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Die Deutschen und ihre Franzosen: Eine Amour fou über 1000 Jahre Nach 1945 sind sich Deutschland und Frankreich so nahegekommen wie nie zuvor in der Geschichte. In Europa bestimmt das Tandem Paris-Berlin den politischen Takt. Die Partnerschaft am Rhein ist zu einer festen Größe geworden. Doch das war nicht immer so! Günter Müchler zählt nicht nur wegen seiner fulminanten Napoleon-Biographie zu den profundesten Frankreich-Kennern. In »Beste Feinde« schildert er in abgeschlossenen, glänzend geschriebenen Vignetten, wie und warum sich die rivalisierenden Nachbarn seit Jahrhunderten bekämpfen, schmähen - und lieben! Denn insgeheim respektieren die Franzosen die »boches« und beneiden die Deutschen die »Froschfresser«. - Die deutsch-französische Geschichte - charmant, pointiert und kurzweilig erzählt - Wie das Französische trotz jahrhundertelanger Rivalität zur europäischen Leitkultur wurde - Wie der Élysée-Vertrag die deutsch-französische Freundschaft besiegelte - Überblick über die wechselhafte Geschichte der beiden zentralen Länder EuropasKomplizierte Beziehungen und ein Happy End: Der lange Weg zum europäischen Gedanken Seit im 9. Jahrhundert das Reich Karls des Großen in ein westfränkisches und ein ostfränkisches Reich zerfiel, waren beide Länder schicksalhaft aneinander gebunden. Günter Müchler zeigt mit leichter Hand die ganze Bandbreite der deutsch-französischen Beziehungen: die Kämpfe - von der Schlacht bei Bouvines 1214 bis zum Zweiten Weltkrieg -, den Kulturaustausch - von Madame de Staël bis Heinrich Heine -, und die gegenseitige Konkurrenz und Inspiration - von Ludwig XIV. bis Valéry Giscard d'Estaing. Sein Buch ist ein Lesegenuss für kulturhistorisch Interessierte und literarisch Bewanderte, für Frankophile wie Frankophobe, kurz: für historische Gourmands.
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Seitenzahl: 400
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wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.
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Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz
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© Tomi Ungerer Estate/Diogenes Verlag AG Zürich
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ISBN 978-3-8062-4424-3
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eBook (PDF): 978-3-8062-4508-0
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Einleitung
1 Kaiser Ottos Waterloo
2 Der Türke: „Erbfeind der Christenheit“
3 Fuggers Geld verhindert Franz I.
4 Tacitus und die „deutsche Einfalt“
5 Vom Nachahmungseifer der Deutschen
6 „Die Völker zum Weinen bringen“: Franzosen wüten in der Pfalz
7 Revolution I: „Oh, wenn ich itzt Franzose wäre“
8 Revolution II: Die Mainzer Jakobiner
9 Revolution III: La belle mort des Adam Lux
10 Hochmut und Vorurteil
11 „Vergessen Sie nicht, daß ich Karl der Große bin“
12 Die Schöne und das Biest
13 Der Tod des Buchhändlers Palm
14 Im Reich des Königs Lustigk
15 Agamemnon in Erfurt
16 Eine Französin in Deutschland
17 Heinrich von Kleist: „Schlagt ihn tot!“
18 Ernst Moritz Arndt erfindet die Erbfeindschaft
19 Autodafé auf der Wartburg
20 Jahn und die gescheiterte Jugendrevolte
21 Grenzgänger und Vermittler
22 „Hinauf, Patrioten, zum Schloß!“
23 Victor Hugo am Schicksalsfluss
24 „Die Wacht am Rhein“
25 Frankreich entdeckt den Erbfeind
26 Zwischen Mühlsteinen: Das Elsass
27 Kultur contra Zivilisation: Der Erste Weltkrieg
28 Vercors, Camus und der „Erzengel in der Hölle“
Epilog: Von Reims nach Verdun
Anhang
Literatur
Anmerkungen
Personenregister
Bildnachweis
Mitten im Krieg von 1870/71 schrieben sich der französische Philosoph Ernest Renan und sein deutscher Kollege David Friedrich Strauss Briefe. An einer Stelle der Korrespondenz brach bei Renan die Verzweiflung durch: „Das große Unglück der Welt ist, daß Frankreich Deutschland nicht versteht und Deutschland Frankreich nicht.“1
Andere Zeiten? Gewiss. Seit 1945, seit Ende des zweiten „Dreißigjährigen Krieges“ (de Gaulle), sind Deutsche und Franzosen einander so nahegekommen wie nie zuvor in der Geschichte. Von den Regierungen gefördert, ist ein dichtes Beziehungsgeflecht entstanden. Städtepartnerschaften und Jugendaustausch haben millionenfache Begegnungen herbeigeführt. In Europa bestimmt das „Tandem“ Paris-Berlin den politischen Takt. Vielerorts in der Welt gilt die deutsch-französische Freundschaft als Markenzeichen und als Beweis dafür, dass Fortschritt in den Beziehungen rivalisierender Völker und Staaten möglich ist.
Institutionell verfugt und von breiter Zustimmung getragen, ist die Partnerschaft am Rhein zu einer festen Größe geworden, zu einer Art Besitztitel, der in kaum einer Risikoanalyse auftaucht. Manchmal würde man sich mehr Wachsamkeit wünschen. Nichts auf der Welt ist für immer gesichert. Die Klopfzeichen sind unüberhörbar. Nach dem Abschied von der globalen Bipolarität droht dem alten Kontinent die Randständigkeit. Nationalistisches Ego-Denken greift um sich. Sollte es in Europa übermächtig werden, würde auch die deutsch-französische Freundschaft Schaden nehmen.
Dass Nachbarschaft Freundschaft begründet, ist weder in der Natur noch in den Staatenbeziehungen die Regel. Gute Nachbarschaft will gewollt sein. Sie kommt zustande durch Rücksichtnahme, die die Kenntnis des Anderen und die Respektierung seiner Interessen voraussetzt. Ein weiterer Zugang ist gemeinsam erfahrenes Leid. Wer begriffen hat, dass Feindschaft nur Unheil bringt, wird bereit sein, neue Wege zu gehen.
Deutsche und Franzosen mussten erst durch die Schule jahrhundertelanger Feindschaft gehen, ehe sie sich eines Besseren besannen. Es war nach dem schrecklichsten aller Kriege, dass Freundschaft als Landmarke künftiger nachbarschaftlicher Beziehungen überhaupt gedacht werden konnte. Adenauer und de Gaulle waren realistische Visionäre. Sie betrachteten Deutschland und Frankreich in einem sehr nüchternen Sinn als Schicksalsgemeinschaft. Schuman und Monnet fanden ein geeignetes Mittel, die Transformation von der Erbfeindschaft zur Freundschaft zu organisieren: die Vereinigten Staaten von Europa. Zwei Generationen danach steht fest: Das Experiment ist geglückt. Die Leistung kann nur ermessen, wer auf die Geschichte der Erbfeindschaft zurückschaut. Das ist der Sinn dieses Buches.
Im Mittelalter lebten Deutsche und Franzosen friedvoll nebeneinander. Bloß ein einziges Mal fielen sie übereinander her. In der Schlacht von Bouvines zog Kaiser Otto IV. den Kürzeren gegen König Philipp II. August. Nebenbei bemerkt bezeichneten die Beifügungen „deutsch“ und „französisch“ damals nicht Völker, sondern Himmelsrichtungen. Die Deutschen waren die Ostfranken, die Franzosen die Westfranken, Zweige eines Baumes. Dass Bouvines die kriegerische Ausnahme war, kam so, weil die Interessen beider aus dem karolingischen Imperium hervorgegangenen Reiche früh auseinanderliefen und sich ihre Wege deshalb nicht kreuzten. Die deutschen Kaiser nutzten ihre Kräfte in einer Vielzahl von Italienzügen ab. Die Hauptbeschäftigung der französischen Könige bestand in der Abwehr ihrer mächtigsten Vasallen, der Engländer.
