfeld und Lydia Fischer (Jessicas Eltern)Amos und Rosaline Löwenfeld (Jessicas Ururgroßeltern)
Vincent Ulmer (Roboterentwickler)
Lydia FischerHedi Fischer (Lydias Schwester)Hector LöwenfeldGeorg und Irmgard Kronenberg (Direktoren Hotel Kronenberg, Noahs Urgroßeltern)Therese Gubler (Zimmermädchen)Kurt Gubler (Thereses Sohn, Hotelpage)
Lorenz Waldvogel (Haupteinkaufsagent/Kunsthändler)Franz Rothen (Kunstsammler)Marius Rothen (Sohn von Franz Rothen)Basil Wild (Industrieller)Wasilina Krylowa (Balletttänzerin)Erich Engel (Galerist)
Beinahe schwerelos wie ein Schmetterling tanzte sie über das Feld und ignorierte die herunterprasselnden Regentropfen. Ihr langes Haar und das weiße Kleid waren längst durchnässt, aber es kümmerte sie nicht. Mit ihren elegant in der Luft schwingenden Gliedern fing sie die Tropfen auf, als wären es Perlen, die vom Himmel fielen.
Amos Löwenfeld verfolgte ihre Bewegungen gebannt und versuchte sich jede Einzelheit einzuprägen. Später würde er seine Tänzerin im Regen malen. Es sollte ein Gemälde für die Ewigkeit werden, welches an diesen glücklichen Tag erinnern und Kraft und Hoffnung in dunklen Zeiten spenden würde. Sie hatten in den vergangenen Monaten viel zusammen durchgestanden und alles verloren, dafür aber die Liebe gewonnen. Doch Amos spürte, dass das Elend noch nicht vorbei war. Rache, aber auch Krieg hingen wie die düsteren Regenwolken über ihnen und warteten nur darauf, sie mit aller Stärke zu vernichten.
Amos versuchte seine Sorgen zu vergessen und sich gänzlich auf seine große Liebe, sein Modell für das neue Gemälde zu konzentrieren. Rosaline, die Tänzerin im Regen.
Helena unterdrückte den Impuls laut loszulachen, obwohl ihr eigentlich zum Heulen zumute war. Welche Ironie des Schicksals! Da hatte sie endlich Aussicht auf einen Job, und dann das!
»Die Stelle ist wirklich im Hotel Kronenberg?«, fragte sie, um sich zu vergewissern, dass sie Frau Lutz – ihre Personalberaterin hier im RAV, dem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum – richtig verstanden hatte.
Diese strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr der brummende Ventilator alle zehn Sekunden erneut in die Stirn wehte. »Genau.«
»Unglaublich«, murmelte Helena, was Frau Lutz stirnrunzelnd quittierte.
»Frau Saxer«, begann sie mit warnendem Unterton. »Andere Möglichkeiten haben Sie nicht. Ich weiß, Sie möchten wieder als Verkäuferin arbeiten, doch diese Stellen sind momentan rar. Seit die Modekette Jewel so viele Filialen schließen und Mitarbeiter entlassen musste, ist …« Ruckartig wandte sie sich zum Ventilator. »Dieses Gerät treibt mich noch in den Wahnsinn!« Sie stellte ihn so ein, dass er sich nicht mehr drehte und stattdessen nur in eine Richtung – Helenas Richtung – blies. Vorsichtig rückte Helena ihren Stuhl etwas nach rechts, um dem Wind zu entgehen und hörte Frau Lutz aufmerksam zu.
»Jedenfalls ist die Situation seither höchst prekär. Dazu kommt, dass sich gewisse Geschäfte sogar Verkaufsroboter anschaffen, wodurch unqualifizierte Leute wie Sie ihre Stelle verlieren.«
Helena schluckte. Selbst für sie klang es nach wie vor absurd, entsprach aber leider der Wahrheit. Ihre ehemalige Chefin war eine Trendsetterin und wollte auch technologisch einen Schritt weiter sein als andere Kleidergeschäfte. Deshalb hatte sie sich einen Verkaufsroboter angeschafft – ein blödes Ding aus weißem Kunststoff.
Helena konzentrierte sich wieder auf Frau Lutz, die ihr gerade einen Vortrag hielt.
»Unser Ziel ist Ihre rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Deshalb unterstützen wir Sie ja auch in jeder Form. Aber im Gegenzug verlangen wir, dass Sie Ihren Pflichten nachkommen. Dazu gehört auch, nicht wählerisch zu sein und sich für jede zumutbare Stelle zu bewerben! Auch als Zimmermädchen!«
Helena nickte schnell. »Ja, ich weiß. Ich habe wirklich kein Problem damit, Zimmer zu putzen. Nur nicht im Hotel Kronenberg.«
Frau Lutz rückte ihre Brille zurecht. »Was haben Sie gegen das Kronenberg? Es ist ein Fünf-Sterne-Nobelhotel.«
Helena starrte auf eine Reihe schief stehender Ordner auf dem Schreibtisch, die jederzeit umfallen konnten. Die Inhaber des Kronenbergs haben vor vielen Jahren mein Leben zerstört, hätte sie am liebsten gesagt, murmelte stattdessen aber ein bedeutungsloses »eigentlich nichts«, was Frau Lutz aufseufzen ließ.
»Frau Saxer, Sie sind jetzt schon fast drei Monate auf Arbeitssuche. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, sind es bereits fünf, wenn wir die zwei Monate dazuzählen, die Sie noch bei Graziella angestellt waren. Außer einer nicht abgeschlossenen Tanzausbildung können Sie nichts vorweisen. Aber ohne Ausbildung und Qualifikationen sind Sie schwer vermittelbar auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb müssen Sie sich für diesen Job bewerben, sonst kürzen wir Ihnen das Taggeld. Abgesehen davon ist noch nicht klar, ob Sie die Stelle überhaupt erhalten.« Sie schob Helena das Stelleninserat zu. »Falls ja, könnten Sie sofort beginnen. Ein Glücksfall!«
»Ja, ein Glücksfall«, sagte Helena wenig motiviert und faltete das Inserat zusammen. »Ich werde mich bewerben.« Sie würde dadurch zwar ihr Versprechen nicht einhalten, das sie den Kronenbergs vor langer Zeit gegeben hatte, aber darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Im Moment ging es nur darum, wieder Geld zu verdienen.
Schwitzend radelte Helena eine Stunde später über die Langensandbrücke. Ein Zug ratterte darunter durch, Autos fuhren an ihr vorbei, und die Sonne brannte in voller Stärke auf ihren Kopf. Doch sie nahm das Treiben um sie herum kaum wahr, ihre Gedanken drehten sich gänzlich um die Stelle im Kronenberg. Sie hatte ihre elektronische Bewerbung vorhin im Informationszentrum des Arbeitshilfswerks abgeschickt und blickte dem Ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits hoffte sie den Job zu bekommen, andererseits hatte sie Angst vor den Kronenbergs. Wenigstens erkannte man sie aufgrund ihres Namens nicht mehr, sie war inzwischen Helena Saxer, nicht mehr Lena Arnold. Sie hatte immer gewusst, dass es eines Tages nützlich sein würde, den Namen ihres Ex-Mannes nach der Scheidung zu behalten. Nichtsdestotrotz, das Risiko einer Begegnung mit den Kronenbergs blieb bestehen, wenn auch ihre kurzen Recherchen zuvor im Internet des Arbeitshilfswerks sie ein wenig beruhigt hatten. Die alte Hexe Irmgard Kronenberg lebte längst nicht mehr, und deren Schwiegertochter Agnes Kronenberg kümmerte sich hauptsächlich um ihre sozialen Projekte. Ihr Sohn Ralph, den Helena am meisten fürchtete, hatte die Leitung des Hotels seinem Sohn übertragen und war nun als Direktor der ganzen Hotelkette Kronenberg Luxury Hotels tätig, deren Hauptsitz in Zürich lag. Gut möglich, dass sie ihm gar nie begegnen würde. Und wenn doch? Wie würde seine Reaktion ausfallen?
Helena trat in die Pedale und vergaß ihre Sorgen mit dem Fahrtwind. Sie fuhr an ihrer Wohnstraße vorbei Richtung Einkaufscenter im Schönbühlquartier. Obwohl es näher gelegene Lebensmittelgeschäfte gab, nahm sie den Umweg in Kauf, weil der Discounter im Einkaufscenter wesentlich billiger war als die anderen Geschäfte.
