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In seinem dramatischen Kriminalroman lässt der Autor Entwicklungen ab 1990 Revue passieren, enthüllt geheime politische Mechanismen und beleuchtet die permanenten Bedrohungen der Freiheit. Selten wurden der Missbrauch politischer Macht und die Probleme der Wiedervereinigung und so spannend, authentisch und schonungslos geschildert. Darüber hinaus bekommen die Leser unterhaltsame Einblicke in historische Bezüge und die Thüringer Lebenswirklichkeit.
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Stefan Sethe
Das Geheimnis des Bischofs
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorbemerkung
Dr. Edelmann verschwindet spurlos
Andreas Stefani wird misstrauisch
Kommissarin Rose sehnt sich nach einem handfesten Bankraub
Theatertreffen
Recherche in der Polizeidirektion
Wer ist der Scheich?
Religion und Politik
Edelmann Fantomas?
Der Sekretär des Bischofs
Im Reitstall
Drohungen
Gutenbergs Schüler
Nostalgie
Amoklauf
Die „treuen Unterthanen hiesiger Stadt“
Unerfindliche Gänge
Spurensuche
Felsenkeller
Im Untergrund
Spaghetti all´amatriciana
Archiv der Staatskanzlei
Sie haben noch einen Tag!
Im Zentrum der Macht
System der Unterdrückung
Hartmann macht ernst
Klinikstress
Todesangst
Flucht
zu spät
Jenenser Exil
Misserfolg
Macht der Presse
Aus einem Brief Stefanis an Lea
Aus einem Brief Leas an Stefani
Wahrscheinlichkeitsrechnung
Impressum neobooks
Donnerstag, 19. Februar
Dr. Tamara Edelmann war von ihrem Arbeitsplatz in der Thüringer Staatskanzlei verschwunden. Einfach so. Ihr beiger Mantel hing noch am Garderobenhaken neben der Tür, die hellbraune Handtasche fand man später in der untersten Schreibtischschublade, wo Frau Edelmann jeden Morgen ihre Tasche deponierte, neben Kamm, Taschentüchern und einigen persönlichen Utensilien.
Zunächst fiel das Verschwinden der kleinen, zurückhaltenden, immer äußerst korrekt gekleideten Frau nicht weiter auf. Es war Weiberfastnacht. Wie in jedem Jahr ging es an diesem Karnevalstag in der Thüringer Staatskanzlei besonders hoch her. Als wohl einzige Staatskanzlei Deutschlands verfügte die Thüringer Regierungszentrale im barocken Gebäude der einstigen Mainzer Statthalterei über einen eigenen Elferrat. Es war dies ein unverkennbares Relikt aus der Jahrhunderte alten Verbindung zur Karnevalshochburg Mainz, die auch zu DDR-Zeiten nicht abgebrochen war.
Bereits vor über 1250 Jahren war das Bistum Erfurt mit jenem von Mainz vereinigt worden. 1664 wurde die einst stolze und relativ autonome Stadt Erfurt von den Mainzern unterworfen und bis 1802 von einem Kurmainzischen Statthalter regiert, der in eben jener Statthalterei residierte, wo auch an dieser Weiberfastnacht die Narren wieder ein- und ausgingen. Angesichts der über tausendjährigen Zugehörigkeit zum Erzbistum Mainz verwundert es nicht, dass das Erfurter Stadtwappen dem Mainzer Rad entlehnt ist und der Heilige Martin als Patron beider Regierungssitze herhalten muss. Die Mitgliedschaft im renommiertesten Karnevalsklub ist in beiden Städten unabdingbare Voraussetzung, um geschäftlich oder politisch ein Bein auf die Erde zu bekommen.