Das Wort „Erbfeind“ tauchte zuerst unter Kaiser Maximilian I. auf. Mal wurde das Etikett den Franzosen aufgeklebt, mal den Türken, dem „Erbfeind der Christenheit“. In der Zeit Maximilians entbrannte der Zweikampf Habsburg gegen Valois, eine dynastische Rivalität, die Europa über lange Zeit in Atem hielt. Auch jetzt zählten nationale Scheidungen noch wenig. 1519 hätten die deutschen Kurfürsten Franz I. von Frankreich bedenkenlos zum Kaiser gewählt, wären die Bestechungsgelder Jakob Fuggers nicht so reichlich für den Enkel Maximilians geflossen, der als Karl V. den Thron bestieg.
In der Neuzeit zählten die „Häuser“, nicht die Völker. Ein zusätzliches Loyalitätsmuster entstand durch die Glaubensspaltung. Man war einer konfessionellen Gruppe zugehörig und bestimmte den eigenen Platz in scharfer Abgrenzung zur Gruppe der Anderen. Die Anderen, das waren aus reformatorischer Sicht die „Welschen“, Angehörige des romanischen Sprachraums wie die Franzosen, die dem Papsttum anhingen und verdorben waren wie die „ganze Rotte Sodoms“ (Luther). Das Stereotyp des sittenlosen Franzosen hat hier seinen Ursprung. Zur Selbstidentifikation bot die wiederentdeckte Tacitus-Schrift über die Germanen eine Vorlage. Tacitus hatte die nördlichen Barbaren als ein durch keine Zivilisation verbogenes Urvolk beschrieben. Daraus destillierten Humanisten die „deutsche Einfalt“. Mochten die Deutschen auch grob in ihren Gebräuchen sein, so waren sie doch gerade und unverbildet und unterschieden sich positiv von französischer Eitelkeit und Raffinesse.
Frankreich ging aus dem Dreißigjährigen Krieg gestärkt hervor, Deutschland befand sich am Tiefpunkt. Ludwig XIV. konnte die Pfalz ohne Gegenwehr verwüsten. Erstmals trat Frankreich als aggressive und kriegerische Macht in Erscheinung. Dessen ungeachtet war im Barock das Französische die unbestrittene Leitkultur. Die deutschen Fürsten bauten große Schlösser und geometrische Gärten à la Versailles, und wer auf sich hielt, trug französische Kleidung und übte sich in geistvoller Konversation. Über die deutsche Krankheit Nachahmungssucht schrieben Philosophen anklagende Traktate, doch nur mit mäßigem Erfolg.
Gleich, ob man das Französische anhimmelte oder verurteilte: Die deutsche Oberklasse war fest auf Frankreich fixiert. Daran änderte auch die Revolution nichts. Jetzt waren es nicht mehr Äußerlichkeiten, die die Nachbarn im Osten magisch anzogen, sondern die Verlockungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In großer Zahl pilgerten Intellektuelle nach Paris, dem Schauplatz des Weltspektakels, um sich alsbald desillusioniert abzuwenden. Mit der Rigorosität von Konvertiten bestritten die Enttäuschten den Franzosen das Recht, die Fahne der Freiheit voranzutragen, und empfahlen als deutschen Weg zur Freiheit die Reform, die Revolution von oben. Mit dem Aufstieg Bonapartes zog Frankreich die Deutschen dann wieder in den Bann. Welche Kraft ging doch von der nation une et indivisible aus! Und wie schwach war Deutschland dagegen! Es den Franzosen gleichzutun, den deutschen Nationalstaat zu bauen, stand ab jetzt auf der Tagesordnung. Doch zuerst musste Napoleon beseitigt werden. „Schlagt ihn tot! Das Weltgericht, fragt euch nach den Gründen nicht!“, eiferte Heinrich von Kleist, und andere Dichter folgten ihm. Nach der Katastrophe der Großen Armee in Russland war die Situation da. Der Kampf gegen die Fremdherrschaft wurde zur nationalen Sache.
Eine Sonderstellung in der Phalanx nationalistischer Vordenker nimmt Ernst Moritz Arndt ein. Arndt dachte über die Befreiung hinaus. Er ahnte, dass nach dem Sieg über Napoleon die Deutschen wieder zurückfallen würden in die alte Lethargie und Zersplitterung. Der Franzosenhass, den er predigte, sollte deshalb mehr bewirken als eine momentane Aufwallung, die nötig war, um den Feind über den Rhein zu treiben. Der Hass sollte von Dauer sein, weil die Deutschen einen „Vereinigungspunkt“ brauchten, um einig zu bleiben und bei sich selbst zu sein. „Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für immer“, schrieb Arndt. Der Hass solle glühen „als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen“. Damit stellte Arndt das Verhältnis zu den Nachbarn auf eine historisch neue Stufe. Der Hass auf Frankreich wurde als Hebel zur Herstellung der Einheit gleichsam institutionalisiert. Es entstand der Mythos der Erbfeindschaft.
Im Vormärz änderte sich die Kampflage. Hauptgegner der Liberalen mit ihrer Doppelforderung nach Freiheit und Nation war das System Metternich, das nach dem Sieg über Napoleon weder Demokratie noch Einheit zugelassen hatte. Für eine Weile trat Frankreich als Verhinderer der deutschen Sehnsüchte in den Hintergrund, die Revolution von 1830 ließ sogar die alte Liebesbeziehung wieder aufflammen. Arndts Hasslehre hatte sich nicht durchgesetzt. Dass noch Glut unter der Asche war, zeigte sich dann allerdings 1840. In der Rheinkrise, mutwillig vom Zaun gebrochen durch die Regierung in Paris, bliesen die Poeten die Kriegstrompeten gegen die „Welschen“ wie zuletzt 1813.
Die Rheinkrise rückte das Deutschland-Bild der Franzosen zurecht. Lange war Deutschland transrhenanisch nur ein geografischer Begriff gewesen. Frankreich hatte sich mit Habsburg/Österreich duelliert. Es hatte den Aufstieg Preußens in die Liga der Großmächte zur Kenntnis genommen. Aber Deutschland? Die ungefügte Landmasse in der Mitte, ob Heiliges Römisches Reich oder Deutscher Bund, musste machtpolitisch nicht ernst genommen werden. Dass es überhaupt lohnend sei, sich für Deutschland zu interessieren, vermittelte als erste Madame de Staël. Aber ihr Erfolgsbuch De l’Allemagne, 1814 erschienen, war politisch entkernt. Es schilderte Deutschland als Pflanzstätte der Philosophie, der Musik und der Religiosität, die Deutschen als ebenso tiefsinnig wie tatenarm. Erst in der Rheinkrise machten die Franzosen die Entdeckung, dass die Deutschen durchaus zu nationaler Leidenschaft fähig waren. Wie schwer die Anpassung an die Realität fiel, wurde noch während des Kriegs 1870/71 sichtbar. Obwohl die süddeutschen Staaten mit zu den Waffen gegriffen hatten, tat die französische Propaganda lange so, als führte Frankreich einen Krieg allein gegen Preußen.
Der Kriegsausgang war für Frankreich in jeder Weise bitter. Man hatte nicht bloß eine Schlacht verloren. Man musste zusehen, wie der Rang der ersten Macht auf dem Kontinent an einen neuen Rivalen überging, ein Reich, dessen Gründungsakt ausgerechnet in Versailles vollzogen worden war, was als schlimme Demütigung empfunden wurde. Noch schlimmer war die erzwungene Abtretung Elsass-Lothringens, ein Fehler Bismarcks, denn, dass Frankreich den Verlust nicht hinnehmen würde, war abzusehen. In der Geschichte der Erbfeindschaft markierte der Krieg von 1870/71 einen Wendepunkt. War der Mythos bis dahin eine Sache vor allem der Deutschen gewesen, zogen die Franzosen jetzt nach. Die Erbfeindschaft wurde gleichschenklig.
Weil beide Seiten gefangen waren vom Fatalismus unabänderlicher Gegnerschaft, war der Krieg von 1914–1918 eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Es versagten nicht nur die üblichen Verdächtigen, einäugige Politiker, stupide Militärs und wüste Imperialisten. Auch das geistige Klima war vergiftet. In den Betrachtungen eines Unpolitischen, geschrieben im letzten Kriegsjahr, entwickelte Thomas Mann die bizarre These, im Weltkonflikt gehe es – alles oder nichts – um die Verteidigung der (deutschen) Kultur gegen die (westlich-französische) Zivilisation. Es sollte nicht lange dauern, und andere würden vorführen, wie man Kultur und Zivilisation, die schwache Schutzhaut über der Unmenschlichkeit, mit einem Schlag zerreißt.