Als sie wenig später mit ihrer Einkaufsliste den Laden betrat, empfing sie eine angenehme Kühle, aber bei dem Gedanken an ihr streng kalkuliertes Einkaufsbudget und die hohen Preise geriet sie sofort wieder ins Schwitzen. Sie nahm ihr uraltes Nokia-Klapphandy hervor und öffnete die Taschenrechnerfunktion. Beim Obst machte sie den ersten Halt. Eine ältere Frau tastete die Mangos ab und legte sich zwei Stück in den Einkaufswagen, ehe sie die Bananen inspizierte. Helena überflog die Preise auf den Schildchen und erschrak. Fast fünf Franken für ein Körbchen Erdbeeren oder Himbeeren! Die Blaubeeren kosteten sogar über sechs! Auch der Preis für die Pfirsiche und Aprikosen lag noch immer hoch. Helena schluckte ihren Frust hinunter. Wie jedes Mal stieg der Wunsch in ihr auf, einmal nicht auf das Geld achten zu müssen und all das in den Korb zu legen, was ihr Herz begehrte. Aber im Moment musste sie froh sein, wenn sie überhaupt etwas kaufen konnte.
Kurze Zeit später verließ sie den Laden und kam an einer Filiale von Jewel vorbei, dem Kleidergeschäft, das Frau Lutz vorhin erwähnt hatte. Es war kaum zu übersehen, dass es sich um dessen letzte Tage handelte, riesige gelbe Plakate priesen es an: Total Liquidation! Alles muss raus! Jetzt oder nie!
Helena erhaschte einen Blick auf einen Tisch voller zerwühlter Kleidungsstücke und erinnerte sich an ihre Arbeit bei Graziella. Sie hatte den Job gemocht. Es gefiel ihr, die Kundinnen zu beraten, die Schaufensterpuppen anzukleiden und die Klamotten am Abend wieder schön zusammenzufalten. Nun bediente ein Roboter die Kasse und kümmerte sich um die Kunden. Die Aufgaben, die er noch nicht bewerkstelligen konnte, erledigte ihre ehemalige Arbeitskollegin, die mit ihren erst zwanzig Jahren billiger war als Helena mit fünfunddreißig.
Gerade als sie weitergehen wollte, streifte ihr Blick ein dunkelrotes Sommerkleid aus Jersey, das an einer Kleiderstange mit der Beschilderung 70% Liquidationsrabatt hing. Sie spähte auf das Preisschild. Abzüglich Rabatt kostete das Kleid noch immer zwölf Franken. Für viele Leute ein Schnäppchen, aber für sie ein Vermögen.
Sie wandte sich ab und wollte gehen, als ihr plötzlich ihr müdes und blasses Gesicht in einem Spiegel entgegenstarrte. Hilfe! Bin das wirklich ich? Sie trat näher. Fältchen zeigten sich auf der Stirn und um die Augen und Mundwinkel herum. Und hatte sie schon immer solche Augenringe gehabt oder lag das nur an dem grellen Licht? Wenigstens ihr leicht gewelltes, hellbraunes Haar, das sie nackenlang trug, sah hübsch aus. Erst kürzlich hatte es ihre Mutter, eine Friseurin, geschnitten. Von ihren einst hüftlangen Locken hatte sich Helena während der Schwangerschaft vor sechzehn Jahren getrennt und trug seither den praktischen Kurzhaarschnitt. Dabei hatte man sie gerade für ihr Haar immer bewundert. Die schöne Helena mit den Seidenlocken und den azurblauen Augen, hatte sie einst ein Tanzlehrer beschrieben. Doch jetzt war sie weit entfernt von der bezaubernden Ballerina. Wenigstens strahlte sie durch ihre gerade Haltung und den hocherhobenen Kopf noch immer eine gewisse Anmut aus. Die jahrelang antrainierte Grazie war ihr nie verloren gegangen, auch wenn sie das Leben oft niedergedrückt hatte. Richtig getanzt hatte sie aber seit Jahren nicht mehr, und auf Spitze würde sie es ohnehin nicht mehr beherrschen, dazu gehörte hartes Training. Nur gelegentlich ertappte sie sich dabei, wie sie ein paar leichte Tanzschritte durchführte wie ein Demi- oder Grand-plié. Manchmal drehte sie auch eine Pirouette oder machte einen Pas de chat. In ihren Gedanken aber schwebte sie über das Parkett und vollführte ein Fouetté en tournant, wie früher, als sie in Höchstform gewesen war; ein überschlankes biegsames Muskelpaket. Dazu summte sie die Melodien von Tschaikowsky oder Adolphe Adam aus ihren Lieblingsballetten Nussknacker, Schwanensee und Giselle, stellte sich vor, was wäre, wenn sie noch einmal …
»Ach Helena«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, bevor sie ging. »Du bist eine Traumtänzerin.«
Kraftvoll paddelte Noah vor die sich aufbauende Welle, sprang auf das Brett und ritt wie in Trance über das rauschende Wasser. Er liebte das Gefühl, mit dem Ozean vereint zu sein und dessen Stärke zu spüren. So nahm er eine Welle nach der anderen, bis allmählich die Dämmerung einsetzte und seine Glieder immer schwerer wurden. Zeit für ein großes Steak und einen Cuba Libre!
Die starke Atlantikströmung hatte ihn ein gutes Stück die Küste hinabgetrieben, sodass er einige Meter am Strand zurücklaufen musste. Ab und zu schwappte eine Welle über seine Füße, und der Wind trug ihm feine Tröpfchen Salzwasser ins Gesicht. Die untergehende Sonne wärmte ihn mit ihren letzten Strahlen und färbte das Meer in einen schillernden Orange-Ton.
Als er sich seinem Bungalow näherte, huschten zwei Agutis – riesige Nagetiere – an ihm vorbei und verschwanden blitzartig im Gebüsch. Von weither vernahm er schwach die Klänge einer Mariachigruppe, die in einem der großen Hotelresorts ihren Auftritt hatte. Ansonsten dominierten das Meeresrauschen, das Geschrei der Möwen und das Fiepen der Vögel aus dem Palmenwald.
Nachdem er sich ein Steak und einen Maiskolben gegrillt und verspeist hatte, schaute er kurz im Hotel vorbei. Nur um sich zu vergewissern, dass Alejandro, sein Assistent, alles unter Kontrolle hatte. Vielleicht sollte er ihn zum neuen Manager befördern und dafür selbst etwas kürzer treten? Dann hätte er noch mehr Zeit für seine Romane. Alejandro und das Team führten das Despacito schließlich ganz nach seinen Vorstellungen. Noah hatte die kleine Hotelanlage in Tulum an der Riviera Maya, einem der schönsten Küstenstreifen an der Karibikküste Mexikos, vor ein paar Jahren aufgebaut. Das Despacito verfolgte ein anderes Konzept als die riesigen Luxusresorts in der Umgebung. Im Vordergrund standen die Natur und die Möglichkeit für die Gäste, dem hektischen Alltag zu entfliehen und vereint mit der Natur zu sich selbst zu finden. Störfaktoren wie TV-Geräte, Animationsshows und dergleichen gab es im Despacito nicht. Auch keine Tennisplätze, Fitnesscenter und wasserverschwendende Swimmingpools. Die Bungalows waren schlicht, und das Restaurant bot urmexikanische Speisen anstelle von Haute Cuisine.
Noah selbst lebte etwa fünfzehn Minuten vom Hotel entfernt, in einem von Kokospalmen umgebenen Bungalow direkt am Meer. Das schlichte Häuschen besaß nur zwei kleine Zimmer, Kochnische, Bad und eine Veranda. Kein Luxus, aber für ihn das Paradies. Was brauchte er mehr als den Ozean, der ihm das Gefühl von Freiheit verlieh? Und die Ruhe, die er für seine Bücher benötigte.
Mit einem Cuba Libre und dem Notebook legte er sich in die Hängematte. Die Wellen schäumten kräftig auf, Palmenblätter raschelten. Wiedermal ein perfekter Abend, dachte er. Fehlte nur noch Seda, aber sie war zurzeit in Monterrey bei ihren Eltern. Wenigstens konnte er sich nun seinem neuen Thriller widmen. »Eigentor« lautete der Arbeitstitel und war sein sechstes Buch. Alle fünf davor hatten es auf die Bestsellerlisten geschafft, zwei waren bereits verfilmt worden, für ein drittes entstand momentan ein Drehbuch. Dass er es einmal so weit schaffen würde, hätte er nie zu träumen gewagt. Allerdings war ihm auch keine Karriere als Schriftsteller, sondern als Direktor eines der Kronenberg Hotels vorbestimmt gewesen. Nur mit viel Mühe hatte er dem entgehen können. Zuletzt war es aber sein Idealismus gewesen, der ihn vor zwölf Jahren nach Mexiko getrieben hatte.
