Das gekaufte Leben - Tobias Sommer - E-Book

Das gekaufte Leben E-Book

Tobias Sommer

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Beschreibung

Günstig abzugeben: Haus, Job, Freunde, Leben Stell dir vor, du bekommst die einmalige Chance, das Leben eines anderen zu leben. Würdest du sie ergreifen? Clemens Freitag zögert nicht und tut genau das: Über das Internet ersteigert er sich ein neues Leben und übernimmt Haus, Job, Freunde und Hobbys eines anderen Mannes und zieht in die ostdeutsche Provinz. Freitag lebt sich schnell in sein neues Umfeld ein und ist zufrieden mit seiner Entscheidung. Doch nach und nach bröckelt die Fassade der scheinbaren Idylle und es geschehen mysteriöse Dinge – bis Freitag auch noch erfährt, dass vor einiger Zeit ein menschlicher Finger aus dem Dorfsee gefischt wurde. Denn du kannst vielleicht ein neues Leben kaufen, doch die Taten deines Vorgängers finden immer einen Weg zu dir zurück …

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Seitenzahl: 380

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Tobias Sommer

Das gekaufte Leben

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Jule,

für unsere Kinder Marla und Lina

und für meine Eltern

Der letzte Tag im alten Leben

Noch zwölf Minuten und neun Sekunden. Freitag öffnete online sein Bankkonto, betrachtete die schwarze Null, immerhin kein Minus, und wechselte auf das Sparkassenkonto seiner Eltern. Freitag musste sich die Zahl laut vorlesen, um keine Ziffer vor dem Komma zu übersehen. Eine Viertelmillion Euro, auch in abstrakten Worten wurde der Betrag für ihn nicht greifbarer.

Noch acht Minuten und sechsundzwanzig Sekunden.

Nächste Woche hatte er einen Termin bei seinem Arbeitgeber, und es würde seinem Chef nicht um eine Gehaltserhöhung gehen, das wusste er, auch die Geduld seines Vermieters war nicht weiter strapazierbar.

Noch zwei Minuten und vierundfünfzig Sekunden.

Mit einem Schlag wäre ich alle Sorgen los, dachte Freitag und sah, wie Ophelia52 zu einem vermutlich letzten Schlag ausholte und auf 249 001 € erhöhte.

Noch kann ich überbieten, noch habe ich das Geld für ein neues Leben, auch wenn es nicht mein Geld ist.

Ihm blieben siebenundfünfzig Sekunden.

Er drückte auf ›Bieten‹ und dann auf ›Mein Maximalgebot‹ und tippte 250 000,51 € ein und wagte es nicht, auf ›Angebot bestätigen‹ zu drücken.

Wenn ich das Geld von meinen Eltern nehme, grübelte er, wäre es, als würde ich ihren Tod akzeptieren. Das war der Grund, warum Freitag es nie gewagt hatte, auch nur eine einzige Monatsmiete, einen einzigen Schuldschein mit diesem Geld zu begleichen. Aber nach zwanzig Jahren, machte er sich Mut, nach zwanzig Jahren sollte man sein Leben akzeptieren können und endlich mal wieder angeln gehen.

Auch wenn für Freitag die Sätze albern und schwach und wie aus einem philosophischen Ratgeber klangen, glaubte er an die richtige Entscheidung und zählte die Sekunden.

Noch dreizehn. Zwölf. Elf.

Er zählte bis zehn und drückte auf ›Bestätigen‹. Das Programm brauchte zwei Sekunden, die Freitag unendlich lange vorkamen, bis das Gebot übermittelt werden konnte.

Sie sind Höchstbietender. Wollen Sie Ihr Maximalgebot erhöhen?

Bevor Freitag auch nur daran denken konnte, sein Gebot zu erhöhen, war die Auktion beendet. Er starrte auf die Fotos, auf das Einfamilienhaus und auf den Bootssteg. Für einen kurzen Moment glaubte er, dass er in letzter Sekunde noch überboten worden war, und aktualisierte die Internetseite.

Herzlichen Glückwunsch! Sie haben das höchste Gebot abgegeben. Wollen Sie Ihre Ware jetzt bezahlen?

Freitag klickte auf ›Bezahlen‹. Und bevor er realisieren konnte, dass er in diesen Sekunden sein neues Leben bezahlte, wurde mit einer Sofortüberweisung das Sparkassenkonto geräumt.

Freitag ging in die Küche, er musste sich am Herd festhalten, auf zittrigen Beinen und mit noch zittrigeren Händen goss er sich Leitungswasser in ein Glas. Das Gefühl, er habe sich soeben nicht ein neues Leben gekauft, sondern wurde um sein jetziges betrogen, versetzte ihn in Panik. Hatte er tatsächlich über 250 000 € an einen fremden Menschen überwiesen? Freitag setzte sich wieder vor den Bildschirm, in der Hoffnung, er könne die Überweisung stoppen. Sein Postfach blinkte.

Ich gratuliere Ihnen, Sie haben mein Leben erworben. Es war ein glückliches Leben, bis sich meine Frau von mir getrennt hat. Aber ich bin überzeugt, dass Sie alle Voraussetzungen haben, um hier ein glückliches Leben zu führen. Ich wünsche Ihnen das Beste. Im Briefkasten finden Sie die Schlüssel. Der Briefkastenschlüssel befindet sich in der Lampe neben der Haustür. Keine Angst, in unserem und nun in Ihrem Dorf kann man getrost die Haustür offen lassen, auch wenn einige Nachbarn das Gegenteil behaupten. Wenn Sie ankommen, werde ich bereits in einem anderen Land, vielleicht schon auf einem anderen Kontinent sein. Leben Sie wohl.

Ihr Götz Dammwald

Am Waldsee, Hausnummer 7, Zaun, in der Gemeinde Geistling

Freitag sagte der Ortsname nichts, sein Routenplaner brach vor dem Ziel ab, und Wikipedia bat um Mitarbeit. Vielleicht ist ein unbekanntes Kaff irgendwo in Brandenburg kein schlechter Ort für einen Neuanfang, dachte er und wusste, dass er bis zur Abfahrt noch einiges zu erledigen hatte, aber zunächst einen Schlüssel suchen musste – den Schlüssel für einen kleinen Schuppen.

Neujahr

Freitag fuhr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, auch wenn sein Zielort keinen Bahnhof hatte, nicht einmal eine Bushaltestelle, was bei einer Einwohnerzahl von knapp einhundertfünfzig Bewohnern nicht verwunderlich war. Vor seiner Abreise hatte Freitag einen Großteil seines Hausstands eingelagert, viel war es nicht, eine angemietete Garage reichte aus. Seine Wohnung kündigte sich mit Ablauf der nächsten Woche automatisch, und sein Arbeitgeber war über Freitags Kündigung und die »unkomplizierte Lösung«dankbar. Freitag hatte überlegt, von welchen Bekannten er sich verabschieden sollte, und sich für eine Rundmail an alle entschieden. Eine Antwort hatte er bisher nicht bekommen.

Jetzt sah er aus dem Busfenster auf die Überbleibsel der Silvesternacht. Am Wegesrand lagen Raketenköpfe und leere Feuerwerksbatterien, doch je näher er seinem Ziel kam, desto weniger wurde der Müll auf den Wegen, als wäre das neue Jahr in dieser Gegend überhaupt nicht gefeiert worden, als hätte niemand versucht, die bösen Geister aus dem alten Jahr mit einem Feuerwerk zu verjagen.