Weiberfastnacht ging daher auch an der Staatskanzlei wieder alles andere als spurlos vorbei. Selbst die sonst etwas spröde wirkende Tamara Edelmann hatte sich dem Trubel nicht entziehen können. Man hatte sie im grünen Hexenkostüm und schon recht angeheitert kurz nach dem Einmarsch des Erfurter Prinzenpaares im trauten Gespräch – manche sagten eng umschlungen – mit einem großwüchsigen Scheich im Burnus gesehen, der sie um fast einen halben Meter überragte. Den krönenden Abschluss des offiziellen Teiles der Karnevalssitzung hatten traditionsgemäß die Buschfunker Hans-Werner Fell und Michael Meinung bestritten, die – nomen est omen – in der Tat mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg hielten und deshalb wohl auch seit einem Jahrzehnt nicht mehr befördert worden waren. Zu diesem Zeitpunkt hatten Hexe Edelmann und der unbekannte Scheich noch schunkelnd in den Refrain eingestimmt:
„Ja wenn bei uns der Buschfunk geht,
ist alles schon geschehen, natürlich aus Versehen,
ja wenn bei uns der Buschfunk geht,
da ist es alles schoooon zu spät!“
Bei der zugegeben nicht sehr geistvollen vorletzten Strophe:
„für die Pendler spar man die Pauschale,
fordert Neukate in so manchem Saale,
er selbst parkt im Hofe vor der Tür,
ohne Spritgeld oder Parkgebühr“
waren sie jedoch aufgestanden und im Treppenhaus verschwunden.
Danach verlor sich die Spur von Frau Dr. Edelmann.
Freitag, 20. Februar
Dass Dr. Edelmann am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, war bei dieser stets korrekten und zuverlässigen Mitarbeiterin mit der streng wirkenden Brille und meist hochgesteckten Frisur zwar ungewöhnlich, aber schließlich war Karneval und Dr. Edelmann stammte aus Dachwig, einem Vorort von Erfurt, wo sie womöglich anschließend noch weiter gefeiert hatte. In der Dachwiger Narrenhalle ging es zur Faschingszeit meist besonders heftig zur Sache. Die Scherze waren dort recht zotig, und die politischen Witze - oft auf Kosten des Nachbarn - trafen mitunter derartig unter die Gürtellinie, dass man sich fragte, wer das Dorf nach Karneval jeweils wieder befrieden sollte. Die lähmende Wirkung des gefährlichen Gemischs aus Nordhäuser Doppelkorn und Braugold-Bier hielt in Dachwig nicht selten etliche Tage an.
Vielleicht war Tamara Edelmann aber auch nur in den Armen des unbekannten Scheichs versunken. Man munkelte und spottete über das ungleiche Paar, aber die Kolleginnen, und namentlich die Kollegen, gönnten ihr ein kleines oder auch größeres Abenteuer. Niemals zuvor war sie in Begleitung eines Mannes gesehen worden, was bei dieser stets freundlichen, aber mitunter etwas aseptisch wirkenden Frau schon oft zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben hatte.
Montag, 23. Februar
Rosenmontag war Dr. Edelmann jedoch immer noch nicht wieder an ihrem Arbeitsplatz aufgetaucht. Man fand in ihrer Handtasche Auto-, Büro- und Haustürschlüssel, das Portemonnaie mit Ausweisen und Kreditkarten, und auch das Handy lag in der unverschlossenen Schreibtischschublade. Telefonisch meldete sich in ihrem Appartement in Dachwig niemand. Ein eilig nach Dachwig entsandter Wagen der Fahrbereitschaft fand im kleinen Dachgeschoss eines Fachwerkhauses neben der Kirche nur ihre ordentlich aufgeräumtes, menschenleeres Appartement vor. Aus dem Briefkasten quollen die „Thüringer Allgemeine“ vom Freitag, Samstag und Montag, das katholische Wochenblatt „Tag des Herren“, eine TeGut-Werbung und eine Telefonrechnung der Telecom. Der Käfig mit einem halb verhungerten, trübsinnigen Kanarienvogel wurde einer Kollegin übergeben.
Spätestens jetzt hätte man die Polizei einschalten sollen, wenn man sich ernsthafte Sorgen gemacht und die Hoffnung gehabt hätte, noch irgendwelche Spuren finden zu können. Aber der Chef der Staatskanzlei, Jürgen Graus, ein ungehobeltes Bübchen-Gesicht, bei dem niemand so recht wusste, wie er zu diesem Amt gekommen war, scheute öffentliches Aufsehen. Als gebürtiger Rheinland-Pfälzer, der 14 Semester in Bonn verbracht und nicht minder lang und intensiv den Kölner, später auch Mainzer Karneval studiert hatte, wisse er aus Erfahrung, dass sich solche Fälle immer schon am Aschermittwoch, spätestens Donnerstag, in Wohlgefallen auflösten. Des Wessis Wille hatte wieder einmal auch das Himmelreich für seine Untergebenen zu sein, auch wenn sie sich mittlerweile sehr ernsthafte Sorgen machten.
