Das Geheimnis von Pine Shadow - Josh Lanyon - E-Book

Das Geheimnis von Pine Shadow E-Book

Josh Lanyon

4,7

Beschreibung

Eine mysteriöse Ausgrabungsstätte, Schüsse aus dem Nichts und eine Leiche, die plötzlich verschwindet. So hat sich Adrien English seine Auszeit auf der Pine Shadow Ranch nicht vorgestellt. Der attraktive Krimi-Autor will dort an seinem neuen Buch schreiben und sich von der komplizierten Beziehung zu Detective Riordan ablenken. Doch an Erholung ist nicht zu denken - Adrien wird mit immer neuen Fragen konfrontiert: Was führen die Forscher auf dem Gelände wirklich im Schilde? Welche Geheimnisse birgt das städtische Museum? Und wo ist bloß der Wächter der Ranch abgeblieben? Adrien nimmt den Fall selbst in die Hand und begibt sich so in große Schwierigkeiten. Ein Spiel mit dem Tod beginnt ...

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1. Auflage 2015 © 2015, Bruno Gmünder GmbH Kleiststraße 23-26, D-10787 [email protected] Originaltitel: »A Dangerous Thing« © 2012 Josh Lanyon Aus dem Amerikanischen von Nicola Heine und Timm Stafe Umschlaggestaltung: Matthias Panitz Abbildungen Umschlag: shutterstock.com / Robert Ranson (Hintergrund), shutterstock.com / Ollyy (Vordergrund) eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86787-891-3

Mehr über unsere Bücher und Autoren:www.brunogmuender.com

1

Sie war jung und schön und tot. Sehr tot.

Das war schlecht. Sehr schlecht.

Lavinias lebloser Körper war ein wirres Durcheinander langer blonder Haare und langer weißer Gliedmaßen – und dann erst registrierte Jasons Hirn entsetzt, was seine Augen nicht hatten sehen wollen: Lavinias schlanke Arme endeten in zwei blutigen Stümpfen.

Ich hörte auf zu tippen und verzog das Gesicht. Der arme Jason. Zwei Tage lang waren wir schon damit beschäftigt, Lavinias Leiche zu entdecken, und immer noch wollte das Entsetzen einfach kein Ende nehmen.

Ich drückte auf ›Entfernen‹.

Sicherlich, Titus Andronicus war ein zweitklassiges Drama gewesen. Aber mein zweiter Jason-Leland-Krimi, Mord für des Mörders Hohn, war noch um einiges schlechter. Dass ich mir für den zweiten Auftritt meines Helden auch ausgerechnet Shakespeares berüchtigtstes Stück zum Vorbild hatte nehmen müssen. Das war wahrscheinlich der Grundfehler. Ich saß da und brütete vor mich hin, bis irgendwann das Telefon klingelte.

»Ich bin’s«, sagte Jake. »Ich muss für heute Abend absagen.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ich hab nichts anderes erwartet.«

Keine Antwort.

Die Stille dehnte sich, aber ich tat nichts dagegen – obwohl ich doch sonst ein so höflicher und umgänglicher Mensch war.

»Adrien?«, ließ sich Jake schließlich hören.

»Ja?«

»Ich bin Polizist. Das ist nun mal mein Beruf.«

»Klingt wie die Einleitung zu einem wunderbaren Vorabendkrimi.« Damit er nichts erwidern konnte, fügte ich hinzu: »Jake, keinen Stress. Ich find schon was, für heute Abend.«

Wieder Stille.

Mir fiel plötzlich auf, dass ich viel zu viel gelöscht hatte. Musste ich jetzt auf ›Bearbeiten‹ klicken, und dann auf ›Rückgängig‹? Oder nur auf ›Rückgängig‹? Oder Strg + Z? So ganz meine Welt war Word ja nicht.

»Na dann viel Spaß«, sagte Jake betont freundlich und legte auf.

»Bis bald«, murmelte ich, ins Freizeichen hinein.

Oder wie mein Dichter so schön zu sagen pflegte: So trübeSchwermut / das ist nun mein Leben.

Eine Weile saß ich einfach nur da und starrte den blinkenden Cursor an. Irgendwann wurde mir klar, dass es so einfach nicht weitergehen konnte – nicht mit Mord um des Mörders Hohn, und nicht mit meinem Leben.

Leise fluchend speicherte ich die Datei ab und machte den Rechner aus. Beenden und Herunterfahren. Na bitte, ging doch.