Freitag stieg zwei Kilometer vor seinem Ziel an einer Landstraßenkreuzung aus. Hier standen nur ein Bushäuschen und ein Schild, auf dem er lesen konnte, dass der Ort Geistling zwölf und der Ort Zaun noch zwei Kilometer entfernt war. Freitag war von mehreren Feldern umgeben. Obwohl die Flächen vom Winter steinhart und noch nicht bepflanzt waren, ratterte ein Traktor über eines der Felder. Freitag konnte die ersten Häuser in zwei Kilometer Entfernung sehen. Das muss Zaun sein, ein kleines Kaff am Ende der Welt, kein Wunder, dass es selbst Wikipedia übersehen hat, dachte er und faltete eine Landkarte, die er sich vor seiner Reise ausgedruckt hatte, zusammen. Er schulterte seinen Rucksack. Zu Fuß wollte er sich an seinen neuen Lebensmittelpunkt herantasten und folgte der Landstraße. Er ließ seinen Blick weiter über die Felder und Wiesen schweifen, durch die er hindurchschritt. Auch hier schien niemand eine größere Silvesterrakete gezündet zu haben, denn auf den Feldern lag nicht ein Raketenkopf.

Bereits nach einem Kilometer musste er stehen bleiben und verschnaufen. Der Fußmarsch war anstrengender, als er vermutet hatte. Aber er konnte nun deutlicher die ersten Häuser erkennen. Und ein größeres Waldstück. Wann war ich zuletzt in einem Wald spazieren gewesen? Vor etlichen Jahren mit der Schule oder damals, als ich mit meiner Mutter Steinpilze sammeln wollte?, überlegte er, und zu der Neugierde und Aufregung gesellte sich in ihm ein Gefühl, als würde sein neues Leben mit einem Familienausflug beginnen. Außer Atem blieb er einige Meter vor der ersten Häuserreihe stehen. Er brauchte einige Sekunden, als müsste er sich Mut zusprechen, bevor er die Ortschaft betrat. Die Häuser, die er schließlich vor sich auftauchen sah, würde er allesamt als Bruchbuden bezeichnen, nur wenige hatten den Charme von alten Bauernkaten. Dennoch hatte er den Eindruck, die Bewohner wären glücklich und zufrieden in ihren Unterkünften, denn vereinzelt tauchten, als Versuch, aus den Häusern etwas Schönes zu machen, bunt verzierte Balkone oder Fensterläden auf. Aber in kein einziges Haus würde er einziehen wollen, geschweige denn es für eine Viertelmillion ersteigern. Er bezweifelte, dass er in einer dieser Baracken glücklich und zufrieden sein könnte. Plötzlich bekam er Angst, dass er für sein Vermögen ein Haus ersteigert hatte, das er auch noch ständig renovieren und reparieren müsse.

Bin ich überhaupt schon in Zaun?, fragte er sich, denn er hatte kein Ortsschild gesehen. Erst als Freitag an einer Kneipe mit dem Namen ›Zum Zaungast‹vorbeiging, ahnte er, dass er sein Ziel bereits erreicht hatte. Er betrat seine neue Heimat wie ein Tourist, sein Gepäck bestand aus einem rollbaren Koffer, in dem sich seine Winterklamotten befanden und das, was er aus seinem Badezimmer für nötig hielt, außerdem trug er in einem Rucksack leere Pfandflaschen und eine Teleskopangel.

Nur die Hauptstraße war asphaltiert. Von ihr gingen links zwei Sandwege und rechts die kleine Straße Am Waldseeab. Freitag bog in sie ein und war froh, dass der Weg, der zum Haus von Götz Dammwald führte, immerhin festgefahren war. Freitag betrachtete die Reifenspuren, die zu den Häusern und zum Waldsee führten. Seinen Daihatsu hatte er gestern an einen Autohändler in seiner Straße für eine lächerliche Summe von zweihundertfünfzig Euro verkauft.

»Ein Wunder, dass Sie damit noch auf den Hof fahren konnten«, hatte der Autohändler gemeint und sich über ein gutes Geschäft gefreut.

Freitag entdeckte auch auf dem Weg zum See nicht ein Haus, das keine Renovierung nötig hätte. Er versuchte, sich an die Fotos in der Verkaufsanzeige zu erinnern. In Gedanken sah er die idyllischen Haus- und Landschaftsaufnahmen wieder vor sich und dachte daran, dass er alles hingeschmissen hatte, um ausgerechnet hier bei null zu beginnen. Er hatte oft diesen Wunsch nach einem Neubeginn gehabt, war aber nie konsequent in seinem Leben gewesen. Das Angebot von Götz Dammwald hingegen hatte endgültig und konsequent geklungen. Der Verkäufer hatte nicht nur sein Haus, sondern alles, was er besaß, angeboten, und das war nicht wenig, neben einem Seegrundstück auch ein Boot und sogar ein Ferienhaus. Nur die Kleidung, die er am Tag des Verkaufs getragen hatte, wollte der Anbieter behalten, alles andere hatte nun den Besitzer gewechselt.

Es waren nur noch wenige Meter, denn zwischen den Häusern konnte Freitag die Westseite des Waldsees erkennen und erahnen, wie groß und fischreich sein zukünftiges Angelrevier wäre. Er schätzte, dass er bestimmt eine halbe Stunde kräftig rudern müsste, um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen.

Und dann stand er mit einem Mal vor der Hausnummer sieben und atmete tief aus: Es war ein frei stehendes Haus und nicht so heruntergekommen wie die anderen Häuser, im Gegenteil. Es war ein hochwertiges Gebäude, so modern und geradlinig, als wäre es erst vor Kurzem gebaut worden. Freitag blieb vor dem Gartenzaun stehen, der das Grundstück vom Weg trennte. Zum Nachbarhaus und zum See war alles offen. Die breite Auffahrt und die zwei rechteckigen Rasenflächen daneben wirkten ebenso gepflegt wie der Weg aus Gehwegplatten, der zur Haustür führte. Auch das Haus schien in einem tadellosen Zustand zu sein, auf den Fensterscheiben waren keine Schlieren zu sehen, und der Dachvorstand war strahlend weiß. Selbst die Dachziegel glänzten. Was für ein Aufwand, dachte Freitag. Er öffnete das Gartentor und betrat sein Grundstück. Es war sein Grund und Boden. Noch glaubte Freitag, dass es irgendwo einen Haken an dieser Geschichte gäbe. Aber der Briefkastenschlüssel lag tatsächlich in der Lampe neben der Haustür. Im Briefkasten befand sich zwischen Wurfsendungen und einer Einladung zum Jahresfest der Feuerwehr auch ein Schlüsselbund. Freitag zählte und war erstaunt darüber, dass ein Mensch fünfzehn Schlüssel brauchen konnte. Haustürschlüssel, Kellerschlüssel, Autoschlüssel, Schlüssel für Vorhänge- und Fahrradschlösser und Schlüssel für das Ferienhaus. Vielleicht sogar für ein Bootshaus, überlegte Freitag und musterte den kleinsten Schlüssel, der nach seiner Einschätzung in das Schloss für ein Schließfach oder für eine Geldkassette passen könnte. Freitag entschied sich beim ersten Versuch für den richtigen Schlüssel und öffnete die Haustür. Der Flur war hell und geräumig und der weiße Fliesenboden so sauber, dass Freitag seine Schuhe auszog und auf durchgeschwitzten Socken sein neues Reich betrat. An der Garderobe hingen die Jacken seines Vorgängers, eine Regenjacke, darunter eine Sportjacke und über zwei Garderobenhaken eine olivgrüne Outdoorjacke.