Elsass-Lothringen fiel nach der Niederlage des Reiches an Frankreich zurück. Der Schriftsteller René Schickele bemühte sich, die leidvolle Grenzlanderfahrung für die Überwindung des Bruderkampfes fruchtbar zu machen. Dem elsässischen Brückenbauer widmet dieses Buch ebenso einen Abschnitt wie dem Abbé Franz Stock, der als Wehrmachts-Pfarrer im besetzten Paris Hunderte todgeweihte Résistance-Kämpfer auf dem Weg zur Hinrichtung am Mont Valérien begleitete.
Im Mittelalter kannten Ostfranken und Westfranken, Deutsche und Franzosen keinen Hader. Nur einmal kamen sie sich zu nahe. In der Schlacht von Bouvines zog Kaiser Otto IV. den Kürzeren.
Sie sind Nachbarn und obendrein nahe Verwandte. Dennoch leben Deutsche und Franzosen das ganze Mittelalter über friedlich nebeneinander. Ihre Erbfeinde sind andere. Die französischen Könige liegen mit den Engländern in Dauerfehde, die deutschen Könige mit den Päpsten. Nur einmal greifen die Nachbarn gegeneinander zu den Waffen. Dabei zieht Kaiser Otto IV. den Kürzeren.
Am 27. Juli des Jahres 1214 kommt es in der Ebene von Bouvines zu einer großen Feldschlacht. Ein deutsch-englisches Heer, angeführt von Kaiser Otto IV., trifft auf die Streitmacht des französischen Königs Philipp II. August. Bouvines, niederländisch Bovingen, liegt zwischen Lille und Tournai; heute ist es ein Dorf mit weniger als tausend Einwohnern. Fünf Stunden zieht sich das Ringen hin. Der Personaleinsatz ist mit 16 000 Rittern und Fußsoldaten für die Zeit außerordentlich hoch. Am Ende räumt Otto, der eigentlich über die stärkeren Bataillone verfügt, das Feld. Der Sieg im ersten militärischen Konflikt von Franzosen und Deutschen gehört dem Franzosenkönig.
Der Kampf steht von Anfang an unter schlechten Vorzeichen. Der 27. Juli ist ein Sonntag. Folglich dürfte gar nicht gekämpft werden, denn am Tag des Herrn ist christlichen Rittern nicht nur untersagt, der Fleischeslust zu frönen, verboten sind genauso Fehden und andere standesübliche Formen des Blutvergießens. Otto zögert denn auch, den Sonntagsfrieden zu brechen, lässt sich aber von einem gotteslästerlichen Bundesgenossen, dem Grafen Hugues de Boves, umstimmen. So erzählt uns jedenfalls ein zeitgenössischer Bericht. Musste Otto den Frevel mit seiner Niederlage büßen? Den Menschen des Mittelalters hätte die Erklärung eingeleuchtet. Sie waren daran gewöhnt, in allen außergewöhnlichen Ereignissen die lenkende Hand Gottes zu erkennen.
Die Schlacht entbrennt mittags um 12 und zieht sich bis 17 Uhr hin. Wilhelm Brito schildert sie in seiner Chronik wie einen Zweikampf. Zuerst gerät König Philipp ins Gedränge. Dann, nachdem tapfere Gefährten ihn vor Tod oder Gefangennahme bewahrt haben, schlägt das Pendel um. Nun ist Otto derjenige, der um sein Leben fürchten muss. In Britos Erzählung führt ein Ritter Girard mit dem Beinamen la Truie („das Schwein“) die Entscheidung herbei. Laut Brito stieß Girard „mit einem Messer nach des Kaisers Brust, und als er nicht durchkam, stieß er ein zweites Mal zu, um den Fehlschlag wettzumachen. Während er so auf Ottos Leib zielte, traf er den Kopf des sich aufbäumenden Pferdes, und das mit großem Geschick geworfene Messer drang diesem durch das Auge ins Gehirn. Das Pferd, das den heftigen Schlag wohl spürte, bekam es mit der Angst und wurde wild. Es wandte sich in die Richtung, aus der es gekommen war, so daß Otto unseren Rittern den Rücken zeigte und eiligst davonjagte.“2
Die einprägsame Darstellung entspricht dem Zeitbedürfnis, komplexe Ereignisse in Bildern und Personen zu vermitteln. Eins zu eins nehmen darf man sie nicht. Im Krieg hat die Wahrheit immer einen besonders schweren Stand, das war schon damals so. Als Philipps Kaplan ist es dem bretonischen Kleriker Brito vor allem darum zu tun, den Ruhm seines Königs zu mehren. Der erstrahlt umso heller, wenn die Gegenpartei als besonders furchterregend dargestellt wird. Daher hebt Brito den wilden Mut der Deutschen hervor. Doch selbst dieser Furor teutonicus, der schon römischen Schriftstellern an den Germanen auffiel, vermag König Philipp nicht zu bremsen. Otto, der eigentlich als Favorit gestartet war, verlässt die Walstatt als Geschlagener. Das Ausmaß der Niederlage unterstreicht der Verlust der Standarte. Der Reichsadler, dem während des Hauens und Stechens die Schwingen gebrochen sind, fällt Philipps Anhängern in die Hände. „Von dieser Zeit an“, urteilt ein anderer Chronist, der Deutsche Konrad von Lauterberg, „sank der Ruf der Deutschen bei den Welschen.“3
Bouvines gehört zweifellos zu den bedeutendsten Schlachten des Mittelalters, vergleichbar mit der auf dem Lechfeld 955. Mit maßvoller Zuspitzung lässt sich behaupten, dass die französische Nationalgeschichte ohne den Sonntag von Bouvines einen anderen und weniger glänzenden Verlauf genommen hätte. Unsinnig wäre es dagegen, das Geschehnis von 1214 als Flammenschrift an der Wand zu lesen, als Vorzeichen eines späteren, Epoche übergreifenden Völkerhasses. Den mittelalterlichen Kriegen ist der nationale Stachel noch vollkommen fremd, deutsch und französisch kennzeichnet Himmelsrichtungen, aus denen die Ritter kommen – und selbst das stimmt nur eingeschränkt: Bei Bouvines ficht in den Reihen Ottos neben sächsischen und niederlothringischen Rittern auch der Graf von Flandern, ein Vasall König Philipps. Philipp kann auf seinen Vetter zählen, den Grafen von Auxerre, nicht aber auf dessen Sohn, der für Otto und gegen die Krone Frankreichs das Schwert führt. Otto selbst ist, durch familiäre Fügung, Graf von Anjou und Herzog von Aquitanien.
Die mittelalterliche Welt ist kunterbunt wie ein Wimmelbild. Grenzen haben nur einen ungefähren Charakter. Sie verändern sich ständig und werden von der Siedlungsbevölkerung kaum wahrgenommen. Der Rhein stellt ein Hindernis dar, aber es dauert noch Jahrhunderte, bis er zum Zankapfel wird. Stärker als das Trennende ist das Bewusstsein gemeinsamer Wurzeln, das auch nach dem Zerfall des fränkischen Großreichs lebendig bleibt. Man spricht von sich selbst als West- oder als Ostfranken und verehrt in Karl dem Großen den Stammvater, der allen gleichermaßen gehört. Erst allmählich verblasst die Erinnerung und macht einer unterschiedlichen Eigensicht Platz. Im 11. Jahrhundert fangen die Ostfranken an, sich deutsch zu nennen. Den fränkischen Familienamen tragen jetzt allein die Franzosen. Für das beiderseitige Verhältnis hat das zunächst keine Folgen. Man lebt weiterhin in der res publica christiana. Das einende Band des Glaubens bedeutet viel. Die Kreuzzüge sind europäische Gemeinschaftsunternehmen, der kulturelle Austausch ist umfassend. Literarisch geben die Franzosen den Ton an. Der große Chrétien de Troyes, Schöpfer des höfischen Romans, beeinflusst Barden rechts des Rheins. Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach übertragen Chrétiens auf Altfranzösisch verfasste Erec und Yvain sowie Perceval in mittelhochdeutsche Verse. Umgekehrt lehrt der in Köln verehrte Dominikaner Albertus Magnus auch an der Pariser Sorbonne, wo er Studenten der ganzen Christenheit mit den Lehren des „heidnischen“ Aristoteles vertraut macht. Die bahnbrechende gotische Kirchenbaukunst wandert von West nach Ost. Denselben Weg nehmen die wirkmächtigen monastischen Reformbewegungen. Die besonders erfolgreichen Zisterzienser geben sich 1115 eine Verfassung, die durch ihre Modernität verblüfft: Ihre Klöster werden als selbstständige Wirtschaftseinheiten geführt. Die Geschicke des Ordens lenkt das Generalkapitel, ein aus allen Äbten bestehendes Kollegialorgan, das einmal pro Jahr im burgundischen Cîteaux zusammentritt und bindende Beschlüsse fasst. Wer nach den Ursprüngen subsidiären und demokratischen Denkens in Europa forscht, kommt an den Zisterziensern nicht vorbei. In Deutschland tragen sie viel zur Ostkolonisation bei, und da der Orden bald im ganzen Abendland Niederlassungen unterhält, ist Cîteaux der Ort, wo man über das, was Europa bewegt, besser informiert ist als an jedem Fürstenhof.
