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Kommunisten und Nazis wußten um die Macht der Sprache. In George Orwells „1984“ löscht der perfekte totalitäre Staat mit Hilfe des „Neusprechs“ die Erinnerung aus. Mit alledem hat das Gendern von heute nichts zu tun. Auch die „geschlechtssensible“ Sprache will die Wirklichkeit verändern. Aber dahinter steht kein „Großer Bruder“. Vielmehr sind es unter Tage arbeitende Netzwerke, die die Invasion des Genderns vorantreiben, Wörter auf den Index setzen, Bücher nach „rassistischen“ Sünden durchforsten, Geschriebenes durch Sternchen, Gesprochenes durch seltsame Knacklaute verfremden. Dies geschieht im Namen der „Gerechtigkeit“ und bei arroganter Mißachtung des Willens der Mehrheitsbevölkerung. In einem meinungsstarken Buch beschreibt Günter Müchler, wie das Gendern mutwillig den Schutzraum der Muttersprache zerstört. Er benennt die Hilfstruppen der neubabylonischen Sprachverwirrung – Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Universitäten, Stadtverwaltungen, zeitgeistgetriebene Wirtschaftsunternehmen – und erklärt, wie Opportunismus dem Treiben einer militanten Minderheit den Weg ebnet.
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Seitenzahl: 212
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Günter Müchler
DAS GENDER-DIKTAT
Wie eine Minderheit unsere Sprache zerlegt
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Umschlagabbildung:
Adobe Stock 575736042 / Tomasz Bidermann
© 2023 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
www.aschendorff-buchverlag.de
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ISBN 978-3-402-25000-6
Inhalt
Kulturkampf unter Tage
Schutzraum Muttersprache
Von der Jungfrau zum Flittchen
Deutscher Nachahmungseifer
Ist richtig Schreiben elitistisch?
Denglisch und Demokratie
Miniwahr und Minilieb
Luise F. Pusch erklärt den Krieg
Postmodernisten zerlegen die Wahrheit
Sexus und Gender
Die „Sichtbarmachung“ der Frau
Schon Justinian wußte
Die verkleinerte Kanzlerin
Von Gästinnen und Gästen
Frau Reker ist nur für die Männer da
Opfer überkreuz: Wo bleibt das dritte Geschlecht?
Tote Radfahrende und zuhause gebliebene Wählende
Die Anmaßung der Selbstgerechten
Volkes Stimme
Verantwortung nirgends
Die Hilfstruppen des Genderns
Beamtete Unterstützer
Gender-Spreader Nr. 1: Der Rundfunk
„Jeder Jeck ist anders“
Die Akrobaten des Glottisschlags
In den Redaktionen: Tugendwächter und Mitläufer
Identitätspolitik und Apartheid
Unwort Winnetou
Rassismus als Erbsünde
Risse im Opferbündnis
Platons „edle Lüge“: Der Gender-Pay-Gap
Die Regenbogenfahne als Nationalsymbol?
DFB in Katar: Turnier verloren, Kreuzzug auch
Die Einäugigkeit der Postkolonialisten
Gotteskrieger ziehen gegen den Westen
Vorwärts in die Vergangenheit
Die Mär vom rassistischen Deutschland
Frauenthema Frauenquote?
Wolfgang Thierse wundert sich
Gesellschaft mit Schulterblick
Unsere Sprache: der Ort des Wir
Anmerkungen
Literatur
Sage niemand, es gäbe bei uns keine echten Probleme! Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wissen wir, daß Kriege nicht nur am anderen Ende der Welt stattfinden. Extremwetterlagen sind untrügliche Vorboten einer Klimawende, die wir gern wegklügeln würden, die aber furchtbar werden wird, wenn wir den Kopf in den Sand stecken. Energieknappheit und steigende Lebensmittelpreise führen uns vor Augen, daß elementare Aufgaben der Daseinsvorsorge wie der Schutz vor Kälte und Hunger auch in unseren Breiten keineswegs abgehakt sind.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Kulturkampf, der gegenwärtig unter dem Panier der Identitätspolitik mit missionarischem Eifer geführt wird, wie der frivole Luxus eines akademischen Milieus, das sich von den Sorgen und Beschäftigungen der Bevölkerungsmehrheit abgekoppelt hat. Die meisten Menschen sind verstört von den Kriegsbildern aus dem Osten Europas, sie sehen besorgt auf ihre Gasrechnung und fragen sich, wer einmal für die gigantischen Schulden aufkommen soll, die der Staat aufnimmt. Es wird wohl an den Enkeln hängenbleiben. Vom Streit der Worte nehmen sie kaum Notiz. Sie wundern sich nur.