Selbst die Schuhe, die in Reih und Glied auf dem Boden standen, waren geputzt. Nur an den Gummistiefeln klebte ein verkrusteter Schmutzbelag. Freitag öffnete die anderen Türen und versuchte, den Geruch, der ihm aus den Räumen entgegenkam, zu deuten. War es der Geruch wie in einem Neuwagen, oder doch wie in einem Ferienhaus, in dem Reinigungsmittel die jahrelange Anwesenheit von vielen unterschiedlichen Bewohnern zu einem eigenen, im Haus festsitzenden Duft vereinten?

Freitag ging ins Wohnzimmer. Ein Raum, der vermutlich sechzig Prozent der Gesamtwohnfläche im Erdgeschoss beanspruchte. Sonnenlicht schien durch bodentiefe Fenster auf die weißen Wände und den hellen Parkettboden. Der Blick aus der Fensterfront, die über die komplette Rückwand des Hauses ging, war Freitag vertraut – er erkannte die Landschaft mit dem See und dem Bootssteg wieder. Er konnte es nicht fassen, hatte er wirklich das große Los gezogen? Ein für ihn irritierendes, aber schönes Glücksgefühl breitete sich in seinem Magen aus.

Das Wohnzimmer hatte Stil, da war sich Freitag sicher, ohne dass er sich je für Design oder Trends interessiert hatte. Es gab drei Bereiche, eine Essecke mit einem Tisch im Kolonialstil, einen Wohnbereich mit einer Ledersitzecke vor einem gusseisernen Kamin und im hinteren Bereich die Küche mit einer Kochinsel und vielen technischen Geräten. Freitag sah sich um und vermisste Bilder und Dekoration. Die Wände waren makellos weiß, ein einziges kurzes Regal zierte die Wand hinter dem Esstisch. Auf dem Brett standen drei Metallhalter für Fotos, aber statt Bildern klemmten künstliche Fliegen, die Freitag vom Angeln kannte, in den Haltern. Er suchte vergeblich einen Fernseher, aber er würde sich nicht wundern, wenn mit nur einem Knopfdruck ein Bildschirm zum Vorschein käme.

Freitag freute sich über die Espressomaschine in der Küche und über Haushaltsgeräte, für die er vermutlich drei Monatsgehälter hätte opfern müssen. Der Kühlschrank roch nach Zitrusfrüchten und war mit Lebensmitteln und Getränken gefüllt. Freitag betrachtete die Auswahl und fragte sich erneut, wo der Haken an dieser Geschichte war. Warum sollte jemand dieses Leben aufgeben?

Der Grund klebte an der Pinnwand, neben Busfahrplänen und Speisekarten. Ein Passfoto. Die Aufnahme war nicht gerade vorteilhaft, fand Freitag, die Frau auf dem Foto schaute frontal in die Kamera, die Haare waren zerzaust und ihr Blick erschrocken, als wollte man ihr etwas Böses antun. Aber Freitag sah auch, dass es eine schöne Frau war, eine Frau, die um ihre Schönheit wusste. Für Freitag war es offensichtlich, dass sie der Grund war, warum Dammwald alles aufgegeben hatte.

Freitag ging zurück in den Flur und von dort die Treppe nach oben in das erste Stockwerk. Auf dieser Etage befanden sich ein großes Schlafzimmer, ein Badezimmer, eine Abstellkammer und ein Raum, den er als eine Kombination aus Büro und Gästezimmer einordnete. Freitag war es unangenehm, das fremde Schlafzimmer zu betreten. Es war, wie das gesamte Haus, in einem penibel sauberen Zustand. Er warf seinen Koffer auf das gemachte Bett, als könnte er damit dem Zimmer eine persönliche Note geben. Es war ein Doppelbett, und Freitag sah sofort, wo Dammwald geschlafen hatte, denn die Ablagefläche auf dem linken Nachttisch war frei, auf der rechten Seite lag ein dünnes, gelbes Buch, daneben standen eine Lampe und eine Plastikflasche ohne Etikett. Ein Kleiderschrank nahm eine ganze Wandseite ein. Freitag schob die Türen zur Seite. Dammwald hatte nicht gelogen, er hatte nur mit dem, was er an seinem Körper trug, das Haus verlassen, denn der Schrank war voll. Die Ordnung widerte Freitag an, alles war nach Farben sortiert und ordentlich aufgehängt oder sauber gefaltet in den Fächern verstaut, sogar die Unterhosen waren in der Mitte eingeschlagen. Was für ein Spießer, dachte Freitag und wusste, er müsste nun sein bisheriges Leben in dieses neue Leben einsortieren, und beschloss, die nächsten Tage erst einmal aus seinem Koffer zu leben.

Der Blick aus den Fenstern reichte weit. Auf dem Waldsee befand sich ein dunkler Streifen, als hätte jemand die Kante, an der die Wassertiefe steil bergab ging, mit dem Lineal gezogen. Er kniff die Augen zusammen. Zwei Menschen standen am gegenüberliegenden Ufer und angelten. Aus dieser Entfernung sahen sie winzig und ihre Angelruten wie dünne Striche aus. Freitag bekam Lust, ans Wasser zu gehen, oder besser, mit dem Boot rauszurudern, um das Gewässer zu erkunden. Er erinnerte sich an den letzten Fisch, den er gefangen hatte, sein erster und einziger Zander, kein kapitaler Fisch, sondern knapp unter dem Mindestmaß, aber sein Vater hatte den Fang stolz am Haken der Fischwaage hochgehalten. »Gut gemacht, mein Junge, die sind schwer zu fangen, die leben dicht am Grund«, hatte er gesagt. Freitag hörte die Worte seines Vaters in seinen Erinnerungen nicht zum ersten Mal, aber heute klangen sie nicht Jahre, sondern nur wenige Stunden alt.

Freitag brauchte als Stärkung einen Kaffee. Er wandte sich von den Fenstern ab und ging nach unten in die Küche. Die Bedienung der Espressomaschine war nichts für jemanden, der seinen Kaffee die letzten zwanzig Jahre mit einem Handfilter aufgebrüht hatte, aber nach drei missglückten Versuchen konnte Freitag einen doppelten Espresso genießen. Er zog seine Socken aus, öffnete die Fensterfront und trat auf die Terrasse. Es war für einen Januartag erstaunlich warm. Obwohl sich der Rasen noch im Winterschlaf befand, ahnte Freitag, wie prächtig die Fläche im Frühjahr aussehen würde. Er stellte sich eine Gartenparty im Sommer vor, mit zahlreichen Gästen, die um einen Pavillon und um ein meterlanges Büfett standen und sich unterhielten und lachten, und rundherum leuchteten Fackeln und Lampions.

Als er das Ufer des Sees erreichte und zurück zum Haus sah, wurde ihm bewusst, wie groß das zum Wasser leicht abschüssige Grundstück war. Es war sein Grund und Boden. Und sein Bootshaus, das er nun in Augenschein nahm, als er sich nach links wandte. Es war gerade so groß, dass das im Inserat angepriesene Ruderboot hineinpassen würde. Aber es war sein Bootshaus!

Wie dekadent das doch klingt, dachte er. Sein Bootshaus! Und noch dekadenter klang es für ihn, wenn er sich sagen hörte: Meine Sommergäste übernachten in meinem eigenen Ferienhaus.

