Das geheimnisvolle Collier - Catherine Cookson - E-Book

Das geheimnisvolle Collier E-Book

Catherine Cookson

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein dunkles Geheimnis und eine große Liebe in Gefahr

Die junge Alison verliebt sich in ihren Adoptivvater Paul. Als eine Frau aus Pauls früherem Leben auftaucht, spürt Alison, dass sie Paul nicht teilen kann. Sie vermutet bald, dass er ein Doppelleben führt. Ist ihre Liebe stärker als die Schatten der Vergangenheit?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CATHERINE COOKSON

Das geheimnisvolle

Collier

Roman

Aus dem Englischen

von Anne Groß

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Alison Read hat früh ihre Eltern verloren und wächst bei ihrem Onkel auf. Nach dessen Tod wird sie von einem Freund ihres Onkels, Paul Aylmer, aufgenommen, der ein Antiquitätengeschäft betreibt. Alison lernt schnell und geht bald allein zu den Auktionen. Sie hat bei Paul ein neues Zuhause und eine Aufgabe für ihr Leben gefunden. Bald verliebt sie sich in den zwanzig Jahre älteren Paul. Dieser behandelt sie jedoch immer noch wie ein kleines Mädchen. Als plötzlich Freda Gordon-Platt, eine Frau aus Pauls früherem Leben, auftaucht, hat Alison Angst, Paul könnte die Beziehung zu dieser Frau wieder aufleben lassen. Ihre Eifersucht bringt sie dazu, Paul auszuspionieren. Schnell beschleicht sie der Verdacht, dass er ein Doppelleben führt, und Alisons Verehrer, Bill Tapley, gibt sich alle Mühe, Alison von Pauls Zwielichtigkeit zu überzeugen. Schließlich belauscht Alison ein entscheidendes Gespräch zwischen Freda und Paul.

Die Autorin

Die Originalausgabe THE LADY ON MY LEFT erschien 1997 bei Bantam Press, a division of Transworld Publishers Ltd

 Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Vollständige Deutsche Erstausgabe 02/2007 Copyright © 1997 by Catherine Cookson Copyright © 2007 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH  Umschlaggestaltung:

Nele Schütz Design unter Verwendung von

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5

1

Der Auktionator zog das Kinn ein, spähte über den Rand seiner Brille, schob sich den Filzhut in den Nacken und rief: »Ich bitte um ein Gebot für diese erlesene Chippendale-Gruppe in Mahagoni, bestehend aus zwei Sesseln und vier Stühlen. Die aufwändig gearbeiteten Lehnen, die geschwungenen Beine, die Klauenfüße – alles Originalteile in hervorragendem Zustand. Wir steigen ein mit zehn. Ein Anfangsgebot, bitte! Also schön. Fünf … fünf sind geboten … sechs … sieben … acht … neun … zehn … zwölf. Habe ich vierzehn gehört?«

Alison Read drückte den Bleistift gegen ihre Lippen und wartete, bis das Gebot bei 30 Pfund stand. Erst dann stieg sie ein. Bei 34 Pfund zeigte nur noch James Holbolt von der High Bank Interesse, und als sie mit einer leichten Pendelbewegung des Bleistiftes auf 38 erhöhte, schüttelte auch Holbolt den Kopf. Der Auktionator musterte Alison mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das Gebot einer jungen Dame«, schnarrte er. »Es steht bei 38 Pfund. Das Gebot einer jungen Dame.« Er hoffte, mit seinen Worten das Ego der anwesenden männlichen privaten Bieter anzustacheln. Aber diesmal verfehlte der uralte Trick seine Wirkung. Es waren vorwiegend Händler im Saal, die zwar durchweg über ein ausgeprägtes Ego verfügten, Alison aber gut kannten und wussten, in wessen Auftrag sie kaufte.

»Die Dame zu meiner Linken hält das Gebot. Keiner mehr? Wer bietet mehr, Gentlemen?« Der Blick des Auktionators schweifte suchend durch den Raum. Schließlich gab er Alison mit einem kleinen Elfenbeinhämmerchen den Zuschlag. Er blätterte in seinen Unterlagen und murmelte: »Aylmer.«

Sein Assistent machte sich die entsprechenden Notizen, dann wurde die nächste Katalognummer aufgerufen. Alison addierte 38 Pfund zu ihrer Zahlenkolonne. Sie war froh, die Möbel bekommen zu haben, nachdem man sie zuvor bei der Georgianischen Sitzgruppe überboten hatte – wirklich erlesene Stücke, mit Messingverzierungen und fein gedrechselten Beinen. Paul hätte das Ensemble bestimmt gut gefallen. Aber immerhin hatte sie die französische Kaminuhr und einen achteckigen Georgianischen Weinkühler ersteigert, eine ganz besondere Kostbarkeit mit auffallend verzierten Griffen und eleganten, spitz zulaufenden Beinen. Alison verließ ihren Platz und schob sich an einer Gruppe von Händlern vorbei. Einer der Männer fragte leise: »Wie geht es Paul?«

