Eine Leiche taucht ab - Josh Lanyon - E-Book

Eine Leiche taucht ab E-Book

Josh Lanyon

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Beschreibung

In Alston Estate geht etwas Eigenartiges vor sich. Als der junge Künstler Perry nach einem gescheiterten Liebeswochenende in die heruntergekommene Pension zurückkehrt, findet er einen Toten in seiner Badewanne. Doch kaum wendet er dem Opfer den Rücken zu, verschwindet das Corpus Delicti. Weder die Polizei noch die anderen Hausbewohner wollen an den grausigen Fund glauben. Nur der knurrige und sehr attraktive Navy-SEAL Nick Reno spürt, dass etwas an der Sache dran ist. Gemeinsam jagen sie den Geist der Alston Estate und kommen sich dabei viel näher, als Nick geplant hat …

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Josh Lanyon

Eine Leiche taucht ab

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2017

http://www.deadsoft.de

© the author

http://www.joshlanyon.com

Titel der Originalausgabe: The Ghost Wore Yellow Socks 2008

Published by arrangement with Josh Lanyon

Coverdesign: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© Stefano Cavoretto – shutterstock.com

© Netfalls RemyMusser – shutterstock.com

Übersetzung: Stefanie Zurek

1. Neuauflage

ISBN 978-3-96089-080-5

ISBN 978-3-96089-081-5 (epub)

Inhalt:

In Alston Estate geht etwas Eigenartiges vor sich. Als der junge Künstler Perry nach einem gescheiterten Liebeswochenende in die heruntergekommene Pension zurückkehrt, findet er einen Toten in seiner Badewanne. Doch kaum wendet er dem Opfer den Rücken zu, verschwindet das Corpus Delicti.

Weder die Polizei noch die anderen Hausbewohner wollen an den grausigen Fund glauben. Nur der knurrige und sehr attraktive Navy-SEAL Nick Reno spürt, dass etwas an der Sache dran ist.

Gemeinsam jagen sie den Geist der Alston Estate und kommen sich dabei viel näher, als Nick geplant hat …

Kapitel 1

Ein fremder Mann lag in Perrys Badewanne. Er trug ein Sakko – ein ziemlich hässliches obendrein –, und er war tot.

Perry hatte vor Kurzem die schmerzhaftesten und erniedrigendsten 24 Stunden seines Lebens inklusive einstündiger Autofahrt durch sintflutartigen Regen hinter sich gebracht. Seit er die verhältnismäßige Ruhe und Sicherheit seiner ausgekühlten Wohnung im ehrwürdigen Alston-Anwesen erreicht hatte, stand er mit offenem Mund da.

Seine Kopfschmerzen verflogen schlagartig. Er vergaß, dass er vollkommen erschöpft, halb verhungert und bis auf die Haut durchnässt war. Er vergaß, dass er sich bis vor einem Moment gewünscht hatte, tot zu sein. Hier lag jemand, der wirklich tot war, und der Anblick war nicht schön.

Perrys Finger ruhten noch immer auf dem Lichtschalter. Er löschte die Lampe. In der Dunkelheit schien der Regen noch lauter gegen die Fenster zu peitschen. Perry lauschte seinem Atem, der viel zu schnell kam und verängstigt klang. Aus dem Wohnzimmer drang der sanfte Glockenschlag der alten Uhr, die er in einem Trödelladen auf der Bethlehem Street gekauft hatte. Neun langsame, silberne Glockenschläge. Neun Uhr.

Perry schaltete das Licht wieder ein.

Der Tote lag noch immer in der Badewanne.

»Das ist unmöglich«, flüsterte Perry.

Anscheinend sah der Leichnam das anders. Unbeirrt starrte er Perry aus seinen halb geschlossenen Augen an.

Er kannte den Toten nicht, dessen war sich Perry ziemlich sicher. Die Leiche – der Mann – war mittleren Alters und hätte dringend eine Rasur nötig gehabt. Sein Gesicht wirkte grünlich-rot, und die Wangen waren eingesunken, als seien seine Gesichtszüge verrutscht. Die Beine hingen seitlich aus der Wanne heraus wie die eines Mannequins. Einer der Schuhe hatte ein Loch in der Sohle. Die Socken waren gelb. Senfgelb, um genau zu sein. Sie passten farblich zu dem hässlichen, karierten Sakko.

Der Fremde war definitiv tot. Seine Brust bewegte sich kein bisschen; sein Mund stand offen und gab doch keinen Laut von sich. Perry musste ihn nicht einmal berühren, um sicherzugehen, dass der Mann nicht mehr lebte. Außerdem hätte ihn nichts auf der Welt dazu bewegen können, die Leiche anzufassen.

Er konnte weder Zeichen von Gewalteinwirkung noch Blut oder Wasser entdecken. Die Badewanne war trocken und leer – abgesehen von dem Toten. Er sah nicht aus, als habe man ihn erwürgt. Vielleicht war er eines natürlichen Todes gestorben?

Vielleicht hatte er ja einen Herzinfarkt gehabt?

Aber warum hätte er ausgerechnet in Perrys Badewanne einem Herzinfarkt erliegen sollen?

Perrys Blick wanderte zu dem Spiegel über dem Waschbecken. Er erschrak, als er in das bleiche Antlitz mit den leeren Augen sah und es nicht sofort als sein Spiegelbild erkannte. Die braunen Augen wirkten in seinem vor Angst erstarrten Gesicht merkwürdig groß und schwarz. Die blonden Haare schienen ihm buchstäblich zu Berge zu stehen.

Langsam wich Perry aus dem Bad zurück und schloss die Tür. Einen Moment lang stand er steif da und versuchte, trotz seines erschöpften und verwirrten Zustands zu erfassen, was er soeben gesehen hatte. Die Augen nach wie vor auf die geschlossene Badezimmertür gerichtet, trat er einen Schritt nach hinten und fiel über seinen Koffer, der noch immer in der Mitte des Wohnzimmers stand.

Der Sturz rückte Perrys Gedanken wieder gerade – oder löste ihn zumindest aus seiner Schockstarre. Er rappelte sich auf und hastete zur Wohnungstür. Nur mühsam schaffte er es, den Riegel umzulegen.

Er riss die Tür auf, doch sie fiel knallend zurück ins Schloss, als habe sie sich wie von Geisterhand losgerissen. Dann erst bemerkte er, dass er die Kette nicht gelöst hatte. Mit zitternden Fingern öffnete er sie und stürzte aus dem Apartment.