Da Freitag die Schlüssel im Haus gelassen hatte, es schon 18 Uhr und dunkel war und er zudem doch kalte Füße bekommen hatte, beschloss er, seinen Rundgang morgen fortzusetzen.

Freitag hatte Hunger. Obwohl er im Kühlschrank eine große Auswahl an Lebensmitteln vorfand, entschied er sich für einen Blick in den Vorratsraum. In der Abstellkammer hinter der Küche wartete ein Vorrat an Konserven und Fertiggerichten auf ihn, aber auch Obst, Gemüse und ein Sack Kartoffeln. Es schien, als wäre der Hausherr nur kurz fort und käme gleich wieder. Freitag musste sich immer wieder sagen: Das ist alles meins!

Er wählte für sein Abendbrot Sandwichtoast und eine Dose Rügener Fischsuppe Soljanka. Während die Suppe auf dem Herd köchelte, begutachtete er die Busfahrpläne an der Pinnwand. In dieser Gegend braucht jeder ein Auto, war die Kernaussage, die Freitag in den Plänen erkannte und von seinem Fußmarsch her auch schon selbst erfahren hatte. Selbst die Restaurants in den nächstgrößeren Dörfern und Städten lieferten nur gegen Aufpreis nach Zaun. Nachdem er die letzte Speisekarte studiert hatte, fand er darunter einen Zeitungsartikel. Er nahm ihn vorsichtig ab. Die vergilbten Ränder sahen aus, als hätte jemand den Artikel in Eile aus einer Tageszeitung gerissen.

Angler findet Leiche im Waldsee.

Die Überschrift war reißerisch und gelogen, denn der Angler hatte keine Leiche, sondern nur einen abgetrennten Finger gefunden. Einen Ringfinger ohne Ring, der laut Polizei seit Wochen, wenn nicht sogar seit Monaten im Wasser gelegen haben musste. Die Person, die diesen Finger verloren hatte, konnte nicht identifiziert werden.

Es klingelte. Freitag zuckte zusammen und brauchte einige Sekunden, bis er begriff, woher das Geräusch kam.

Vor der Haustür standen ein Mann und eine Frau. Was für ein komisches Paar, war das Erste, was Freitag durch den Kopf ging. Die Frau war einige Zentimeter größer und wirkte deutlich jünger als ihr Nebenmann. Sie trug Ohrringe, die viel zu groß für ihre Ohren waren, und ein blaues Piercing in der linken Augenbraue. Der Mann machte nicht den Eindruck, als legte er Wert auf Schmuck und Glitzer, seine Jacke und die Hose in Flecktarnfarben waren nicht modisch, sondern funktional.

»Hallo, wir sind die Schönfelds von nebenan, wir haben gesehen, dass Sie schon da sind, und dachten …«

Die Frau sah auf Freitags nackte Füße und lächelte, und aufgrund dieses unbeholfenen Lächelns und ihrer tiefen Stimme korrigierte er seinen ersten Eindruck. Sie war älter, vielleicht sogar älter als ihr Mann, der nun ebenfalls verlegen grinste.

»Das ist nett«, sagte Freitag. »Ich bin Clemens.«

»Janette.«

»Ansgar«, sagte der Mann, dessen Stimme eine Vertrautheit und Freundlichkeit ausstrahlte, die Freitag nur schwer mit Ansgars ernstem Gesichtsausdruck in Einklang bringen konnte.

»Also, für mich ist das alles noch ein großes Abenteuer«, gab Freitag zu.

»Für uns war es auch ein Schock«, sagte Janette und strich mit dem Finger eine lange blonde Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Das kann man sagen«, fand auch Ansgar. »Dass Götz es nicht einfach hatte nach der Trennung, das haben wir alle gesehen, aber diese Geschichte jetzt.« Er zwinkerte Freitag zu. »Du angelst auch?« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Rucksack, der neben der Treppe stand und aus dem die Spitze einer Angelrute ragte.

»Ja, ich bin Angler«, sagte Freitag. Obwohl er kein richtiger Angler war, er war ein Sammler von Pleiten, definitiv kein Jäger, ein Sozialhilfeempfänger mit vielleicht bald neuen Einnahmequellen und jemand, der auf dem virtuellen Flohmarkt das unerwartete Schnäppchen gemacht hatte.

»Wir angeln hier das ganze Jahr, solange der See nicht zugefroren ist. Morgen wollen wir …«

»Lass ihn doch erst einmal ankommen«, unterbrach ihn Janette.

»So richtig verstehen kann ich das alles auch noch nicht«, sagte Freitag und überlegte, ob er als guter Gastgeber die beiden ins Haus bitten sollte, aber er wusste, das würde ihn überfordern, denn noch fühlte er sich selbst als Gast in seinem eigenen Haus. Er fragte stattdessen: »Ist Götz Dammwald heute abgereist?«

»Wir haben ihn gestern zum letzten Mal gesehen«, antwortete Ansgar. »Wir saßen abends zusammen, es war wie immer, seine Sachen packen musste er ja nicht.« Er schaute lachend zu seiner Frau, die seine Anmerkung nicht witzig fand.

»Im Haus wirkt auch alles so, als würde er gleich wiederkommen«, stimmte Freitag zu.

»Götz kommt nicht wieder«, sagte Janette. »Der zieht das durch.«

»Wäre nicht das erste Mal«, sagte Ansgar.

Freitag sah ihn fragend an.

»Den Dorftratsch erfährst du noch früh genug.« Ansgar holte eine Flasche mit dunkler Flüssigkeit aus seiner Jacke und streckte sie Freitag entgegen. »Wir haben dir zum Einstand etwas mitgebracht.«

Es war ein billiger, aber hochprozentiger Rum. Auf der Flasche klebte ein Zettel mit der Aufschrift Brotersatz.

»Selbst gefangen«, betonte Ansgar, als Janette ihrem neuen Nachbarn einen in Zeitung eingeschlagenen Fisch übergab. »Hier aus dem Waldsee.«

Freitag nahm den Fisch mit der rechten Hand, in der linken Hand hielt er die Flasche und zwischen den Fingern immer noch den zerknitterten Zeitungsausschnitt.

»Ralf wirst du auch noch kennenlernen«, sagte Ansgar und zeigte auf den Zeitungsartikel.

»Ralf?«

»Er hat den Finger damals gefunden«, erklärte Ansgar. »Das war schon was, die Polizei hat das ganze Dorf und den Wald abgesucht, es kamen sogar Spezialtaucher, aber in der grünen Suppe, da …«

»Den Fisch kannst du aber ohne Bedenken essen«, fiel Janette ihrem Mann ins Wort und lachte.

»Hat man die Person denn wirklich nicht identifizieren können?«, fragte Freitag, obwohl er sich mit dieser Geschichte nicht befassen wollte. Er ging Zeitungsartikeln und Fernsehberichten von Verkehrsunfällen oder ungeklärten Mordfällen aus dem Weg. Als Kind hatte er jahrelang ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹mit seinen Eltern geguckt, heute schaltete er sofort um.

»Nein«, sagte Ansgar. »Die Polizei hat den Fall einfach nicht weiterverfolgt, obwohl …« Er sah erst seine Frau und dann Freitag an, als bräuchte er für den nächsten Satz eine Erlaubnis von allen Beteiligten. »Aber du kannst dir die Geschichte ja von Ralf erzählen lassen. Am Sonntag fischen wir am See, und unser Stammtisch drüben beim Zaungast …«

»Ansgar, lass unseren neuen Gast doch erst mal auspacken«, motzte Janette dazwischen.