Flüsternd antwortete sie: »Schon viel besser. Er studiert wieder Kataloge.« Sie tauschten ein wissendes Lächeln aus, dann schlängelte sich Alison durch die Menge zum Ausgang. Draußen angekommen, schlug sie den Mantelkragen hoch. Ein scharfer Eisregen hatte die watteweichen Schneeflocken verdrängt, die noch am Mittag die ganze Welt in eine Weihnachtspostkarte verwandelt hatten. Jetzt im Januar brach die Abenddämmerung bereits um vier Uhr nachmittags herein. Alison sehnte sich nach Licht und Wärme. Angesichts der glatten Straßen hatte sie den Wagen zu Hause stehen lassen. Auch der Gedanke, in der eisigen Kälte auf einen Bus zu warten, erschien ihr wenig verlockend. Zügig überquerte sie den Marktplatz, nahm den kürzesten Weg durch die engen Seitengassen und stand nach einem strammen zehnminütigen Marsch am Fuße von Tally’s Rise. Die steil ansteigende Straße und der Hügel, auf dessen Kamm sie führte, trugen denselben Namen. Im Volksmund sprach man allerdings gern vom Goldberg, was an den vielen Antiquitätengeschäften lag, die Tally’s Rise für Sammler und Liebhaber besonderer Stücke so attraktiv machten. Allein vierzehn Geschäfte führten erlesenes Porzellan, kostbare Glaswaren, antiquarische Bücher oder antike Möbel. In einigen gab es sogar von allem etwas. Ramsch oder wertlosen Plunder konnte man in keinem der Läden erstehen. Schnäppchenjäger, die glaubten, auf dem Goldberg für ein paar Pfund echte Georgianische Kristallgläser finden zu können, mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Wer allerdings bereit war, für zwei antike Weinkelche vierzig Pfund anzulegen, bekam für sein Geld auch beste Ware. Darüber hinaus galt Tally’s Rise als gute Adresse für originalgetreu nachgebaute Stilmöbel. Doch auch dafür mussten qualitätsbewusste Käufer etwas tiefer in die Tasche greifen. Eine Kommode aus Eichenholz kostete unten in der Stadt nicht einmal ein Viertel dessen, was hier verlangt wurde. Dafür bekam der Kunde auf dem Tally’s Rise echte antike Messingbeschläge und die handwerklich hervorragende Kopie eines Jakobinischen Möbelstücks. Für das Original – falls sich überhaupt eines auftreiben ließ – musste ein Sammler zwischen 300 und 500 Pfund auf den Tisch blättern. Ja, Tally’s Rise war kein gewöhnlicher Hügel und keine gewöhnliche Straße.

Paul Aylmers Geschäft befand sich ganz oben auf der Anhöhe, im letzten Haus in der Straße, und schmiegte sich direkt an eine schroffe Felswand. Der Fels bildete die Rückwand des Ladens, der das gesamte Erdgeschoss einnahm. Die Wohnung in den oberen Stockwerken hatte keinen eigenen Eingang. Man erreichte sie nur durch das Geschäft.

Alison hatte stets das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, sobald sie die Ladentür öffnete. Hinter dieser Tür fand sie Sicherheit, Liebe und Geborgenheit, und selten hatte sie sich mehr nach dem heimeligen Ort gesehnt als an diesem finsteren Winternachmittag. Sie zog die Tür hinter sich zu und streifte auf dem Schuhabtreter sorgfältig den Schneematsch von ihren Sohlen, bevor sie einen Fuß auf den kostbaren persischen Läufer setzte. Wie ein schnurgerader Pfad lag er auf dem polierten Hartholzboden. Zubeiden Seiten waren Gruppen von dunkel patinierten Möbelstücken zu stilvollen Ensembles arrangiert. Kaum hatte Alison ein paar Schritte durch ihr geliebtes Reich gemacht, da trat ein alter Mann aus einem Durchgang am Ende des lang gezogenen Verkaufsraumes. Der Alte trug eine Augenklappe und seine knochigen Schultern waren so gebeugt, dass man auf den ersten Blick meinen konnte, er habe einen Buckel. Sein Lächeln dagegen war fast jungenhaft und das eine Auge blitzte. Fröhlich begrüßte er Alison. »Herrje! Du musst halb erfroren sein, kleine Miss.« So nannte Nelson sie, seit sie ihn kannte. »War es sehr kalt bei der Auktion?«

»So wie immer, Nelson. Es tut unglaublich gut, endlich wieder ins Warme zu kommen.«

»Das kann ich mir vorstellen. Hast du die Kupferstiche bekommen?«

»Nein, tut mir leid. Die kosteten ein kleines Vermögen. Aber ich habe die französische Uhr und die Sitzgruppe.«

»Die Georgianische?«

»Nein, da konnte ich nicht mithalten. Der Zuschlag kam erst bei zweiundsiebzig Pfund.«

»Das ist viel Geld für ein paar Stühle.«

»Und wie lief es bei dir? Gingen die Geschäfte gut?«

»Nein, kleine Miss Alison.« Er lachte. »Das Wetter ist einfach zu schlecht.«

»Du hast recht. Freiwillig schleppt sich an so einem trüben Tag niemand hier herauf. Hast du schon Tee getrunken?«

»Nein, noch nicht. Die holde Nellie wird ihn sicher bald herunterbringen.«

Alison wandte sich lachend ab. Sie öffnete eine Tür rechts in der hinteren Wand des Ladens. Von dort gelangte man durch einen kurzen, mit dicken Teppichen ausgelegten Flur zu der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. An ihrem Ende lag ein schmaler Absatz mit je einer Tür zur Linken und zur Rechten. Durch die eine trat man in ihr eigenes Zimmer, durch die andere in das von Paul. Noch eine Treppe höher lag eine geräumige Diele. Erst hier streifte Alison den Mantel und die Straßenschuhe ab. Aus der Küche rief eine Stimme: »Sind Sie das, Miss Alison? Gut, dass Sie wieder da sind. Was für ein scheußlicher Tag!« Eine Frau trat in die Diele, ein Tablett in den kräftigen Händen. Sie war klein und rundlich. Zahllose Fältchen durchzogen ihr Gesicht, doch ihr Haar war kohlrabenschwarz. Sie reckte das Kinn in die Höhe und sagte mit einem Blick auf das Tablett: »Eigentlich könnte er sich den Tee selbst holen.«