Es schien ihm unbegreiflich, dass der Flur noch immer derselbe war, wie fünf Minuten zuvor, als Perry die Stufen hinauf gestapft war. Wandleuchter warfen gespenstische Schatten auf den mit rotem Teppich ausgelegten Korridor, an dessen Ende sich eine Wendeltreppe in die Tiefe schraubte.

Die zugigen Fenster ließen die langen Spitzenvorhänge leicht tanzen. Darüber hinaus bewegte sich nichts. Der Flur war leer, dennoch blieb das Gefühl, dass Perry beobachtet wurde.

Er lauschte dem Regen, der sanft gegen die Fenster trommelte. Es schien, als beklage sich das Haus über die Feuchtigkeit, das morsche Holz und den Moder, der sich in seinen alten Knochen festgesetzt hatte. Doch die merkwürdige Stille auf der anderen Seite seiner Tür schien alles andere zu übertönen.

Auf was wartete er? Was glaubte er, das er hören würde?

Obwohl er nichts lieber tun wollte, als nach unten zu laufen, wo es Licht und andere Menschen gab, brachte er es kaum fertig, sich zu bewegen oder einen Laut von sich zu geben. Überhaupt etwas zu tun, das die Aufmerksamkeit auf ihn richten könnte. Die Aufmerksamkeit von etwas, das vielleicht ungesehen in den Schatten des langen Flures auf ihn wartete. Zu seinem ersten Schritt musste er sich zwingen. Er hastete den Flur entlang und vermied nur knapp einen Zusammenstoß mit einer halb toten Schusterpalme in ihrem hohen Marmorkübel. Obwohl sein Verstand ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuchte, erwartete er halb, dass sich aus einer der mit Spinnweben garnierten Ecken hinterrücks ein Angreifer auf ihn stürzen würde.

Als er den Treppenabsatz erreichte, klammerte er sich ans Geländer und rang nach Atem. Seine Knie drohten, unter seinem Körpergewicht nachzugeben. Vorsichtig warf er einen Blick hinter sich. Nichts außer den zuckenden Vorhängen bewegte sich in der Düsternis. Perry rannte die Treppe hinab. Fünfzehn Stufen waren es bis zum Stockwerk unter ihm, und er nahm stets zwei auf einmal. Im zweiten Stock angekommen, zögerte er. Rudy Stein, der pensionierte Cop, lebte auf dieser Etage. Ein ehemaliger Polizist würde sicher wissen, was in einem solchen Fall zu tun war, oder?

Mr. Watson hatte auch in diesem Stock gelebt, aber vor einer Woche war er in Burlington verstorben. Seine Wohnung war daraufhin abgeschlossen worden. Seine Habseligkeiten verstaubten langsam und warteten auf einen Mann, der niemals heimkehren würde.

Nicht, dass Perry an Gespenster glaubte – nicht wirklich – oder zu feige war, sich einem weiteren zugigen, dunklen Flur zu stellen, aber nach einem kurzen Moment setzte er seinen Weg über die breite Treppe fort. Schließlich erreichte er das Erdgeschoss, das als Eingangshalle zu Mrs. MacQueens Pension diente.

Gerade kam jemand zur Vordertür herein und drückte sie gegen den peitschenden Regen ins Schloss. Über ihm klimperte der Kronleuchter im Windstoß eine kleine Melodie und warf unheimliche, rote Schattenspiele auf die Figur des Mannes.

Er trug einen olivgrünen Parka, und zuerst erkannte Perry ihn nicht. Tatsächlich konnte er unter der Kapuze überhaupt kein Gesicht ausmachen, und da seine Nerven bis aufs Äußerste gespannt waren, sog er scharf Luft ein. Das kaum wahrnehmbare Geräusch hallte laut in der stillen Halle wider.

Der Mann schob die Kapuze in den Nacken und starrte ihn an. Jetzt erkannte Perry ihn. Er wohnte noch nicht lange in Mrs. MacQueens Pension und war ein ehemaliger Marine oder irgendetwas in der Art. Groß, düster und feindselig.

Perry öffnete den Mund, um dem Neuankömmling von dem Toten im oberen Stockwerk zu erzählen, doch die Worte wollten nicht kommen. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Er fühlte sich merkwürdig, losgelöst, regelrecht benommen. Er hoffte stark, dass er nicht ohnmächtig werden würde. Das wäre wirklich der Gipfel der Peinlichkeiten gewesen.

»Was ist los mit dir?«, fragte der Mann. Er runzelte die Stirn, aber das tat er ohnehin ständig. Das war kaum etwas Besonderes. Eigentlich war er gar nicht so groß – vielleicht etwas über dem Durchschnitt –, aber er war muskulös, wie aus Stein gehauen. Ein menschlicher Fels von Gibraltar.

Endlich nahmen Perrys Stimmbänder ihren Dienst wieder auf, aber der Mann schien seine erstickten Worte nicht zu verstehen. Er kam einen Schritt näher. Seine Augen waren blau, marineblau, was irgendwie passend war, dachte Perry, innerlich noch immer fernab des Geschehens.

»Wo liegt das Problem, Kleiner?«, wurde er barsch gefragt. Dass es ein Problem gab, war anscheinend offensichtlich.

Atemlos versuchte Perry, die Angelegenheit zu erklären. Er zeigte mit zitternder Hand nach oben und bemühte sich, nach wie vor nach Atem ringend, ein paar Worte hervorzupressen.

Und plötzlich war der Fund der Leiche im obersten Stock nur noch zweitrangig, und der Umstand, dass er nicht atmen konnte, wurde viel wichtiger.

»Oh, verdammt nochmal«, kommentierte der Ex-Marine sein Ringen nach Sauerstoff. Unsicher setzte Perry sich auf die unterste Stufe der großen Treppe und angelte nach seinem Inhalator.

***

Das perfekte Ende eines perfekten Tages, dachte Nick Reno, als die Schwuchtel von Gegenüber an ihrem Inhalator zu nuckeln begann.

Am Nachmittag waren die Scheidungspapiere angekommen, aber was ihn hätte erleichtern sollen, fühlte sich an, als hätte er endgültig versagt. Aus der Stelle bei der Baufirma war ebenfalls nichts geworden. Es war die falsche Jahreszeit fürs Baugewerbe – die falsche Jahreszeit für alles, wie es schien. Und jetzt das.