Ich lief die Treppe runter in den Laden, wo Angus, mein Assistent, gerade damit beschäftigt war, mit einem Teppichmesser Büchersendungen aufzuschlitzen. Es war doch immer wieder schön, dem ortsansässigen Hexenmeister bei der Arbeit zuzusehen.

»Ich muss mal für ’ne Weile raus aus der Stadt«, teilte ich Angus mit, der verzückt auf die blutverschmierte Axt starrte, die das Cover unseres letzten großen Bestsellers zierte.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich zu ihm durchgedrungen war. Er hatte nicht mal geblinzelt. Angus war groß, hager und leichenblass. Jake hatte sich einige nicht sehr schmeichelhafte Spitznamen für ihn ausgedacht, aber der Junge war intelligent und fleißig. Alles andere ging mich nichts an.

»Wieso?«, murmelte er schließlich.

»Weil ich Urlaub brauche. Und weil ich bei dem Trubel hier einfach nicht schreiben kann.«

Jetzt gelang es Angus doch, seinen bebrillten Blick von dem blutrünstigen Einband loszureißen. »Wieso?«

Nach Monaten erfolgreicher Zusammenarbeit konnte ich inzwischen fließend Angus.

»So ist das eben, mein Junge, ich kann’s auch nicht ändern. Schaffst du das, den Laden hier am Laufen zu halten?« Und die schwarzen Messen auf ein Minimum zu beschränken? Und nicht wieder alle meine Gourmetkekse aufzufuttern, doch, du weißt genau, welche ich meine?

Angus zuckte mit den Achseln. »Ich glaub schon. Aber in zwei Wochen geht die Uni wieder los.«

Ich hatte nie aus ihm herausbekommen können, was er an der UCLA studierte. Bibliothekswissenschaften? Oder doch Einführung in die Dämonologie?

»Bis dahin bin ich längst wieder da. Ich muss einfach mal raus, ein paar Tage vielleicht, nicht länger.«

»Wo soll’s denn hingehen?« So viel Interesse an meinen Aktivitäten hatte Angus die letzten zwei Monate nicht aufbringen können.

»Ich habe ein Grundstück, oben im Norden. Etwas außerhalb von Sonora, in der Nähe einer Kleinstadt, Basking. Ich dachte halt, warum eigentlich nicht. Da könnte ich doch hinfahren«, und fügte dann hinzu, »heute Abend.«

»Heute Abend noch?«

»Es ist doch erst halb fünf. Länger als sechs oder sieben Stunden brauche ich bestimmt nicht.«

Angus dachte darüber nach. Geistesabwesend fuhr er mit seinem Daumen an der Schneide des Teppichmessers entlang.

»So impulsiv bist du doch sonst nicht, Adrien«, stellte er schließlich fest. »Und was soll ich deinem Bullen erzählen?«

»Also mein Bulle ist er sowieso nicht«, sagte ich unwirsch. »Schließlich dient er vor allem seinem Staat.« Und wen er sich sonst so anlachte. Wobei, von Dienen konnte da wahrscheinlich nicht die Rede sein. »Und erzählen brauchst du ihm auch nichts, ich habe nämlich nicht vor, ihn in der nächsten Zeit zu sehen.«

»Oh.« Angus blickte wieder auf sein Messer, mit einem leisen Lächeln um die Mundwinkel. Zickenkrieg unter Schwulen – das sorgte offenbar für Heiterkeit.

Ich überließ Angus den düsteren Visionen, die sich jetzt in seinem Kopf breitmachen würden, und ging meine Sachen packen. Ich brauchte nicht lange. Schlafsack, Jeans und Zahnbürste stopfte ich in meine Reisetasche, oben drauf ein paar Disketten, CDs, den kleinen CD-Player und meinen Laptop. Den Inhalt des Kühlschranks verfrachtete ich ins Eisfach.

Um Viertel nach sechs steckten ich und mein Bronco bereits mitten im Feierabendverkehr, irgendwo auf der Ausfallstraße Richtung Magic Mountain und Autobahn. Auf der Überführung standen wir dann Stoßstange an Stoßstange, aber das konnte meiner guten Stimmung keinen Abbruch tun. Ich hatte eine Thermoskanne voll Gevalia-Popaya-Kaffee dabei, der CD-Player spielte Patty Griffins Flaming Red, und ich fuhr in die richtige Richtung – weit weg von Jake.