»Mein Koffer ist noch nicht ausgepackt, das stimmt«, erwiderte Freitag und dachte über die Bezeichnung »unseren neuen Gast«nach.

»Ich werde gleich anfangen«, log er dann. »Aber ein paar Tage wird es wohl dauern, bis ich mich eingelebt habe.«

»Melde dich danach einfach bei uns oder komm in den Zaungast«, meinte Ansgar.

Freitag nickte freundlich und war froh, als die beiden sich verabschiedeten und er die Haustür schließen konnte. Er verfeinerte seine Suppe mit der frischen Forelle und öffnete eine Weinflasche. Der Mond schien zwischen dunklen Wolken hindurch auf den Waldsee. Freitag stellte sich vor die Fensterfront und versuchte trotz Dunkelheit, aus dieser Entfernung Spuren von Fischen, die knapp unter der Oberfläche schwammen, zu erkennen. Aber es gab keine Wasserringe oder Luftbläschen, die Wasseroberfläche war ruhig.

 

Eine Stunde später zog Freitag seinen Schlafanzug an und legte sich auf das Doppelbett. Die Fußbodenheizung brummte, und die Tagesdecke roch widerlich streng nach Weichspüler.

»Dammwald, Götz Dammwald«, flüsterte Freitag. Noch hörte sich dieser Name für ihn fremd an. Der Name klang nach dem, was er war: der Name eines fremden Menschen.

Freitag war froh, sein neues Leben mit seinem eigenen Namen beginnen zu können, denn waswürden seine Eltern denken, wenn er plötzlich nicht nur ein neues Leben, sondern auch einen neuen Namen hätte? Freitag schob mit dem Fuß seinen Koffer ein Stück zur Seite. Er wollte ein paar Minuten schlafen, nicht träumen, nur schlafen. Der erste Traum im neuen Haus wird wahr, hieß es, und wurde es ein Albtraum, brachte er ein Leben lang Pech. Freitag konnte nicht mehr sagen, wo er es gelesen oder gehört hatte; obwohl es für ihn esoterischer Schwachsinn war, beschloss er, heute nicht zu träumen. Dabei gab es in den letzten Jahren nur einen Traum, an den er sich erinnern konnte. In diesem immer wiederkehrenden Traum rannte Freitag auf einer Straße, er rannte und rannte, die Straße war leer und wollte nicht enden, und nie gab es auf dem Asphalt Bremsspuren, die er im Traum vergeblich suchte.

 

Das Geheul eines Tieres riss ihn aus seinem traumlosen Sekundenschlaf. Freitag war sich nicht sicher, ob das Geräusch von draußen kam oder ob er doch geträumt hatte. Er trottete im Halbschlaf ins Badezimmer.

»Wo bin ich?«, fragte er das Gesicht, das er im Badezimmerspiegel sah.

»Ich bin in Zaun«, antwortete er sich selbst. In Zaun. Wohnen in Zaun. Wie hört sich das an? Man hängt höchstens tot oder besoffen über dem Zaun, aber man wohnt doch nicht …

Ein erneutes lautes Bellen unterbrach Freitags Selbstgespräch. Es klang nicht so, als wollte das Tier – ein Hund? – etwas verjagen, vielmehr klang es, als wollte es ihn warnen. Freitag schaute aus dem Badezimmerfenster, aber er sah kein Tier, nur die Einfahrt und den Sandweg vor dem Haus. Auch aus dem Schlafzimmerfenster konnte Freitag kein Tier erkennen. Er legte sich wieder auf das Bett und lauschte. Irgendwo im Haus klackte eine Stromleitung, als hätte jemand einen Lichtschalter betätigt. Der Wind wehte zwischen den Bäumen und am Haus vorbei. Freitag schloss die Augen und versuchte, zwischen dem Rauschen des Windes andere Geräusche herauszuhören, aber weder hörte er ein Bellen noch ein Klacken. Aber er hörte plötzlich Schritte. Schritte, die so laut und deutlich waren, als liefe jemand mit klobigen Stiefeln auf Beton oder Asphalt. Freitag stellte sich vor, wie jemand um das Haus schlich, um vielleicht seinen Hund zu suchen. Oder war es Dammwald, der zurückgekommen war? Oder ist man in diesem Dorf doch nicht so sicher, wie Dammwald in seiner Mail geschrieben hatte?

Freitag versuchte, sich zu beruhigen, denn die Fenster waren geschlossen, und niemand konnte so laut auftreten, dass man es im ersten Stock hinter verschlossenen Fenstern auf der Gartenseite hören konnte. An die logische Schlussfolgerung, dass die Schritte möglicherweise viel dichter waren, in den eigenen vier Wänden, dachte er nicht und schlief unbeschwert ein.

Dienstag

Unausgeschlafen saß Freitag am Tresen in seiner neuen Küche. Er trank Espresso und testete den roten Knopf einer Fernbedienung. Eine unsichtbare Vorrichtung an der hinteren Wand im Wohnzimmer schob sich wie von Geisterhand zur Seite, und das übermotivierte Grinsen einer Moderatorin von einem Teleshoppingsender begrüßte ihn. Wahnsinn, dieser Flachbildschirm kostet bestimmt über zweitausend Euro, staunte Freitag, aber statt eine Nil-Kreuzfahrt zum Tagesangebotspreis zu buchen, ging er in Dammwalds Badelatschen und mit der Espressotasse in der Hand auf die Terrasse. Die Sonne hatte für den zweiten Tag des Jahres erstaunliche Kraft. Wenn ich jetzt Tabak und einen Filter hätte, ich würde mir eine Zigarette drehen, dachte er, obwohl er seit drei Jahren Nichtraucher war. Freitags Hausarzt hatte damals an seine Vernunft appelliert, Freitag solle endlich aufhören und an seine Gesundheit denken. In Wirklichkeit war der Hauptgrund, warum Freitag mit dem Rauchen aufgehört hatte, weder seine Lungenschmerzen noch seine Atemnot und schon gar nicht seine Vernunft, vielmehr hatte es finanzielle Gründe. Seine letzte Selbstgedrehte hatte er vor drei Jahren am Todestag seiner Eltern geraucht.

Freitag atmete die frische Morgenluft ein und machte sich auf den Weg zum Ferienhaus. Der Bungalow lag dichter am See als das Haupthaus, von der kleinen Holzterrasse aus waren es keine zehn Schritte bis zum Wasser.

Freitag musste mit seinem Oberkörper gegen die Tür des Ferienhauses drücken, damit sie sich quietschend öffnete. Das Feriendomizil bestand aus zwei kleinen Schlafzimmern, einem Bad und einem Flur, der in den Wohnbereich führte. Das Haus roch, wie Räume riechen, die seit langer Zeit nicht betreten worden waren. Über den Wohnzimmermöbeln waren Plastikfolien gespannt. Freitag riss die Folie über dem Ecksofa auf und war erstaunt – die Folie war kein Staubschutz, sondern das Verpackungsmaterial vom Hersteller. Das Sofa war nagelneu, auch die anderen Möbelstücke waren unbenutzt. Selbst die Teppiche auf dem Parkettboden sahen aus, als wäre Freitag der Erste, der sie betrat. Der Küchenbereich wirkte ebenfalls, als wäre er nie benutzt worden, zudem fehlten die Geräte. Erst als Freitag die Schranktüren öffnete, fand er einen Kaffeevollautomaten, einen Standmixer und eine Brotschneidemaschine.