Sie wundern sich, daß als oberstes Gebot zeitgemäßer Kommunikation die litaneimäßige Unterscheidung von Mann und Frau gelehrt wird, obwohl noch gestern das Gegenteil gepredigt wurde, nämlich die Überwindung der Geschlechterrollen. Sie sind überrascht zu hören, daß die Zukunft angeblich nur dann bewältigt werden kann, wenn die Unzulänglichkeiten der Gegenwart durch die Vergangenheit erklärt werden, nämlich die vor hundert Jahren beendete Kolonialepoche. Sie verstehen nicht, wie man behaupten kann, in Deutschland seien Rassismus und Islamfeindlichkeit an der Tagesordnung, wo doch Jahr für Jahr hunderttausend und mehr Menschen in unserem Land Schutz und Arbeit suchen, viele von ihnen mohammedanischen Glaubens. Stirnrunzelnd lesen sie Briefe von der Kommunalbehörde. Wozu die vielen Sternchen? Schalten sie Radio oder Fernsehen ein, ist da von Mitgliederinnen und Radfahrenden die Rede. Was ist nur los?
Ein Belt des Nicht-Verstehens zieht sich durch Deutschland. Die Mehrheit erfährt im Alltag eine Wirklichkeit, die vom vermittelten Wirklichkeits-Bild deutlich abweicht. Auf ihrer Agenda stehen andere Prioritäten als die, die ihr der Mainstream einbläut. Sie glaubt, die Mitte zu repräsentieren, und sieht sich an den Rand gedrängt. Ihre Besorgnis ist kein Hirngespinst, denn die Rückstufung erfolgt mit Ansage. Das neue Zauberwort heißt Vielfalt. Es verlangt gebieterisch den Platztausch zugunsten von Minderheiten. Dem Vielfaltssong entkommt niemand. Er läuft von morgens bis abends in den Medien: Ein Tutti mit Chor und Orchester, das widerhallt in Parteizentralen und Kirchenschiffen, bei Universitätsseminaren und auf Verbandstagen. Städte und Gemeinden rechnen es sich als Ehre an, Stabsstellen zur Förderung der Vielfalt einzurichten, aller Personalnot zum Trotz. Unternehmen, die mit der Zeit gehen wollen, verschreiben sich der „diversity“ als „purpose“. Tabellenführer im Mitmacheifer ist der deutsche Verbandsfußball: Die DFB-Elf reiste zur Weltmeisterschaft nach Katar ohne Schußstiefel, aber mit „One-Love-Binde“. Sie verlor beides, das Turnier und den Kreuzzug.
Die Erhebung der Vielfalt zum säkularen Heilssymbol wird von der Mehrheit weniger in den Kategorien von Sieg oder Niederlage wahrgenommen. Sie verursacht ein schwärendes Unwohlsein. Noch ist unklar, wohin das alles führt. Aber die Entfremdung läßt sich nicht übersehen. Für die Demokratie ist das gefährlich. Sie kommt ohne die Zustimmung der Mehrheit nicht aus. Die Mehrheit verschafft Regierungen Legitimität. Mit Mehrheit werden Gesetze verabschiedet, die das Zusammenleben ordnen und Wandel ermöglichen. Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit. Für den Umgang mit Minderheiten verfügt sie über erprobte Mittel: Toleranz und das Angebot der Teilhabe. Werden Minderheiten dagegen in den Mittelpunkt gerückt oder beanspruchen sie, das Eigentliche zu sein, wendet die Mehrheit sich ab. Die Demokratie gerät in Atemnot.
Der Kulturkampf, dessen Zeugen wir sind, ist ganz anders als die Machtkämpfe, die wir kennen. Er wird nicht auf den Frontseiten der Zeitungen ausgetragen, sondern in den Feuilletons und in Leserforen. Auf Seiten der Angreifer sucht man Anführer, die durch Rede oder Schrift die Richtung vorgeben, vergeblich. Es gibt überhaupt keine Namen. Niemand steht für irgendetwas, niemand hat das Mandat, Ziele zu formulieren oder Kompromisse auszuhandeln. Der demokratische Prozeß ist abgemeldet. Die Angriffsoperationen erfolgen unter Tage. Widerstand hat es schwer, sich zu formieren, weil der Gegner nicht zu packen ist. Es gibt praktisch keinen Widerstand.