* * *

Kurz vor der Mojavewüste hielt ich an einer kleinen Tankstelle. Sie lag inmitten von Yucca-Palmen und Bergen von Autoreifen; über ihr schwebte ein riesiger Werbeballon in Form eines lila Gorillas. Ich tankte auf und genoss den filmreifen Sonnenuntergang, während der riesige Ballon im Wüstenwind sanft hin- und herwippte. Irgendwie erinnerte mich der lila Affe an Jake.

Jake. Wenn ich die Gedanken an Jake nur genauso leicht hinter mir lassen könnte wie die Lichter der Großstadt, die jetzt in meinem Rückspiegel funkelten.

Vor zwei Monaten hatte mir Detective Jake Riordan das Leben gerettet, mich gerettet vor dem »Schwulenmörder«, wie die Zeitungen ihn originellerweise getauft hatten. Als alles vorbei war, hatte sich die LAPD bei Jake mit einer offiziellen Verwarnung bedankt – und Jake bei mir, indem er sich mehr oder weniger auf eine Beziehung einließ. Ein homosexueller Polizist, der seine Neigungen so gut zu verbergen gelernt hatte, dass er sie ohne fremde Hilfe nicht mehr fand.

Riordan war tough, schlau und sah gut aus. Von seinem Selbsthass abgesehen war er so ziemlich das, was ich mir unter dem idealen Partner vorstellte. Aber nach und nach begannen die kleinen Dinge – etwa, dass er mich partout nicht anfassen wollte – dann doch an mir zu nagen. Na gut, ich sollte nicht übertreiben. Einmal, als wir uns im Fernsehen einen Dokumentarfilm über homophobe Gewalt angesehen hatten, hatte er sogar seinen Arm um mich gelegt. Und inzwischen umarmte er mich regelmäßig zum Abschied. Dabei war Riordan bestimmt keine Jungfrau, im Gegenteil. Nur gab es für ihn, wie es schien, wirklich nur SM. Sich gegenüberstehen, Auge in Auge, mein Mund auf seinem, seiner auf meinem? Da wurde aus meinem SM-Meister ein stammelnder Schüler.

Es war so schlimm, dass unser erster Kussversuch unser bisher einziger geblieben war.

Riordans Mund war nur noch einen Kuss weit von meinem entfernt gewesen, da war er plötzlich lachend zurückgezuckt.

»Scheiße. Ich kann das nicht.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine blonden Haare und sah mich an, als hätte er Angst vor mir.

»Du kannst was nicht? Mich küssen?«

Er schüttelte den Kopf. Dann nickte er.

»Wirkt mein Mundwasser nicht mehr? Was hast du denn?«

Wieder gab Jake ein Geräusch von sich, das wohl als Lachen durchgehen sollte. Dann schwieg er.

»Jake, was ist?«, fragte ich vorsichtig.

Das platzte es aus ihm heraus: »Ich mache die Augen auf und sehe die Poren deiner Haut – versteh mich nicht falsch, deine Haut ist vollkommen in Ordnung – aber du hast Bartstoppeln. Du riechst nach Aftershave. Deine Lippen … « Er machte eine kurze, hilflose Geste. »Es ist halt – du bist halt kein Mädchen.«

»Blitzmerker.« Das sollte locker klingen, aber in mir arbeitete es. »Also das hier, das ist für dich eine ganz neue Erfahrung, oder wie? Du hast Sex mit Männern, aber küssen, das ist – «

»Das ist was vollkommen anderes«, unterbrach mich Jake. »Das hier ist wie eine Beziehung. Das ist alles … so komisch.«

So so, aber Peitschen und Ketten, das war vollkommen normal, oder wie?

»Du könntest mich ja einfach fesseln und durchpeitschen – oder wär’s dann aus mit Himbeereis zum Frühstück?«

»Ich will das nicht mit dir, nicht so«, sagte er. »Dich kenne ich. Das geht so nicht.«

Na super. Ihm war es also lieber, einen kostümierten Fremden zu demütigen, als einen Mann zu küssen, den er kannte – und vermutlich mochte.

»Also jetzt mal im Klartext: Du willst nicht mit mir schlafen?«

»Selbstverständlich will ich mit dir schlafen.«

Selbstverständlich. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen war!