Gerade als er das Notebook starten wollte, klingelte sein Handy und er zog es aus der Tasche seiner Shorts. Für gewöhnlich hatte er es beim Schreiben nicht dabei, aber heute erwartete er einen Anruf von Seda. Sie hatte ihm am Nachmittag bereits geschrieben, dass sie ihm etwas Wichtiges mitteilen müsse. Doch es war nicht Seda, stellte Noah beim Blick auf das Display fest, sondern sein Vater. Seltsam. Für gewöhnlich rief ihn nur seine Mutter an, allerdings nicht um diese Uhrzeit. In der Schweiz war es mitten in der Nacht. Mit unguter Vorahnung ging er ran. »Ja, Vater?«
»Hallo, Noah.« Die sonst schroffe Stimme seines Vaters klang sehr ruhig, was Noahs missliches Gefühl verstärkte. Es gab nur eine Erklärung: Etwas Schlimmes musste passiert sein.
Nervosität äußerte sich bei Helena nicht nur durch ein schneller pochendes Herz, sondern auch in der Form eines eigenartigen Kribbelns im linken Handgelenk. Schon früher vor den Ballettauftritten hatte sie damit zu kämpfen gehabt. Und jetzt, als sie sich dem Kronenberg näherte, kam es ihr vor, als würden tausende feine Nadeln in ihr Handgelenk stechen. Mit jedem Schritt verstärkte sich das unangenehme Gefühl. Sie ging an der Seepromenade entlang, zwischen einer Allee von Kastanienbäumen, die ein schattenspendendes Baumdach bildeten, vorbei an prachtvollen Jugendstilhotels, dem Casino, dem Tennisplatz beim Tivoli. Als sie das schmiedeeiserne Eingangstor des Kronenbergs erreichte, blieb sie stehen und atmete tief durch. Die Gitterstäbe waren mit einem Monogramm, einem großen K, verziert. An das Tor grenzten hohe Steinmauern, hinter denen sich kräftige Birken erhoben. Obwohl das Tor leicht offen stand, zögerte Helena kurz und bewunderte von hier aus die alten Mauern des imposanten Herrschaftsbaus. Dann straffte sie die Schultern und betrat den Hotelpark. Kieselsteinchen knirschten unter ihren Schuhen, als sie sich dem Gebäude näherte. Vor dem Terrassencafé blieb sie stehen und fragte sich plötzlich, ob es klug wäre, das Hotel durch den Hintereingang zu betreten. Am Ende würde sie sich noch verirren und musste jemanden vom Servicepersonal fragen, wie zum Beispiel die junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz, die sie gerade arrogant musterte.
Sie eilte um das Gebäude herum zum Haupteingang bei der Haldenstraße. Direkt vor dem überdachten Eingangsbereich stand ein schwarzer, glänzender Wagen. Ein Hotelpage in blauer Uniform lud Gepäck hinein, während ein Mann mit Chauffeursmütze einem asiatischen Geschäftsmann die Wagentür öffnete.
Unsicher betrat Helena die drei breiten Treppenstufen. Sofort öffnete sich die automatische Eingangstür und ließ sie eintreten in eine andere Welt. Ehrfürchtig schaute sie sich in der Lobby um, die an Prunk kaum zu übertreffen war. Der gewienerte, hellgraue Steinboden – war das Marmor? – glänzte so stark, dass sich die Lichter des riesigen Kristallleuchters an der Decke darin spiegelten. Farblich war alles perfekt aufeinander abgestimmt; von den rauchgrauen und cremefarbenen Chintzsesseln bis hin zu den hohen, mit weißen Lilien gefüllten Porzellanvasen. Als Helena den Empfang ansteuerte, musste sie drei Geschäftsmännern ausweichen, die so vertieft in ihre Unterhaltung waren, dass sie sie nicht sahen. Am Empfang stand eine Dame in geblümtem Seidenkleid und sprach mit dem Rezeptionisten. Helena stellte sich hinter sie und schnappte ungewollt ihre Worte auf.
»Wie tragisch!«, rief die Dame. »Noch vor zwei Wochen habe ich mit ihm telefoniert.« Sie sprach gut Deutsch, aber mit starkem englischen Akzent.
»Ich wollte ihn heute treffen.« Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und fixierte das Liliengesteck auf dem Tresen. Eine Locke ihrer tizianrot gefärbten Haarpracht fiel ihr in das perfekt geschminkte, aber schon recht faltige Gesicht. Sie strich sie hinter das Ohr. Ein langer, mit Diamanten besetzter Chandelier-Ohrschmuck blitzte auf, der die schlaffe Haut ihres Halses zu liebkosen schien.
»Unser Vizedirektor ist hier. Sie können sich mit ihm unterhalten«, schlug der Rezeptionist vor.
Die Dame drehte sich zu ihm. »Nein, das geht nicht. Ich muss mit jemandem von der Familie Kronenberg sprechen.«
»Nun, da wäre noch sein Vater, Ralph Kronenberg. Er leitet die Hotelkette.«
»Ralph Kronenberg!«, spie sie regelrecht aus. »Ausgerechnet der!«
Helena horchte auf. Die Frau war offenbar nicht gut auf Ralph Kronenberg zu sprechen. Helena trat einen kleinen Schritt näher, um die Worte besser aufzuschnappen.
»Aber eine andere Wahl habe ich wohl nicht. Kann ich mich mit ihm unterhalten?«
»Tut mir leid, Mrs Dixon, aber er ist auf der Beerdigung seines Sohnes.«
»Natürlich, die Beerdigung. Dann richten Sie ihm bitte aus, er soll mich bei Gelegenheit kontaktieren. Ich bin ja eine Weile hier.« Sie griff nach der Chaneltasche auf dem Tresen und verabschiedete sich. Als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit Helena zusammen.
»Bitte entschuldigen Sie«, murmelte Helena.
»Nichts passiert«, sagte die Dame mit gewinnendem Lächeln und rauschte davon, eine Wolke zartes Rosenparfüm zurücklassend.
Helena sah ihr nach. Zu gerne hätte sie gewusst, was sie für ein Problem mit Ralph Kronenberg hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der junge Rezeptionist freundlich.
»Ich … äh … ja. Helena Saxer ist mein Name. Ich habe einen Termin bei Frau Geiger.«
Er griff zum Hörer. »Ich melde Sie an. Bitte nehmen Sie Platz.«
Frau Geiger, Hauswirtschaftsleiterin im Kronenberg, erschien zwei Minuten später in der Halle. Sie war eine massige Person Mitte fünfzig mit aufgedunsenem Gesicht. Nachdem sie sich kurz vorgestellt hatte, führte sie Helena in ein Sitzungszimmer auf der ersten Etage. Im Gegensatz zur pompösen Hotellobby war der Raum schlicht gehalten und enthielt nur einen langen Glastisch mit schwarzen Lederstühlen und einen riesigen Flachbildfernseher an der Wand. Zwei Wasserflaschen und vier Gläser standen auf dem Tisch bereit, doch Frau Geiger bot Helena nichts davon an.
Helena erinnerte sich an ihr Vorstellungsgespräch bei Graziella vor ein paar Jahren, das ihre ehemalige Chefin in ihrem chaotischen kleinen Büro geführt hatte. Sie hatte sich auf Anhieb mit der damals sechzigjährigen Frau namens Graziella verstanden, und im Laufe der Jahre war eine Freundschaft entstanden. Vor neun Monaten hatte Graziella einen Schlaganfall erlitten. Ihre Tochter übernahm das Geschäft und änderte bereits in den ersten Wochen das ganze Konzept. Neue Kleidermarken, neue Ladeneinrichtung, und am Ende sogar ein Roboter. Nur der Name war geblieben. Helena würde sich allerdings nicht wundern, wenn auch der bald zur Geschichte gehörte.
Sie konzentrierte sich auf Frau Geiger, die schon die ganze Zeit auf den Lebenslauf starrte und über das Hotel berichtete. Helena musterte sie. Mit der langen, geröteten Nase und den kleinen Äuglein, die durch das schwammige Gesicht beinahe verschluckt wurden, machte sie einen witzigen Eindruck. Ihre dunkelgraue Kurzhaarfrisur in Topfform glich dem Fell einer Maus und wirkte wie eine schief aufgesetzte Perücke. Die Frau erinnerte Helena an den Maulwurf Grabowski aus dem Kinderbuch.
»Sie sind also Balletttänzerin?«, fragte Frau Geiger mit ihrer nasalen Stimme, nachdem sie ihre Präsentation des Kronenbergs beendet hatte.
»Ich war Balletttänzerin, vor langer Zeit. Ich konnte die Tanzausbildung wegen der Schwangerschaft nicht abschließen.«
»Sie haben Zwillinge«, sagte sie und blinzelte auf den Lebenslauf, als traute sie ihren Augen nicht.