In den letzten Stunden hatte Nick sich an die Vorstellung von ein paar starken Drinks und ein wenig Einsamkeit geklammert, und was er bekam, war ein Junge mit einem hysterischen Anfall.

»Reiß dich zusammen, Kleiner.« Wie hieß er noch gleich? Irgendwas mit Foster. Nick hatte den Namen auf dem Briefkasten in der Eingangshalle gelesen.

Der Junge zog weiter an seinem Inhalator. Seine schmale Brust hob und senkte sich schwer mit jedem Atemzug. Vielleicht hatte er die neueste Folge seiner bevorzugten Seifenoper verpasst oder Starbucks hatte seinen Lieblingskaffee von der Karte genommen. Wer zum Teufel konnte das schon wissen? Schwuchteln.

Nick sah sich in dem verdächtig stillen Eingangsbereich um. Wo steckten die ganzen Wichtigtuer, die normalerweise Mrs. MacQueens Flure bevölkerten?

»He! Ich könnte hier Hilfe gebrauchen!«, rief er. Ob seine Worte dem Allmächtigen oder den geschlossenen Türen galten, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Nach einem Moment hörte er, wie eine Kette gelöst wurde. Riegel kratzten, Knäufe klickten, Scharniere quietschten. Die Tür der alten Miss Dembecki öffnete sich einen Spalt weit.

Der Junge, dessen Gesicht eine wundervolle Blauschattierung angenommen hatte, ließ den Inhalator lange genug sinken, um ein paar Worte hervorzubringen. »Da ist eine ... Leiche ...« Das Nuckeln begann erneut.

»Da ist eine was?«, fragte Nick mit Nachdruck. »Wo?«

Die Bewohner begannen, aus ihren Wohnungen in den Flur zu pirschen. Miss Dembecki, die ihre eigene Antennenanlage in Form von pinken Lockenwicklern auf dem Kopf trug, zog den karierten Bademantel enger um ihren dürren Körper. »Was ist passiert?«, fragte sie missmutig. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Ich habe ihn nicht angerührt.« Nick warf einen Blick nach oben, als eine der Dielenbohlen quietschte.

Über ihnen hing ein weißes Mondgesicht über dem Treppengeländer. Stein, der ehemalige Bulle, leuchtete auf sie herab. Sein Mund formte ein »O«, das ebenso rund war wie sein schwitzendes Gesicht: runde Augen, runder Mund, eingedrückte Nase.

»Was geht hier vor sich? Gab es einen Unfall?«, schwebte seine Stimme zu ihnen nach unten.

Mürrisch betrachtete Nick den Jungen. »Ich weiß es nicht.«

»Perry, was ist denn bloß los?«, trillerte die alte Dame.

Perry. War ja klar, dachte Nick grimmig. Noch schwuler ging es kaum.

Auf der anderen Seite des Flurs öffnete sich eine weitere Tür.

Eine Katze kam aus der Wohnung der Bridger herausgefegt und schlich auf leisen Pfoten zu ihnen herüber. Ihr weißer, buschiger Schwanz zuckte sanft. Der Junge gab einen panischen Laut von sich und deutete mit der freien Hand zu dem Tier.

Nick wandte sich ungeduldig der Katze zu, doch Ms. Bridger – einsachzig groß, rothaarig und in einen smaragdgrünen Kimono gekleidet -, machte schon Anstalten, den anstößigen Stubentiger einzusammeln und in ihrem Apartment einzuschließen.

»Miss Bridger, vielleicht sollten Sie ...«, rief Dembecki aus. »Irgendwas ist mit Perry passiert.« Sie warf Nick einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Hören Sie, Lady ...«, begann Nick und verstummte dann.

Er trat zur Seite, als Jane Bridger an ihm vorbeirauschte. Auf der Rückseite ihres Morgenmantels war ein Drache eingestickt. Eine Schwade Poison-Parfum folgte ihr. Nick erkannte Maries Lieblingsduft sofort, und sein Magen verkrampfte sich.

»Perry, Liebling«, gurrte sie und setzte sich neben dem Jungen auf die unterste Stufe. »Was ist denn los?« Sie wandte sich an Nick. »Er hat Asthma.«

»Das habe ich gemerkt.«

Foster ließ den Inhalator ein weiteres Mal sinken und stieß ein paar weitere Worte aus. »Toter Mann ... in meiner ... Badewanne.«

Er sprach mit Nick, als ob die Sache irgendwie sein Problem sei. Vielleicht glaubte er, dass Nick der Einzige unter den Anwesenden war, der wusste, was in so einer Situation zu tun war.

Schließlich öffnete sich auch die Tür der Vermieterin, und Mrs. MacQueen trat, eingehüllt in eine Wolke Zigarettenrauch, in den Flur. »Was soll der Aufstand?«, krächzte sie. »Was habt ihr jungen Leute jetzt schon wieder angestellt?« Ein Schwall konservierten Fernsehgelächters ertönte aus ihrer Wohnung.

»Perry geht es nicht gut«, informierte Miss Dembecki sie mit zitternder Stimme. »Es ist sein Asthma.«

Bridger tätschelte sanft Fosters Schulter. Ihre Fingernägel setzten sich blutrot von dem weißen T-Shirt ab. »Durchhalten, Schätzchen. Tiefe, langsame Atemzüge.«

Ihr Morgenmantel klaffte auf und entblößte die Kontur zweier so perfekter Brüste, dass sie niemals echt sein konnten. Nick hob den Blick. Wenn Stein sich noch weiter über das Geländer lehnte, würde er gleich einen ungewollten Sturzflug hinlegen.

Zwei kleine Hunde schossen aus Mrs. MacQueens Räumen. Ihre Krallen rutschten über den glatten Holzboden, als sie zu Bridgers Tür stürzten, wo sie hysterisch zu kläffen begannen.

Nick, der langsam genug hatte, trat einen Schritt zurück und genau auf Miss Dembeckis Fuß, der in einem flauschigen Pantoffel steckte. Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich an ihn herangepirscht hatte. Sie jaulte auf wie eine verwundete Katze.

»Entschuldigung«, sagte Nick.