»Aber?«

Ungeduldig sagte er: »Ich weiß es doch auch nicht. Können wir nicht einfach ein Video gucken oder so?«

Videos hatten wir dann jede Menge geguckt. Mit Steven Seagal und Vin Diesel kannte ich mich inzwischen bestens aus, und allein im letzten Monat hatte ich mehr Superhelden-Filme gesehen als in meiner gesamten Kindheit. Und weil Cinéma vérité auf die Dauer nicht reichte, leisteten wir uns hin und wieder einen unserer verkrampften Restaurantbesuche. Wahrscheinlich befürchtete Riordan, dass seine lieben Kollegen von der Polizei ihn irgendwann dabei erwischen würden, wie er mit einem stadtbekannten Homo fraternisierte. Aber er war wohl zu sehr Gentleman, um das anzusprechen.

Meistens saßen wir nur und quatschten, bei mir, hinter verschlossenen Türen. Nicht, dass wir einander unsere Herzen ausgeschüttet hätten, aber immerhin redete Jake, über seine Arbeit und seine Familie. Mutter, Vater, zwei Brüder (einer besuchte gerade die Polizeischule), und alle hingen sie dem Irrglauben an, James Patrick Riordan sei genauso hetero wie sie selbst.

Das heißt: Meist war es Jake, der redete. Mir fiel in der Regel die Rolle des Zuhörers zu. Manchmal allerdings stellte er mir Fragen, die ich unter der Rubrik ›Schwuler Lifestyle‹ verbuchte: Wie oft im Monat ich Sex hatte (äh … wie oft in Erdzeitaltern?), wann ich mein Coming-out gehabt hatte (nach dem College – als es zu spät war, mir Stubenarrest zu erteilen) und wo ich hinging, um Männer aufzureißen (an Tatorte?).

Obwohl Jake älter und wahrscheinlich um einiges erfahrener war als ich, kam ich mir manchmal vor, als wäre ich sein schwuler Mentor, sein großer Homo-Bruder. Nur leider nicht wie sein Liebhaber.

Auf einen Monat der zaghaften Verabredungen und Annäherungsversuche folgte dann ein Monat der Entschuldigungen und Absagen.

Es war vorbei, bevor es richtig angefangen hatte.

»Hör mal«, sagte ich eines Abends zu ihm, als er vier Stunden zu spät zu einem weiteren, streng geheimen Abendessen gekommen war, in irgendein abgelegenes Restaurant, »du machst das doch nur noch aus Pflichtgefühl. Wozu der Aufwand? Wozu der Ärger?«

Seine goldbraunen Augen hielten meinem Blick stand. »Ich wollte nie eine Beziehung, Adrien.«

»Keine Angst, die hast du auch nicht.«

»Doch, hab ich.« Und er legte seine mächtige Pranke auf meine.

Erbärmlich, ich weiß. Aber das war genau das, was mich bei der Stange hielt, soweit man hier von Stangen und Halten sprechen konnte. Denn in dieser Hinsicht ging mein Einsiedlerleben ja weiter wie gehabt. Bis auf das komische Herzflattern, jedes Mal, wenn ich Riordans Stimme am anderen Ende der Leitung hörte – was aber genauso gut auf drohendes Herzversagen hindeuten konnte.

Liebe also war es auf gar keinen Fall. Denn ich weigerte mich beharrlich, mich auf etwas so Selbstzerstörerisches einzulassen wie die Liebe zu einem Mann, der sich dafür hasste, dass er schwul war. Und der unterbewusst wahrscheinlich auch mich hasste. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich Riordan zwar gern hatte, mir aber alle Optionen offenhielt, offen war für neue Bekanntschaften, neue Freunde und Liebhaber.

Wieso war ich dann so wütend, so frustriert und – ja, doch – verletzt, wenn dieser Typ, wie heute Abend, einfach alles abblies, und nicht zum ersten Mal?

* * *

Kurz vor Bakersfield legte ich an einer Raststätte eine kurze Pause ein. Ich lief herum und vertrat mir die Beine, kaufte an einem Imbissstand einen nicht mehr ganz frischen Blaubeer-Muffin und schaute mir auf der Karte noch mal die Route an.

Vom Vollmond hell erleuchtet dehnten sich vor mir die Hügel, auf denen hier und da ein paar Eichen und die Lichter verstreuter Höfe zu erkennen waren. Meilenweit nichts außer Landstraße und Sternenhimmel. Meilenweit nichts außer noch mehr Meilen, während ich mit den großen Lkws nordwärts zog. Ich fuhr mit etwa 140 Sachen, schaltete auf Autopilot und überließ mich, weil es nichts anderes zu tun gab, meinen Erinnerungen.