»Ja. Die beiden werden im September sechzehn.«
»Mhm … Hier steht, Sie sprechen Französisch. Ein Diplom haben Sie aber nicht?«
»Nein. Aber ich hatte damals an der Ballettakademie eine Tanzlehrerin aus Paris, die nur französisch mit uns sprach. Es war ihr wichtig, dass wir nicht nur die Begriffe der Ballettsprache beherrschen, sondern uns richtig mit ihr unterhalten können. Später wollte ich meine Kenntnisse nicht verlieren und lese seither regelmäßig französische Bücher.« Wenigstens eine Fähigkeit, die sie hatte. Die Bücher lieh sie sich in der Bibliothek aus, und unbekannte Wörter schlug sie in ihrem alten Wörterbuch aus der Schule nach. So erweiterte sich ihr Wortschatz nach und nach, worauf sie stolz war.
»Französisch hilft Ihnen hier nicht groß weiter«, bemerkte Frau Geiger abschätzig. »Portugiesisch oder eine slawische Sprache wären vorteilhafter, dann könnten Sie sich besser mit den anderen Zimmermädchen verständigen. Und die Gäste reden meistens Englisch. Das können Sie aber nicht?«
»Nur ein wenig Schulenglisch.«
Frau Geiger kritzelte etwas auf ihren Block und stellte anschließend weitere Fragen über Stärken und Schwächen. Am Ende schlug sie Helena einen Probetag vor. »Passt es Ihnen morgen?«, fragte sie.
Helena atmete erleichtert auf. »Ja, das passt.«
»Perfekt. Wenn alles gut geht, unterzeichnen wir Montag den Vertrag und Sie können Dienstag beginnen. Ihr Bruttogehalt beträgt übrigens 3.417 Franken.«
Helena erschrak. Das Glücksgefühl, welches sie soeben verspürt hatte, löste sich jäh wieder auf. 3.417 Franken! Fast siebenhundert Franken weniger als bei Graziella!
Frau Geiger räusperte sich. »Das entspricht dem Mindestgehalt für Mitarbeiter ohne Berufslehre«, sagte sie, da sie Helenas Gedankengänge anscheinend spürte. »Laut Gastgewerbe-Gesamtarbeitsvertrag.«
»Ja, ist gut«, bemerkte Helena kleinlaut. Sie hatte keine andere Wahl.
Auf dem Heimweg radelte Helena ein Stück am See entlang und überlegte, wie sie mit dem Gehalt durchkommen sollte. Jetzt mit dem Arbeitslosengeld erhielt sie zwar noch weniger, aber sie hatte auf ihr Erspartes zurückgreifen können, das inzwischen fast aufgebraucht war. Sie würden sich in Zukunft mehr einschränken müssen.
Im Discounter achtete sie an diesem Tag noch genauer auf ihr Budget und strich Dinge, die sie nicht unbedingt benötigte. Honig zum Beispiel war reiner Luxus, deshalb wählte sie die kostengünstige Aprikosenmarmelade. Und das Haarshampoo brauchte sie nicht, sie konnte das Alte nochmals verdünnen.
Als sie ihre Einkäufe in das Fahrradkörbchen lud, begann es zu regnen. Schon zuvor hatten sich allmählich graue Wolkenfetzen über den Himmel geschoben, aber Helena hatte nicht so schnell mit Niederschlag gerechnet. Sie schwang sich auf das Rad.
Eiliger als sonst fuhr sie heimwärts und musste plötzlich an ihn denken. Bilder schossen ihr durch den Kopf. Sie zwei in Südwestfrankreich, der Gironde, auf den Fahrrädern unter immer dunkler werdenden Wolkenfeldern. Vergeblich hatten sie versucht, noch vor dem Regen in ihr Feriencottage zu gelangen. Weil es so heftig herunterprasselte und sie nicht weiterfahren konnten, stellten sie sich in den Offenstall auf einer von Zypressen umgebenen Weide zu zwei Eseln, aßen das aufgeweichte Baguette und den Käse, die sie mitgebracht hatten.
Er war unzufrieden gewesen, weil er den Rotwein nicht öffnen konnte, deshalb neckte sie ihn. Sie alberten herum, kitzelten sich. Lachend sprang sie in die Weide, drehte eine Pirouette und tanzte, so gut es in der nassen Wiese möglich war. Ihr weinrotes Chiffonkleid klebte am Körper, genau wie ihr Haar, doch es kümmerte sie nicht, sie schwebte längst in einer anderen Welt. Sie war glücklich gewesen, das Tanzen ihre Art zu fühlen, ihre Seele flog. Dann spürte sie plötzlich seine Hände um ihre Taille, er hob sie auf und trug sie küssend zum Stall zurück …
Helena erlaubte sich nur selten Erinnerungen an ihn, doch diesmal ließ sie die Bilder zu. Sollte sie den Job im Kronenberg erhalten, würde sie ohnehin andauernd an ihn denken müssen.
Tropfnass stellte sie ihr Fahrrad in den Unterstand, nahm die Einkäufe aus dem Korb und rannte zur Eingangstür. Ihre Wohnung befand sich in einem Fünfzigerjahre-Wohnhaus direkt an der Tribschenstraße. Während viele Gebäude desselben Jahrgangs in dieser Gegend renoviert worden waren, hielt es der Besitzer ihres Wohnhauses nicht für notwendig Investitionen zu tätigen. Das sah man dem Haus an, es schimmelte von innen wie von außen förmlich vor sich hin. Der beige Beton war überzogen von gräulichen Flecken, die klapprigen Fensterläden stark verblichen und die mit Wellblech verkleideten Balkone wiesen an manchen Stellen Schmutz und Moos auf. Wahrlich ein Schandfleck. Dafür aber sehr preiswert. Für ihre Vierzimmerwohnung bezahlten sie inklusive der Nebenkosten nur 1.300 Franken.
In der Wohnung angekommen steuerte Helena gleich die Küche an. Ihre Tochter Jolina saß am Tisch und trank ein Glas Wasser. »Hey, Mama.«
»Hallo, Schatz, kannst du mir bitte mal helfen?«
Maulend stand Jolina auf und nahm ihr eine Tasche aus der Hand. Helena holte sich im Badezimmer ein Frotteetuch für das nasse Haar und kehrte zurück in die Küche. Jolina hatte bereits begonnen den Inhalt der Einkaufstaschen auszupacken und wegzuräumen. Im Gegensatz zu Helena, die mit ihren ein Meter vierundsechzig immer einen Stuhl nehmen musste, um an die obersten Regale des Wandschrankes zu kommen, gelang es ihrer eins fünfundsiebzig großen Tochter ohne Probleme die Packung Mehl zu verstauen. Sie und ihr Bruder kamen in dieser Hinsicht ganz nach dem Vater. Sie hatten aber nicht nur seine Größe, sondern auch sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar geerbt. Und sein spitzes Kinn. Ansonsten ähnelten sie ihr: blaue Augen, schmales Gesicht mit einer hohen Stirn und einer schmalen Nase.
Helena fiel auf, dass sich Jolina ziemlich schick gemacht hatte. Sie trug ihre hautenge, weiße Röhrenjeans und ihr Lieblingstop mit den hellblauen Streifen. Kleidung, die sie sich vom Weihnachtsgeld ihrer Patentante gekauft hatte. Die langen Locken hatte sie zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht mit Lippenstift, Lidschatten und Wimperntusche bemalt. Die Schminke hatte sie von ihrer besten Freundin Claire bekommen, ihr weniges Taschengeld reichte nicht dafür.
Claire. Helena spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Seit Jolina im Gymnasium vor einem Jahr Claire kennengelernt hatte – Tochter eines Chefchirurgen und der Inhaberin einer Schweizer Mediengruppe – hatte sie sich stark verändert. Sie legte nicht nur plötzlich mehr Wert auf ihr Äußeres, sondern war auch launischer geworden und machte oft deutlich, wie sehr sie unter ihrer Armut litt. Früher hatte sie das nicht so gezeigt, deshalb war Helena sicher, dass dieser Wandel Claire zuzuschreiben war. Sie hatte Claire nur einmal kurz getroffen. Damals hatte sie das Treppenhaus hier im Wohnhaus gereinigt, weil der Hausmeister in den Ferien gewesen war. Claire hatte sie überheblich gemustert, nachdem die peinlich berührte Jolina sie widerwillig als ihre Mutter vorgestellt hatte.
»Mama!«, riss Jolina sie aus ihren Gedanken.
»Ja?«
»Ich soll dir ausrichten, dass Jonas bei einem Freund essen wird. Ich gehe nachher auch noch weg. Zu Claire. Jane, also ihre Mutter, holt Sushi für uns.«
»Sushi, aha.« Helena verbiss sich den Kommentar, dass sie gegen Sushi mit ihren Nudeln natürlich nicht ankam. Sie mochte es ihren Kindern von Herzen gönnen, dass sie gelegentlich auch mal was Besonderes zum Essen erhielten, aber die Tatsache, es ihnen nicht selber ermöglichen zu können, schmerzte.