»Warum können Sie nicht aufpassen, wo Sie hintreten?«, stöhnte Miss Dembecki und humpelte zu einem der plüschigen Sessel am Kamin. Die Feuerstelle war kalt. Soweit Nick wusste, hatte dort überhaupt noch nie ein Feuer gebrannt. Wahrscheinlich war der Kamin nur zur Zierde da. Ein weiterer Beleg dafür, wie verdammt uneinladend das ganze Haus war.

Foster brachte ein paar Worte hervor, dieses Mal vehementer. »In meiner Badewanne liegt eine Leiche!«

Totenstille. Aus dem Hintergrund wieder das Lachen aus der Konserve. Jemand kicherte nervös.

»Was soll das denn bedeuten?«, fragte MacQueen schließlich energisch. Sie erinnerte Nick an eine Travestieversion von James Cagney. Sie klang auch so.

»Es bedeutet, dass jemand nach oben gehen und nachsehen sollte«, sagte Nick.

Der Junge warf ihm einen dankbaren Blick zu.

»Was, ich?« MacQueen wich zurück. Nick fühlte sich an einen Gangster erinnert, der lieber mit gezogener Waffe ins Verderben gerannt wäre, als sich zu ergeben.

»Ihnen gehört der Laden doch. Sie sind die Vermieterin, oder?«

»Aber das ist ... ich meine, ja sicher, aber ...« Ihre Glubschaugen suchten ein Gesicht nach dem nächsten ab. Sie leckte sich über die Lippen, die alle Farbe verloren hatten. Die anderen gaben unbestimmte Geräusche von sich, stumme Ausflüchte und entschuldigende Laute.

»Vergesst es«, sagte Nick. »Ich gehe schon.« So konnte er diesem Gruselkabinett wenigstens entfliehen. »Wo hast du deine Schlüssel, Kleiner?«

»Ich habe ... die Tür ... nicht abgeschlossen«, antwortete Foster. Er war noch immer außer Atem, aber immerhin war sein Gesicht nicht länger blau. Noch immer umklammerte seine Hand den Inhalator.

»Es liegt im obersten Stock. Das Turmzimmer gegenüber von Ihrem«, ließ MacQueen Nick wissen.

»Alles klar.« Er begann, die Treppe hinaufzugehen.

Auf der zweiten Etage passierte er Stein, der ihm ein kurzes, leeres Lächeln zuwarf, aber nichts sagte.

Nick stieg in den dritten Stock. Es war dunkel und still. Weder der Geruch der Katzen noch die Geräusche des Fernsehers gelangten bis hier oben hinauf. Dasselbe galt leider für die Heizungswärme. Die Spitzenvorhänge, die vor den schlecht isolierten Fenstern hingen, flatterten wie Geister auf, bevor sie wieder gegen die Wand zurückfielen. Der lang gezogene Flur war schlecht einzusehen. Er war nur dürftig ausgeleuchtet, und die beiden vertrockneten Pflanzen auf den hohen Anrichten boten genug Schutz für einen Angriff aus dem Hinterhalt.

Ein seltsames Prickeln rann über Nicks Hinterkopf. In seinen vierzehn Jahren bei der Armee hatte er gelernt, dieses Gefühl nicht zu ignorieren. Dass es ihn in einer heruntergekommenen Villa mitten in den Wäldern von Vermont überkam, überraschte ihn dennoch.

Für einen Augenblick dachte er darüber nach, in seine Wohnung zu gehen und sich zu bewaffnen, dann verwarf er den Gedanken wieder. Er war sich recht sicher, dass er auch ohne Pistole mit jedem viertklassigen Ganoven, der sich in das Haus geschlichen haben mochte, fertig werden würde. Vorsichtig trat er an das Apartment des Jungen heran und drehte den Knauf. Hinter der Tür lag ein großer, kühler Raum, in dem es nach Regen und Terpentin roch. Er wirkte eher wie ein Atelier als eine Wohnung. Die Vorhänge waren abgenommen worden, sodass mehr Licht einfallen konnte. Eine vollgespritzte Abdeckplane schützte den Großteil des Bodens. Auf einer Staffelei am Fenster stand eine Leinwand, auf der tiefschwarze Kiefern zu sehen waren. Unbenutzte Leinwände lehnten an der Wand, Malutensilien lagen ausgebreitet auf dem Esstisch. Überall an den Wänden und auf dem Boden waren Gemälde zu sehen.

In der Mitte des Raumes stand ein einsamer Koffer.

Also war der Junge über Nacht weg gewesen. Das bedeutete, dass tatsächlich jemand in seine Wohnung hätte eindringen und ... tot umfallen können. Doch die Tür zum Bad stand weit offen und das Licht brannte. Nick konnte die Badewanne sehen. Sie war leer.

Überraschung!

Hatte er wirklich erwartet, eine Leiche vorzufinden?

Nein, aber etwas hatte den kleinen Perry buchstäblich halb zu Tode erschreckt. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen Nick ihm auf dem Flur begegnet war, hatte der Junge still, höflich und einigermaßen bei Verstand gewirkt.

Nick betrat das Bad.

Es war groß und altmodisch eingerichtet, genau wie das Gegenstück in seiner eigenen Wohnung. Die Wanne stand auf vier Krallenfüßen und hatte separate Wasserhähne für kaltes und heißes Wasser, was es verdammt einfach machte, den falschen Hahn zu erwischen und sich die Füße zu verbrennen. Über der Badewanne lag ein kleines, rundes Fenster. Um ganz sicherzugehen, öffnete Nick es und ließ seinen Blick über den schlammigen Untergrund und die Baumwipfel, deren nasses Laub das Licht des Hauses reflektierten, schweifen. Weit und breit niemand zu sehen und erst recht keine Leiche.

Auf der Innenseite der Wanne entdeckte er eine braune Schliere. Nick kniete sich hin, um sie sich näher anzusehen. Roter Lehm? Farbe? Rost? Die Schliere konnte verschiedene Ursprünge haben, und dennoch stellten sich die Haare in seinem Nacken instinktiv auf. Er kratzte mit dem Daumennagel ein Stück ab und roch daran. Bildete er sich den kupfernen, metallischen Geruch nur ein?

Auf keinen Fall.

Er bemerkte schwarze Schleifspuren auf dem Boden. Fast, als sei hier jemand über die Fliesen gezogen worden.