Das Subkutane des Kulturkampfs könnte zu der Annahme verleiten, ein Konflikt existiere gar nicht, es bräche sich nur eine lange aufgestaute Notwendigkeit Bahn, wie ein Fluß, der über die Ufer tritt, weil Wassermenge und Fließgeschwindigkeit bloß diesen Ausweg kennen. Genauso argumentieren Anstifter und Unterstützer des Genderns. Sie erklären das Vordringen des Neusprechs zum osmotischen Vorgang. Sprache verändere sich eben, heißt es. Das freilich ist eine bewußte Irreführung, die Täterschaft verschleiern soll. Scheinheiligkeit ist ein weiteres Merkmal des Kulturkampfs.
Man würde das Gendern unterschätzen, betrachtete man es als isoliertes Phänomen. Es wäre dann eine Modetorheit, etwas, das man hinnehmen kann, weil es vorübergeht. In Wahrheit ist das Gendern nur die Spitze eines Eisbergs. Der breite Sockel besteht aus einer philosophischen Mixtur, die im aktivierten Zustand Identitätspolitik genannt wird. Im Zentrum der identitären Weltsicht stehen Gruppen: Frauen, sexuelle Minderheiten oder Träger einer bestimmten Hautfarbe. Für Anhänger der Identitätspolitik ist fester Glaube, daß diese Gruppen diskriminiert werden, ob durch Männerherrschaft, religiös-kulturelle Vorurteile oder durch Nachwirkungen des Kolonialismus. Beweisführung erübrigt sich. Denn was falsch ist, steht nach ihrer Auffassung nicht im Gesetz, und was richtig ist, sagt nicht die Vernunft. Wahr und gerecht ist allein, was Minderheiten fühlen. Auf diese Weise wird die Axt an unser Rechtssystem gelegt, das nicht nach Sensibilitäten urteilt, sondern nach Sachverhalten. Darüberhinaus gibt die Transformation von Menschenrechten in Gruppenrechte dem universalistischen Denken der Aufklärung den Abschied. An seine Stelle tritt Stammesdenken, das die Gesellschaft zu einem Säulendiagramm filetiert.
Das Sprechen über Identitätspolitik ist mühsam, was teilweise daran liegt, daß es neben der linken auch eine rechte Spielart gibt. Für die rechten Identitären steht das (biologische) Volk im Zentrum. Gut ist, was den Deutschen frommt. Schlecht ist rassische Durchmischung. Migration gefährdet die völkische Homogenität usw. In diesem Buch geht es um linke Identitätspolitik. Sie ist intellektuell anspruchsvoller, aber auch verwirrender. Ihre Ursprünge gehen zurück auf die siebziger Jahre, als der Marxismus-Leninismus die kulturelle Hegemonie im linken Spektrum verlor und das Bedürfnis nach ideologischer Ersatzbeschaffung entstand. Hebammendienste leisteten französische Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida, die Marx auf den Kopf stellten: Für sie bestimmt nicht das (materielle) Sein das Bewußtsein, es ist vielmehr die Sprache, die Herrschaftsverhältnisse schafft und zementiert. Aus dieser Keimzelle erwuchs eine Anzahl von Theorien (z.B. Social-Justice-, Critical-Race- und Queer-Theorie), die vorwiegend in den USA zur Blüte gelangten sowie ein Bündel von Aktionsformen, die uns unter Bezeichnungen wie Cancel Culture, Political Correctness oder Gendern begegnen.
Die wichtigste Aktionsform ist das Gendern. Das gewohnte Sprechen und Schreiben soll durch Wortschöpfungen und Zeichen so verändert werden, daß Frauen und Trans-Leute sich fair behandelt fühlen. Debatten darüber, ob die Gedichte einer schwarzen Lyrikerin nur von einer dunkelhäutigen Person in eine andere Sprache übersetzt werden dürfen oder ob das Tragen von Afro-Frisuren durch Weiße die Gefühle von Schwarzen verletzt, werden hitzig geführt, beschäftigen allerdings nur ein bestimmtes Milieu. Die Allgemeinheit bekommt davon wenig mit. Dagegen ist das Rendezvous mit dem Gendern unausweichlich.