»Ich liebe Sushi«, schwärmte Jolina. »Letztes Mal hat Jane vegetarisches mitgebracht. Mit Avocado, Gurken, Ei, Tofu und so. Das war echt voll lecker! Jane ernährt sich übrigens rein vegetarisch. Du solltest sie sehen, sie hat einen hammer Körper für ihr Alter und trägt voll die tollen Klamotten.«
Helena zwang sich ein Lächeln auf. »Schön für sie.«
»Mhm. Oh, kürzlich habe ich übrigens Claires Bruder kennengelernt. Dario. Er beginnt im Herbst sein Medizinstudium in Zürich.«
Helena musterte ihre Tochter aufmerksam. Ihre Augen leuchteten, eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Natürlich, Jolina war verliebt in diesen Dario! Nun war ihr klar, weshalb sie sich so schick gemacht hatte.
»Magst du ihn?«
Schlagartig verzog sich Jolinas verliebter Gesichtsausdruck wieder zu einer coolen Maske. Sie murmelte ein »er ist ganz okay« und drehte sich weg, um die Einkaufstasche zu durchsuchen. »Du hast den Honig vergessen!«, rief sie und hob die Aprikosenmarmelade hoch. »Stattdessen kaufst du das!«
»Es war billiger. Wir müssen zukünftig noch mehr auf’s Geld schauen.«
Jolina verstaute die Marmelade im Kühlschrank. »Noch mehr auf’s Geld schauen? Du bist lustig! Wo sollen wir denn noch sparen? Ich hoffe, du findest bald einen Job. Ach, hattest du nicht ein Vorstellungsgespräch heute?«
»Ja, und es lief ganz gut. Ich kann morgen probearbeiten.«
»Cool. Aber warum müssen wir dann weiter auf’s Geld schauen, wenn du vielleicht bald wieder arbeitest?«
»Weil ich siebenhundert Franken weniger verdienen werde als bei Graziella.«
»Scheiße!« Jolina setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Welcher Kleiderladen ist das denn?«
Helena faltete die Einkaufstasche zusammen und verstaute sie in der Schublade. Danach goss sie sich ein Glas Leitungswasser ein und setzte sich Jolina gegenüber. »Es ist kein Kleidergeschäft, sondern ein Hotel, das Kronenberg. Ich werde dort als Zimmermädchen arbeiten, falls ich den Job bekomme.«
Jolinas Augen weiteten sich. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
»Nein.«
»Oh Mama! Du kannst doch keine Zimmer putzen! Ist ja voll peinlich! Findest du nichts Besseres?«
Obwohl Helena die Stelle noch gar nicht hatte, fühlte sie sich verpflichtet, sie zu verteidigen. Außerdem ärgerte sie sich über Jolinas Haltung. »Erstens kann ich sehr wohl Zimmer putzen, zweitens ist es überhaupt nicht peinlich. Und drittens bleibt mir keine andere Wahl, sonst wird mir das Geld vom Amt gestrichen. Jolina, ich habe keine Ausbildung und kann froh sein, wenn ich Arbeit bekomme.«
Jolina stand auf. »Aber ausgerechnet als Zimmermädchen? Es reicht doch schon, dass du hier gelegentlich das Treppenhaus reinigen musst. Claire meinte neulich, als sie dich gesehen hat, dass es bestimmt voll demütigend sein muss, ein Treppenhaus zu putzen. Stell dir ihre Reaktion vor, wenn sie herausfindet, dass du ab sofort auch noch die Scheiße von anderen Leuten wegputzen musst!«
Helena sprang auf und funkelte ihre Tochter an. »Es ist mir so was von egal, was Claire dazu sagt! Sollte ich diesen Job erhalten, dann nehme ich ihn an, ob es dir passt oder nicht. Und wenn Claire ein Problem damit hat, ist sie sowieso keine wahre Freundin.« Helena holte tief Luft. »Jolina, es zählen doch andere Werte als …«
»Hör auf mit deinem Scheiß!« Jolina stiegen Tränen in die Augen. »Claire ist toll! Ihre Familie auch. Dank ihnen lerne ich endlich mal eine andere Seite des Lebens kennen. Eine schöne!« Sie rannte aus der Küche, und kurz darauf hörte Helena, wie ihre Zimmertür zuknallte. Sie setzte sich wieder und trank einen Schluck Wasser. Solche Wutausbrüche war sie von Jolina gewohnt, deshalb wusste sie auch, dass es in diesem Moment überhaupt nichts bringen würde, mit ihr zu reden.
Widerwillig warf Noah immer wieder Blicke auf Renée. Sie zog ihn magisch an. Noch immer war sie wunderschön und erinnerte ihn an eine Porzellanpuppe: braunes Haar mit goldfarbenen Strähnchen, braune Kulleraugen, Stupsnäschen, helle Haut mit rosigen Wangen. Kindlich wirkte sie aber trotzdem nicht, vielmehr strahlte sie durch ihre kühle und distanzierte Art Eleganz und etwas Geheimnisvolles aus. Vor vierzehn Jahren hatte er sich in genau diese Dinge verliebt. Sie hatte damals etwas in ihm berührt, und dem unbändigen Traben seines Herzens zufolge, hatte sich daran leider bis heute nichts geändert.
Er straffte die Schulten und schlängelte sich zwischen den Trauergästen hindurch bis zu dem Lindenbaum, unter dem Renée mit den beiden Kindern stand und die Beileidsbekundungen der Gäste entgegennahm. Wind schlug ihm entgegen. Die dunklen Wolken am Himmel wiesen auf ein bevorstehendes Gewitter hin.
Noah stellte sich hinter eine alte, bitterlich weinende Frau mit schwarzem Hut, die dankend das Taschentuch entgegennahm, welches Renée ihr reichte. Zum Abschied umarmte Renée die Frau und bemerkte dabei Noah. Sie schenkte ihm ein mildes Lächeln, während sich die alte Frau an ihrer Schulter ausweinte. Schluchzend und schniefend löste sich die Frau schließlich von Renée und sprach ein paar Worte, ehe sie davonhumpelte.
»Eine Nachbarin«, erklärte Renée und schaute der Frau nach. »Sie nimmt es sehr schwer.«
Unschlüssig stand Noah da und kratzte sich am Nacken. Er wusste nicht recht, wie er Renée begrüßen sollte. Dann überwand er seinen Stolz und umarmte sie, atmete ihren vertrauten Duft ein. Coco Mademoiselle von Chanel. Er hatte ihr das Parfüm einst zum Geburtstag geschenkt und war erstaunt, dass sie es noch immer benutzte.
»Mein herzliches Beileid«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Danke.« Sie löste sich aus seiner Umarmung und schaute ihn lange an. Der Wind wehte ihr einzelne Haarsträhnen ins Gesicht. »Das kann ich nur zurückgeben. Auch wenn ihr keinen Kontakt mehr hattet, so war er doch dein Bruder und …« Sie biss sich auf die Unterlippe und drehte den Kopf weg. Dann setzte sie ein Lächeln auf und schob ihre Kinder vor sich her. »Zoé, Finn. Das ist euer Onkel Noah. Ihr wisst schon, der von dem Foto.«
Der von dem Foto? Noah wunderte sich, dass Michael und Renée anscheinend ein Foto von ihm aufgestellt hatten.
»Hallo, ihr zwei.« Er kniete nieder und reichte zuerst dem vierjährigen Finn die Hand. Braune Augen blickten ihm neugierig entgegen, bis sich ein klebriges Händchen fest in seine Hand grub.
Zoé hingegen blieb kerzengerade stehen und sah ihn ernst an. Mit ihrem Puppengesicht und den Rehaugen war sie das Ebenbild ihrer Mutter. Noah überlegte, sie musste sieben Jahre alt sein.
»Du bist der Schriftsteller, oder?«, fragte sie.
»Ja, genau.«
»Und du lebst am anderen Ende der Welt?«
Noah schmunzelte. »Na ja, so ungefähr. In Mexiko.«
»Papa hat viel von dir erzählt«, sagte sie traurig. »Er hat alle deine Bücher gelesen.«
Noah schluckte schwer. Michael hatte alle seine Bücher gelesen? Plötzlich musste er an die vielen Nachrichten denken, die ihm Michael in den vergangenen Jahren geschickt hatte, und die er immer sofort gelöscht hatte. Zum ersten Mal bereute er sein unversöhnliches Verhalten.
Die Gewitterwolken entluden sich wenig später in voller Stärke, und die Trauergäste rannten ins Hotel hinein. Schwermut, Schuldbewusstsein und Zorn verspürend folgte Noah ihnen. Vergeblich versuchte er mit seinem Gefühlschaos umzugehen. Das Wiedersehen mit Renée zuvor hatte zusätzlich für Aufruhr gesorgt. Noch wusste er nicht, wie er mit dem Mitleid umgehen sollte, das er nun für sie empfand und das die jahrelang angestaute Wut verdrängte.