Die zwei Schlafzimmer sahen identisch aus, nicht nur die Einrichtungsgegenstände, auch deren Anordnung im Raum war gleich. Es lagen keine Tagesdecken über den Betten, sondern Folien. Die sterile Kälte in den Räumen war Freitag unheimlich, die Atmosphäre erinnerte ihn an Tatortbegehungen in der deutschen Fernsehserie, die seine Mutter so gerne gesehen hatte.

Freitag ging nach draußen, sperrte wieder ab, freute sich über den Blick auf den Waldsee und begann einen Rundgang um das Ferienhaus. An der Rückseite entdeckte er einen Holzschuppen oder eher einen schäbigen Bretterverschlag. Er passte gar nicht zu dem Gesamteindruck, den Freitag bisher von Dammwalds Anwesen hatte. Auf dem Dach lagen vergammelte Blätter, die Bretter hatten seit Jahren keine neue Farbe gesehen, und das Fallrohr der Dachrinne hatte faustgroße Dellen. Einige Bretter hatten rote Flecken und Striche. Freitag machte ein paar Schritte zurück und erkannte, dass jemand versucht hatte, die rote Farbe zu entfernen, denn mit etwas Geduld konnte er im Kopf die Striche und Punkte verbinden und lesen:

DEINEGEISTERSCHLAFENNICHT!

Eine Warnung. Freitag trat wieder an die Bretterwand und kratzte etwas Farbe mit dem Fingernagel ab und stellte fest, dass die Worte nicht mit einem Pinsel geschrieben, sondern auf das Holz gesprüht worden waren. Diese Dorfgören, ärgerte sich Freitag, ist man vor denen nirgendwo sicher? Das Mehrfamilienhaus, in dem er bis gestern fünfzehn Jahre gelebt hatte, wurde regelmäßig mit Graffitis und Schriftzügen beschmutzt. Einmal hatte ein Satz in Pink quer über den Balkon an seinem Wohnzimmerfenster vorbeigeleuchtet. Grundsätzlich hatte Freitag nichts gegen Kunst im öffentlichen Raum, wie sein Hausmeister es neunmalklug nannte, wenn er auf die Graffitis angesprochen wurde und keine Lust hatte, die Kunst zu beseitigen. Aber schön sollte die Kunst sein, war Freitags Meinung, ohne beschreiben zu können, welche Kunst er an Häuserwänden schön fand. Diesen kaum leserlichen Satz an Dammwalds Schuppen auf jeden Fall nicht. Und überhaupt, was sollte die Warnung bedeuten, welche Geister schliefen nicht?

»Die Tags folgen strengen Regeln«, hatte der Nachbarsjunge aus Berlin Freitag erklärt. Der Junge war der Einzige im Wohnblock gewesen, der sich mit ihm unterhalten hatte. Die anderen Nachbarn waren ihm aus dem Weg gegangen, weil sie wussten, dass er drei Monatsmieten im Rückstand war und noch nie das Treppenhaus geputzt hatte. »Jede Gruppe hat ihre Zeichen, und niemand sollte die politischen Aussagen unterschätzen«, hatte der Junge ihm erklärt und dabei so ernst und überzeugt ausgesehen, dass Freitag damals lachen musste. Ein zwölfjähriger Bengel, der ihm die Welt erklären wollte.

Doch jetzt wüsste er gerne, was der Junge über dieses Graffiti und über Geister, die nicht schliefen, gesagt hätte. Da sich an einigen Stellen Grünspan über die rote Farbe vor ihm gelegt hatte, war sich Freitag zumindest sicher, dass die Warnung vor längerer Zeit an den Schuppen gesprüht worden war. Je öfter er den Satz in seinem Kopf wiederholte, desto größer wurden seine Zweifel. Der Satz hatte weder eine politische Aussage, noch konnte Freitag irgendeine Gruppenzugehörigkeit erkennen.

Und warum sollten Jugendliche an diesem abgelegenen Ort ein Zeichen setzen?, überlegte Freitag und kam zu dem Schluss, dass seinVorgänger nicht nur Geld und eine schöne Frau, der er nachtrauerte, gehabt hatte, sondern auch Geister.

Freitag ging zurück ins Haupthaus, in dem eine überdrehte Moderatorin eine Kreuzfahrt in den höchsten Tönen lobte. Freitags Magen knurrte, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Während er im Vorratsraum stand und sich nicht zwischen Früchtemüsli und Croissants zum Selberbacken entscheiden konnte, fiel ihm eine weiße Holztür auf, die sich unscheinbar neben dem letzten Regal befand. Hinter der Tür war eine Treppe, die hinunter in einen Keller führte. Freitag schaltete das Licht ein und stieg nach unten.

Die Deckenbeleuchtung bestand aus einer einzigen Glühbirne, die nicht die Kraft hatte, bis in die Ecken des Kellers zu leuchten. Freitags Augen gewöhnten sich aber schnell an die Lichtverhältnisse und erkannten, dass das Untergeschoss der einzige Teil des Gebäudes war, in dem Wert auf Wanddekoration gelegt wurde. Die Hundsaugen eines Raubfisches stierten Freitag an. Barsche, Hechte, Zander und eine Regenbogenforelle hingen an der Wand. Einige Fische waren komplett erhalten, bei anderen war nur der Kopf ausgestopft worden. Aber alle Tiere besaßen Augen, die den Neuling ansahen.

Im hinteren Bereich des Kellers stand eine große Werkbank, darüber hing an der Decke eine lange Leuchtstoffröhre. Freitag drückte den Schalter und wurde geblendet. Es dauerte, bis er sah, dass Dammwald hier nicht sein Werkzeug, sondern seine Angelsachen aufbewahrte. Meinem Vater würde das Herz aufgehen, dachte Freitag, denn Dammwalds Ausrüstung zeigte eine Ordnung, die beeindruckte. Für jede Hakengröße, für jeden Wirbel und für jedes Gewicht gab es einen vorgesehenen Platz, die Angelruten waren an der Wand befestigt, die Blinker und Plastikfische baumelten kopfüber an einem Draht, der von einer Wand zur nächsten gespannt war, selbst die Spulen mit den unterschiedlichen Angelschnüren waren griffbereit an einer Seite montiert. Freitag zählte über zwanzig Ruten, für jede Fischart das passende Geschirr.

Jetzt habe ich sogar wieder ein Hobby, freute sich Freitag und nahm eine Rute mit dem Aufkleber Zander-Power-Spin aus der Halterung und machte einen Probewurf aus dem Handgelenk. Dann sah er sich weiter um. Unter der Werkbank lagen Farbeimer, zwei Kunststoffkoffer mit Elektrogeräten und einige Schachteln mit Schrauben und Nägeln; weiteres Werkzeug entdeckte er nicht.