Alison lächelte und nahm schweigend ihre Hausschuhe aus dem Dielenschrank. Paul und sie amüsierten sich königlich über die uralte Fehde zwischen Mrs Dickenson und Nelson. Nelson stammte aus dem Norden Englands. Nellie Dickenson hingegen hatte diese kleine Küstenstadt im Süden nie verlassen. Sie war überaus konservativ und ein wenig festgefahren in ihrer Art. Das gab sie gern zu. Nelsons loses Mundwerk und seine Neigung, die Dinge locker zu nehmen, brachten sie regelmäßig zur Weißglut.

Mit resoluten Schritten marschierte Mrs Dickenson zur Treppe. »Es steht alles bereit«, sagte sie über die Schulter.

»Danke Nellie.« Alison ging zu der Tür am Ende der Diele. Sie führte ins Wohnzimmer.

Der Tisch mit dem Teegeschirr stand wie üblich vor dem großen offenen Kamin. Auf der Couch am Feuer saß Paul Aylmer. Sein Kopf ruhte an der Lehne. Selbst wenn er wie jetzt in den tiefen Polstern versank, wirkte er groß und stattlich. Auf den ersten Blick erinnerte er mit dem dichten blonden, an den Schläfen schon etwas ergrauten Haar an einen norwegischen Seefahrer. Er hatte ein kantiges Gesicht mit weit auseinander stehenden Augen und kräftigen Augenbrauen. Auch wenn Pauls Züge völlig entspannt waren, kräuselten sich die Mundwinkel leicht nach oben, sodass es stets wirkte, als lächle er amüsiert in sich hinein. Selbst wenn er sich ärgerte oder seine Augen zornig funkelten, schien das geheimnisvolle Lächeln auf seinen Lippen zu liegen. Wer ihn nicht kannte, ließ sich dadurch leicht verwirren. Auch Alison fand dieses Gesicht oft unergründlich.

Sie kannte Paul Aylmer seit ihrem zwölften Lebensjahr. Ihr Onkel Humphrey hatte früher oft von seinem Kriegskameraden erzählt. Aber wenn er von Leeds aus in den Süden fuhr, um ihn zu besuchen, ließ er Alison stets in der Obhut seiner Haushälterin zurück. Als er wieder einmal von einem dieser Besuche nach Hause kam, sagte er: »Paul möchte, dass ich hier alles verkaufe und bei ihm einsteige. Ich habe ihm vorgeschlagen, es umgekehrt zu machen. Aber er liebt die Südküste und ich liebe das gute alte Leeds. Ich könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten.«

Einen Monat später stand Alison Paul Aylmer zum ersten Mal gegenüber – bei Onkel Humphreys Beerdigung.

Sie war eines Nachmittags von der Schule nach Hause gekommen und hatte die Haushälterin völlig aufgelöst und tränenüberströmt vorgefunden. Mrs Crosbie schluchzte: »Setz dich hin, Liebes. Setz dich. Ich muss dir etwas sagen.« Doch selbst nachdem Alison alle Einzelheiten erfahren hatte, konnte sie nicht glauben, dass ihr Onkel tot und sie damit wieder allein auf der Welt war. Vielleicht wurden andere Leute von Lastwagen versehentlich an eine Wand gedrückt und starben. Aber doch nicht ihr Onkel Humphrey! An ihre Eltern konnte sich Alison nicht erinnern. Humphrey hatte ihr, seit sie denken konnte, Vater und Mutter ersetzt. Beim Tod ihrer Mutter war sie erst zwei Jahre alt gewesen, ihr Vater hatte sich kurze Zeit später das Leben genommen. Von seinem Suizid wusste sie erst seit etwa einem Jahr. Damals hatte sie zufällig ein Gespräch im Laden mit angehört. »Tragisch, tragisch«, hatte ein Kunde seufzend zu ihrem Onkel gesagt, »wenn die Frau stirbt und der Mann es nicht verkraftet. Eigentlich sollte man Zivilisten den Besitz von Schusswaffen verbieten.«

Dass sie nach dem Tod ihres Onkels ein recht wohlhabendes kleines Mädchen war, beeindruckte Alison nicht sonderlich. Viel bemerkenswerter fand sie, dass ihr Leben und ihr Schicksal nun offenbar in den Händen von Onkel Humphreys langjährigem Freund Paul Aylmer lagen. Er war ein großer, stiller Mann mit blondem Haar. Schon im Büro des Notars, der ihr, Mrs Crosbie und Paul Aylmer das Testament vorlas, spürte Alison, wie überrumpelt ihr neuer Vormund von seiner Aufgabe war. Er erbte sozusagen eine Tochter. Besonders erfreut schien er darüber nicht zu sein.