Das Leichenmahl zog sich in die Länge, und als sich die Gäste nach zwei Stunden verabschiedeten, verspürte Noah Erleichterung. Sein Vater legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ein harter Tag, aber wir haben es geschafft.«
Noah blickte hinüber zu seiner Mutter, die sich von ein paar Verwandten verabschiedete. Sie wirkte zerbrechlich, ihre Augen waren gerötet, das Gesicht fahl. Noah ahnte, dass sie einen inneren Kampf mit sich führte. Seit Michaels Tod hatte sie vermutlich so viele Tränen vergossen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Heute während der Beerdigung war sie beherrscht aufgetreten, aber Noah wusste durch die letzten Tage, wie sehr sie litt. Aus Renée hingegen wurde er nicht schlau. Auch sie hatte sich stark gezeigt, doch Noah vermutete, dass sie das schon seit Michaels Tod tat. Er kannte sie. Renée verriet nur selten ihre Gefühle. Vielleicht täuschte er sich aber auch und sie hielt die Fassade den Kindern zuliebe aufrecht. Noahs Augen wanderten zu den beiden und er verspürte einen Stich im Herzen. Sie waren noch so klein.
»Nein, geschafft haben wir es noch nicht«, sagte er seinem Vater, nicht ohne den Blick von den Kindern abzuwenden.
»Du hast recht. Und aus diesem Grund möchte ich dich um etwas bitten.« Sein Vater drehte sich zu einem antiken Nussbaumtischchen an der Wand und schob die Vase mit den Lilien exakt in die Mitte.
»Du willst, dass ich hierbleibe«, kam ihm Noah zuvor.
Sein Vater wirkte nicht erstaunt über Noahs Vorahnung. »Ja. Wenigstens ein paar Wochen. Bis deine Mutter die Trauer überwunden hat. Du weißt, dass ich viel unterwegs bin. Ich kann mich nicht ständig um sie kümmern. Sie wird deshalb vorübergehend hier in Luzern bei Renée und den Kindern wohnen. Das könntest du auch tun und nebenbei im Hotel arbeiten.«
»Wie bitte? Ich soll hier arbeiten?«
»Richtig. Es wird eine Weile dauern, bis ich einen geeigneten Nachfolger für Michael gefunden habe. Der Vizedirektor will den Posten nicht, weil er nächstes Jahr in Frührente gehen wird. Ich möchte deshalb, dass du vorübergehend die Leitung übernimmst.«
Noah wandte sich ab und lachte bitter. Es war so typisch für seinen Vater. Es ging ihm nicht um Mutter, sondern nur um seine Hotels. »Auch wenn du es nicht glaubst, aber ich habe ein Leben in Mexiko. Ich muss mein neues Buch schreiben und das Despacito leiten.«
Sein Vater verzog verächtlich den Mund. »Das Buch kannst du auch hier schreiben. Und die paar Strohhütten dort wirst du bestimmt ein paar Monate alleine lassen können.«
Noah verkniff sich einen Kommentar. Es hatte keinen Sinn, mit seinem Vater über das Despacito zu diskutieren, die Unterhaltung hatten sie schon oft geführt und sie führte stets ins Leere.
»Ich kann nicht«, entgegnete er stattdessen.
»Sei nicht so egoistisch und denk an deine Mutter. Sie braucht dich jetzt!«
Noah wollte etwas einwerfen, aber in dem Moment traf ihn der ängstliche Blick seiner Mutter. So gerne er seinem Vater auch die Meinung gesagt hätte, er musste sich zurückhalten, schließlich war dies Michaels Beerdigung. Er schluckte seinen Ärger hinunter. »Ich werde schauen, was ich machen kann.«
Über die Gesichtszüge seines Vaters zuckte ein zufriedenes Lächeln.
»Warum trauerst du eigentlich nicht?«, fragte er seinen Vater, dessen Lächeln sogleich erlosch.
»Der Tod gehört zum Leben. Menschen sterben nun mal.«
»Er war dein Sohn!«
Seine Lider zuckten. »Ja, und ich leide genauso wie deine Mutter. Aber das Leben geht weiter, wir müssen jetzt vorwärts schauen.«
Eine groß gewachsene, hagere Mittsechzigerin mit rot gefärbter Lockenpracht, die ihr schmales Gesicht wie eine Wolke umgab, trat auf die beiden zu. »Mein herzliches Beileid zum Verlust Ihres Sohnes, Herr Kronenberg«, sagte sie und streckte Noahs Vater die Hand hin. »Es muss sehr schwer für Sie sein.«
Noah fiel ihr starker amerikanischer Akzent auf, und er nahm an, dass es sich bei ihr um einen Hotelgast handelte.
»Danke. Und Sie sind?«, fragte sein Vater.
»Jessica Dixon-Löwenfeld. Ich hätte heute einen Termin mit Ihrem Sohn Michael gehabt.« Sie faltete die Hände und spielte mit einem Smaragdring, indem sie ihn mehrmals über den Finger hin- und herschob.
Noah fiel auf, dass die Miene seines Vaters versteinerte. Zugleich wirkte er nervös. Er wechselte von einem Bein auf das andere und fuhr sich mehrmals über den Schnauzer.
»Soso«, brummte er. »Jessica Dixon-Löwenfeld also. Was wollten Sie mit Michael bereden? Wenn es wieder um das Gemälde geht, kann ich Ihnen gleich sagen, dass Sie umsonst hergekommen sind. Wir wissen nichts darüber. Das habe ich Ihnen schon damals am Telefon gesagt.«
»Ich weiß, aber Michael versprach, mir bei der Suche zu helfen.«
»Michael hatte keine Ahnung! Wir haben die Tänzerin im Regen nicht!«, rief sein Vater so laut, dass nicht nur Jessica Dixon, sondern auch Noah zusammenzuckte. Die wenigen noch anwesenden Trauergäste, Noahs Mutter und Renée schauten neugierig zu ihnen herüber.
»Vater!«, zischte Noah und wandte sich gleichzeitig an Jessica Dixon. »Können wir das vielleicht morgen besprechen? Heute ist wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt.«
»Natürlich«, stimmte Jessica Dixon zu. »Ich hatte auch nicht vor, jetzt sofort darüber zu reden und wollte nur kondolieren. Ich verstehe, dass Sie noch in der Trauerphase sind und lasse Ihnen gerne Zeit.« Sie ließ ihren Blick zwischen Noah und seinem Vater schweifen. »Melden Sie sich einfach bei mir.« Ihre grünen Augen taxierten Noah unverwandt, woraufhin er mit einem Nicken antwortete.
»Ja, werden wir.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatte, fuhr ihn sein Vater an. »Warum warst du so freundlich?«
»Warum sollte ich es nicht sein? Ich habe keine Ahnung, um was es überhaupt geht. Wer ist diese Frau? Und wer oder was ist die Tänzerin im Regen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, knurrte sein Vater. »Komm mit.«
Sie begaben sich in das Büro seines Vaters auf der ersten Etage. Noah wusste, dass sein Vater es nur noch selten benutzte, meistens hielt er sich in seinem Büro in Zürich auf. Wenn er doch mal hier war, arbeitete er nicht mit seinem Computer, sondern dem federleichten MacBook, das er auch jetzt einschaltete, nachdem er sich an den massiven Mahagoni-Schreibtisch gesetzt hatte. »Sagt dir der Name Amos Löwenfeld etwas?«, fragte er.
Noah zog einen Stuhl heran und setzte sich seinem Vater gegenüber, der auf dem Notebook ein paar Klicks machte. »Ist das nicht ein Maler?«
»Richtig. Impressionismus übrigens. Insgesamt hat er nur neun Bilder gemalt. Nach der Gründung einer Kunstgalerie in Paris konzentrierte er sich auf den Handel. Er hat seine Bilder alle verkauft, bis auf dieses hier, Tänzerin im Regen. Das hat er behalten.« Er drehte das Notebook, sodass Noah die Schwarz-Weiß-Aufnahme des gerahmten Gemäldes betrachten konnte. Es zeigte eine tanzende Frau, barfuß in langem weißen Kleid auf einem Feld. Einen Arm hielt sie anmutig nach oben gestreckt in Richtung der dunklen Wolken, als wollte sie nach ihnen greifen. Der andere Arm vollführte eine elegante Bewegung. Ihr dunkles, bis über die Hüften reichendes Haar umrandete durchnässt ihr sanft lächelndes Gesicht. Feine Pinselstriche stellten Regen dar. Ein schlichtes Kunstwerk, fand Noah. Dennoch ging ein Zauber davon aus, vor allem von der Frau.