Ich hatte die Pine Shadow Ranch das letzte Mal vor vierundzwanzig Jahren gesehen. Der Sommer, bevor meine Großmutter Anna gestorben war. Ich war neun Jahre alt und Sommerferien mit Granna waren die schönste Zeit des Jahres.

Granna war eine Art Familienlegende, ein Relikt aus den wilden zwanziger Jahren. Irgendwann hatte sie ihren Society-Ehemann sitzen gelassen, einfach so, und war an ihren Geburtsort zurückgekehrt, wo sie Pferde züchtete oder um die Häuser zog, je nachdem, wonach ihr gerade war. Ich sah sie vor mir, eine große, tiefbraungebrannte, knochendürre Frau mit kurzen, silbernen Haaren. Meine Oma drehte sich ihre Zigaretten selbst, konnte reiten wie ein Cowboy und fluchte ständig, auf Italienisch – der Sprache ihres alten Kindermädchens. So häufig, wie sie fluchte, war sie bestimmt nicht das artigste Kind gewesen.

Nichts hatte darauf hingedeutet, dass dieser Sommer der letzte sein würde. Aber zwei Wochen später, der besorgte Mutterbusen hielt mich wieder fest umschlossen, war meine Großmutter ums Leben gekommen, durch einen Sturz vom Pferd. Sehr zum Ärger meiner Mutter hatte Granna ihren gesamten Besitz mir vererbt. Zwar war Grannas Vermögen nichts im Vergleich zu den Reichtümern, mit denen Lisa von meinem verstorbenen Vater bedacht worden war. Aber immerhin würden mich finanzielle Nöte nie daran hindern, die Nabelschnur zu meiner Mutter zu kappen.

Die erste Hälfte des Geldes hatte ich erhalten, als ich einundzwanzig wurde. Von dem Geld hatte ich meinen Buchladen eröffnet, Cloak and Dagger Books. Den Rest würde ich mit vierzig bekommen, was mir wie eine halbe Ewigkeit erschien – besonders, wenn wieder einmal die Steuererklärung fällig wurde. Was die Pine Shadow Ranch betraf, hatte ich mir ein paar Möbelstücke zuschicken lassen, war aber selbst nie dorthin zurückgekehrt. Denn ich wollte die Ranch so in Erinnerung behalten, wie sie früher gewesen war. Es gab einen Verwalter, der sich um das Anwesen kümmerte, aber vielleicht lag die Ranch auch längst in Trümmern. So ganz sicher war ich mir jedenfalls nicht, als ich mich auf meine 400 Meilen lange Reise in die Vergangenheit machte.

* * *

Es war fast elf, als der Highway 49 begann, sich durch Kiefernwälder zu schlängeln. Wir hatten die Berge erreicht, und ich öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Die Nachtluft war ungewohnt kalt und klar. Geruch von Schnee stieg mir in die Nase.

Die nächsten hundert Kilometer Landstraße verbrachte ich eingezwängt zwischen einem dieser monströsen Trucks (das Fernlicht immer schön auf meinen Rückspiegel eingestellt) und einem ramponierten Pick-up mit dem Nummernschild URUGLY. Alle fünf Meilen kamen wir an eine schwer einsehbare Kurve. Sobald wir sie erreichten, schwenkte das Heck des Trucks mit schöner Regelmäßigkeit auf die Gegenfahrbahn, als spielte der Fahrer eine Art russisches Roulette. Dreißig Sekunden später schwenkte er dann zurück, um dem Gegenverkehr auszuweichen.

Irgendwann hatte er dann offenbar genug und setzte alles auf eine Karte. Mitten in einer weiteren Kurve zog er an mir vorbei. Nur knapp entging er einem Frontalzusammenstoß mit einem wütend hupenden Holztransporter. Dann war er in der Dunkelheit verschwunden. Das Einzige, was blieb, war die Dieselwolke.