Als sie schließlich miteinander allein waren, starrte Alison ihn schweigend an. Aus ihren großen dunklen Augen sprachen Einsamkeit und die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Diese beklemmenden Empfindungen nahmen ihr fast den Atem. Da lächelte Paul Aylmer plötzlich, ergriff ihre Hand und sagte: »Nun?«

Das eine Wort genügte, um Alison aus ihrer Erstarrung zu reißen. Hastig stieß sie hervor: »Ich mache Ihnen bestimmt keine Umstände. Onkel Humphrey fand mich nie sehr lästig. Ich kann mich nützlich machen. Ich weiß alles über antike Möbel. Das hat mir Onkel Humphrey beigebracht. Er nahm mich immer mit zu den Auktionen. Man kennt mich dort schon. Ich durfte sogar manchmal für ihn bieten.«

Zum ersten Mal in ihrer dreitägigen Bekanntschaft sah Alison Paul Aylmer wirklich lächeln. Und gleich darauf hüllte sie sein tiefes, dunkles Lachen ein. Es wärmte sie und zog sie in seinen Bann. In diesem Augenblick gab sie sich ganz in seine Hand, sie gehörte nicht mehr sich selbst. So einfach ging das, und so schnell. Er sagte: »Ich möchte auf keinen Fall Vater oder Dad genannt werden. Mein Name ist Paul. Verstanden?«

Paul, Paul, Paul. Für Alison war es von diesem Augenblick an der schönste Name der Welt. Und daran hatte sich seither nichts geändert. Nun ging sie zu ihm und sagte: »Das hast du mal wieder fein hinbekommen. An einem Tag wie heute würde man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagen. Die Auktionshalle war natürlich nicht geheizt.«

Pauls linker Mundwinkel zuckte. »Du bist hart im Nehmen. So schnell erfrierst du schon nicht.«

»Wie kann man nur so grausam sein?« Alison setzte sich an den kleinen Tisch vor dem Kamin, nahm die silberne Teekanne und füllte schweigend zwei Tassen. Als sie Paul eine davon reichte, nickte er ihr zu und sagte: »Nun sag schon. Wie ist es gelaufen? Hast du die Stühle bekommen?«

»Die Georgianischen leider nicht. Aber die Chippendale Gruppe. Für achtunddreißig Pfund.«

Er schürzte die Lippen. »Schade. Ich wüsste jemanden, der mir für die Georgianische sofort hundertdreißig Pfund auf den Tisch geblättert hätte. Zu dumm. Aber die Chippendale Gruppe ist sicher auch nicht übel. Ich denke, dass wir sie ziemlich schnell wieder los sein werden. Sechzig Pfund dürfte, sie schon bringen. Irgendeine junge Madam aus dem St. Pierre Viertel wird sie sicher bald entdecken und sich in sie verlieben.«

»Aber Paul, das Ensemble ist mindestens siebzig wert! Wenn du die Preise verdirbst, bekommst du es bald wieder mit dem alten Broadbent zu tun.«

»Er war schon öfter hier und hat nie einen sehr durchschlagenden Eindruck hinterlassen.« Sie lachten beide. Dann nahm Paul einen Brief von der Couch und reichte ihn ihr. »Das hier klingt ganz interessant«, sagte er fast beiläufig.

»Worum geht es denn?«

»Lies selbst.«

Alison las den Brief, sah Paul an und konnte ihre Aufregung kaum verbergen. »Beacon Ride«, sagte sie. »Das ist doch das große Anwesen, das man von der Straße nach Brighton aus sehen kann!«

»Ja, genau.«

»Sie wollen dass du kommst und ein paar Stücke schätzt. Nicht übel, Mr Aylmer! Nicht übel. Ein echtes Kompliment. Sie hätten sich an Broadbent, Fowler oder Wheatley wenden können. Aber sie wollen dich. Das hast du deinem guten Ruf als seriöser Händler zu verdanken. Aber trotzdem … trotzdem wundere ich mich ein bisschen. Von Beacon Ride ist es doch nur ein Katzensprung nach Brighton! Dort gibt es Dutzende von Händlern, Auktionatoren und Sachverständigen, und rein statistisch betrachtet müssten doch auch ein paar anständige darunter sein.«

Paul lachte abermals auf, dann sagte er: »Vielleicht ist ihre Wahl gar nicht so schwer zu erklären. Es gibt anständige Händler … und wirklich anständige.«

»Bilde dir bloß nichts ein«, sagte Alison und knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. Dann warf sie noch einmal einen Blick auf den Brief. »Sie wollen, dass du so schnell wie möglich kommst. Aber du musst mindestens noch eine Woche lang das Haus hüten. Mit einer Grippe ist nicht zu spaßen.«

»Ja, ja, das weiß ich. Aber so lange können wir sie nicht warten lassen. Wenn sich jemand dazu durchgerungen hat, etwas zu verkaufen, will er es normalerweise schnell hinter sich bringen.« Paul rieb sich nachdenklich die Nase. »Eigentlich habe ich geglaubt, alle wirklich wertvollen Sachen wären bereits weg … eigenartig«, murmelte er versonnen.

»Woher weißt du das? Warst du schon einmal dort?« Alison horchte auf.

Paul studierte angelegentlich seinen Teller. »Ja, hin und wieder«, sagte er, als verstünde sich das von selbst.