Das Buch vertritt einen klaren Standpunkt. Gendern bringt die Gleichberechtigung von Frauen und Trans-Menschen nicht voran. Es schadet ihr sogar. Denn die Mehrheit sieht keinen Grund, anders zu sprechen als sie es gelernt hat und ist genervt von der permanenten Aufforderung, es doch zu tun. Bevormundung erzeugt Widerwillen. Das ist keine neue Erkenntnis, stört die Aktivisten aber wenig. Für sie geht es um das höhere Ziel der Gerechtigkeit. Wenn beim Hobeln Späne fallen, wen kümmert es? Und Späne fallen zuhauf. Dem Umpflügen der Sprache, zu dem aufwendige Breviere für „geschlechtersensible Kommunikation“ einladen, geht jede Regelhaftigkeit ab. „Communities“, die als „woke“, das heißt „erweckt“, gelabelt sind, werden aufgefordert, sich an der Sprachschöpfung zu beteiligen. Es waltet ein kruder Voluntarismus, der als basisdemokratischer Geburtsvorgang gefeiert wird. Das zentrale Gefecht wird gegen das sogenannte generische Maskulinum geführt und hat donquichotehafte Züge. So wie die Windmühlen bloß in der Einbildung des Hidalgos von der Mancha feindliche Ritterburgen sind, so existiert das generische Maskulinum als patriarchalische Festung nur in der „woken“ Phantasie. Es trifft keine Aussage über das biologische Geschlecht. Darauf bestehen nicht nur Sprachwissenschaftler. Vertrauen wir einfach der Umgangssprache. Ein Mann, der sagt, er müsse zum Arzt, und dann seine Hausärztin aufsucht, hat sich weder in der Adresse geirrt, noch will er den Stand weiblicher Mediziner diskriminieren.
Die Forderung, Sprache solle Gerechtigkeit herstellen, hätte die Brüder Grimm und sicher auch Konrad Duden, dessen Namenserben in der heutigen Duden-Redaktion allerdings diesen Standpunkt vehement vertreten, erstaunt. Sprache soll nach der Definition des Rates für deutsche Rechtschreibung verständlich, les- und vorlesbar sein und das Erlernen nicht unnötig erschweren. Diesen Anforderungen wird die „gerechte“ Sprache keineswegs gerecht. Sie konterkariert vielmehr Inklusion, ein Ziel, das sonst im genderaffinen links-grünen Spektrum mantrahaft vorgetragen wird. Man studiere eine von Sternchen, Quer-, Binde-, Unter- und Schrägstrichen durchzogene Amtsmitteilung und stelle sich vor, wie Migranten und Menschen bildungsferner Herkunft damit fertig werden sollen! In Widersprüchen verhakt sich das Gendern durch die Ausdifferenzierung der Opfergruppen. Momentan geben im Konzert der Vielfalt „queere“ Belange den Ton an, was zur Folge hat, daß die stereotype Doppelung bei Personenbezeichnungen („Expertinnen und Experten“) in Ungnade gefallen ist. Für bekennende Nicht-Binäre treibt nämlich das formelhafte „Expertinnen und Experten“, „Politikerinnen und Politiker“ die verhaßte „Heteronormativität“ auf die Spitze und läßt das Diverse noch mehr durch den Rost fallen als das angeblich exklusive generische Maskulinum.
Der Hauptvorwurf, den man den Genderaktivisten machen muß, ist der fehlende Respekt vor der Sprache. Sie degradieren die Sprache zur ungeordneten Deponie, auf der jeder seine ideologischen Hervorbringungen ablagern darf. Ärgerlicherweise mischt in diesem Spiel der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk (ÖRR) an vorderer Stelle mit. Dabei rechtfertigt er seine privilegierte Stellung im Mediensystem mit dem Anspruch, in besonderer Weise die Kultur zu pflegen und die Demokratie zu stützen. Zweifellos hat sich der nach 1945 nach britischem Vorbild entstandene ÖRR bewährt. Im internationalen Vergleich sind seine Programme hoch angesehen. Diejenigen, die ihn heute, wie es gängig geworden ist, infrage stellen, wären morgen die ersten, die sein Fehlen beklagen. Umso unverständlicher ist, daß sich die Öffentlich-Rechtlichen seit einigen Jahren als Haupt-Sprayer der Gendersprache hervortun. Sie schwächen damit ihre angeschlagene Stellung, denn die große Mehrheit ihrer Nutzer lehnt den Neusprech ab. Wo dem Mutwillen einer Minderheit erlaubt wird, Professionalität und Eigeninteresse auszublenden, ist die Selbstschädigung der Institution vorbestimmt.
Das Buch geht der Frage nach, weshalb sich die Medien und hier vornean die öffentlich-rechtlichen Anbieter beim Gendern derart ins Zeug legen. Normalerweise halten sich Journalisten viel auf ihre Unabhängigkeit zugute und schwören, bei ihnen stoße jedes Ansinnen der Bevormundung auf Granit. Die Genderpraxis zeigt ein anderes Bild. „Wo man sich üblicherweise mit Händen und Füßen gegen staatliche und institutionelle Sprech- und Schreibvorschriften wehrt, hat der Genderstern aktive Sprachlenkung mit einem Mal salonfähig gemacht“, wundert sich Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg.1 Sich gegen den Kodex der Gruppe zu stellen, erfordert allem Anschein nach ein Maß an Courage, das längst nicht alle Journalisten aufzubringen bereit sind.