Er ging an den toten Fischen vorbei die Treppe nach oben und setzte sich wieder an den Küchentresen. Im Fernsehen wurde das nächste Angebot des Tages angekündigt, eine Vorratsdose, die atmen konnte. Freitag versuchte, sich zu konzentrieren, er wollte seine Chance auf ein neues Leben nicht ungenutzt lassen und wusste, ohne einen Job würde er dieses Leben nicht halten können. Aber ich habe einen Job, musste er sich selbst klarmachen. Dammwald hatte das zwischenzeitliche Höchstgebot von 230 000 € nicht gereicht, und aus diesem Grund hatte er zusätzlich nicht nur materielle Werte angeboten, sondern offerierte dem Höchstbietenden kurz vor dem Auktionsende ein rundum neues Leben – sein Freundeskreis wollte den Gewinner in ihre Stammtischrunde aufnehmen, die Nachbarn freuten sich auf den neuen Dorfbewohner, und Dammwalds Arbeitgeber hielt den Arbeitsplatz für einen neuen, motivierten Angestellten frei. Und Dammwalds Job war offensichtlich nicht schlecht bezahlt, womit er auch immer sein Geld verdient hatte.

Sicher wartet mein neuer Chef schon auf mich, fiel Freitag ein, gleich am ersten Tag unentschuldigt fehlen, das wäre ja ein Start ins neue Berufsleben, das kann ich mir nicht erlauben, aber es wäre typisch. Freitag beendete sein Frühstück, um eine Etage höher in Dammwalds Arbeitszimmer nach Hinweisen auf seinen zukünftigen Job zu suchen. In dem Raum standen auf der einen Seite ein Gästesofa und auf der anderen Seite ein Schreibtisch, kniehohe Aktenschränke und ein leerer Mülleimer. Freitag nahm auf dem Bürostuhl Platz, lehnte sich gegen die hohe Rückenlehne und rollte durch das Zimmer. An der Wand hing ein Jahreskalender. Freitag wunderte sich, dass nicht ein Eintrag zu sehen war, erst auf den zweiten Blick erkannte er, warum. Dammwald hatte noch vor dem Jahreswechsel den neuen Kalender für dieses Jahr aufgehängt. Die ersten beiden Tage im Januar waren farblich markiert. Urlaub, dachte Freitag sofort, Dammwald hatte die ersten beiden Tage im neuen Jahr Urlaub genommen, erst morgen begann also sein neues Arbeitsleben, morgen würde er Geld verdienen. Freitag rollte an den Schreibtisch zurück und öffnete die Schubladen. Die Ordnung, mit der systematisch jeder Stift und jede Büroklammer ihren Platz hatte, wunderte ihn schon nicht mehr. In den Aktenschränken wurden Ordner aufbewahrt, die unter anderem mit Rechnungen/Haus, Rechnungen/Ferienhaus, Krankenkasse und Angelverein Blaues Wunder e. V. beschriftet waren. Freitag hatte bisher eine andere Ordnung, sein Briefumschlag-System, dafür hatte er von seinem alten Arbeitgeber große Versandtaschen geklaut und seine Belege und Briefe hineingestopft, die Beschriftungen beschränkten sich auf Jahreszahlen und bei jedem zweiten Briefumschlag auf Sonstiges.

Zu Dammwalds Arbeitsplatz gehörte nicht nur eine gewisse Ordnung, sondern auch eine gute Ausstattung. Der silberne Laptop und der Drucker waren offensichtlich teure Markenprodukte. Seinen eigenen Computer, der über zwanzig Jahre alt und funktionsfähig, aber selbst für Restmüllsammler nichts mehr wert war, hatte Freitag vor seiner Abreise schweren Herzens entsorgt. Er klappte den Laptop auf. Das Gerät startete die Programme ohne ein Rattern oder Surren. Alles war so leise, dass Freitag den Wind, der um das Haus wehte, hören konnte. Auf dem Bildschirm erschien eine Passwortabfrage. Freitag musste nicht lange suchen, unter der Schreibtischunterlage lag ein Zettel, auf dem ein Datum und die Namen Götz und Katja und darunter in Klammern ihre Passwörter standen. Zaungast1411 für Götz und Zaunqueen2711für Katja. Für Freitag war sofort klar, dass er sich nie in Katjas Konto einloggen würde, er hatte Dammwalds Leben gekauft und nicht das seiner Frau.

Dammwalds Computer war so aufgeräumt wie alles in seinem Haus. Auf dem Desktop waren die üblichen, vom Hersteller vorinstallierten Programme. Im Dateimanager fand Freitag lediglich einige Musterverträge für die Vermietung des Ferienhauses und Stromabrechnungen. Freitag ging ins Internet und öffnete sein elektronisches Postfach. Acht neue Nachrichten, allesamt Spam-Mails, die Freitag der Reihe nach löschte. Und fast hätte er auch die erste Mail von seinem neuen Chef gelöscht, hätte er nicht im letzten Moment seinen Namen in der Betreffzeile und in der unten eingeblendeten Vorschau den Namen Dammwald gelesen.

Die Firma hieß Jagen24und hatte ihren Sitz keine fünf Kilometer von Zaun entfernt. Dammwald hatte sein Hobby in gewisser Weise zum Beruf gemacht, denn Jagen24 war laut Internet eines der größten deutschen Versandhäuser für Jagd- und Angelzubehör. Dammwald war im Bereich Reklamationsmanagement tätig gewesen. Sein Vorgesetzter, Frank Maxin, schrieb, dass sich die gesamte Belegschaft freue, morgen um 8:30 Uhr ihren neuen Kollegen begrüßen zu können, und dass Freitag nach einer kurzen Einarbeitungszeit den Platz von Götz Dammwald übernehmen könne. Im Anhang befand sich Freitags Arbeitsvertag. Herr Maxin versicherte, dass Freitag gegenüber seinem Vorgänger keine finanziellen Einbußen machen müsse und nahtlos Dammwalds Platz im Gehaltsgefüge einnehmen könne.

Freitag konnte es nicht glauben, warum sollte Herr Maxin ihm einen Job anbieten, zu Top-Bezügen, ohne Vorstellungsgespräch?

Doch Top-Bezüge waren es nicht. Das laut Vertrag angekündigte monatliche Gehalt war zwar deutlich mehr, als Freitag jemals auf seinem Lohnzettel gehabt hatte, trotzdem fragte er sich, wie Dammwald damit seinen Lebensstandard halten konnte. Selbst wenn seine Frau eine ähnliche Summe jeden Monat verdient hatte, wird es nicht gereicht haben, vermutete Freitag. Oder lief die Ferienhausvermietung so gut?

Freitag druckte den Arbeitsvertrag aus, las die wichtigsten Passagen und unterschrieb mit einem Füllfederhalter. Eine Vollzeitbeschäftigung und eine Probezeit von nur einem Monat. Freitag musste mehrmals auf den Vertrag schauen, um es zu verstehen. Wenn er es nicht vermasselte, würde aus diesem Stück Papier in vier Wochen sein erster unbefristeter Arbeitsvertrag werden. Freitag hatte schon viel in seinem Leben vermasselt, aber diese Chance auf einen Neubeginn wollte er sich nicht nehmen lassen. Er stellte sich im Schlafzimmer vor den Spiegel und fragte sich: Kann ich mich so bei meinem neuen Chef sehen lassen?

Freitag hasste Vorstellungstermine, denn er hatte nichts vorzuweisen, keine ausreichende Berufserfahrung, keine Sonderqualifizierungen, nicht einmal einen Schulabschluss. Dabei hatte er als Jugendlicher große Ziele gehabt, er wollte nach dem Abitur Ingenieur werden, Wasser- und Bodenmanagement studieren, er wollte als Naturliebhaber etwas Nachhaltiges und Sinnvolles tun, die Schulnoten und Voraussetzungen dazu hatte er. Jedoch schaffte er es bis heute nicht, den Verlust seiner Eltern zu verarbeiten, trotz der Unterstützung durch seinen Onkel, bei dem er die ersten Jahre nach deren plötzlichem Tod gewohnt hatte. Freitag brauchte lange, um sich wieder auf seinen Alltag einlassen zu können, zu lange. Er brach mit achtzehn Jahren ohne Abschluss die Schule ab. Danach hielt er sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser.