Freitag, 27. Februar
Erst am Freitag gegen 16 Uhr, als fast alle Bediensteten das Haus schon verlassen hatten, fand sich Graus schließlich bereit, die Polizei zu informieren. Dies geschah letztlich vor allem auf Drängen seiner engsten Mitarbeiter, die fürchteten, das Verschwinden einer Angestellten der Staatskanzlei könne unkontrolliert und womöglich reißerisch kommentiert an die Öffentlichkeit dringen.
Von Graus instruiert, ließ es die Polizei gemächlich angehen. Erst recherchierte man ebenso diskret wie vergeblich im Bekannten- und offenbar nicht vorhandenen Verwandtenkreis der Verschwundenen, dann klapperte man ebenso vergeblich die Krankenhäuser ab. Zu einer öffentlichen Fahndung konnte man sich in der Polizeidirektion nicht entschließen, nachdem sich der Leitende Oberstaatsanwalt massiv eingeschaltet hatte.
Lea Rose, eine sportliche, junge, von ihren älteren Kollegen recht unverhohlen als karrieregeil apostrophierte Kriminalkommissarin, kam immerhin noch auf die Idee, die Bänder der Überwachungskameras auszuwerten, kurz bevor sie der Löschung anheimgefallen wären. Diese Bänder förderten nach mehrmaligem Durcharbeiten Verwirrendes zutage: Frau Dr. Edelmann schien die Staatskanzlei Weiberfastnacht nicht verlassen zu haben.
Dem Videomaterial war zu entnehmen, dass die promovierte Registratorin ihre Arbeitsstelle am Weiberfastnachtsmorgen um 8.12 Uhr betreten hatte. Sie hatte den Haupteingang an der Regierungsstraße 73 benutzt. Den beigen Mantel trug sie geöffnet. In der Hand hatte sie ihre Tasche und einen kleinen Plastikbeutel, in dem sich wohl ihr Kostüm befunden haben mochte. An der Pförtnerloge hatte sie ihren Büroschlüssel in Empfang genommen und ordnungsgemäß ihre Chip-Karte durchgezogen. Dies bestätigte auch ein Computerausdruck, der die An- und Abwesenheitszeiten registrierte. Es fehlte zwar eine korrekte „Gehen“-Buchung an jenem Tag, das war aber bislang niemandem aufgefallen, da den Teilnehmern an der Karnevalsveranstaltung ein pauschales Gehen um 16 Uhr angerechnet worden war.
Zwar konnten sich auch die Pförtner nicht daran erinnern, ob und schon gar wann Frau Dr. Edelmann Weiberfastnacht das Haus verlassen hatte. Aber auch das schien nicht sehr verwunderlich. Zum einen verfügte der Gebäudekomplex, im Karree um einen großen Innenhof gebaut, über vier Ein- und Ausgänge, zum anderen fühlten sich die Männer vom Wachschutz nur dafür verantwortlich, dass nichts und niemand Fremdes unbemerkt ins Gebäude kam. Was heraus ging oder getragen wurde, fiel nicht in ihren Verantwortungsbereich.
Soweit die Theorie. In der Praxis war es allerdings immer wieder bewundernswert, wie diese freundlichen Männer an der Pforte, obwohl hoffnungslos unterbezahlt, seit sie von Grausens Vorgänger Knapp zu einem privaten Wachdienst outgesourct worden waren, sich dennoch um alles kümmerten und über viele, oft allzu menschliche Dinge und Verwicklungen im Haus besser Bescheid wussten als der nicht gerade sonderlich dynamische Personalchef Mostrich.
Nein, die Pförtner hatten Frau Dr. Edelmann am besagten Abend nicht gehen sehen. Ihnen war nur aufgefallen, dass sie ihren Schlüssel nicht abgegeben hatte, was allerdings bei den Mitarbeitern häufiger vorkam, und dass die Registratur nachts nicht abgesperrt worden war, was schon ungewöhnlicher war, aber im Karnevalstaumel schon mal geschehen konnte.