»Wann war denn das?«

»Oh, das liegt schon ein paar Jahre zurück. Du warst damals noch gar nicht geboren.« Er sah sie aus dem Augenwinkel an. Alison erwiderte den Blick mit einem zärtlichen Lächeln. Wenn er sagte, etwas sei vor ihrer Geburt geschehen, meinte er damit normalerweise, dass es länger als acht Jahre her war. So lange lebte sie nun schon bei ihm. Sie stellte fest: »Diese Gelegenheit darfst du dir nicht entgehen lassen. Was willst du also tun?«

»Ich schicke dich hin.«

»Mich? Zum Schätzen?«

»Sicher erinnerst du dich daran, was du ganz zu Anfang unserer Partnerschaft zu mir gesagt hast.« Er lächelte. »Du hast behauptet, du wärest schon bei vielen Auktionen gewesen und würdest dich bestens auskennen.«

»Ja, und so war es auch. Hattest du bislang etwa Grund zu klagen? Aber das … das könnte eine größere Sache werden. So etwas hast du mich noch nie allein machen lassen.«

»Es hat sich nur noch nie ergeben. Das ist deine Chance! Du gehst am besten gleich morgen hin.«

»Oh Paul!« Alison ergriff seine Hand. »Wie aufregend! Worum es sich wohl handelt?«

»Das steht doch in dem Brief. Kannst du nicht lesen? Angeblich haben sie noch ein Essbesteck aus der Zeit Georges des Dritten, ein bisschen chinesisches Porzellan und ein paar alte englische Trinkgefäße. Klingt recht interessant. Ich frage mich nur, warum sie die Sachen nicht einfach nach London geschickt haben. Normalerweise ist Sotheby’s dafür die beste Adresse – vorausgesetzt natürlich, das Zeug taugt wirklich etwas.«

»Gütiger Himmel! Jetzt kriege ich doch kalte Füße.«

»Blödsinn! Du machst dir einfach ein paar Notizen und gehst wieder nach Hause. Du musst nicht sofort einen Preis nennen, wenn du dir nicht sicher bist.«

»Ich zittere schon vor lauter Aufregung.«

Alison ließ sich auf dem Läufer vor dem Kamin nieder, zog die Beine unter sich und lehnte sich an die Couch. Das Leben war so schön! Und so aufregend! Sie starrte in die Flammen und dachte wieder einmal darüber nach, ob sie wohl ein Gefühl für all die erlesenen und wertvollen Dinge entwickelt hätte, wenn sie anstatt bei Onkel Humphrey bei ihren Eltern aufgewachsen wäre. Ihr Vater hatte eine Gemüsehandlung betrieben. Sehr spannend klang das nicht. Vielleicht hätte sie in diesem Fall erst erwachsen werden, heiraten und einen eigenen Haushalt führen müssen, um das Talent zu entdecken, das in ihr schlummerte. Aber möglicherweise war dieses Talent gar nicht angeboren, sondern vielmehr das Ergebnis des frühen Umgangs mit vielerlei Raritäten und Kostbarkeiten. Vielleicht verdankte sie ihr Gespür allein Onkel Humphrey, der sie sehr gemocht und von Anfang an mit zu Auktionen und Einkaufstouren geschleppt hatte. Sie erinnerte sich noch gut an die vielen langen Nachmittage, die sie in ihrer Kindheit in einer Ecke in den Auktionshallen von Leeds verbracht hatte. Wie ein undurchdringlicher Wald waren ihr damals die zahllosen dunklen Hosenbeine erschienen, die sie umgaben.

In ihren Träumen hörte sie noch heute oft eine Stimme rufen: »Letztes Gebot, zehn Shilling! Letztes Gebot, zwanzig Pfund! Letztes Gebot, hundertfünfzig Guineen. Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten.« Auf dem kleinen Hof hinter dem Laden erfand sie Hüpfspiele, summte dazu eine Melodie oder sang immer wieder nur die Worte: »Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten« vor sich hin.

Eine Weile dachte Alison noch über ihr Verhältnis zu antiken Möbeln und anderen schönen Dingen nach, aber sicher war nur eines: Ganz gleich, ob ihr Gefühl für wertvolle Antiquitäten angeboren oder erlernt war, sie besaß es ganz einfach und konnte sich darauf verlassen.

Pauls Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Ich hatte heute Nachmittag Besuch.«

»Ach ja?« Alison konnte den Blick nicht von den züngelnden Flammen lassen.

»Bill Tapley war hier.«

»Oh, Bill … stimmt. Bei der Auktion habe ich ihn nicht gesehen.«

»Er hatte etwas Wichtigeres vor.«

»Kann es für ihn denn etwas Wichtigeres geben, als ein gutes Geschäft zu machen oder wenigstens mit seinem Gebot die Preise in die Höhe zu treiben?«

»Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann.«

»Sicher.«

»Er will dich heiraten.«

»Wie bitte?« Hastig fuhr sie herum. Zierlich und schlank wie sie war, mit ihren elfengleichen Zügen, den großen dunklen Augen und dem wilden schwarzen Haar erinnerte sie im Augenblick an ein verschrecktes Tier. »Bill Tapley will mich heiraten? Ist das … ist das dein Ernst?«

»Wohl eher seiner.«

Alison legte die Ellbogen auf die Knie, blickte zu Paul auf und flüsterte völlig entgeistert: »Aber er ist doch sicher weit über vierzig! Bill Tapley … Das kann nicht wahr sein!«

»Sein Alter spricht nicht gegen ihn.« Paul senkte die Lider. »Ich bin selbst kaum jünger und betrachte mich keinesfalls als Tattergreis.«