Nachdenklich kniff Nick die Augen zusammen. Er stand auf und steuerte auf das Schlafzimmer zu. Es gab nicht viel zu sehen. Ein schmales Bett, ein abgewetzter Sekretär. Das Einzige, das nicht in die Szenerie passte, war der braune Schuh, der vor dem Schrank lag. Nick hob ihn auf. Billiges Leder, Größe 46. In der Sohle war ein Loch. Nick setzte den Schuh auf dem Fensterbrett ab und warf einen Blick Richtung Bett. Ein Stapel ausgeliehener Bücher lag auf dem Nachttisch. »Ich mag sie stark«, »Nicht jeder ist schuldig«, »Er war schon tot«, »Geheimnisse eines Privatschnüfflers«. Im Regal standen reihenweise Taschenbücher mit weiteren reißerischen Titeln.

Sein Mund verzog sich zu einem trockenen Lächeln. Okay, jetzt ergab alles einen Sinn.

Die vor Furcht weit aufgerissenen braunen Augen noch immer im Sinn, öffnete Nick den Schrank. Oh Gott. Der Junge hängte sogar seine Pyjamas über einen Bügel.

Er schaute unter dem Bett nach. Jemand hatte seinen kleinen Liebling gut erzogen. Kein Staub, keine Leichen.

Nick warf noch einen flüchtigen Blick in die anderen Räume und Schränke. Auch hier weit und breit kein Toter. Eine Asthmatabelle klebte am Kühlschrank und zeichnete ein ziemlich trauriges Bild von Foster. Zu Nicks Belustigung entdeckte er eine Packung Froot Loops auf dem Kühlschrank.

Während er die Wohnungstür schloss, zogen die Leinwände seine Aufmerksamkeit auf sich. Er verstand nichts von Kunst, aber er wusste, was ihn ansprach. Ihm gefielen die Bilder. Die Szenerien von überdachten Brücken und Herbstwäldern zeigten unerwartet sichere Pinselstriche und Reife. Ein Pluspunkt für den Jungen von nebenan.

Der Absatz im zweiten Stock war verlassen, als Nick ihn erreichte. Entweder hatte Stein begonnen, sich zu langweilen, oder er war über das Geländer hinweg abgeschmiert. In der Halle sah es ähnlich aus. MacQueen war in ihre Wohnung geflüchtet und hatte den Fernseher aufgedreht. Die Einzigen, die noch da waren, waren Foster, der sich etwas erholt zu haben schien – der Inhalator war nirgends mehr zu sehen – und die vollbusige Ms. Bridger, die vor dem kalten Kamin stand.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich fröhlich. Ihre roten Haare und ihr grüner Morgenmantel wirkten in dem eintönigen Raum so grell, dass sie jemanden damit hätten blenden können.

»Ja.« Nick erinnerte sich an die Spur von rotem Lehm in der Wanne und schob den Gedanken schnell fort.

»Nie im Leben! Das kann nicht sein!« Fosters schmales Gesicht spannte sich an. »Dann haben sie ihn woanders hingebracht«, sagte er stur.

»Sie? Was denn, jetzt ist es schon eine Verschwörung?«

Foster lief rot an. Er hatte diese jungenhafte, reine Haut, die ihn seine Gefühle wie eine Werbetafel vor sich hertragen ließ.

»Schätzchen, Schätzchen«, flötete Bridger. »War es vielleicht einfach nur ein schlechter Traum?«

»Oder das Ergebnis von zu vielen Detektivromanen?«, warf Nick ein.

Noch immer saß Foster auf der untersten Stufe der großen Treppe. Er schaute Nick finster an. »Ich habe nicht geschlafen!« Er wandte sich um und warf der Bridger-Tante denselben wütenden Blick zu. »Ich kam vom Flughafen zurück, ging in meine Wohnung, und da war er. Ich habe nicht geträumt, und ich habe auch sicher nicht halluziniert.«

»Da ist aber keine Leiche in deiner Wohnung.«

Foster schluckte schwer. »Ich denke, wir sollten die Polizei rufen.«

Bridger schaute Nick hilfesuchend an. Wieso war das alles plötzlich sein Problem? Sollten sie die Polizei doch rufen, solange sie ihn aus dem Spiel ließen.

»Aber, Schätzchen, Mister ... äh, Mister ...«

»Reno«, half Nick widerwillig.

»Mister Reno hat doch schon nachgesehen. Die Polizei wird nichts finden. Richtig? Wir wollen doch keinen Ärger verursachen.«

Nick warf ihr von der Seite einen Blick zu. Eine unruhige Vergangenheit mochte sie gezeichnet haben, aber sie war immer noch eine überraschend gut aussehende Frau für ihr Alter. Warum lebte sie hier draußen mitten im Nirgendwo? Warum bereitete ihr der Gedanke an die Polizei solche Sorgen?

»Die Polizei hat Forensiker«, erklärte Foster störrisch. »Ausgebildete Leute, die mit ihrer Ausrüstung mikroskopisch kleine Spuren von Haaren und Blut zu finden.«

Nick musste wieder an die blutige Schliere in der Wanne denken. Die möglichen Schleifspuren auf den Fliesen. »Hör zu, Kleiner ...«

»Perry. Perry Foster.« Foster kam auf die Füße, als hätte er soeben einen Entschluss gefasst.

»Wie auch immer. Hör mal, die Polizei wird mitten im dicksten Sturm des Jahrzehnts ganz sicher keine forensische Einheit herschicken, nur weil sie einen Spinner am Telefon hatte.«

»Ich bin kein Spinner! Da war eine Leiche. Jemand hat sie in meinem verschlossenen Apartment versteckt und inzwischen wieder weggeschafft. Jemand aus diesem Haus!«

Bridger schaute nervös zu MacQueens Tür. Auf ihrer Unterlippe kauend sagte sie: »Süßer, lass uns drei in meine Wohnung gehen und das Ganze noch mal überdenken.«

Nick öffnete den Mund, aber Foster kam ihm zuvor. »Ich kann da nicht reingehen«, sagte er dickköpfig.

»Ich werde die Katzen ins Nebenzimmer sperren.«

»Aber ihre Haare ...«

»Oh, zum Teufel noch mal«, entfuhr es Nick. »Es ist mir völlig egal, was ihr tut, solange ich nichts damit zu schaffen habe!«

Der Junge, Foster, hob trotzig das Kinn, aber als er Nick ansah, glitzerte es verdächtig in seinen Augen. »Natürlich. Danke für Ihre Hilfe«, brachte er höflich hervor.