Die Aussage der Pförtner deckte sich mit den Aufzeichnungen der Überwachungsanlage, mit der nicht nur alle Aus- und Eingänge lückenlos überwacht worden waren sondern auch die Straßen und Fußwege um das Gebäude. Nirgends war eine Spur von der Verschwundenen zu entdecken. Nach allen verfügbaren Informationen konnte Frau Dr. Edelmann das Gebäude nicht verlassen haben.
Dienstag, 3. März
Wohl oder übel musste Graus nun doch einer größeren Suchaktion zustimmen. Die Staatskanzlei mit ihren 237 Zimmern, Sälen und Kammern wurde vom Dachboden bis zum Gewölbekeller systemtisch durchkämmt. Jeder Winkel, jeder Schrank. Selbst die übergroße Kübelpflanze im Vorzimmer des Ministerpräsidenten Amsel musste sich ein vorsichtiges, wenngleich nicht ganz ernst gemeintes, Stochern im Erdreich gefallen lassen. Ein Suchhund kam zum Einsatz, aber nach inzwischen fast zwei Wochen fand dieser auch keine verwertbaren Spuren mehr. Ab und zu nahm die fast schwarze Schäferhündin zwar Witterung auf, führte aber immer wieder nur im Kreis oder in die Registratur oder in sonstige Räume, wo sich Dr. Edelmann häufiger aufgehalten hatte. Ein vom Suchhund mit besonderer Intensität verfolgte Spur endete in der Kantinenküche, wo gerade 115 Koteletts gebraten wurden.
Frau Dr. Edelmann jedoch blieb verschwunden. Die Durchsuchung ihrer kleinen Wohnung in Dachwig brachte ebenso wenig Erkenntnisse über ihren Verbleib wie der spärliche Inhalt ihres Schreibtisches oder ihr dunkelblauer Opel, der kurz darauf in der Meister-Eckehart-Straße gegenüber dem Ratsgymnasium gefunden wurde. Die Strafzettel an der Windschutzscheibe und Zeugenaussagen legten den Schluss nahe, dass der Wagen seit Weiberfastnacht nicht mehr bewegt worden war.
So sehr Graus und Regierungssprecher Cäsar auch um Diskretion bemüht waren, die Durchsuchung der Staatskanzlei mit vielen Polizeibeamten ließ sich nicht verheimlichen, zumal sie an einem Dienstag stattfand. Dienstags tagt jeweils das Kabinett; anschließend wird im Bürgersaal zur Pressekonferenz eingeladen.
An diesem Dienstag wurde der Presse vom Sozialminister der jährliche Verbraucherschutzbericht präsentiert. Aber natürlich fragten die Journalisten auch nach dem Grund der unübersehbaren Polizeipräsenz. Regierungssprecher Cäsar stellte sich unwissend. Er glaube, das sei wieder mal so eine dümmliche Bombendrohung, aber die Beamten hätten natürlich nichts gefunden und zögen schon wieder ab. Letzteres entsprach immerhin den erkennbaren Tatsachen, und da niemand so überzeugend die Unwahrheit sagen konnte wie Cäsar, bleib das Interesse der Medien gering und versiegte bereits am nächsten Tag völlig.
Letztlich hätte das spurlose Verschwinden von Frau Dr. Edelmann als ungelöster Fall in die Statistik eingehen können, falls man überhaupt im klassischen Sinn von einem Fall reden wollte, wenn nicht im Dachgeschoss gegenüber der Staatskanzlei Andreas Stefani seine Wohnung gehabt hätte. Haus zum ersten Schweinskopf war in altertümlichen Lettern über der Haustür der Regierungsstraße 4 zu lesen. Es gehörte zu jenen unzähligen Gebäuden in Erfurt, die aus einer spätmittelalterlichen Zeit stammten, als die Häuser noch durch phantasievolle Namen, wie „Zum schwarzen Ross“, „Zum breiten Herd“, „Zur hohen Lilie“ oder „Zum goldenen Helm“ statt durch profane Hausnummern unterschieden wurden. Stefani hätte sich eine weniger ehrenrührige Adresse denken können, war allerdings den Verdacht nie los geworden, dass mit dem ersten Schweinskopf niemals die Bewohner seines Hauses gemeint waren, sondern es sich eher um eine reichlich unbotmäßige Anspielung auf den Residenten gegenüber gehandelt haben könnte.