Alison schüttelte den Kopf. »Du bist vierzig. Bist es gerade erst geworden. Gegen dich sieht Tapley so alt aus, dass man ihn glatt für deinen Vater halten könnte.« Das war eine wilde Übertreibung und Alison wusste es. Sie rümpfte die Nase und fuhr fort: »Bill Tapley! Ich hätte mir nie träumen lassen … Ich kann ihn nicht ausstehen!«

»Ich glaube, das weiß er.«

Alison nahm wieder eine bequemere Stellung ein. »Das beruhigt mich, denn ich mag wirklich überhaupt nichts an ihm, am allerwenigsten seine Art, Geschäfte zu machen. Und daran bist allein du schuld.« Sie nickte ernst. »Du hättest eben nicht so viel Wert auf Ehrlichkeit und Anständigkeit legen sollen. Ich habe mehr als einmal miterlebt, wie Bill Tapley mit den Leuten von Broadbent umspringt … Ihn heiraten! Hat er das wirklich gesagt?«

»Ja. Er bat mich um meine Meinung dazu.«

Fast zaghaft fragte Alison: »Und was hast du ihm geantwortet?«

Wieder wich Paul ihrem Blick aus. »Dass das ganz allein deine Sache ist, und dass ich euch nicht im Weg stehen würde, wenn du ja sagen würdest.«

Alison musterte ihn mit schief gelegtem Kopf. »Das hast du ihm gesagt? Du würdest mich tatsächlich Bill Tapley heiraten lassen?«

»Ja. Wenn du es wirklich willst.« Nun sah Paul sie durchdringend an. »Nur darum geht es doch: Ob … du … es … willst.« Er machte lange Pausen zwischen den Worten.

»Schön. Aber ich will nicht.« Alisons Stimme klang schrill. Sie wandte sich ab. »Ich will weder ihn noch sonst jemanden heiraten. Und wenn ich vor der Wahl stünde, einsam zu sterben oder Bill Tapleys Frau zu werden, würde ich mich für Ersteres entscheiden.« Sie sah Paul über die Schulter hinweg an. »Hast du eine Ahnung, warum er mich heiraten will?«

»Ich glaube, er ist in dich verliebt.«

»Sei bitte nicht albern. Bill Tapley liebt nur das Geld. Er weiß, dass ich in sieben Monaten einundzwanzig Jahre alt sein werde und dass mein Vormund mir dann in allen Entscheidungen freie Hand lassen muss.« Sie lächelte Paul zärtlich an. »Von meinem einundzwanzigsten Geburtstag an kann ich frei über mein Erbe verfügen, über achtzehntausend Pfund.«

»Es dürfte inzwischen deutlich mehr sein. Das Geld hat Zinsen gebracht. Acht Jahre lang.« Pauls Stimme war fest.

»Bill Tapley würden für den Anfang auch achtzehntausend genügen. Wenn er mich selbst fragt, ob ich ihn heiraten will, wird er schon die passende Antwort bekommen.« Alison machte ein energisches Gesicht. Als sie Paul auflachen hörte, fuhr sie zu ihm herum. Er hing hilflos in den Polstern der Couch und schien sich köstlich zu amüsieren. Sie stand auf, beugte sich über ihn und packte ihn an den Schultern. Eigentlich wollte sie ihn schütteln. Doch sein Lachen war ansteckend und bald hatte es auch sie erfasst. Glucksend sank sie neben ihn auf die Couch und ließ den Kopf an seine Brust sinken. Pauls Lachen verstummte fast sofort. Alison blickte auf und sah ihn an. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie nicht mochte. Es war ein Ausdruck, der zwischen ihnen Distanz schaffte. Das war das Schlimme an Paul, wenn man es denn so nennen konnte: Erst lachte er und schien so glücklich und unbeschwert wie ein kleiner Junge, und im nächsten Augenblick zog er sich in sich selbst zurück und verstummte.

Alison stand auf. Sie setzte sich wieder an den kleinen Tisch, goss Tee nach, trank und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Sie selbst hatte es eingerichtet und Paul hatte es einmal eine gestohlene Welt genannt.

Bei ihrer Ankunft in seinem Haus war das obere Stockwerk noch in ein Wohnzimmer und ein Esszimmer unterteilt gewesen. Von dort aus hatte man den Wintergarten betreten können, der direkt auf einen Felsvorsprung hinaus gebaut war und eine herrliche Aussicht über die Dächer der Stadt bis hinunter zum Meer bot. Wuchtige viktorianische Möbelstücke hatten die Räume ein wenig düster wirken lassen. Alison fand die Einrichtung viel zu kantig und viel zu schwer.