Sein Vater fuhr fort. »Jessica Dixon ist die Ururenkelin von Amos Löwenfeld und sucht das Gemälde. Es ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden.« Er strich sich über den Schnauzer und räusperte sich, was er immer tat, wenn ihm etwas unangenehm war. »Die Löwenfelds sind Juden. Wegen der Besetzung Frankreichs durch die Nazis verließen Jessica Dixons Vater und dessen Eltern 1940 ihre Heimat Paris und flüchteten in die Staaten. Ihre Kunstsammlung gelangte in die Hände der Nazis. Dir ist vielleicht bekannt, dass einige von den Nazis geraubte Gemälde später heimlich nach Luzern ins Kronenberg gebracht wurden. Luzern war damals ein Umschlagplatz für Raubkunst.«
Noah nickte. Vor ein paar Jahren hatte die Presse darüber berichtet, was seinen Vater sehr aufgeregt hatte. Auch jetzt spürte Noah, dass sein Vater ungern darüber sprach und es ihn nach wie vor störte, dass das Kronenberg in einen solchen Skandal verwickelt gewesen war. Mit zusammengefalteten Händen saß er am Schreibtisch und starrte an die Decke zur grellen Rasterleuchte. »Weißt du, ich bin nicht stolz darauf, was sich damals hier abgespielt hat. Aber meine Großeltern konnten nichts dafür, im Gegenteil. Großmutter trug sogar dazu bei, dass die krummen Geschäfte aufgedeckt wurden.«
»Und wie ist Jessica Dixon darauf gekommen, das Gemälde so lange nach dem Krieg hier zu suchen?«, fragte Noah.
Sein Vater lockerte die schwarze Krawatte und zog seine Blazerjacke aus. Dann schaltete er die Klimaanlage mit einer Fernbedienung ein. Das Gerät oberhalb der Tür begann augenblicklich zu brummen.
»Vor ein paar Monaten hat sie eine Mail geschickt«, erklärte er. »Zusammen mit dem Foto des Gemäldes und Informationen darüber. Als ich nicht darauf reagierte, rief sie mich an und erzählte von der gestohlenen Sammlung, die etwa dreihundert Bilder umfasste. Ihr Vater habe nach dem Krieg jahrelang danach gesucht und durch seine Hartnäckigkeit einige Gemälde zurückerhalten. Doch Tänzerin im Regen gehöre zu den noch immer vermissten Bildern. Laut den Recherchen ihres Vaters gelangten im Jahre 1942 mehrere Kunstwerke aus der Sammlung in die Schweiz, darunter auch Tänzerin im Regen. Gemäß Jessica Dixon sei es das einzige Gemälde der Sammlung, das von Amos Löwenfeld selbst stamme. Seine anderen hatte er schon kurz nach Gründung der Kunstgalerie verkauft.«
Noah, der inzwischen aufgestanden war, um sich eine Wasserflasche aus dem Regal zu holen, füllte zwei Gläser und schob eines seinem Vater hin. »Ja, das hast du schon erwähnt. Warum hat er eigentlich die Tänzerin nicht verkauft?«
»Laut Jessica Dixon muss ihm das Gemälde sehr viel bedeutet haben.« Er nahm einen Schluck des sprudelnden Wassers und lehnte sich zurück. »Deshalb will sie es ja suchen. Von mir aus kann sie das gerne tun, aber nicht hier. Ich habe ihr damals gesagt, dass sie bei uns an der falschen Adresse sei.«
»Warum? Die Bilder waren doch hier.«
»Aber wir hatten nichts damit zu tun!«, erwiderte er entrüstet. »Unser Hotel war nur Mittel zum Zweck. Das habe ich Jessica Dixon auch gesagt. Aber sie meinte, dass sich mein Bruder kurz vor seinem Tod mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt habe und sich über Tänzerin im Regen unterhalten wollte. Er wisse etwas darüber, habe er ihm gesagt.«
»Onkel Moritz?« Noah dachte an seinen Onkel, der 2002 auf tragische Weise verstorben war. »Was wusste er?«
»Das weiß ich nicht. Moritz musste das Telefonat unterbrechen, bevor er Jessica Dixons Vater etwas über das Gemälde mitteilen konnte. Kurz darauf starb Moritz. Jessica Dixon hat viele Jahre später von dem Telefonat erfahren. Sie vermutet nun, dass deine Großmutter und ich ebenfalls etwas wissen. Was wir nicht tun. Das habe ich ihr schon am Telefon deutlich gesagt. Und was macht sie? Kontaktiert hinter meinem Rücken Michael.«
Noah versuchte die eben erhaltenen Informationen zu ordnen und blickte nachdenklich auf das Bild der Tänzerin, als könnte ihm die Frau darauf eine Antwort geben. »Ich finde, wir sollten Jessica Dixon helfen«, sagte er. »Michael wollte das auch.«
»Helfen!«, rief sein Vater aus, gefolgt von einem Schnauben. »Mir wäre es lieber, sie würde wieder verschwinden.«
»Warum? Du hast ja nichts zu befürchten. Oder?«
»Nein, natürlich nicht.« Er zupfte mehrmals an seinem Schnauzer, was fast ein wenig aussah, als wollte er hartnäckige Essensreste daraus entfernen. Dann sah er auf seine Jaeger-LeCoultre am Handgelenk. »Ich muss noch einen dringenden Anruf erledigen. Wenn du also …« Er deutete mit dem Kopf zur Tür und griff bereits zum Hörer.
Noah erhob sich und verließ das Büro. Als er durch den Korridor schritt, dachte er über das Gespräch nach und fragte sich, was sein Vater ihm verheimlichte und warum.
Um kurz nach fünf verließ Helena den Personalausgang des Kronenbergs voller Euphorie. Sie hatte es geschafft! Sie hatte wieder einen Job!
Der Probetag zusammen mit dem portugiesischen Zimmermädchen Marta war anstrengend gewesen, denn sie hatte bereits mehrere Zimmer putzen müssen: Bettwäsche gewechselt, Toiletten-, Duschen- und Badewannen geschrubbt, Spiegel- und Glasscheiben auf Hochglanz poliert, Böden gewischt und gesaugt. Am Ende hatte sie aber den Preis für ihren Einsatz erhalten: eine Anstellung im Kronenberg. Am Montag konnte sie den Vertrag unterschreiben.
Helena wusste, dass sie keinen Traumjob ergattert hatte. Die Angst vor einem Zusammentreffen mit Ralph Kronenberg würde zukünftig ihr ständiger Begleiter sein. Dann das schlechte Gehalt. Aber sie durfte endlich wieder arbeiten.
Euphorisch überquerte sie die Straße und wartete auf den Bus. Ihr Fahrrad hatte über Nacht einen platten Reifen gekriegt, vermutlich das Werk eines Marders. So hatte sie den Bus genommen, dessen Ticket mit sechs Franken zwanzig ein tiefes Loch in ihre Geldbörse riss. Immerhin war sie jetzt schneller zu Hause. Das Rad würde sie selbst reparieren, sie besaß noch einen Ersatzreifen, und ihr Vater hatte ihr den Vorgang mal gezeigt. Schon ihre Eltern hatten aufs Geld achten müssen, mussten es immer noch. Helena unterstützte die beiden monatlich mit dreihundert Franken, weil sie sonst nicht über die Runden kämen. Ihre Mutter arbeitete als Friseurin, und ihr Vater hatte seinen Job als Gerüstbauer wegen eines Rückenleidens vor acht Jahren aufgeben müssen. Mit seinen damals achtundfünfzig Jahren hatte er nichts Neues mehr gefunden und lebte mittlerweile von seiner kleinen Rente und der Invalidenversicherung. Für Helena war es selbstverständlich, dass sie ihre Eltern unterstützte, obwohl sie das Geld selbst auch brauchen konnte. Gerade heute hätte sie gerne den neuen Job gefeiert und für die Kinder und sich etwas Gutes zum Abendessen gekauft.
Als sie wenig später nach Hause kam, waren die Zwillinge in der Küche und schnippelten Peperoni und Zucchini für eine Tomatensauce. Helena hatte das Gemüse gestern Abend von einer Nachbarin erhalten, die in die Sommerferien verreist war.
»Hallo, Mama, wie lief es?«, fragte Jonas gleich und blies sich eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht.
»Gut, danke. Ich habe den Job. Am Montag werde ich den Vertrag unterschreiben und am Dienstag kann ich beginnen.«
»Hey, das ist genial! Ich freue mich für dich.«
»Danke.« Sie schaute zu Jolina, die nur die Nase rümpfte und weiter die Zucchini schnitt. Helena staunte immer wieder, wie verschieden ihre Kinder waren, obwohl sie sich neun Monate zusammen ihre Gebärmutter geteilt hatten. Jolina war launisch, wild und aufbrausend, Jonas hingegen stets gut gelaunt und gelassen. Helena liebte Jolina aber nicht minder. Nur manchmal wünschte sie sich, das Mädchen hätte mehr von Jonas’ verständnisvollem Wesen. Besonders dann, wenn sie ihr wieder mal klarmachen musste, dass sie einfach kein Geld für die teuren Klamotten und Schuhe hatten, nach denen sie sich so sehnte.