Andreas Stefani galt als umgänglich gegenüber Kollegen, aber schwierig gegenüber Vorgesetzten. Er war früher in der Staatskanzlei beschäftigt gewesen. Dass er vor einiger Zeit aus Protest gegen bürokratische Verkrustungen, Verschwendung, feudalistische Strukturen, Entmündigung und Vorgesetztenwillkür seinen gut bezahlten Posten als Leitender Ministerialrat aufgekündigt hatte, sorgte bei den Kollegen für wenig Überraschung und bei seinen Chefs für aufatmende Erleichterung.
Wenn sich der etwas untersetzte Eigenbrötler auf die Zehenspitzen stellte, konnte er vom Nordfenster seiner Wohnung aus direkt ins Arbeitszimmer und auf den Schreibtisch seines früheren Chefs, Ministerpräsident Bernhard Amsel, schauen.
Stefani, trotz seines italienisch klingenden Namens ein gebürtiger Bayer, war schon im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung, nach Erfurt gekommen. Frau und Kinder waren in Bonn geblieben. Stefani bezeichnete sich selbst als einen „Dreitages-Sympath“. Drei Tage am Stück konnte er ein freundlicher, sympathischer Mensch sein – das Ideale für Wochenendreisen und Kurzbesuche. Aber dann überwog meist schon seine Menschenscheu, und er zog sich wieder zurück. Nach mehreren gescheiterten Liebschaften hatte er daher beschlossen, sich nicht wieder fest zu binden. Seine Söhne glaubten bei ihren seltenen Besuchen eine zunehmende Verschrobenheit an ihrem Vater wahrnehmen zu können.
Nach seiner Übersiedelung in die Thüringer Landeshauptstadt diente Stefani zunächst dem ersten Thüringer Ministerpräsidenten, Josef Dokic als Stellvertretender Regierungssprecher. Nie hatte Stefani einen Menschen so schnell lernen sehen. Zudem entpuppte sich Dokic als Organisationstalent. Fast alles, was Thüringen heute ausmachte, war strukturell schon in Dokics kurzer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden. Als Bernhard Amsel Anfang 1992 die Regierungsgeschäfte übernahm, musste er letztlich nur noch verwalten und umsetzen, was Dokic ihm hinterlassen hatte. Kreatives Gestalten war ohnehin nicht die Stärke des CDU-Politikers. Darin glich er seinem SPD-Bruder Jochen Amsel. Auch dieser hatte in seiner Zeit als Bundesjustizminister ohne große eigene Phantasie nur das umgesetzt, was ihm Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, als Zielpunkte hinterlassen hatte.
Da Stefani auch schon im Leitungsbereich des SPD-Bruders gearbeitet hatte, galt er in Erfurt als Ornithologe, seit er vom CDU Bruder Bernhard in seinem Amt als Stellvertretender Regierungssprecher bestätigt worden war.
Nach etlichen unerfreulichen Querelen mit Graus, Cäsar und auch schon Amsels designiertem Nachfolger Neukate, hervorgerufen nicht zuletzt auch durch Stefanis falsches Parteibuch, hatte Stefani die Notbremse gezogen und gekündigt. Er arbeitete jetzt als mehr schlecht als recht bezahlter freier Journalist. Dabei kamen ihm seine alten Kontakte und vor allem auch sein exklusiver Fensterblick ins meist ziemlich unaufgeräumte Innenleben der Macht sehr zu Hilfe, wenn er einer politischen Story auf der Spur war.