Mit siebzehn hatte sie die Schule beendet. Sie war entschlossen, ihren Lebensunterhalt mit dem Handel mit antiken Möbeln zu bestreiten. Doch als Erstes nahm sie sich das Haus vor. Zu Paul sagte sie: »Es könnte sehr schön und wirklich wohnlich sein, das weiß ich genau.« Ihre Begeisterung war so ansteckend gewesen, dass er sie gewähren ließ und die Stockwerke über dem Geschäft nach ihren Vorstellungen umgestaltete. Ein Ergebnis ihrer Bemühungen war dieser wunderschöne lange Raum. Der verglaste Wintergarten mit der herrlichen Aussicht war jetzt ein Teil davon. Die Wand zwischen Wohn- und Esszimmer war ebenso verschwunden wie die Wand, die den größten Teil des Wintergartens von den anderen Zimmern abgetrennt hatte. Statt all der Mauern gab es nun schwere, magentarote Samtvorhänge, die man vor die Fenster des Gartenzimmers ziehen konnte, wenn es wirklich einmal nötig war. Das Zimmer hatte jetzt eine Länge von über zwölf und eine Breite von über sieben Metern. Damit erstreckte es sich über die gesamte Fläche des Ladens im Erdgeschoss nebst Anbauten. Ein seidener chinesischer Teppich bedeckte den Boden in dem Teil des Raumes, der einst das Wohnzimmer gewesen war, ein etwas kleinerer Teppich lag im früheren Esszimmer. Statt des üblichen Eckschrankes stand ein Queen-Anne-Sekretär aus Walnuss- und Zedernholz neben der Tür. Gegenüber hatte eine große Standuhr Platz gefunden. Auch ihr Gehäuse war aus Walnussholz gearbeitet und wies wunderschöne Blumenintarsien auf. Unter einem der großen Fenster stand ein Georgianischer Esstisch mit passenden Stühlen, flankiert von einem Sideboard aus derselben Epoche mit eleganten, spitz zulaufenden Beinen und geschwungenen Schubladenfronten.

Für Gemütlichkeit im Wohnbereich sorgte eine Bergère-Sitzgruppe, die reichlich mit Schnitzereien in Form von Blattwerk verziert war und auf Klauenfüßen stand. Bezogen war sie mit demselben schweren Samt, aus dem auch die Vorhänge des Wintergartens genäht waren. Links und rechts neben dem gewaltigen offenen Kamin mit einer Einfassung aus weißem Marmor standen kleine Mahagonitischchen, auf denen Alison schwere silberne Kerzenhalter platziert hatte. An den in verwischtem hellem Grau gehaltenen Wänden hingen insgesamt nur drei Bilder, die nicht unbedingt ein Vermögen wert waren. Alison hatte sie eher wegen ihrer Farben ausgesucht. Eines zeigte das lebensgroße Portrait einer Dame in einem mit Spitzen besetzten Kleid aus blauem Brokat. Es trug den schlichten Titel: »Die Französin«. Bei den beiden anderen Bildern handelte es sich um Blumenstudien. Auf die derzeit modernen teuren Stiche hatte Alison bewusst verzichtet. Sie hätten den Raum nur düster gemacht. Stattdessen hatte sie über den Kamin einen großen Regency-Spiegel in einem mit Blattgold verzierten Rahmen hängen lassen. Paul ließ ihr bei der Gestaltung der Räume freie Hand. Nur der Spiegel befand sich seiner Meinung nach am falschen Ort. Er hielt es nicht für ungefährlich, sich vor das Feuer zu stellen, um den Sitz der Frisur oder des Jacketts zu überprüfen.

Ja, dieser Raum war tatsächlich eine gestohlene Welt, und kein Mensch, der ihn betrat, kam umhin, seine ungewöhnliche Größe und seine geschmackvolle Ausstattung zu bewundern.

Alison ließ den Blick umherschweifen. Bill Tapley heiraten und all das aufgeben! Sie schüttelte sich und sagte leise, »Huh!« Dann blieb ihr Blick an Paul Aylmers Profil hängen. Im Stillen wiederholte sie noch einmal: All das aufgeben?

2

Um elf Uhr am nächsten Morgen bog Alison von der noch immer matschigen Landstraße in die dunkle, von Bäumen gesäumte Privatstraße ein, die zum Herrenhaus von Beacon Ride führte. Erst nach etwa einer Viertelmeile entdeckte sie zwischen den kahlen Ästen das von einem weitläufigen Park umgebene Gebäude. Die schmale Straße führte erst noch einmal vom Haus weg, bevor sie sich ihm in einem weiten Bogen näherte. Die winterlichen Bäume links und rechts standen so dicht beieinander, dass Alison das Gefühl hatte, durch einen düsteren Tunnel zu fahren. Endlich erreichte sie das von Weitem so herrschaftlich erscheinende Haus. Aus der Nähe betrachtet war sein Anblick allerdings ein Schlag für ihr ästhetisches Empfinden. Wo sich an den Fassaden anderer ehrwürdiger Gemäuer Efeu oder ähnliche Kletterpflanzen emporrankten, die Narben der Zeit verdeckten und dem Haus einen altertümlichen Charme verliehen, war hier alles nackt und kahl. An vielen Stellen war der Putz abgesprungen, ein Stück der Dachrinne hing schief von einer Ecke des Daches herunter. Die Hauswand hatte an dieser Stelle sichtbar unter dem unkontrolliert herablaufenden Wasser gelitten. Was früher einmal ein imposantes, würdevolles Wohnhaus gewesen sein mochte, wirkte nun geradezu verkommen.

Alison parkte den Wagen vor den breiten Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Der Zustand des Gebäudes erklärte wohl, warum sie heute hier war. Dass hier dringend Geld benötigt wurde, war nicht zu übersehen. Doch es würde den Verkauf vieler Möbelstücke brauchen, um die Fassade des mächtigen Bauwerkes zu restaurieren. In diesem Fall wäre es wohl günstiger gewesen, den Familienschmuck zu versilbern. Mit einem bitteren Lächeln erklomm Alison die Stufen. Eine diamantbesetzte Tiara, ein paar goldene Halsketten und ein Dutzend Ringe würden für den Anfang vielleicht reichen. Doch falls hier überhaupt noch etwas wirklich Wertvolles zu holen wäre, würde nun nicht sie, sondern ein Vertreter von Christie’s oder Sotheby’s an die Tür klopfen. Pauls Geschäfte liefen zwar recht gut, aber sie bewegten sich meist in einer Größenordnung zwischen zehn und hundert Pfund. Die zweihundert Pfund Marke überschritten sie nur selten.