Neben den öffentlich-rechtlichen Medien gehören Universitäten und Behörden zu den Haupttreibern des Neusprechs. Zu ihnen gesellen sich mehr und mehr auch große Firmen und Wirtschaftsverbände. Während die ersteren risikofrei agieren, weil auch verärgerte Gebührenzahler Gebühren zahlen müssen, Studenten sich die Karriere nicht verbauen wollen und Bürger gegen sternchenbesetzte Amtsschreiben wehrlos sind, setzen Unternehmen darauf, durch demonstrativ „cooles“ Auftreten jung und dynamisch zu erscheinen. Es geschieht also eine ganze Menge, um das Gendern voranzubringen. Hinzu kommt sozialer Druck. Die „Woken“ sind mit der Anklage des Sexismus, des Rassismus oder der AfD-Nähe rasch bei der Hand. Wer den Shitstorm zu vermeiden trachtet und lieber mit den Wölfen heult, ist dennoch nicht fein raus. Der Fauxpas bleibt eine ständige Bedrohung, denn oft ist unklar, welches Wort aktuell geboten ist bzw. auf dem Index steht. Also sichert man sich ab. Mit wem spreche ich gerade? In welchen Kontext gehört er? Wer könnte zuhören? Der Schulterblick ist Ausdruck einer verunsicherten Gesellschaft.
Mit der Entdeckung der Lautsprache irgendwann vor hunderttausend oder zweihunderttausend Jahren wurde der Mensch zum sozialen Wesen. Er besaß nun ein Werkzeug, Informationen weiterzugeben und Gemeinschaft herzustellen. Das Gendern gefährdet die gemeinschaftsbildende Funktion der Sprache, es spaltet. Gegendert wird vorwiegend in einer schmalen Zone, die von Universitätsmitarbeitern, öffentlich-rechtlichen Journalisten und Schreibstubenbeamten besiedelt ist. Wer dagegen ein gutes Buch zur Hand nimmt, wird feststellen, daß dort von den reichhaltigen Angeboten der Gender-Leitfäden kein Gebrauch gemacht wird. Noch resistenter als die Literatur- ist die Umgangssprache. Im Privaten, an der Ladentheke oder in der Kneipe rüsten selbst hartgesottene Gerechtigkeits-Kämpfer ab und genießen eine Konversation ohne Drill und Rückversicherung. Sprachlich leben wir mittlerweile in Trizonesien. Einen Fortschritt wird man das nicht nennen können.
Ob sich das Gendern durchsetzt? Heißt unsere Leitkultur demnächst Vielfalt? Es ist ja wahr: Als Rechtssubjekte wurden Frauen lange wie Kinder behandelt. Sexuelle Minderheiten wurden verachtet und verfolgt. Eine selbstbewußte Bürgergesellschaft wird es nicht beim Lamentieren belassen. Sie wird versuchen, Gerechtigkeitslücken zu schließen und dem Pöbel das Handwerk zu legen. Die selbstbewußte Bürgergesellschaft verlangt allerdings auch eine redliche Bilanz. Tatsächlich ist die rechtliche Gleichstellung der Frauen in Deutschland kein Thema mehr, Homosexuelle leben bei uns in Freiheit. In weiten Teilen der Welt ist das bekanntlich anders, vor allem im sogenannten Globalen Süden, der uns häufig als Heimstatt von Unschuld und erzwungener Unmündigkeit vorgehalten wird. Gewiß, Reformpolitik kann quälend langsam sein. Sie beschert nicht das Wohlgefühl, das denen wichtig ist, die durch vorgezeigte „Korrektheit“ ihr Ticket für das Parkett der Guten erkaufen wollen. Dafür ist Reformpolitik produktiv. Einer Sozialpädagogik, die zum Opfersein erzieht und das sapere aude der Aufklärung in den Wind schlägt, ist sie allemal überlegen.
Es wird nicht leicht sein, das Gendern zu stoppen. Teilverstaatlicht durch viele hundert Gleichstellungsbeauftragte, Diversity-Beamte und Lehrstühle für Gender-Studies, wird es von Netzwerken vorangetrieben, denen schwer beizukommen ist. Erlauben wir uns trotzdem eine optimistische Prognose. Unser Freiheitssinn, der sich nur zur Not dem Staate beugt, sollte stark genug sein, der Arroganz unlegitimierter Minderheiten zu trotzen. Vernunft und Geschmack sollten verhindern, daß Verworrenes wie die Gendersprache die Oberhand gewinnt. Indessen müßten, damit die Schraube zurückgedreht wird, Verantwortliche auf allen Ebenen endlich ihre vornehme Zurückhaltung ablegen und für die Bewahrung unserer Sprache eintreten. Sie müßten den Kulturkampf annehmen und der mißachteten Mehrheit eine Stimme geben. Dann würden vom Gendern vielleicht ein paar „gerechte“ Wortgebilde übrigbleiben. Musealisiert hätten sie Bleiberecht – als Weilande einer babylonischen Sinnverwirrung.