Jetzt gab es nur noch mich und den Witzbold im Pick-up, der sich strikt an seine 70 km/h hielt. Ich goss den letzten Rest Popaya-Kaffee in meinen Becher und drehte am Radioregler herum, auf der Suche nach einem Sender, der etwas anderes brachte als Songs über Männer, die in ihr Bier heulten und auf dem Standstreifen weinten – denn das Steuer, es war ihr einziger Freund und Halt. Trotz oder wegen des vielen Koffeins fühlte ich mich völlig zerschlagen; nicht mehr lange, und meine Augen würden lustig aus ihren Höhlen purzeln.

Ich war so erschöpft, dass ich nicht mehr recht wusste, ob ich noch fuhr oder das alles nur träumte. Gerade noch rechtzeitig erwischte ich meine Ausfahrt. Die nächsten fünfzehn Kilometer gingen dem Bronco und mir dann gleichermaßen an die Stoßdämpfer, aber endlich konnte ich in der Dunkelheit die Umrisse des Saddleback Mountain erkennen und wusste, dass hinter der nächsten Kurve die Pine Shadow Ranch lag.

Um den letzten Anstieg zu schaffen, schaltete ich runter. Der Bronco ratterte über das Viehgatter, und dann sah ich sie vor mir, die Ranch, regungslos und still, im hellen Mondlicht. Aus der Entfernung schien es, als sei die Zeit spurlos an ihr vorübergegangen. Trotz der dunklen Fenster und leeren Pferche hatte ich fast das Gefühl, als käme ich nach Hause, als ob da unten jemand auf mich wartete.

Im Näherkommen sah ich das Schild, das an einem der Holzpfosten des offenen Gatters angebracht war. Früher hatte es, in Holz eingebrannt, den Namen Pine Shadow Ranch getragen. Ich fuhr langsamer, und das Fernlicht des Broncos schnitt schemenhafte Formen aus der Dunkelheit: die marode Scheune hinter dem Haus, ein windschiefes Windrad, eine zerbrochene Schaukel, die von einem Ast baumelte – und etwas auf dem Boden, etwas direkt vor mir, etwas, das ich nicht von früher kannte.

Ich stieg in die Bremsen. Ich war so überkoffeiniert, dass ich schon dachte, meine Augen hätten mir einen Streich gespielt. Aber wie lange ich auch wartete, den Motor im Leerlauf – das Ding da auf dem Boden machte keine Anstalten, wieder zu verschwinden.

Ich kletterte aus dem Bronco – zu müde, um mich vorzusehen. Es war keine optische Täuschung. Auf dem Boden lag, der Länge nach hingestreckt, ein Mann.

Ich ging einmal um ihn herum. In der klaren Nacht klangen meine Schritte unnatürlich laut. Vom Hof war das Auf- und Zuschlagen eines kaputten Fensterladens zu hören. Der Wind fuhr raschelnd durch das lange Wintergras. Ich kniete mich neben ihn.

Im Scheinwerferlicht konnte ich erkennen, dass sein Gesicht zur Seite gedreht war. Seine Augen standen weit offen, doch er lebte nicht mehr. In der kalten Nachtluft war kein Atem zu erkennen, die Schultern hoben und senkten sich nicht. Zwischen den Schulterblättern entdeckte ich ein sauberes, münzgroßes Einschussloch.

Ich schnappte nach Luft. Das war nicht das erste Mal, dass ich mit Mord in Berührung kam, aber erneut fühlte ich mich, als würde ich das alles von einem anderen Sonnensystem aus verfolgen – ein Gefühl, auf das ziemlich sicher ein Ohnmachtsanfall folgte. Ich rieb mir das Gesicht. Es war wie bei einem dieser Partyspiele, wo man dreißig Sekunden Zeit hat, sich allen möglichen Unsinn zu merken, aber über all die unsinnigen Details den Blick für das große Ganze verliert.

Der Tote mochte so um die sechzig sein. Seine dünnen, angegrauten Haare klebten ihm platt am Kopf, die Fingernägel waren schmutzig. Er trug eine ausgeblichene Jeans, ein kariertes Flanellhemd und Cowboy-Stiefel. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen – und wenn doch, erkannte ich ihn nicht.

Ich streckte die Hand aus, um ihn am Handgelenk zu berühren – und ein Schock durchfuhr mich, als hätte man mir ein Starkstromkabel in die Hand gedrückt.

Er war noch warm.

Mit einem Ruck stand ich auf und starrte auf das totenstille Haus. Ich blickte zu den umliegenden Hügeln, zu den Bäumen, die wie Wachtposten über die Hänge verteilt waren.