Obgleich Stefani die heutige Vorlage des Verbraucherschutzberichtes nicht sonderlich interessierte, zumal dieses Thema bereits von seinen fest angestellten Kollegen abgehandelt wurde, hatte er sich zur Pressekonferenz im Bürgersaal der Staatskanzlei eingefunden. Stefani kannte seinen früheren Chef Cäsar leider zur Genüge, trotzdem ließ sogar er sich immer wieder einwickeln von Cäsars sympathisch überzeugenden Art, die pure Unwahrheit zu sagen. Später dämmerte ihm dann allerdings meist doch noch, dass wieder einmal etwas dramatisch beschönigt worden war. So auch in diesem Fall: Eine Bombendrohung, die einerseits offenbar von der Polizei ernst genommen wurde, bei der aber nicht gleichzeitig das Gebäude geräumt wurde, war nur schwer vorstellbar. Außerdem hatte Stefani morgens eine Beobachtung gemacht, die er noch nicht ganz einordnen konnte:
Das Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten lag etwas tiefer als Stefanis Wohnung. Er konnte daher nicht den ganzen Raum überblicken. Nahezu auf gleicher Ebene lag jedoch das Arbeitszimmer des Chefs der Staatskanzlei. Morgens hatten sich einige Polizisten in eben diesem Zimmer eingefunden. Es fand offenbar eine Art Lagebesprechung statt. Später kam ein schwarzer Schäferhund dazu. Diesem war ein beiger Mantel vor die Nase gehalten worden. Vielleicht hatte sich jemand eingeschlichen, der nun gesucht wurde? Womöglich ein etwas verwirrter Attentäter? Stefanis wacher politischer Instinkt sagte ihm, dass etwas im Gange war, was er scharf im Auge behalten sollte.
Zwei Stunden später zündete sich Stefani unter dem Renaissance-Erker neben dem Haupteingang der Staatskanzlei eine Zigarette an. Es dämmerte schon. Neben ihm stand Friedhelm Obertür, einer der Pförtner. Obertür hatte seine Zigarette eben fertig geraucht, warf den Stummel in den Gully und wandte sich mit einem kurzen Gruß zum Gehen.
„Habt ihr den Attentäter?“ klopfte Stefani auf den Busch. Obertür wandte sich noch einmal um und schaute verwundert. Stefani registrierte, dass er sich wohl doch auf einer falschen Fährte befand. „Na, wegen des Polizeiauftriebs heute.“
„Ach so, - nein, das war nur eine Übung.“ Dabei blinzelte Obertür jedoch grinsend.
Stefani hatte sich in seiner Zeit als Personalratsvorsitzender besonders auch für das Wachpersonal eingesetzt, obwohl es nicht zur Stammbelegschaft gehörte. Die Pförtner schätzten ihn deshalb, und darum wollte Obertür ihn auch nicht frech anlügen. Anderseits war klar, man hatte ihnen einen Maulkorb verpasst. „Übung“ lautete die Sprachregelung.
Mehr würde Obertür nicht zu entlocken sein. Schließlich hatte er Angst um seinen Job. Erst neulich war ein Kollege auf Betreiben der Staatskanzlei entlassen worden, weil er gewagt hatte, in der Pförtnerloge einen Blick ins „Neue Deutschland“ zu werfen, was allerdings auch strohdumm war. Gegen die Thüringer Allgemeine, bis vor kurzem noch das peinlich unkritische Quasi-Regierungsblatt, hätte niemand etwas gehabt.
Immer mehr Mitarbeiter machten Feierabend und kamen aus dem Gebäude. Stefani versuchte hier und da noch etwas über die Durchsuchungsaktion zu erfahren, stieß aber auf wenig Bereitschaft, ihn einzuweihen. Seine Exkollegen mochten ihn zwar größtenteils, hatten aber offenbar wieder einmal Angst um die Karriere, wenn sie mehr sagten, als der Hausspitze opportun erschien.
Stefani fühlte sich an die Zeit erinnert, als er sich genötigt sah, gerichtlich gegen die Staatskanzlei vorzugehen. Besonders hatte ihn damals das Verhalten der Kollegen belastet. Traf man Stefani auf dem Gang, dann wurde er flüsternd zu seiner Klage gegen die arrogante Hausleitung beglückwünscht. Aber öffentlich in der Kantine wagte ein Vierteljahr lang niemand, sich an Stefanis Tisch zu setzen. Auch nach der für Stefani erfolgreichen Beendigung des Prozesses änderte sich daran zunächst wenig, obgleich er in geheimer Wahl in den Personalrat und zu dessen Vorsitzenden gewählt wurde.
Sein Personalratsbemühen, die Kollegen zu emanzipieren, war allerdings kaum vom Erfolg gekrönt. Während sich in den westlichen Bundesländern schon lange ein akzeptiertes Verhältnis zwischen Personalrat und Verwaltungsspitze eingespielt hatte, herrschte im Osten fast überall noch „Krieg“. Knapp behinderte die Arbeit des Personalrates, wo er nur konnte, und in all den Jahren hatte es Stefani niemals erlebt, dass auch nur ein Mitarbeiter es gewagt hätte, in der Personalversammlung ein kritisches Wort an die Behördenleitung zu richten, die ähnlich feudalistische Rechte für sich beanspruchte, wie weiland die Kurfürsten oder die ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitung.