Es ist ein überwiegend friedvolles Nebeneinander, das franci und teutonici das ganze Mittelalter über pflegen. Einmal, 1124 rückt Heinrich V. gegen Ludwig VI. aus, der damals die französische Krone trägt. Aber Heinrich macht bei Metz kehrt, ohne dass man die Klingen gekreuzt hätte. So bleibt Bouvines die einzige kriegerische Ausnahme in einer erstaunlich langen Friedensperiode. Weshalb die Nachbarn sich nicht in die Quere kommen, liegt hauptsächlich daran, dass sie getrennte Wege gehen.
Die Auseinanderentwicklung setzt mit Otto dem Großen ein. Der Liudolfinger verschafft sich die Herrschaft auch über Italien. 962 lässt er sich in Rom vom Papst zum Kaiser krönen. Von da an verstehen sich die ostfränkischen Könige als römische Kaiser. Dieses Kaisertum ist zwiespältig. Einerseits sichert es Otto und seinen Nachfolgern die Vorrangstellung unter den Königen des Abendlandes. Andererseits bildet Deutschland /Ostfranken jetzt nur noch die Teilmenge einer Universalmonarchie, die neben Italien das frühere karolingische Zwischenreich Lotharingen und zeitweilig auch Burgund mit einschließt. Die Ottonen und mehr noch die Salier und Staufer sind Reisekaiser, die zur Aufrechterhaltung ihrer Stellung in Italien ständig unterwegs sind und deshalb die Herrschaftssicherung im Stammland vernachlässigen. Italienfeldzüge gehören für die deutschen Könige bis hinein ins 15. Jahrhundert zum Pflichtprogramm. Achtzehn Könige wagen die mühsame und gefahrvolle Alpenüberquerung, einige von ihnen mehrfach.4 Der Preis der ständigen Abwesenheit ist hoch, trotzdem halten die Kaiser am „Imperium Romanum“ fest, auch nachdem sich für das zwischenzeitlich geheiligte Römische Reich die Namensanfügung „deutscher Nation“ eingebürgert hat. Unbeirrt wehren die Kaiser jeden Versuch, sie in ihrem Selbstverständnis auf das „Regnum Teutonicum“ zu reduzieren, als Beleidigung und Angriff ab. So bleibt es beim „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ bis zu seinem Erlöschen im Jahr 1806. Den ersten deutschen Kaiser, der sich auch so nennt, bekommen die einstigen Ostfranken 1871 mit Wilhelm I.
Seit Otto I. verstanden sich die ostfränkischen Könige als römische Kaiser und die wahren Erben Karls des Großen. Den westfränkischen Vettern gefiel das wenig, aber sie hatten genug Ärger mit den Engländern. Otto I. und seine erste Frau Editha als Sitzstatuen am Magdeburger Dom.
Als imperiale Herrscher erheben die ostfränkischen Könige seit Otto dem Großen den Anspruch, die wahren und einzigen Erben Karls des Großen zu sein. Den westfränkischen Vettern gefällt das wenig. Der Usurpation entgegenzutreten, fehlen ihnen allerdings die Mittel. Die Schwäche der Capetinger rührt daher, dass sie ihre Vasallen nicht im Griff haben. Zeitweilig reicht ihre Autorität kaum über die Île de France, das heißt über das Umland von Paris hinaus. Die mächtigsten Vasallen kommen aus England. 1066 hat der Herzog der Normandie über den Ärmelkanal gesetzt und die Macht in England an sich gerissen. Aber die Heldentat Wilhelms des Eroberers, die auf dem 68 Meter langen Wandteppich von Bayeux monumental gefeiert wird, trägt dem französischen Königtum nur Schaden ein. Denn Wilhelm und die, die ihm auf dem Thron von England folgen, denken nicht daran, ihre kontinentalen Machtpositionen aufzugeben. Ihr angevinisches Reich umfasst um die Mitte des 12. Jahrhunderts neben der Normandie die Herzogtümer Bretagne, Aquitanien und Gascogne sowie die Grafschaften Anjou, Maine und Tourraine, ein Gebiet halb so groß wie das heutige Frankreich und bedeutend größer als das französische Krongut zu dieser Zeit. Bis zum Ende des Hundertjährigen Krieges können sich Frankreichs Könige ihres Thrones nicht sicher sein.
Der englisch-französische Zweikampf bildet auch das Layout für die Schlacht von Bouvines. Dem starken Capetinger Philipp II. Augustus ist es gelungen, den anglo-fränkischen Einfluss zurückzudrängen. Damit fordert er den englischen König Johann („Ohneland“) heraus. Johann schließt ein Bündnis mit Otto IV. Die Verbindung liegt nahe. Der Welfe Otto ist als Neffe von Richard Löwenherz dem englischen Königshaus eng verwandt und in England erzogen worden. Außerdem braucht Otto einen Befreiungsschlag in eigener Sache. Seine Krone wird ihm streitig gemacht vom Staufer Friedrich II., der seinerseits den Papst und den französischen König hinter sich hat. Ein Sieg über Philipp, so rechnet Otto, würde den Thronstreit mit einem Schlag zu seinen Gunsten entscheiden.
Der Ausgang der Schlacht, den wir kennen, hinterlässt tiefe Spuren in der europäischen Geschichte. Geschwächt durch die Niederlage, muss Johann den englischen Baronen in der Magna Charta von 1215 erhebliche Zugeständnisse machen. Otto wird seines Lebens nicht mehr froh. Er stirbt 1218 politisch isoliert auf der Harzburg. Friedrich II., dem Philipp nach dem Sieg den erbeuteten Reichsadler mit den gebrochenen Schwingen übersendet, ist nun unumstritten Kaiser, allerdings einer, der seinen Mittelpunkt in Italien hat und der durch sein universales Amtsverständnis das Siechtum des deutschen Königtums beschleunigt. Für Deutschland geht es nach Bouvines bergab, für Frankreich bergauf. Philipp II. Augustus gewinnt infolge des Sieges die Normandie und das Anjou. Es beginnt der allmähliche Aufstieg der Krone zur Zentralgewalt. Symptomatisch für die gegenläufige Entwicklung sind die Bestattungsorte Philipps und Friedrichs. Philipp findet seine letzte Ruhe in Saint-Denis bei Paris. Friedrichs Sarg steht nicht in Speyer, sondern im Dom von Palermo auf Sizilien.
Süleyman der Prächtige und seine Janitscharen scheiterten 1529 bei dem Versuch, Wien zu erobern. Der „Goldene Apfel“, wie die Türken die Stadt nannten, widerstand dem Ansturm mit knapper Not. Kupferstich von Dirk Coornhert.