Nick wandte sich zum Gehen. »Die Polizei wird Sie vielleicht auch befragen wollen, Mister Reno«, warnte Bridger. Ihre Augen funkelten wie grünes Glas.

Nick nahm einen tiefen Atemzug und atmete langsam aus. »Lassen Sie uns reingehen und alles noch mal durchsprechen«, sagte er betont ruhig.

***

Die Polizei kam, als sie sich gerade einen Kaffee genehmigten. Der Kaffee war mit Brandy verstärkt worden, was Nicks Meinung nach ein Fehler war, aber was ihn betraf, war die ganze Nacht eine einzige große Katastrophe gewesen. Die Polizei zu rufen war der größte Fehler von allen, und das hatte Nick auch lang und breit erklärt – und vor allem laut.

Jetzt saß er auf Janes Couch, deren eine Hälfte er locker für sich beanspruchte, und grübelte vor sich hin.

Nachdem die Polizei sich Perrys Geschichte angehört hatte, war sie nach oben verschwunden, um sich umzusehen. Nick hatte recht behalten. Es war keine forensische Einheit erschienen. Nur zwei müde und nasse Hilfssheriffs in gelben Regenmänteln, die offensichtlich lieber zu Hause geblieben wären.

Bevor die Polizisten nach oben gingen, berichtete Nick ihnen von den Schlieren in der Badewanne und den Schleifspuren auf den Fliesen.

»Warum hast du das vorher nicht erwähnt?«, fragte Perry vorwurfsvoll, nachdem die Sheriffs die Tür hinter sich zugezogen hatten. »Das sind Hinweise.«

»Lass die Cops entscheiden, ob es Hinweise sind oder nicht«, gab Nick zurück.

»Noch etwas Brandy?«, fragte Jane. Er hielt ihr seine Tasse hin, und sie schenkte ihm nach.

Perry starrte in seinen Kaffee. Er wusste, dass die anderen beiden genervt waren, weil er darauf bestanden hatte, die Polizei anzurufen. Sie mussten aus einem völlig anderen Universum stammen als er. Natürlich hatte er die Polizei verständigt. Jede halbwegs normale Person hätte das getan.

Und jetzt saßen sie zu dritt hier und warteten darauf, dass die Gesetzeshüter ihre Untersuchungen abschlossen, tranken Kaffee mit Schuss und aßen bunte Kekse, an denen man sich die Zähne ausbeißen konnte. Der Brandy machte sich allmählich bei Jane bemerkbar: Sie flirtete mit Nick.

Perry ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Tisch lagen zwei Weihnachtskarten. Eine stammte von einer Versicherungsfirma. Die andere lag mit der Vorderseite nach unten. Jane war nicht gerade die geborene Hausfrau. Ihre Wohnung war in einem chaotischen Zustand. Sie muss sich wohl an- und ausziehen, während sie herumläuft, kam es Perry in den Sinn, als sein Blick auf eine Seidenbluse fiel, die über einem Lampenschirm hing. Auf den Tischen lag Staub, ein Katzenhaar hatte seinen Weg auf die mit unzähligen Kissen bestückte Couch gefunden. Seine Brust zog sich zusammen.

»Wie geht es dir jetzt, Schätzchen?«, fragte Jane ihn, als habe sie seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet.

»Es geht.« Er schaute schüchtern zu Reno und senkte den Blick. Der andere Mann starrte ihn an, als sei er ein totaler Idiot.

»Was ist vorgefallen, während ich oben war?«, fragte Reno plötzlich.

Jane zuckte mit den Schultern und zog den Ärmel ihres Morgenmantels nach oben. »Nichts.«

»Mr. Center ließ sich blicken«, räumte Perry ein.

»Für etwa eine halbe Minute. Dann ist er prompt wieder in seinem Apartment verschwunden«, stellte Jane richtig. »So wie alle anderen. Miss Dembecki ist zurück in ihre Wohnung und hat die Tür verriegelt. Genau wie Mrs. Mac. Schließlich geht niemand davon aus, dass sie tatsächlich etwas finden werden.« Sie tätschelte entschuldigend Perrys Hand und wandte sich an Nick. »Warum? Was haben Sie erwartet?«

Nick Reno war einer dieser Menschen, deren Gesicht keine Regung verriet. Anstatt Jane direkt zu antworten, fragte er: »Wie viele Leute leben in diesem Haus?«

»Sieben, jetzt, wo der arme Mr. Watson von uns gegangen ist.« Nachdenklich kniff Nick die Augen zusammen. »Ist das der Kerl, der auf seinem Ausflug ins Dorf gestorben ist? Und Stein ist der Fettsack aus der zweiten Etage?«

»Genau. Er arbeitet als Nachtwächter im Einkaufszentrum und ist nachts selten da. Im zweiten Stock haben Mr. Stein, Mr. Center und Mr. Watson gelebt. Und auf dieser Etage hier wohnen ich, Miss Dembecki, Mrs. Mac und Mr. Teagle. Schon seit ... keine Ahnung, seit einer halben Ewigkeit. Ich bin mir sicher, Mr. Teagle haben Sie bereits kennengelernt. Er stellt sich aus Prinzip jedem neuen Mieter vor.« Sie lächelte bitter. Mr. Teagle hielt nicht viel von Jane. »Und ganz oben im dritten Stock wohnen nur Sie und Perry in den Zwillingstürmen.«

Im Stillen versuchte Perry, die Zeitabläufe zu sortieren. Es war absolut unmöglich, dass jemand ungesehen ins Haus gelangt oder über die Treppe verschwunden war, ohne die volle Eingangshalle zu durchqueren. Das bedeutete, dass wer auch immer die Leiche hatte verschwinden lassen, zwischen Perrys Flucht und Nicks Untersuchung der Räume noch im dritten Stock gewesen sein musste. Vielleicht hatte er hinter der Tür gestanden und die ganze Zeit über zugesehen.

Der Gedanke machte ihm Angst. »Die Leiche muss irgendwo auf der dritten Etage versteckt sein«, sagte er.

Jane hörte auf, mit ihren roten Fingernägeln gegen die Tasse zu tippen, und starrte ihn an.

»Und wo? In meiner Wohnung?«, schlug Reno trocken vor.