Was von der Muttersprache ausgeht, dieses geheimnisvolle In-den-Arm-genommen-werden, lernt man dort, wo sie fehlt. Nehmen wir einen „Expat“, also einen Menschen, der im Ausland sein Geld verdient. Soziologisch gehört er der Gruppe der „Anywheres“ an. Die „Anywheres“ sind gut ausgebildet, wohlhabend, jung und kommen überall auf der Welt zurecht. Unser Mensch hat sich mit der Sprache des Gastlandes angefreundet. Er liest die dortigen Zeitungen und traut sich sogar an literarische Klassiker heran. Stolz verbucht er den kleinsten Lernfortschritt in der Konversation. Sein Ehrgeiz ist, nicht aufzufallen; sein Horror, für einen Touristen gehalten zu werden. Doch dann geschieht es, daß er in Gesellschaft oder in der Straßenbahn deutsche Sprachlaute vernimmt. Die sonst so wichtigen Haltungsnoten sind ihm auf einmal egal. Als ob eine Bremse gelöst würde, läuft unser Mensch zu kommunikativer Hochform auf. Normalerweise kennt man ihn als zurückhaltend und in der Auswahl seiner Gesprächspartner als wählerisch. Nun aber stürzt er sich begierig in die Unterhaltung mit Wildfremden. Der Klang der Muttersprache verwandelt ihn, den Einsilbigen, den Kontrollierten, in eine Wortsprudelmaschine.
Es verhält sich mit der Muttersprache wohl so ähnlich wie mit der Freiheit, die Heinrich Heine bekanntlich eine Gefängnisblume nannte. Ihr Wert flammt auf in der Entbehrung. Gewiß, es läßt sich notfalls auch ohne auskommen. Tritt man aber erst einmal in ihren Zauberkreis ein, ist es, als öffne sich ein Wärmespeicher. Wohlsein breitet sich aus: Keine krampfhafte Suche nach dem richtigen Wort. Keine Angst, in eine Peinlichkeitsfalle zu tappen. Man kennt die Regeln und fühlt sich sicher. Welch ein Vorzug, Zwischentöne modellieren zu können! Ein einziges Wort genügt, eine feine Abstufung, und ein komplexer Bedeutungszusammenhang erschließt sich ohne Gebrauchsanweisung. Die Welt bietet sich plötzlich in einer neuen Version dar; sie ist bunter, vielschichtiger, reicher. War so der Übergang von Schwarz-weiß zum Farbfernsehen? Die Muttersprache ist eine Schatzkammer und obendrein ein Schutzraum, in dem man sich entspannt bewegt. Wer an ihr herumdoktert, sollte wissen, daß er an einem empfindlichen Ökosystem hantiert. Die Muttersprache zum Schlachtfeld zu erklären, um dort einen Kulturkampf auszufechten, fordert einen hohen Preis. Nicht, daß Leib und Leben auf dem Spiel stünden wie in einem richtigen Krieg. Verloren ginge allerdings die Leichtigkeit des Seins.
„Sprache verändert sich eben“. Der Satz wird im Verlauf dieses Buches noch einige Male auftauchen. Für sich genommen sagt er nichts Falsches. Jeder Sprachforscher würde den Sachverhalt bestätigen. Nur ist der Erkenntnisgewinn gering. Entscheidend ist, auf welche Weise der Sprachwandel sich vollzieht. Geht er natürlich vor sich oder wird er herbeigeführt? Entsteht er aus sich heraus oder folgt er fremden Zwecken? In dem einen Fall ist die Sprache Subjekt, in dem anderen Objekt. Der Unterschied ist erheblich. Nehmen wir die Biographie eines Flußlaufs. Die Flüsse, wie sie unsere aktuellen Landkarten zeigen, sind nicht dieselben wie vor Jahrtausenden oder Jahrmillionen. Wie andere Ströme hat der Rhein sein Bett immer wieder durch Ausweichmanöver verrückt, ganz wie es ihm paßte. Bis ihn, vor etwa hundertfünfzig Jahren, die Menschen in die Zange nahmen, indem sie begannen, ihn zu begradigen und zu kanalisieren, zum Nutzen des Handels. Heute weiß man, die Manipulation der Flußläufe war ein Fehler, weil sie das Schadenspotential im Falle von Überschwemmungen vergrößerte.