Mit Maximilian I. geht das Mittelalter zu Ende. Der „letzte Ritter“, wie er genannt wird, war wohl der erste, der den Franzosen das Etikett „Erbfeind“ aufklebte. 1498 begründet er seine Forderung an die vorderösterreichischen Stände, ihn gegen Frankreich zu unterstützen, mit der Behauptung, dieses sei „uwer rechter nattürlicher vynd“. 1513 spitzt er seine Feind-Rhetorik zu. Frankreich gilt ihm jetzt nicht mehr nur als der natürliche Feind. Es ist nun schlechterdings der „Erbfeind, der gegen den Rhein steht“.5 Die Absicht des Habsburgers ist leicht zu durchschauen. Sein Haus wetteifert mit der französischen Valois-Dynastie um die Vorherrschaft in Europa. Er braucht Geld und Truppen und bekniet die Reichsstände, die sich aber zieren. Mit der Tätowierung Frankreichs als Feind der besonderen Art will er den Druck auf die Reichsstände erhöhen. Ein paar Jahre später kommt der „Erbfeind“ wieder zum Einsatz, allerdings unter anderen Vorzeichen. 1529 stehen die Türken vor Wien, der „Erbfeind der Christenheit“.
Im Abendland hat man von den Türken keine genaue Vorstellung. Nur so viel glaubt man zu wissen, dass überall dort, wo sie ihren Halbmond aufpflanzen, es mit der Herrschaft des Kreuzes vorbei sei. Außerdem geht ihnen der Ruf voraus, beispiellos blutrünstig zu sein. Es heißt, sie vergewaltigten christliche Frauen und töteten oder versklavten Kinder. Über jeden Zweifel erhaben sind ihr kriegerischer Mut und ihre militärischen Fertigkeiten. Von ihren Reitern sagt man, sie könnten ihren kleinen Bogen sogar im Galopp als todbringende Waffe einsetzen. Das Unheimliche, das die Eroberer mit dem Zeichen des Halbmonds umgibt, sorgt dafür, dass „der Türke“ von den Christen als der Schrecklichste der Schrecken wahrgenommen wird, vergleichbar einer Seuche oder einer Naturkatastrophe.
Angefangen hat alles 1453. In diesem Jahr erobert Sultan Mehmed II. Konstantinopel und macht aus der ehrwürdigen Hagia Sophia, dem Parthenon des byzantinischen Christentums, eine Moschee. In der Folge unterwerfen die Türken den gesamten östlichen Mittelmeerraum. 1480 fallen sie in Kärnten und der Steiermark ein. 1521 kassieren sie Belgrad, 1526 (Schlacht bei Mohács) reißen sie Ungarn an sich. Und nun, 1529, tauchen die Janitscharen Süleymans des Prächtigen vor den Toren Wiens auf, wild entschlossen, den „Goldenen Apfel“, wie sie die Stadt nennen, in ihre Hand zu bekommen.
Mit seiner fünf Kilometer langen und sechs Meter hohen Ringmauer macht Wien auf den ersten Blick den Eindruck einer vorzüglich geschützten Stadt. In Wirklichkeit sind die Verteidigungsanlagen ziemlich marode, sodass eine zur Überprüfung eingesetzte Kommission rät, die Stadt anzuzünden und dem Feind preiszugeben. Das allerdings lehnt Erzherzog Ferdinand, der Enkel Maximilians und Herrscher in den österreichischen Erblanden, entschieden ab. Schanzarbeiten werden angeordnet und Söldner angeworben, um die städtische Miliz zu verstärken. Die erhoffte Befreiungsoffensive aus dem Reich bleibt allerdings aus. Dafür, dass in Wien das Schicksal der Christenheit auf dem Spiel steht, sind die 1600 Reiter, die der Reichstag bewilligt, keine große Sache. Zu allem Überfluss kommt das Ersatzheer zu spät an, um in die Kämpfe einzugreifen.
Als die Türken am 27. September den Belagerungsring um Wien schließen, haben die meisten Einwohner die Flucht ergriffen, allen voran die Wohlhabenden und auch etliche Ratsherren. Mitverantwortlich für den Massenexodus waren Horrornachrichten aus dem ungarischen Ofen. Die Türken hatten Ofen auf ihrem Vormarsch erfolgreich belagert. Doch statt den Verteidigern, wie versprochen, freien Abzug zu gewähren, machten sie die Besiegten nach der Kapitulation nieder. Die Nachricht von dem Massaker löste in Wien Panik aus.6
Die ersten Feinde, die die Eingeschlossenen zu sehen bekommen, sind die berüchtigten Akindschi, berittene Bogenschützen, die wegen ihrer nachgewiesenen Grausamkeit auch als „Renner und Brenner“ bezeichnet werden. Die Avantgarde Süleymans wird ihrem Ruf gerecht. Die Akindschi machen in der Umgebung Wiens alles nieder, was ihnen in die Quere kommt. Ein österreichischer Chronist berichtet: „Die Weiber und Kinder sind den mehreren Teil in der Türken Hand gekommen, und so tyrannisch und erbärmlich mit ihnen gehandelt worden, das es nicht wohl auszusprechen und zu beschreiben ist, welcher große Jammer einem jeglichen Christenmenschen wohl zu beherzigen ist.“7
An Zahl sind die Angreifer den Verteidigern turmhoch überlegen. Intra muros erwarten 17 000 Kämpfer den Ansturm von 110 000 Türken. Die Streiter Süleymans des Prächtigen müssen freilich mit zwei Problemen fertigwerden. Erstens funktioniert der Nachschub nicht, was konkret bedeutet, dass eine sich hinziehende Belagerung keine Option ist. Der Sultan braucht also den raschen Erfolg. Das zweite Problem: Die schweren, mauerbrechenden Kanonen sind im sumpfigen Aufmarschgebiet stecken geblieben. Als Ersatzlösung bietet sich an, den Ringwall, der den „Goldenen Apfel“ umschließt, zu unterminieren. Dementsprechend zerfällt der Kampf in einen ober- und in einen unterirdischen Teil. Oben lösen Attacken der Angreifer und Ausfälle der Verteidiger einander ab; unten treiben die Türken immer neue Stollen, die sie mit Schießpulver zustopfen. Das Schicksal der Wiener hängt davon ab, dass sie die Wühlarbeit des Feindes antizipieren und rechtzeitig durchkreuzen. Zum Glück verfügen sie in ihren Reihen über eine Anzahl Tiroler Bergleute, die für den Untertagekrieg prädestiniert sind.
Am 9. Oktober tritt der Kampf in die entscheidende Phase. Die Türken, allen voran die Kernmannschaft der Janitscharen, konzentrieren ihre Attacken auf den Bereich rechts und links des Kärntnertores, wo sie den Schwachpunkt der Verteidiger vermuten. Am 12. Oktober reißen Minenexplosionen eine große Bresche in die Ummauerung. Doch der folgende Sturmangriff wird zurückgeschlagen. Derselbe Ablauf wiederholt sich am 14. Oktober. Wieder misslingt es den Türken, ihren Vorteil zu nutzen. Einen Tag später erteilt Süleyman den Befehl zum Abzug. Der Proviant geht zu Ende, die Disziplin im Heer lässt nach. Angesichts des herannahenden Winters kommt eine Fortsetzung der Belagerung nicht infrage. Wien ist gerettet.
Trotz des Fehlschlags schreiben die Osmanen den Gewinn des „Goldenen Apfels“ nicht ab. In den nächsten Jahrzehnten dringen sie wiederholt nach Norden vor, allerdings ohne den Kaiser in seinen österreichischen Erblanden ernsthaft zu gefährden. Erst 1683 tauchen die Türken wieder vor Wien auf. Die Belagerung der Stadt scheitert jedoch wie 150 Jahre zuvor. Das Heer des Großwesirs Kara Mustafa Pascha wird in der Schlacht am Kahlenberg von einer deutsch-polnischen Truppenallianz unter dem polnischen König Jan Sobieski schwer geschlagen. Den Schlussstrich unter das osmanische Expansionsstreben zieht Prinz Eugen mit seinem Sieg bei Peterwardein 1716.