Perrys verengte die Augen und dachte darüber nach. Es war die wahrscheinlichste Erklärung: Die Leiche war verschwunden, weil Reno sie in seine Wohnung geschafft hatte. Er war draußen gewesen, als Perry die Treppe hinabgestürzt kam. Hatte das etwas zu bedeuten?

Reno begriff, dass Perry zwei und zwei zusammengezählt hatte. »Du hast eine ganze schön wilde Fantasie«, kommentierte er und komischerweise beruhigte Perry das.

»Vielleicht ist sie den Wäscheschacht runtergeworfen worden. Die Leiche, meine ich.« Jane reichte einen Teller mit den kranzförmigen Zementplätzchen herum.

Nick lehnte mit einem Kopfschütteln ab. »Beschreib mir den Toten«, forderte er.

Perry dachte angestrengt nach. »Er war ungefähr fünfzig, stämmig. Schlecht rasiert. Das Haar war rot. Sah gefärbt aus. Er trug ein gelbbraun kariertes Sakko und senffarbene Socken. In seinem linken Schuh war ein Loch.«

Nick horchte auf. »Was für eine Art Schuh?«

»Ein brauner Slipper.«

»Bist du dir sicher, dass das Loch im linken Schuh war?«

Perry nickte, dann fiel ihm noch etwas ein: »Er hatte ziemlich viele Nasenhaare und ein Muttermal auf dem Kinn.«

»Das war mehr, als ich wissen wollte«, murmelte Jane.

Jemand pochte laut gegen die Tür, und sie sprang auf. Perrys Gesicht nahm fühlbar die Farbe an, die normalerweise den Leichen in seinen blutigen Kriminalromanen vorbehalten war. »Die Polizei«, brachte er hervor.

»Was du nicht sagst. Wir haben sie selbst angerufen, hast du das vergessen?« Da die anderen beiden erstarrt schienen, stand Nick auf und öffnete die Tür für die Sheriffs.

Die Schutzmänner sahen müde und grimmig in die Runde.

»Ich schätze, ich sollte Sie alle miteinander fragen, ob Sie heute Abend etwas getrunken haben«, sagte der ältere der beiden. In seinem gelben Regenmantel sah er aus wie ein Fischer, der gerade ein leeres Netz hochgeholt hatte.

»Wir haben aus medizinischen Gründen inzwischen einen kleinen Schluck genommen«, sagte Jane trotz Perrys Protests. »Wir waren aber nicht den ganzen Abend über zusammen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Sie streckte sich genüsslich, und der Blick der Polizisten glitt zu ihrem tiefen Ausschnitt.

Der Fischer stieß ein missbilligendes Knurren aus. »Da oben ist niemand, und erst recht keine Leiche.«

»Das habe ich Ihnen ja schon gesagt«, antwortete Nick. »Was ist mit dem Blut in der Wanne?«

»Wer sagt, dass es Blut war? Könnte auch ... Schlamm gewesen sein.«

»Haben Sie viel Blut gesehen?«, wollte der jüngere Sheriff wissen. Er schien ein bisschen ungehaltener zu sein, dass er wegen eines Schusses ins Blaue sein Büro verlassen musste.

»Genug.«

»Was ist mit den Schleifspuren?«, fragte Perry.

»Schleifspuren bedeuten gar nichts«, sagte der Sheriff. »Und ich habe keinen Schlamm gesehen.« Er warf seinem Partner einen Blick zu. »Hast du Schlamm gesehen?«

»Nein. Die Wanne war blitzblank. Als hätte sie jemand frisch geputzt.«

»Was sagt Ihnen das?«, warf Jane ein.

Der ältere Mann beäugte sie ruhig. »Dass sie jemand kurz vorher geputzt hat.« Einen Moment lang ruhten seine dunklen Augen auf dem Brandy, der auf dem Tisch stand.

»Da war ein toter Mann in meiner Badewanne«, beharrte Perry auf dem, was er gesehen hatte. »Er ist da sicher nicht zufällig hingeraten.«

»Vielleicht war er ja gar nicht tot«, sagte der Sheriff. »Vielleicht war es ein Landstreicher, und er ist verschwunden, nachdem du ihn entdeckt hattest.«

Diese Theorie war so löchrig, dass Perry nicht einmal wusste, wo er anfangen sollte, sie zu widerlegen. »Meine Wohnung war abgeschlossen«, widersprach er. »Wie hätte er da hineingelangen sollen?«

»Das gilt nur für einen Toten, Junge. Ein Landstreicher hätte beim Einbrechen mehr Glück haben können als eine Leiche.« Diese Logik war unausweichlich. Aber Perry ließ nicht locker. »Aber er war tot. Jemand hat ihn in meine Wohnung gebracht und dann wieder rausgeholt, damit Sie mir nicht glauben. «

»Dafür musste die Leiche nicht einmal verschwinden«, sagte der Sheriff. Sein älterer Kollege bedachte ihn mit einem tadelnden Blick.

»Hören Sie«, sagte Reno. »Ich bin selbst nicht sehr davon überzeugt, dass da tatsächlich eine Leiche war. Aber ich habe ganz sicher eine Schmutzspur in der Wanne gesehen, die für mich verdammt noch mal nach Blut aussah. Und da waren schwarze Spuren, vermutlich Schleifspuren, auf den Bodenfliesen. Außerdem sagt Foster, dass der Tote einen Schuh mit einem Loch in der Sohle trug. Ich hab den Schuh gefunden und ihn auf das Fensterbrett gestellt.«

»Wir haben keinen Schuh mit einem Loch in der Sohle gesehen.«

»Haben Sie auch im Schlafzimmer nachgeschaut?«

»Natürlich. Aber wir haben nicht unbedingt nach Schuhwerk gesucht.«

»Haben Sie den Slipper auf dem Fensterbrett gesehen oder nicht?«

Die Sheriffs tauschten einen zweifelnden Blick aus.

»Ich habe keinen Schuh bemerkt«, wiederholte der Fischer. »Wenn Sie selbst nachsehen wollen, von mir aus gerne.«

»Ich glaube Ihnen«, erklärte Jane. Sie unterdrückte ein Gähnen und sagte, ohne jemanden direkt anzusprechen: »Meine Herren, ich möchte kein Spielverderber sein, aber ich brauche meinen Schönheitsschlaf.« Sie machte eine langsame, scheuchende Geste, und die Lakaien des Gesetzes zogen sich gehorsam in den Flur zurück.