Auf ihrem Zug durch die Zeit hat sich die deutsche Sprache mannigfach verändert. Der Nichtfachmann, der sich das Nibelungenlied oder Verse Walthers von der Vogelweide vornimmt, muß sich mühen und viel Interesse für die Sache mitbringen. Mäandernd hat sich die Sprache ihren Weg gebahnt. Geändert haben sich nicht bloß Rechtschreibung, Grammatik und Syntax. Verwundert stellt man fest, daß bei Goethe eine Missetat „gerochen“ wurde statt „gerächt“, daß aus dem Verb „reißen“ das Verb „zeichnen“ wurde und daß das Substantiv „Dirne“, das heute nach St. Pauli klingt, einmal die züchtige Jungfrau meinte. Mit Logik ist der Sprache nur bedingt beizukommen; sie steckt voller Überraschungen und Ungereimtheiten.
Es waren Mönche, die im 12. Jahrhundert damit anfingen, auf Deutsch zu schreiben. Deutsch als Standardsprache der Deutschen setzte sich jedoch erst sehr viel später durch. Die Zögerlichkeit hatte zu tun mit den Besonderheiten des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Dieses Reich kannte eine Vielzahl von Herrschaften, aber keinen zentralen Ort. Die Kaiser des Mittelalters waren Reisekaiser, die sich mal hier, mal dort aufhielten. Jeder Kaiser hatte seine Lieblingspfalz, die ihre Vorzugsstellung oft mit dem nächsten Thronwechsel verlor und dann verfiel. Anders lagen die Verhältnisse in Frankreich oder in England. Paris und London etablierten sich schon früh als Hauptstädte, mit der Folge, daß die Sprachgewohnheiten der Metropole bald auf das ganze Land abfärbten. Dagegen existierten im hauptstadtlosen Deutschland zahlreiche Dialekte nebeneinander. Die Sächsische Kanzleisprache, wie wir sie aus Luthers Bibelübersetzung kennen, setzte sich erst im 16. Jahrhundert durch und zunächst nur im Norden. Bis sie auch im katholischen Süden als leitend anerkannt wurde, vergingen noch einmal 250 Jahre.
Die Fürsten waren der deutschen Sprache nie eine Stütze. Von Karl V., Herrscher über den halben Erdball, ist überliefert, er habe die Sprachen, derer er mächtig war, gezielt angewendet. Mit Frauen habe er italienisch gesprochen, mit Männern französisch und mit Gott spanisch. Deutsch habe er vorzugsweise mit Pferden gesprochen.2 Ein besonders krasser Ausfall bei der Förderung des Deutschen war Friedrich der Große. Der preußische König fand die Sprache seiner Untertanen grob und undifferenziert. Er spreche sie „comme un cocher“ („wie ein Kutscher“) gab er zu und behauptete, „von Jugend auf kein deutsch Buch“ gelesen zu haben.3 Das Aufblühen der deutschen Klassik ging vollständig an ihm vorbei. Goethes Werther kanzelte er als ungenießbar ab – ein Buch immerhin, das Napoleon nach eigenem Bekunden fünfmal las.
In Frankreich gingen die Durchsetzung der Nationalsprache und der Aufbau des Nationalstaates Hand in Hand. Dafür sorgte das Königtum. 1635 verfügte Ludwig XIII. die Gründung der Académie Française, wobei Ludwigs Prinzipalminister Richelieu die Fäden zog. König und Kardinal mandatierten die ursprünglich 37 auf Lebenszeit berufenen Mitglieder der Académie mit der „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“, eine Aufgabe, die die inzwischen 40 „Unsterblichen“ bis heute wahrnehmen.