Die mehrere Generationen andauernde Türkenangst brennt sich tief in die Seele der damaligen Christenheit ein. Äußere Zeichen halten das Bewusstsein wach, am Abgrund zu stehen. Bereits 1456 ordnet Papst Calixt III. ein regelmäßiges Mittagsläuten der Kirchenglocken an. Die „Türkenglocke“ ist ein Warnsignal und ruft zugleich zum Kreuzzug wider den unheimlichen Feind auf. Beispielhaft für den langen Nachhall historischer Erschütterungen steht die „Türkenglocke“ der Kirche von Maria Gail bei Villach. Erstmalig tritt sie 1478 in Aktion, als türkische Reiterscharen sengend und plündernd Kärnten durchstreifen. Von da an läutete sie jeden Tag pünktlich um 15 Uhr, bis jetzt summa summarum 1,9 Millionen Mal, wie ein Lokalhistoriker berechnet hat. Geblieben ist die Übung, geändert hat sich im Lauf der Zeit der Grund: Längst ruft die Glocke nicht mehr zum Kampf gegen „den Türken“, sondern zu dörflichen Festlichkeiten.8
Die „Türkenglocke“ ist nur ein Mittel unter anderen, welche Kirche und weltliche Obrigkeit einsetzen, damit den Menschen die türkische Bedrohung so präsent bleibt wie die Angst vor dem Jüngsten Tag. „Türkenpredigten“ mahnen die Gläubigen zur Wachsamkeit, „Türkenkollekten“ in den Kirchen sammeln Geld ein wie die „Türkensteuern“, die der Kaiser erhebt, um damit Feldzüge gegen die Verderber der Christenheit zu finanzieren. Eine erhebliche Breitenwirkung erzielen „Türkendrucke“. Flugschriften sind seit der Reformation in Mode, sie agitieren mehr als sie informieren. Die bebilderten „Türkendrucke“ sollen auch die des Lesens Unkundigen schockieren. Beliebte Abbildungen zeigen, wie vierschrötige Krieger mit Turban und Krummsäbel Kleinkinder zweiteilen oder auf Speere spießen.9
Das Abendland atmete auf. Die Türken, „Erbfeinde der Christenheit“, wurden 1683 bei der Schlacht am Kahlenberg von einem Heer unter Jan Sobieski schwer geschlagen. Gemälde, um 1688, von Franz Geffels.
Zweifellos war die Türkengefahr kein Hirngespinst. Hätte Süleyman 1529 den „Goldenen Apfel“ gepflückt, wäre der Landhunger der Osmanen wohl kaum gestillt gewesen. Die Geschichte des Abendlandes hätte einen anderen Verlauf genommen. Zweihundert Jahre lang fielen die Türken wie Heuschreckenschwärme über den Südosten Europas her. Schon aufgrund der schieren Dauer der Plage sahen die Christen in ihnen den hostis sempiternus, den ewigen Feind. Freilich, um vom Erzfeind zum Erbfeind zu avancieren, bedurfte es mehr als eines Komparativs. Das Wort ist in einer anderen Verständniszone angesiedelt. Im Erbfeind (mittelhochdeutsch erbe-vint) schwingt die Erbsünde mit. Als Erbfeind der Christenheit ist „der Türke“ eine Kreatur des Teufels und gleichzeitig Gottes Strafe für die Sünden der Christen. In diesem Sinne tauchen die Türken immer wieder in der zeitgenössischen Literatur auf. Wahrhaftige Beschreybung des glücklichen Friedenreichen Waffensiegs, so die Christenheit hat an dem türkischen Erbfeind, ist eine Schrift aus dem 16. Jahrhundert tituliert. In einem Volkslied aus demselben zeitlichen Umfeld heißt es: „Das der Türk jetzt zu dieser Frist/der allen Christen Erbfeind ist“. 1683, wenige Wochen vor der Schlacht am Kahlenberg, behauptet ein Edikt des Domkapitels Münster, es sei „leyder jedermänniglichen bekandt/was gestalt der Erb-Feynd des christlichen Nahmens der Groß-Türck/mit erschrecklicher Kriegs-Macht/fornemblich dem lieben Teutsch-Landt“ antue.10Luther spricht nicht ausdrücklich vom Erbfeind, bedient sich aber in seinen Schriften Vom Kriege gegen die Türken und der Heerpredigt wider die Türken der satanischen Konnotation: „Der Türke ist unsers Herr Gotts zornige Ruthe und des wütenden Teufels Knecht.“11
Vom solidarischen Weltanschauungskrieg gegen den „Erb-Feynd des christlichen Nahmens“ wollten jedoch nicht alle christlichen Fürsten etwas wissen. Wenn es darauf ankam, ließen viele den Kaiser im Stich, und die „Türkenglocke“ läutete vergebens. Besonders nonchalant verhielten sich die gekrönten Häupter Frankreichs. Verbissen in die Konkurrenz mit den Habsburgern, handelten sie nach der Devise, der Feind meines Feindes ist mein Freund. 1529 stärkte Franz I. Süleyman den Rücken; Ludwig XIV. tat es ihm 1683 gleich, indem er Mehmet IV. glauben ließ, er habe für den Sturm auf Wien seine Unterstützung. Für Könige Frankreichs, die sich nach alter Sitte mit dem Ehrentitel des „allerchristlichsten Königs“ schmückten, war das jeweils ein starkes Stück – ein Stück vormoderner Realpolitik.
Karl V. war Herr über die halbe Welt – und hatte es mit einer Welt von Feinden zu tun. Das Bild zeigt Karl, eingerahmt von seinen Kontrahenten Franz I., Papst Clemens VII., Süleyman I. sowie protestantischen Landesfürsten.
Es fehlte nicht viel, und ein Franzose wäre Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation geworden. Bei der Kaiserwahl des Jahres 1519 ist zunächst Franz I. der Favorit. Dass die Kurfürsten am Ende nicht dem französischen König aus dem Haus Valois, sondern dem spanischen König aus dem Haus Habsburg den Vorzug geben, geht auf eine kaufmännische Entscheidung Jakob Fuggers zurück. Der immens reiche Augsburger Bankier setzt auf die Karte des späteren Karl V. Fuggers Kredit erlaubt es der Habsburg-Partei, den Kurfürsten für ihr Wohlwollen mehr zu zahlen als die Franzosen.
Man könnte Karls Vorgänger, seinen Großvater Maximilian I., einen Sattelkaiser nennen. Mit einem Fuß steht er, der „letzte Ritter“, im Mittelalter, mit dem anderen in der neuen Zeit, die vom Buchdruck, der Kirchenspaltung und der Entdeckung fremder Welten geprägt ist. Neu ist auch, dass in der Politik nichts mehr geht ohne Geld. Maximilian kämpft gegen Türken und Franzosen. Der Zweifrontenkrieg leert die Kassen des Kaisers derart, dass 1519, als er unerwartet stirbt, das Begräbnis auf Pump bezahlt werden muss. Und weil Maximilian nicht mehr dazu gekommen ist, rechtzeitig die Weichen für seinen Enkel zu stellen, bedeutet die Geldknappheit für den absehbaren Schacher ein ernstes Problem.
Die Spannungen mit Frankreich gehen auf das Jahr 1494 zurück, als Karl VIII. von Frankreich mit einem Heer in Süditalien einfällt und damit sowohl dem Kaiser wie den Spaniern ins Gehege kommt. Die politischen Langzeitfolgen sind erheblich. Die Katholischen Könige von Kastilien/Aragon Ferdinand und Isabella auf der einen, Maximilian auf der anderen Seite bündeln ihre Kräfte gegen Frankreich und unterstreichen die Interessengemeinschaft durch eine Doppelhochzeit ihrer Kinder. Damit ist dem dynastischen Zufall Tür und Tor geöffnet. Todesfälle im spanischen Herrscherhaus führen dazu, dass Maximilians Sohn Philipp (der Schöne), Herzog von Burgund, über seine Frau Johanna (die Wahnsinnige) bald auch König von Spanien wird. Als Philipp nach einer Erkältung, die er sich beim Pelotaspiel zugezogen hat, unvermutet stirbt, ist die Reihe an seinem Sohn Karl. Der 1500 in Gent geborene Karl tritt 1516 die Herrschaft in Spanien an. Frankreich, wo inzwischen Franz I. regiert, droht in eine Zwickmühle zu geraten: Habsburger in Österreich, Habsburger in Spanien, Habsburger in Burgund. Wenn Karl jetzt auch noch die Kaiserkrone erwirbt, wird die Umklammerung Frankreichs perfekt sein.