Mit wachsender Neugier drückte Alison auf den Klingelknopf. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür geöffnet wurde. Dann sah sie sich einer dünnen alten Frau mit einem runzeligen Gesicht und üppigem weißen Haar gegenüber. Sie war nicht besonders groß. Ihre Augen lagen fast auf gleicher Höhe wie die von Alison. Und sie sprach mit einem Akzent, den man heute nur noch selten hörte. In diesem Tonfall war in der so genannten guten alten Zeit einst in den Häusern der Oberschicht gesprochen worden. »Sie wünschen, bitte?«

»Ich bin im Auftrag von Mr Aylmer hier. Er ist leider erkrankt, er hat die Grippe.« Sie hielt der Frau den Brief hin. »Ich habe einen Termin mit Mrs Gordon-Platt. Mr Aylmer hat gestern Abend angerufen.«

»So?« Die alte Frau schien zu zögern. Sie neigte den Kopf zur Seite und fragte: »Mit welcher Mrs Gordon-Platt? Mrs Charles?«

»Ich habe leider keine Ahnung. Ich wusste nicht, dass es mehrere gibt.«

Der sorgenvolle Ausdruck auf dem Gesicht der Frau vertiefte sich. Sie wandte sich ab und sagte: »Am besten, Sie kommen erst einmal herein.«

Alison folgte der schmalen, gebeugten Gestalt durch die düstere Eingangshalle. Ihre Augen suchten diskret nach Stücken, die das Herz eines Antiquitätenhändlers höher schlagen ließen. Doch sie konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Die spätviktorianischen Möbel in der Halle waren wuchtig, üppig verziert und unsagbar hässlich.

»Wie war doch gleich Ihr Name?« Die alte Frau blieb mit der Hand auf einer Türklinke stehen.

»Alison Read. Miss Alison Read.«

Die Frau öffnete die Tür zu einem Raum, offenbar einem Wohnzimmer. An einem Tisch am Feuer saß eine zweite Frau. Sie wandte erst nur den Kopf Richtung Tür, drehte sich dann aber doch ganz auf dem Stuhl herum und fragte: »Was gibt es denn, Beck?«

»Diese junge Dame sagt, sie habe einen Termin mit Mrs Gordon-Platt.«

»Einen Termin?« Die Frau war aufgestanden und starrte Alison an. »Ich habe keinen Termin mit Ihnen vereinbart.«

»Ich bin im Auftrag von Paul Aylmer hier. Ich soll einige Glasgefäße und etwas Porzellan schätzen.«

Die Frau fuhr sich mit der Hand an ihre Kehle. Sie schluckte und sagte dann: »Oh. Ja. Ich erinnere mich. Kommen Sie herein. Ich habe an Mr Aylmer geschrieben. Vielen Dank, Beck. Das wäre im Augenblick alles.«

Alison warf noch einen letzten Blick auf die alte Frau. Diese senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, dann wandte sie sich zum Gehen. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, betrachtete Alison die Frau, die sie am Feuer erwartete, ein wenig eingehender. Vielleicht war es ihre Haltung, die Alison fragen ließ: »Sie sind doch Mrs Gordon-Platt?«

»Ja … ja. Das bin ich.«

»Und Sie haben mich erwartet?«

Die hoch gewachsene Frau lachte kurz auf. »Nun ja. Eigentlich nicht.«

»Aber Sie haben doch an Mr Aylmer geschrieben und ihn gebeten, ein paar Gegenstände für Sie zu schätzen!«

»Stimmt.«

»Und gestern Abend hat er Sie angerufen und mich angemeldet.«

Die Frau schlug die Augen nieder. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. Ihr Blick huschte kurz zur Zimmerdecke, dann sagte sie: »Ich weiß, was schief gelaufen ist. Ich bin Mrs Gordon-Platt junior, Mrs Charles Gordon-Platt. Mr Aylmer hat gestern sicher mit meiner Schwiegermutter gesprochen. Aber setzen Sie sich doch.« Sie deutete auf einen Stuhl. »Das alles mag Ihnen ein wenig seltsam vorkommen. Ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären. Sehen Sie, meine Schwiegermutter ist schon sehr alt und … nun ja …« Das Lächeln kehrte zurück. Alison empfand es als ein wenig aufgesetzt. »Mit gewissen Entscheidungen tut sie sich schwer. Mein Sohn verwaltet inzwischen das Anwesen, ich kümmere mich um den Haushalt. Tja, und im Augenblick … im Augenblick gibt es einen kleinen Engpass. Deshalb haben wir beschlossen, uns von etwas Glas und Silber zu trennen … Ach übrigens, wie geht es denn Mr Aylmer?«

»Er hat die Grippe.« Alison musterte die Frau. »Kennen Sie ihn näher?«

Wieder senkte die andere den Blick. »Ja, wir kennen uns. Aber wir haben uns ein wenig aus den Augen verloren. Früher hatten wir mehr Kontakt. Darf ich fragen, ob Sie seine Nichte sind? Seine Tochter können Sie nicht sein. Soweit ich weiß, ist er nicht verheiratet.«