Für das Reich, zersplittert wie es war, kam eine Zentraleinrichtung wie die Académie natürlich nicht infrage. In der Mitte Europas liegend und schwach, zog es nicht nur beutegierige Aggressoren an, offen wie ein Scheunentor war es auch für fremde Spracheinflüsse. Der nachhaltigste Import kam von jenseits des Rheins. Im Dreißigjährigen Krieg war Deutschland verwüstet worden. Frankreich dagegen hatte der Krieg zur Nummer eins in Europa gemacht. Politisch und kulturell war es nun das Maß aller Dinge. Die deutschen Fürsten quittierten den Sachverhalt mit beispiellosem Nachahmungseifer. Hingebungsvoll schauten sie auf Versailles, kopierten Baukunst, Gartenarchitektur und Lebensart. An den Höfen parlierte man selbstverständlich französisch. Soziale Distinktion lief nicht mehr nur über Kutsche und Kleidung, sondern über den französischen Privatlehrer für die Kinder. Der Philosoph Gottlieb Wilhelm Leibniz prangerte den Sprachimport als Akt der Selbstkolonisierung an. Man habe sich der „Frantzösischen Sprache und Mode unterwürffig gemacht“.4 Eine Flugschrift von 1642 klagte: „Ich teutscher Michel/versteh schier nichel/in meinem Vaterland/es ist ein Schand.“5 Es verstanden die Zeitungsleser die Zeitungen nicht. Sie benötigten für die Lektüre Dolmetscherdienste, meinte Kaspar von Stieler. Eigens für sie verfaßte der Sprachwissenschaftler ein Lexikon mit Namen „Erklärung Derer in den Zeitungen gemeiniglich vorkommenden fremden und tunklen Wörter“.6 Kaspar von Stieler (1632–1707) ist deshalb der Erinnerung wert, weil er als einer der ersten die Bedeutung der Zeitungen erkannte. „Zeitungs Lust und Nutz“ heißt ein Buch Stielers, mit dem sich noch heute Publizistikstudenten beschäftigen.7
Gegen das „Alamodewesen“, den Nachahmungseifer, formierte sich Widerstand. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten Klubs gebildeter Bürger auf den Plan, die sich gegen die Verwendung von Fremdwörtern aussprachen und, wie die „Fruchtbringende Gesellschaft“, für das Deutsche den Rang einer Literatursprache reklamierten. Bisweilen verstieg sich der Sprachpatriotismus zu einem skurrilen Reinigungswahn, der weder Fremd- noch Lehnwörter gelten lassen wollte. Fahnenschwenker der Deutschtümelei wie der Schriftsteller Philipp von Zesen empfahlen, aus Mumie „Dörrleiche“ zu machen; der Anatom sollte zum „Entgliederer“ werden.8 Das ging sogar den Nazis zu weit, die sich davon distanzierten.9
Im 19. Jahrhundert wandte sich die Aufmerksamkeit der Orthographie zu. Politisch war Deutschland jetzt durch Bismarcks Reichsgründung geeint. Trotzdem schrieb man in Bayern weiterhin anders als in Württemberg, in Preußen anders als in Sachsen. Sogar der Kleinstaat Mecklenburg-Strelitz leistete sich ein eigenes Regelwerk. Das orthographische Durcheinander war allgemein. „Nicht zwei Lehrer derselben Schule und nicht zwei Korrektoren derselben Offizin [d.h. Druckerei, A.d.V.] waren in allen Stücken über die Rechtschreibung einig, und eine Autorität, die man hätte anrufen können, gab es nicht“, klagte Konrad Duden rückblickend.10 Der Gymnasialdirektor veröffentlichte 1872 zusammen mit Kollegen einen ersten Regelkatalog nebst Wörterbuch. Der sogenannte „Schleizer Duden“ brachte eine Entwicklung ins Rollen, die zwanzig Jahre später mit der Verwirklichung einer einheitlichen Rechtschreibung für das gesamte deutsche Sprachgebiet ihren vorläufigen Abschluß fand (1901). Seither schrieb man Zigarette statt Cigarette, Akkusativ statt Accusativ, es blieb beim umstrittenen ph (Photograph) und dem noch umstritteneren ß (Fuß), hingegen fiel das h hinter dem t (Tau statt Thau), wofür der enttäuschte Satiriker Karl Krauss dem Berufsstand des Orthographen einen Nasenstüber verpaßte, indem er ihn mit f schrieb: „Nicht Wahn ist, was er tut, er ist kein Thor,/er müt sich brav./ Doch hat er wol für Gottes Wort kein Ohr,/der Ortograf.“11
Eine Instanz mit Regelkompetenz, die Konrad Duden angemahnt hatte, schuf die Verständigung von 1901 nicht. Ihre Stelle nahm allmählich „der Duden“ ein, ein immer wieder aktualisiertes Wörterbuch. Der zur halbstaatlichen orthographischen Autorität geronnene „Duden“ überstand die Rechtschreibreformen von 1996 und 2006 und den Übergang in die Digitalität. In einem Punkt wurden ihm allerdings die Grenzen aufgezeigt: Den Trend zur Beliebigkeit, der seit den siebziger Jahren durch eine sich als fortschrittlich ausgebende Schulpädagogik in die Rechtschreibung einzog, vermochte er nicht aufzuhalten.
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