Das ist die Ausgangslage vor der Kaiserwahl. Franz I. weiß, was auf dem Spiel steht. Er weiß auch, wie man die Kurfürsten gewinnen kann. Noch immer haben sie, wenn die Erbfolge nicht vorgeklärt war, ihren Vorteil zu nutzen verstanden. Das ist auch diesmal nicht anders. Karl hat keinen Startvorteil. Er tritt seine Bewerbung als König von Spanien an. Noch nie hat er deutschen Boden betreten. Was bedeutet, dass er auf einer Stufe mit dem französischen Anwärter steht. Also muss man herausfinden, welchem der beiden Konkurrenten die Kaiserwürde am meisten wert ist. So denkt im Kurfürstenkollegium nicht bloß Joachim von Brandenburg, der den Beinamen „Vater der Habsucht“ trägt. Die besten Chancen hat am Anfang der Franzose. Hinter Franz steht der Papst. Außerdem kann Franz tiefer in die Schatulle greifen. „Deutsche“ Bedenken versucht die französische Propaganda geschickt zu zerstreuen. Eine Flugschrift streicht französisch-deutsche Gemeinsamkeiten heraus. „Es ist kein ursach verhanden, darauß die Teutschen der Frantzosen früntschaft und gemainsame fliehen oder nit annemen sollten, diweil die Frantzosen von natur, art und gewohnhait under allen menschen die miltisten und und senfftmütigsten sein, auch sich alzeit gegen den Teutschen, so sy in kaufmans und andern hendlen zu jnen kommen sein, gästlich und am früntlichsten gehalten haben, und zum maisten die Teutschen und Frantzosen vor zeytten ain gemain wesen gehept und s jren ursprung von ainander genommen hond“.12 Erst als Jakob Fugger, zusammen mit anderen Bankhäusern, seine Investitionsentscheidung trifft, schlägt das Pendel um. Fugger garantiert, für den Fall einer Wahl Karls die Wahlkampfkosten der habsburgischen Partei zu finanzieren. Sie belaufen sich schlussendlich auf stattliche 852 189 Gulden. Die Hälfte wird für direkte Bestechung fällig.
Die Wahlschlacht bedeutet nicht das Ende der dynastischen Rivalität, obwohl der Arm der casa austria jetzt weiter reicht als je zuvor. Der Wahlsieger herrscht als Karl V. über ein Reich, von dem man bald sagen wird, dass in ihm die Sonne nicht untergehe. Dem äußeren Anschein zum Trotz kann Karl jedoch nicht schalten und walten, wie er will. Seine Machtfülle existiert nur auf dem Papier und wird beschränkt durch die anhaltende osmanische Bedrohung sowie den Religionskrieg in Deutschland, der bald ausbricht. Franz I. bleibt ein Gegner von Format, der selbst nach heftigen Rückschlägen nicht aufgibt. 1525 bereiten deutsche Landsknechte unter ihrem Hauptmann Frundsberg den Franzosen bei Pavia eine vernichtende Niederlage. Der gefangene König wird nach Madrid verschleppt, wo er sämtliche Forderungen Karls unterschreibt. Doch kaum ist er wieder in Freiheit, widerruft er alle vertraglichen Vereinbarungen. Frankreich ist im Inneren mittlerweile so gefestigt und der Kaiser an so vielen Fronten beschäftigt, dass selbst nach drei weiteren Kriegen der Konflikt noch nicht ausgekämpft ist. Die Rivalen der Kaiserwahl von 1519 geben ihn an ihre Erben weiter.
Nationale Klischees haben einen langen Bart. Das Bild zeigt eine sogenannte „Völkertafel“ aus dem frühen 18. Jahrhundert, die wohl in der Steiermark entstanden ist. Der „Kurzen Beschreibung der in Europa Befintlichen Völkern Und Ihren Aigenschaften“ zufolge lieben Franzosen den Krieg, Deutsche den Trunk.
Manche Bücher machen eine erstaunliche Karriere. Ein Beispiel ist Tacitus’ De origine et situ germanorum. Verfasst im Jahr 98 n. Chr., galt es lange als verschollen. Mehr als tausend Jahre später, 1454, gelingt dem Rechercheur Enoch d’Ascoli jedoch ein glücklicher Fund. Der hochgebildete Italiener, Lehrer der Söhne Cosimo de Medicis, sucht im Auftrag von Papst Nikolaus V. nach klassischen Handschriften für eine neu zu schaffende Bibliothek. Im Kloster Hersfeld wird er fündig. Er stößt auf mehrere Schriften des römischen Historikers, darunter die Germania. Wenig später wird die Schrift gedruckt und sorgt in der Welt des Wissens für eine Sensation. Deutsche Humanisten wie Hutten oder Aventinus sind begeistert. Warum? Tacitus sah Rom durch Sittenverfall in seiner Existenz bedroht. Er wollte den verderbten Landsleuten einen Spiegel vorhalten und benutzte dazu die Germanen, die er als ein reines und unverbildetes Urvolk präsentierte. Dieser Ansatz fällt in einer Zeit, in der nördlich der Alpen der Antipapismus virulent ist und Argumente gegen alles „Römische“ und „Welsche“ gesammelt werden, natürlich auf fruchtbaren Boden. Und bald wird aus der antiken Schrift ein aktuelles Kampfmittel. Ein Stereotyp ist geboren, das Stereotyp des rauen, aber biederen Deutschen. Bis hinein ins 19. Jahrhundert bleibt De origine et situ germanorum eine Fundgrube, aus der sich alle bedienen, die nach deutscher Identität und nach Abgrenzung von den „welschen“ Franzosen streben.
Die Germanen des Publius Claudius Tacitus haben „blaue Augen mit wildem Ausdruck, rötliches Haar, hochgewachsene und nur für den Angriff starke Leiber“. Sie sind trunksüchtig und faul. Statt geduldig das Land zu bebauen, schlagen sie sich lieber mit Feinden herum. Niemals käme ihnen in den Sinn, „mit Schweiß zu erwerben, was man mit Blut gewinnen kann“. Die auf den ersten Blick wenig schmeichelhafte Außenansicht wird durch ein paar helle Farbtupfer aufgefrischt. Ja, sagt Tacitus, ein barbarisches Volk seien die Germanen schon, aber zu ihren Gunsten spreche die Ursprünglichkeit, die sie sich bewahrt hätten. Die Streitlust erhalte die Wehrhaftigkeit und habe ihre Wurzeln in der den Germanen eingeborenen unbändigen Freiheitsliebe. Ein weiterer Vorzug: Die Männer respektierten die Frauen, die ihrerseits tugendhaft seien – kein Vergleich mit den lüsternen Römerinnen.
Der fantastische Duktus von Tacitusʼ Germanen-Gemälde steht außer Frage. Tacitus hat Germanien nie mit eigenen Augen gesehen. Er schöpft fremde Quellen ab, beispielsweise Plinius, und klaubt zusammen, was für die Zwecke seines Sittenspiegels taugt. Das schränkt die enorme Wirkung seiner Schrift jedoch keineswegs ein. Tacitusʼ These von den nordischen Wilden, die von der Zivilisation nicht angefressen sind und die ihre Ursprünglichkeit erhalten haben, hallt noch in Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807/1808) nach, in denen der Philosoph die Deutschen als Urvolk klassifiziert, verbunden mit dem Anspruch, das erste unter den Völkern zu sein.
Man muss die Existenz von Nationaleigenschaften nicht leugnen. Vom Weg, den ein Volk durch die Geschichte nimmt, von den Erinnerungen, die es sammelt, bleibt notwendigerweise etwas an den Schuhsohlen hängen. Nationale Klischees werden dann zu kruden Vorurteilen, wenn sie den Einzelnen hinter dem Kollektiv verschwinden lassen. Sprachlich betoniert der Singular die Vielfalt. Man sagt: der Russe, der Preuße, der Franzose. Stimmt es, dass die Franzosen durch Leichtsinn und Frivolität hervorstechen? Wie immer man die Frage beantworten mag: Pauschalurteile über Völker sind missbrauchsanfällig, simplifizieren, Expertise ist nicht erforderlich. Tacitus kannte Germanien nicht aus eigener Anschauung. Paulus, der alle Kreter mangelnder Wahrheitsliebe bezichtigte, berief sich auf den Politiker Epimenides, der selbst Kreter (also Lügner) war, was der apostolischen Aussage eigentlich den Boden entzog. Aber Klischees sind zählebig. Den Furor teutonicus, den Wilhelm Brito in seinem Schlachtbericht von Bouvines den Rittern Kaiser Ottos zuschreibt, wollte schon tausend Jahre vor ihm der römische Schriftsteller Lucan bei Kimbern und Teutonen beobachtet haben. Knapp zweitausend Jahre später taucht der Furor im Bild des mitleidlos wütenden deutschen Soldaten auf, mit dem die französische Propaganda 1870/71 und 1914/18 arbeitet.