Jonas gab die Peperoni zu den Zwiebeln. Es brutzelte und zischte. »Echt cool, dass du im Kronenberg arbeiten wirst.«
Jolina warf ihm einen entgeisterten Blick zu. »Cool? Sag mal, spinnst du? Sie muss dort die Scheiße von anderen wegputzen!«
»Na und? Jeder fängt mal klein an. Bist du fertig mit der Zucchini?«
Jolina reichte ihm das Brett, und während Jonas das Gemüse andünstete, plapperte er munter vor sich hin. »Ich finde Hotels echt cool. Vielleicht mache ich nach der Matura die Hotelfachschule. Die vergeben übrigens Stipendien.«
Helena fuhr ihm über den Rücken. Sie war stolz auf die guten schulischen Leistungen ihrer Kinder und hoffte sehr, dass sie es später besser haben würden.
Während Jonas dem Gemüse Tomatenmark hinzugab und Helena sich um die Pasta kümmerte, deckte Jolina den Tisch. »Ach Mama«, sagte sie. »Jane hat gestern gemeint, dass sie uns bei der Suche nach Papa helfen kann.«
»Wie bitte?« Beinahe wäre Helena die Pennepackung aus der Hand gefallen.
»Jane ist Claires Mutter, falls du das vergessen hast.«
»Nein, habe ich nicht. Wie will sie uns denn helfen?«
»Sie ist ja der Boss von Renner Media und hat gute Kontakte. Sie kennt viele Leute in Amerika, die über die Medien und Facebook einen Großaufruf starten könnten. Zum Beispiel: Helena aus der Schweiz sucht den Vater ihrer Kinder, den Amerikaner Jack, den sie im Dezember 2001 kennengelernt hat. Auch in der Schweiz würde Jane die Nachricht verbreiten. Und man könnte nachforschen, ob ein gewisser Jack damals in der Bar mit seiner Kreditkarte bezahlt hat. Vielleicht findet man dadurch seinen Nachnamen heraus.«
Helena schüttete die Penne in das kochende Wasser. »Das habe ich damals auch versucht. Aber er muss bar bezahlt haben.«
»Dann vielleicht doch die Medien-Aktion. Was meinst du?«
Helena versuchte nach außen gelassen zu bleiben, doch innerlich tobte es. Sie hatte schon während der Schwangerschaft zusammen mit ihren Eltern überlegt, was sie den Kindern einmal über ihren Vater erzählen würde. Sie waren auf drei Möglichkeiten gekommen, die aber alle nicht richtig befriedigend waren: Helenas erste Wahl wäre die Wahrheit gewesen, doch ihre Eltern hatten sie ihr schnell ausgeredet, aus Angst vor den Kronenbergs. Außerdem könnte es ein schlechtes Licht auf Helena werfen, wenn die Kinder alles erfahren würden, so das Argument ihrer Mutter. Helena zog Möglichkeit Nummer zwei in Erwägung: der tote Vater. Aber ihr vorausdenkender Papa hatte eingeworfen, dass die Kinder in diesem Falle irgendwann nach Großeltern oder Verwandten väterlicherseits fragen würden. Oder zumindest nach einem Nachnamen. Sie hätte dem toten Vater demnach ein Gesicht verleihen müssen, was nicht möglich war. Also entschied sie sich auf Rat ihrer Eltern für Möglichkeit Nummer drei: die verhängnisvolle Nacht mit einem Unbekannten.
Zwei Jahre später war Dominik Saxer aufgetaucht, der neue Nachbar. Ein paar Jahre älter als Helena selbst, attraktiv, nett und mit fester Anstellung als Koch. Sie wurden ein Paar. Dominik kümmerte sich so rührend um sie und ihre damals zweijährigen Zwillinge, dass sie schnell einen Ersatzvater in ihm sah und nach zwei Jahren Beziehung seinen Heiratsantrag annahm. Er adoptierte die Kinder, sie wurden eine richtige Familie. Dennoch wollte er sich nicht als leiblicher Vater der Kinder ausgeben, wofür Helena Verständnis hatte. Nach drei Jahren kriselte es in der Ehe, was hauptsächlich an Dominiks verschwenderischem Lebensstil lag. Helena konnte nicht damit umgehen, dass er dadurch öfter Schulden machte, und sie stritten sich fast jeden Tag. Dann verliebte sich Dominik in eine holländische Arbeitskollegin und zog zu ihr. Helena reichte die Scheidung ein.
In den ersten Wochen nach der Scheidung kümmerte sich Dominik noch um die Kinder, aber dann wurde seine Freundin schwanger und die Besuche nahmen ab. Er wanderte mit der neuen Familie nach Holland aus, eröffnete ein eigenes Restaurant und scheiterte nach ein paar Jahren. Nach dem Konkurs blieben große Schulden. Alimente konnte er noch immer keine bezahlen.
Für die Kinder war Dominiks Weggang nicht einfach, da er wie ein Vater für sie gewesen war. Mit ihren damals sieben Jahren begannen sie vermehrt Fragen nach ihrem richtigen Vater zu stellen, und Helena vertraute ihnen die abenteuerliche Variante an: Dass er ein Amerikaner sei, der zurück in sein Land hatte kehren müssen, um Menschen zu helfen. Später, als die Kinder älter waren, erzählte sie ihnen die Variante, die sie schon während der Schwangerschaft einstudiert hatte. Dass der Amerikaner ein Tourist gewesen sei, den sie in einer Bar kennengelernt habe. Sie hätten die Nacht vor seiner Abreise zusammen verbracht, danach habe sie ihn nie wieder gesehen, habe weder seine Nummer noch seinen vollen Namen. Jack hieße er, mehr wisse sie nicht. Den eigenen Kindern erzählen zu müssen, dass sie bei einem One-Night-Stand schwanger geworden sei, war beschämend gewesen, aber immer noch besser und vor allem ungefährlicher als die Wahrheit. Es war ihr immer nur um das Wohl ihrer Kinder gegangen. Sie belügen zu müssen empfand sie jeden einzelnen Tag als Qual.
Die Kinder hatten die Nachricht über den One-Night-Stand recht gut aufgenommen, und nur Jolina hatte schon damals gemeint, dass man Jack doch irgendwie finden müsse. Nun war es ihr tatsächlich ernst damit. Helena dachte nach. Natürlich könnte sie Jolina die Medien-Aktion durchführen lassen, sie fände Jack ja ohnehin nicht, weil er gar nicht existierte. Aber sie würde ihre Kinder dadurch unnötiger Hoffnung aussetzen, das wäre nicht fair. Außerdem zöge der Medienrummel garantiert die Aufmerksamkeit der Kronenbergs auf sich, was ein hohes Risiko mit sich brächte. Der Job im Kronenberg war schon waghalsig genug.
Helena überlegte fieberhaft, wie sie Jolina diese Idee austreiben konnte. Sie blickte kurz zu Jonas, der sich noch nicht geäußert hatte und seine Tomatensauce umrührte.
»Warum willst du ihn unbedingt finden?«, fragte sie ihre Tochter und tadelte sich im selben Moment für die dumme Frage.
Jolina, die das Besteck aus der Schublade nahm, sah sie an, als müsste das doch klar sein. »Na weil er mein Vater ist! Und er hat ein Recht darauf, von Jonas und mir zu erfahren. Wer weiß, vielleicht lebt er ganz alleine … in einem riesigen Haus in Kalifornien … Dann könnten wir alle dort leben und hätten keine Geldsorgen mehr.«
Helena schnaubte. »Darum geht es dir also? Um unsere finanzielle Situation? Nur deshalb willst du ihn suchen? Weil er vielleicht ein großes Haus besitzt?«
Jolinas dunkle Augen schossen Blitze in ihre Richtung. Mit den Messern und Gabeln in den Händen sah sie aus wie eine Verrückte. »Nein! Ich will ihn suchen, weil ich endlich wissen will, wie er ist. Ja, du hast ihn uns als dunkelhaarig, groß und nett beschrieben, aber Mama, das reicht mir nicht.« Sie wirkte nun nicht mehr wütend, sondern beinahe verzweifelt. »Ich will wissen, wie er lacht, oder was er macht, wenn er traurig ist. Wie er reagiert, wenn er wütend wird. Ob er genauso easy drauf ist wie Jonas oder eher stürmisch wie ich. Ich will wissen, was er für Hobbys hat und für Talente. Und noch so vieles mehr. Es geht mir nicht darum, dass er reich sein könnte, ich will ihn einfach kennenlernen.«