Der Wind rauschte durch die Kiefern. Ansonsten regte sich nichts. Alles war still … viel zu still.

Wie ich in die Finsternis starrte, war ich mir plötzlich sicher, dass ich beobachtet wurde. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und mein Herz begann auf meine Rippen einzuboxen: erst ein linker, dann ein rechter Haken, und dann nur noch links links links.

Für so was haben wir jetzt keine Zeit, ermahnte ich meine unkooperative Pumpe, und sprang zurück in den Bronco. Ich wendete im weiten Halbkreis, drückte das Gaspedal durch und raste, diesmal ohne den Schlaglöchern auszuweichen, den Weg zurück, den ich gekommen war.

Während ich den Feldweg zur Landstraße hinunterbretterte, tastete ich fieberhaft nach meinem Handy. Als ich es endlich zu fassen bekommen hatte, wählte ich den Notruf.

Es klingelte – und klingelte – und klingelte. Nach einer halben Ewigkeit meldete sich eine verschlafene Stimme aus dem Büro des Sheriffs. Doch kaum dass ich den Mund aufgemacht hatte, steckte ich auch schon in der Warteschleife. Ich war kurz davor zu explodieren, doch da meldete sich die Frau erneut, genauso verschlafen wie zuvor – war sie zwischendrin kurz eingenickt? – und fragte mich, worum es denn ginge. Nachdem ich die Geschichte ein paarmal wiederholt hatte, schien sie endlich zu begreifen, was ich ihr da erzählte, und versprach, mir jemanden vorbeizuschicken.

Und wie versprochen kam die Kavallerie. Zwanzig Minuten später erschien an der Abzweigung zur Stagecoach Road ein schwarzweißer Jeep mit Allradantrieb, blinkendem Blaulicht und heulender Sirene.

»Wo brennt’s denn, Sir?« Der Polizist war mittleren Alters, wohlgenährt und ganz anders als die Bullen, die ich in den Monaten zuvor kennengelernt hatte.

Ich erklärte ihm, worum es ging.

»Gut, gut«, sagte Sheriff Billingsly, während er sich seinen grauschwarzen Bart kratzte. »Dann springen Sie mal rein, wollen doch mal sehen, was es mit Ihrem angeblichen Toten auf sich hat.«

Ich zwängte mich zum Sheriff und seinem Hilfssheriff – Dwayne – in den Jeep. Dwayne sah aus, als käme er frisch von den Dreharbeiten zu Dukes of Hazzard. Gemächlich schob er seinen Klumpen Kautabak von einer Backentasche in die andere.

»Howdy.«

»Hi«, sagte ich zähneklappernd. Allmählich gingen mir die Nerven durch.

Dwayne legte den ersten Gang ein, und wir fuhren die Anhöhe hoch.

»Es war hier drüben«, sagte ich, als wir über das Viehgitter rasselten. »Kurz vor dem Gatter da.«

»Hier?«, fragte der Hilfssheriff, und fuhr langsam auf das Gatter zu. Im Scheinwerferlicht war nichts zu sehen als die leere Zufahrt.

»Stopp«, befahl ich. »Hier hab ich ihn gefunden.«

Der Hilfssheriff bremste – so scharf, dass wir alle drei nach vorn und dann wieder zurück geschleudert wurden.

»Hier?«, fragte jetzt auch der Sheriff.

Drei Augenpaare folgten einem einsamen Knäuel Gras, das langsam über den verlassenen Hof hüpfte.

»Er lag genau hier«, sagte ich.

Schweigen.

»Tja, aber jetzt ist er offenbar nicht mehr da«, sagte der Sheriff.

2

Ich erwachte aus langem, traumlosem Schlaf. Nur langsam wurde ich der zwei kleinen Knopfaugen gewahr, die mich aus kurzer Entfernung anstarrten. Wenige Zentimeter vor meinem Gesicht hockte ein Eichhörnchen, dessen Nase verschreckt zuckte.

Ich war mindestens genauso erschrocken und schrie laut auf. Mit der Jacke, die mir als Behelfskopfkissen gedient hatte, schlug ich reflexartig nach meinem Bettnachbarn. Das Eichhörnchen flitzte davon, erreichte das andere Ende des Zimmers und war im Nu im Kamin verschwunden, wobei es Wolken frisch aufgewirbelten Staubs hinterließ. Ich hustete, wälzte mich vom Sofa und sah mich erst einmal um.

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