Irgendwann hatte es Stefani nicht mehr in diesem System ausgehalten, wo Personalentwicklung mit Entlassung gleichgesetzt wurde und Vorgesetzte es als Zeichen von Faulheit und Schwäche brandmarkten, wenn jemand ein Seminar zur Mitarbeiterführung oder Mitarbeitermotivation belegen wollte.
Stefani löschte seine Zigarette. Es hatte zu schneien begonnen. Heute würde er nichts mehr erfahren.
Mittwoch, 4. März
Am Mittwoch berichteten die Thüringer Allgemeine und die Thüringer Landeszeitung in einer kleinen Notiz von einer Bombendrohung in der Staatskanzlei. Die Ostthüringer Zeitung und das Freie Wort erwähnten den Vorfall überhaupt nicht. Donnerstag sprach keiner mehr davon.
Freitag, 6. März
Auch Lea Rose hatte die Notiz vom Mittwoch gelesen. Die Kommissarin war in der Mittagspause die paar Schritte von der Dienststelle in der Andreasstraße hinauf auf die Zitadelle Petersberg gelaufen und schaute über die mittelalterliche Stadt mit ihren vielen, von der Sonne bestrahlten, schneebedeckten Türmen. Im letzten Jahr war hier eine Glockensymphonie uraufgeführt worden. Eine Hommage an die unzähligen Kirchen und Türme auf engstem Raum. Zugegeben, das Zusammenspiel der 25 teilnehmenden Geläute der Altstadt war nicht ganz optimal gewesen, aber in welcher anderen Stadt wäre ein solches Unterfangen überhaupt möglich?
Der Fall Edelmann ging ihr nicht aus dem Kopf. Was stimmte da nicht? Eine Unverfrorenheit, die Durchsuchung vor drei Tagen als Bombendrohung abzutun. Obwohl - vielleicht war es wirklich eine Bombe, nach der sie gesucht hatten; eine politische Bombe? Die Staatskanzlei mauerte wieder einmal. Alles erinnerte sehr an das unglaubliche Verhalten der Regierungsspitze im Fall Pilz. Damals war besonders offensichtlich, dass die Landesregierung etwas zu verbergen hatte.
Pilz war wegen Subventionsbetruges angeklagt worden. Der Unternehmer hatte mit hoher staatlicher Förderung in Albrechts, einem kleinen Ort bei Suhl, ein CD-Werk bauen lassen. Lea Rose war zufällig bei der Grundsteinlegung 1991 im Festzelt dabei gewesen. Eine Freundin aus Oberhof half beim Servieren und hatte sie mitgenommen. Es war heiß und schwül gewesen, Fahnen flatterten, es gab Bratwürste, Brätel, Bier und Gratis-CDs, Bundeswirtschaftsminister Möllemann hatte gesprochen. Es handelte sich um das erste deutsch-deutsche Jointventure, ein Vorzeigeprojekt der ersten Stunde, was sich die Landesregierung nicht einfach kaputt machen lassen wollte. Auch als die Lage für die Firma immer prekärer wurde und sogar der damalige Thüringer Wirtschaftsminister erste Bedenken äußerte, wurden noch weitere Staatsgelder in das Unternehmen gepumpt. Man sprach von einer halben Milliarde Mark. Und der Verdacht war nicht von der Hand zu weisen, dass zumindest grob fahrlässig gutes Geld schlechtem hinterher geworfen wurde.
Natürlich war die Staatskanzlei unter diesen Umständen nicht besonders interessiert an einer Aufklärung des Skandals. Es ging um Reputation und vor allem um etliche hundert Millionen, die eventuell an die EU in Brüssel hätten zurückgezahlt werden müssen. Die CDU hätte zur nächsten Landtagswahl gar nicht erst antreten müssen. Aber die Art und Weise, wie anschließend insbesondere auch von Graus agiert worden war, erinnerte mehr an eine Bananenrepublik als an einen stolzen Freistaat.