Perry erhob sich. »Ich werde noch einmal nachsehen.« Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick zu Nick glitt, um sich zu vergewissern, dass er mitkommen würde.

Nick brauchte keine zweite Einladung. Er marschierte die Stufen hinauf, die Polizisten im Schlepptau, und betrat zum zweiten Mal an diesem Abend das ihm fremde Apartment.

Perry folgte ihm und betrachtete seine Wohnung, als habe er sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Die Nacht begann, wahnhafte Züge anzunehmen. Natürlich, er war ein wenig übernächtigt. Er starrte den Koffer an, der in der Mitte des Raumes stand. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit er Marcels viktorianisches Heim verlassen und den Flug nach Vermont genommen hatte.

Er folgte Nick ins Bad und tatsächlich, die Wanne war leer – und frisch geputzt.

Nick ließ einen Finger über den Rand gleiten. »Feucht«, kommentierte er. Perry schaute ihn an. Die Sheriffs, die im Türrahmen standen, starrten ihn ebenfalls an.

Nick zwängte sich an ihnen vorbei und hielt auf das Schlafzimmer zu. Vor dem Fensterbrett blieb er stehen.

Ein Schuh stand gut sichtbar auf dem Vorsprung. Er war schwarz, klein – vielleicht Größe 42 – und in gutem Zustand.

Ein Muskel spannte sich in Nicks Kiefer an, während er den Slipper untersuchte. »Das ist er nicht.«

»Schau dich um, Kumpel. Es ist der einzige Schuh hier.«

Nick warf den Slipper Perry zu, der ihn auffing und schluckte. »Das ist meiner«, sagte er, als fürchte er, sein Schuh sei eines Verbrechens schuldig.

»Ja, das haben wir uns gedacht.«

»Sagten Sie nicht, Sie hätten gar keine Schuhe bemerkt?«, gab Reno zurück.

»Wir haben keine verdächtigen Schuhe bemerkt.«

»Sei still, Abe«, murmelte der ältere Sheriff.

Nick wollte etwas erwidern, doch dann schluckte er die Worte hinunter. Das Schauspiel hier begann zu einer Farce zu verkommen. Die Cops hatten ihr Urteil ohnehin schon vor zwanzig Minuten gefällt, soviel stand fest.

Er schaute zu dem Jungen hinüber. Es war offensichtlich, dass Foster wusste, dass es vorbei war, obwohl er Nick erwartungsvoll anblickte. Warum? Was glaubte er, dass Nick noch tun könne? Selbst, wenn er gewollt hätte.

Er starrte zurück und Foster schaute weg, biss die Zähne zusammen. Seine Hände zitterten, und er schob sie in die Hosentaschen.

Die Sheriffs machten sich auf den Weg.

»Wir werden uns jetzt verabschieden. Passt auf euch auf.« Der Fischer tippte sich an die Krempe seines nass geregneten Hutes, als er in den Flur trat.

Nick fing die Tür auf, bevor sie sich hinter den Sheriffs völlig schließen konnte. Er warf einen Blick zu Foster hinüber. Der Junge war völlig in den Anblick der Wanne versunken.

Die leisen Kommentare der Sheriffs erstarben mit dem Geräusch ihrer Schritte auf der Treppe.

Situation entschärft, dachte Nick. Endlich Zeit zum Schlafengehen.

»Das war’s dann wohl«, sagte er. »Ich werde jetzt auch Gute Nacht sagen.«

Foster fuhr herum. »Du gehst?«

»Ja.« Nick sprach betont lässig, um dem entsetzten Unterton in Fosters Stimme etwas entgegenzusetzen. »Hier ist alles in Ordnung.«

Foster war ein wirklich zerbrechlich wirkender Junge. Er lebte allein und hatte anscheinend einen Job, also konnte er keine 14 sein, obwohl er kaum älter aussah. Seine Handgelenke waren dünn, und aus den modischen Löchern seiner Levi’s lugten knochige Knie hervor. Unter der bleichen Haut der Hände waren blaue Adern zu sehen. Nick dachte an die Frühstücksflocken und die Asthmatabelle.

Verflucht.

»Danke«, brachte Foster heiser hervor. »Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich auch für irre hältst. Daher weiß ich deine Hilfe zu schätzen.«

»Ich halte dich nicht für irre.« Tatsächlich hatte er keine Ahnung, ob der Junge verrückt war oder nicht. »Ich denke, du hast etwas gesehen. Aber was auch immer es war, es ist jetzt fort. Es ist vorbei.«

Nick musste an den Schuh mit dem Loch in der Sohle denken. Er hätte gleich bemerken sollen, dass er für einen Welpen wie Foster viel zu groß war. Jemand hatte die Schuhe ausgetauscht, nachdem Nick das Zimmer verlassen hatte. Jemand hatte die Wanne und den Boden gewischt. Und dieser Jemand hatte Eier aus Stahl. Aber das war nicht Nicks Problem. Es war nicht seine Aufgabe, die Welt zu retten. Jedenfalls nicht mehr.

»Ja, dann ...« Perry brachte ein wenig überzeugendes Lächeln zustande. »Vielleicht kann ich mir ein Hotelzimmer in der Stadt leisten.« Er nahm seinen Koffer. »Ich will heute Nacht nicht hier bleiben.«

Nick ruckte knapp mit dem Kopf. Tolle Idee, seine beste bisher. Nur ...

Ein Windstoß ließ das Haus erzittern. Das Licht flackerte. Auf der anderen Seite des Zimmers zog Foster erschrocken Luft ein. Seine Augen waren riesig. Wie die von Bambi, nachdem seine Mutter den Löffel abgegeben hatte.

Es würde eine dunkle und lausige Nacht werden. Kein guter Zeitpunkt, um auf den Straßen unterwegs zu sein, außer, es ließ sich gar nicht verhindern. Im Radio hatten sie Sturmwarnung gegeben. Welches Arschloch würde einen Jungen mit Asthma in ein Unwetter schicken?

»Ach Scheiße«, knurrte er. »Du kannst heute Nacht bei mir schlafen.«

Ein Anflug von Farbe kehrte in das Gesicht des Jungen zurück. »Ich will keine Umstände machen«, sagte Foster hoffnungsvoll.

Nick schnaubte.

Kapitel 2

»Du warst ein Marine?«, versuchte Perry eine Unterhaltung in Gang zu bringen, während er Nick Renos Zuhause in Augenschein nahm.