»Reklamationsmanagement« hörte sich für Freitag nach einem Schreibtischjob ohne große Verantwortung an, dem man nur einen wichtigtuerischen Namen gegeben hatte, aber sicher war er sich nicht, und der Blick in Dammwalds Kleiderschrank gab ihm auch keine Antwort. Dammwald besaß Anzüge, Stoffhosen, Hemden und Krawatten, aber auch Shirts und Kapuzenpullover. Im rechten Teil des Kleiderschranks, vermutlich dort, wo Dammwalds Exfrau ihre Kleidung aufbewahrt hatte, befanden sich Dammwalds Angelklamotten, dicke Wollpullover, Holzfällerhemden und sogar eine Wathose. Warum der penible Dammwald seine nach Gewässerschlamm stinkende Gummihose mit ins Wohnhaus genommen hatte, war Freitag ein Rätsel. Der Duftbaum Fresh Oriental, der in der Mitte des Schranks befestigt war, überdeckte allerdings alle anderen Gerüche. Freitag zog seine Jeans aus und nahm eine Stoffhose aus dem Schrank. Die schwarze Hose passte, sowohl in der Länge als auch um seinen Bauch herum. Danach zog er ein weißes Hemd an und streckte beide Arme nach vorne, die Länge der Ärmel war perfekt. Auch das graue Jackett saß wie für ihn maßgeschneidert. Die dazu passende Krawatte hing ebenfalls über dem Bügel.

Ich trage definitiv keinen Schlips, beschloss Freitag und stolzierte ins Badezimmer. Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht und durch seine Haare, die etwas wirre Frisur und der Vier-Tage-Bart gefielen ihm, aber er wusste, so würde er morgen früh das Haus nicht verlassen können. Freitags Kulturtasche stand auf dem Fußboden. Er hatte sie gestern Abend nicht ausgepackt und stellte sie nun auf den Rand des Waschbeckens. Im Wandschrank lagen zahlreiche Badezimmerutensilien. Dammwald hatte nicht einmal seine Zahnbürste und seinen Rasierapparat mitgenommen. Freitag schnüffelte an den drei Parfümflakons und entschied sich für einen Duft nach Moschus und Vanille. Er nickte seinem unausgeschlafenen, faltigen Gesicht im Spiegel zu und war froh, als er wieder in seine alten Klamotten schlüpfen konnte.

Über die Terrasse ging er durch eine Tür in die Garage, um sich sein neues Auto anzusehen, denn ihm war ein geländetauglicher, zwei Jahre alter Mercedes der G-Klasse versprochen worden. Der Wagen wartete, rückwärts und ordentlich eingeparkt, auf Freitag. Der G500 war für jedes Gelände tauglich, die riesigen Reifen in den hohen Radkästen würden auch abseits der Straßen Halt und Sicherheit geben, vermutete Freitag und konnte nicht einen Schlammspritzer auf der Karosserie entdecken. Er sperrte auf und sank tief in den Fahrersitz. Der Wagen hatte genug Pferdestärken, ahnte Freitag, nachdem er den Zündschlüssel umgedreht hatte und der Motor aufheulte. Der Kilometerstand betrug siebentausendfünfhundert. Freitag hatte noch nie ein Auto besessen, das weniger als hunderttausend Kilometer auf dem Tacho hatte, auch noch nie eine Rückfahrkamera und eine vollautomatische Klimaanlage. Auf dem Armaturenbrett klebte ein Aufkleber mit technischen Daten: Böschungswinkel hinten: 30°, vorne: 31°, Rampenwinkel: 26°, Maximale Wattiefe von 70 cm.

Die Karre fährt sogar durchs Wasser, dachte Freitag beeindruckt, beugte sich nach rechts und öffnete das Handschuhfach, in der das Handbuch für den Bordcomputer lag und eine Fernbedienung, die nicht größer als der Autoschlüssel war. Freitag drückte darauf, und das Garagentor bewegte sich geräuschlos nach oben. Erst als Freitag aus der Garage fuhr und den Geländewagen auf der Auffahrt stoppte, wurde ihm bewusst, wie hoch er saß. Ein Hund lief am Gartenzaun vorbei. Das Tier registrierte den Geländewagen nicht, es lief hechelnd weiter, blieb dann aber mit einem Mal stehen und drehte sich zu seiner Besitzerin um, die mit einer Hundeleine über der Schulter den Sandweg entlangschlenderte. Freitag schätzte die Frau auf über sechzig Jahre alt. Er konnte nicht sagen, warum, aber für ihn war sofort klar, dass sie keine Zugereiste war. Die Dame mit dem sportlichen Walking-Outfit und der blauen Schirmmütze wird ein festes Mitglied der Dorfgemeinschaft sein.

Selbst meine Nachbarn in Berlin würden so nicht durch die Stadt joggen, glaubte Freitag und hörte den Pfiff nicht, aber er sah, wie die Frau mit zwei Fingern im Mund ihren Hund zu sich rief. Der Hund parierte und lief zu seiner Besitzerin zurück, eine Belohnung bekam er nicht. Gemeinsam gingen sie dann diszipliniert weiter, Seite an Seite. Freitag konnte sehen, wie stolz und zufrieden die Frau war, und musste grinsen.

Als sie an seiner Gartentür vorbeikam, drehte sie sich zu ihm und zwinkerte ihm lächelnd zu, selbst der Hund drehte seinen Kopf zu Freitag und bellte. Freitag sah ihr nach, bis sie mit ihrem Hund aus seinem Blickfeld verschwand.

Warum hat die mich so angegrinst, ich kenne sie doch überhaupt nicht?, dachte Freitag, der dieses Lächeln und Zwinkern einfach nicht deuten konnte. Entweder sie wusste, wer er war, und hatte ihn als neuen Nachbarn begrüßt, oder es war die normale Freundlichkeit, wie sie die Großstädter verlernt hatten, oder, und das war für Freitag in diesem Moment die wahrscheinlichste Antwort, sie hatte ihn für Dammwald gehalten. Freitag realisierte erst jetzt, dass er überhaupt nicht wusste, wie Dammwald aussah, wie alt er war, was für ein Mensch er war. Er wird ein gut aussehender Mann im besten Alter sein, glaubte Freitag, aber ihm war klar, dass seine Vermutung allein auf das Passfoto einer schönen Frau baute, von der Freitag überzeugt war, dass es Dammwalds Exfrau war.

Freitag stieg aus dem Auto, drehte sich um und zuckte vor Schreck zusammen. Er hatte den fast zwei Meter großen Mann, der vor der Haustür stand, nicht gesehen. Der Mann trug eine blau-gelbe Dienstjacke mit einem Aufnäher, auf dem ein Name und ein Postabzeichen gestickt waren.

»Hallo, haben Sie Post für Dammwald?«

»Nur Werbung«, sagte der Postbote, der noch sehr jung war, wie Freitag jetzt sah. »Eine Postwurfsendung, die an alle Anwohner im Kreis Geistling geht, da muss ich mir keine Gedanken über das Postgeheimnis machen.«

»Jemandem, der auf Weltreise ist, die Post hinterherzuschicken ist ja auch schwierig.«