Nationale Klischees bedienen offenbar das menschliche Grundbedürfnis, die komplexe Wirklichkeit zu vereinfachen. Wer sagt, die Schotten seien geizig, erspart sich schwierige „Ja, aber“-Sätze und dazu die Begründungspflicht. Das Klischee unterstellt, die Eigenschaft Geiz sei gleich einer Hautfarbe; sie sei einfach da, den Schotten eingeboren. Und noch etwas zeichnet das nationale Klischee aus. In jeder verallgemeinernden Aussage über die Fasson anderer steckt auch eine Aussage über die eigene Gruppe. Weil man selbst kein Schotte ist, ist man nicht geizig, ergo großzügig. Das Gesetzte und das Entgegengesetzte bedingen einander, Abgrenzung und Selbst-Bestimmung gehen Hand in Hand. Der Historiker Wolfgang Reinhard erklärt den Zusammenhang so: „Der kollektiven Identität, die sich Wir-Gruppen-Angehörige zuschreiben, muß eine entsprechende Fremdzuschreibung durch Andere entsprechen, sonst neigt die kollektive Identität zur Instabilität. Mit anderen Worten, der Andere oder die Anderen sind für die kollektive Identität ebenso konstitutiv wie für die individuelle.“13
In der Zeit der Glaubensspaltung fällt die Rolle der Anderen den „Welschen“ zu. Welsch sind die, die romanische Sprachen sprechen, also Franzosen, Spanier und Italiener. Welsch sind Papst und Papsttum, welsch ist Rom und somit also alles, wogegen die Reformatoren Sturm laufen.
Der Welsch dem Deutschen nicht hold sein wird,
es ist ein angeboren art
wo hund und katz zamen komen
so dund sie gen einander grommen.14
Das Gedicht aus dem frühen 16. Jahrhundert postuliert für die Völker dieselbe Unvereinbarkeit wie für Hund und Katze. Entweder man ist Welscher, oder man ist Deutscher. Der Gegensatz lässt sich nicht aus der Welt schaffen – er ist „ein angeboren art“. Um zu unterstreichen, wie tief der Graben ist, wird das andere moralisch degradiert. Die „Romanisten“, gegen die die deutschen Fürsten zum Schwert greifen sollen, sind nach Luther nicht bloß Ketzer, sondern verdorben. Luther wirft Papst und Kardinäle in einen Topf. Sie sind die „ganze Rotte des römischen Sodoms“.15 Als sittenlos werden bald auch die welschen Franzosen abgestempelt. Man findet die Tätowierung in Flugschriften des Dreißigjährigen Krieges, und es ist gewiss kein Zufall, dass Grimmelshausens Simplicius bei seinem Aufenthalt in Paris in den Venusberg entführt wird, wo er sogleich mehreren Damen zu Diensten sein muss.16 Zur selben Zeit, und auch das ist kein Zufall, entsteht in Deutschland der erste Entwurf nationaler Selbstidentifikation. Weil die Gegenwart – der Dreißigjährige Krieg – aus deutscher Sicht ein Trauerspiel ist, sucht man Trost und Zuversicht in einer imaginierten Vergangenheit. Der wiedergefundene Germanen-Text des Tacitus kommt gerade recht. Hat der Römer nicht gelehrt, die Germanen seien ein Urvolk? Das Buch der hundert Kapitel, eine um 1500 im Elsass entstandene Schrift, greift den Gedanken auf und behauptet, deutsch sei die menschliche Ursprache, die schon Adam im Paradies gesprochen habe. „Adam ist ein tuscher man gewesen.“17 Die Humanisten destillieren aus Tacitusʼ Werk die „deutsche Einfalt“ als Ausdruck urgermanischer Tugendhaftigkeit. Die Deutschen, wird damit suggeriert, seien wohl nicht so schlagfertig, raffiniert und elegant wie die Franzosen, dafür aber redlich, treu und unschuldig. Das Klischee wirkt nachhaltig. Über Jahrhunderte bleibt die Inanspruchnahme biederer Charaktereigenschaften, hergeleitet aus dem fantastischen Germanenbild eines antiken Schriftstellers, eine erstrangige Piste deutscher Ich-Suche.
Bei dieser Suche zeigt die Passnadel beständig nach Westen. An Frankreich scheiden sich die Geister. Es ist Vor- und Schreckbild. Man möchte sein wie die Franzosen oder wie ihr Gegenteil. Die „Einfalt“, die die Deutschen für sich in Anspruch nehmen – Varnhagen von Ense spricht später von der „ungekünstelten Natur gesunder Volkstümlichkeit“18 –, hat einen stark moralischen Strich. Sie korrespondiert mit der Verderbtheit und Geziertheit, die den Franzosen nachgesagt wird. Was man sich nicht alles über Versailles erzählt! Es muss das reinste Sündenbabel sein! Vor allem im protestantischen Norden Deutschlands schüttelt man sich. Und doch: Die Sünde hat auch ihren Reiz. Französische Lebenskunst – bedeutet sie nicht die Freiheit, sich alle Freiheiten zu nehmen? Auf viele deutsche Fürsten, auch auf den Kleinadel und das aufstrebende Bürgertum, wirkt die Verlockung unwiderstehlich. Man benimmt sich französisch, parliert in einer spottlustigen Weise, die man für Esprit ausgibt, und folgt in der Mode der Raffinesse des Rokoko, die ironischerweise von niemandem authentischer repräsentiert wird als von der Königin Marie-Antoinette, der ehemaligen österreichischen Erzherzogin. Es ist also nicht so weit her mit der „deutschen Einfalt“. Amüsiert bemerkt Madame de Staël, die Deutschland anfangs des 19. Jahrhunderts bereist und von der noch die Rede sein wird, den Ehrgeiz der Nachbarn, die Franzosen im Leichtsinn noch zu übertreffen: Sie „affektier(t)en mehr Immoralität und sind frivoler als diese – nur aus Furcht, dem Ernst könne die Grazie fehlen, und Gefühle und Gedanken würden nicht den richtigen Pariser Ton haben“.19
In der Zeit Ludwigs XIV. gab Frankreich in Europa den Ton an. Das Französische war Leitkultur. Speziell die Deutschen reckten die Hälse und schauten neidvoll auf Versailles. Die Nachahmungssucht rief allerdings auch Kritiker auf den Plan. Das Gemälde von Hyacinthe Rigaud (1701) zeigt Ludwig XIV.
Frankreich ist im beginnenden 18. Jahrhundert das Maß aller Dinge. Wer in Deutschland mit der Zeit geht, schaut auf zur Sonne von Versailles. Französisch zu sprechen, gilt als Ausweis der Vornehmheit. Die deutsche Nachahmungssucht wird 1716 in einer Historie der teutschen Sprache angeprangert: „Zu unserer Zeit hat Ludewich der 14de in Frankreich der Teutschen Sprache mehr geschadet, als ehemals alle Mönche und Pfaffen … und weil man jetzo nicht nur an Höfen, sondern auch anderweit unter vornehmen und angesehenen Leuten in öffentlichen Zusammenkünften mehr Frantzösisch als Teutsch redet. Ja es scheinet nunmehro die Reinigkeit unserer Sprache in den letzten Zügen zu liegen.“20
Den Ostfranken gehörte das Mittelalter. Mit dem Beginn der Neuzeit wandert das europäische Machtzentrum nach Westen. Spanien und Portugal verdanken ihren Aufstieg den märchenhaften Ressourcen ferner Länder. In England legen die Tudors den Grundstein künftiger Weltgeltung. Auf dem Kontinent hat Frankreich die Reifeprüfung bestanden. Es ist der Umklammerung durch die Habsburger entronnen, hat im Innern die Königsmacht ausgebaut und schließlich das große, dreißigjährige Ringen in Deutschland genutzt, um Einflussmacht im Reich zu werden. Vater des Erfolgs ist