Das Geschenk des Orest - Bernhard Jussen - E-Book

Das Geschenk des Orest E-Book

Bernhard Jussen

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Beschreibung

Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen – im konkreten Fall das "Mittelalter" zu Grabe getragen. An die Stelle dieser längst anachronistischen Prägung für 1000 Jahre Geschichte, die man als Epochenportion etikettieren und beruhigt in den Bücherschrank stellen kann, tritt ein neues Nachdenken über eine dynamische Phase des lateinischen Europas. Diese hat weit mehr mit der Entstehung der gegenwärtigen Zivilgesellschaften zu tun, als es sich die Erfinder des Epochenmodells vorgestellt haben. Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer "antiken" römischen Hochkultur und ihrer intellektuellen "Wiedergeburt" 1000 Jahre nach ihrem "Untergang" die historische Fantasie zur Identifikation ein und stempelte die Zeit dazwischen zu einem "Mittelalter" ab – ein seltsames Konzept, das trotzdem bis heute wirkmächtig ist. Wie wenig diese Art, Vergangenheit zu deuten, heute noch erklären kann und wie sehr sie aktuellen Erklärungsbedarf geradezu blockiert, macht Bernhard Jussen in seinem reich bebilderten Buch deutlich. In sieben Großkapiteln gelingt ihm ein faktenreicher, frischer, gut erzählter Einstieg in eine Revision der Geschichte des lateinischen Europas.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Bernhard Jussen

Das Geschenk des Orest

Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526–1535

C.H.Beck

Zum Buch

Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen – insbesondere das «Mittelalter» zu Grabe getragen. Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer «antiken» römischen Hochkultur und ihrer intellektuellen «Wiedergeburt» 1000 Jahre nach ihrem «Untergang» die historische Fantasie zur Identifikation ein und stempelte die Zeit dazwischen zu einem «Mittelalter» ab – ein seltsames Konzept, das trotzdem bis heute wirkmächtig ist. Wie wenig diese Art, Vergangenheit zu deuten, heute noch erklären kann und wie sehr sie aktuellen Erklärungsbedarf geradezu blockiert, macht Bernhard Jussen in seinem reich bebilderten Buch deutlich. In sieben Großkapiteln gelingt ihm ein faktenreicher, frischer, gut erzählter Einstieg in eine Revision der Geschichte des lateinischen Europa.

An vielen Beispielen wird eine Welt erkennbar, die weit mehr mit der Genese der gegenwärtigen Zivilgesellschaften zu tun hat, als es sich die Erfinder des Epochenmodells vorstellen wollten.

Über den Autor

Bernhard Jussen lehrt als Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main «Mittelalterliche Geschichte mit ihren Perspektiven in der Gegenwart». Im Verlag C.H.Beck ist von ihm ferner lieferbar: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit (Hrsg., 2005); Die Franken. Geschichte, Gesellschaft und Kultur (2014).

Inhalt

Nach dem Eurozentrismus – Hinterlassenschaften, große Erzählungen, Medien und die Ordnung des historischen Materials

1. Das Grab der Turteltaube – Spuren einer epochalen Revolution

Du warst wirklich eine Turteltaube – Eine reiche Römerin inszeniert die neue Gesellschaft

Als die Ahnen entmachtet wurden – Die überlebenslange Monogamie und ihre Folgen für die Institutionengeschichte

Eine kulturanthropologische Neuinterpretation des lateinischen Europa

Vom männlichen Ahnenverband zur unauflöslichen Ehe

Römer ohne Kaiserhof

Das Grab der Turtura und die Transformation der Totensorge – Auf dem Weg zum Jahrtausend der Turteltaube

Ein Blick zurück ins Rom der vielen Gottheiten

Umbau der Totensorge – Umbau der Gesellschaft

2. Das Geschenk des Orest – Auf der verlorenen Suche nach Ausdrucksweisen politischer Autorität

Rom/Tiber, zum 1. Januar 530 – Eine verlorene politische Welt im Kleinformat

Das Schicksal des Orest – Verlierer und Gewinner der Neuorientierung

3. Das echte Bild des Herrn – Die fränkischen Höfe befreien die Maler

Der letzte Reiter am Bosporus – Statuenpolitik in Neu-Rom

Mit dem Zeichenblock ins alte und ins neue Rom

Das echte Bild Christi als politisches Emblem – Politische Bildsprache nach den Reitern

Genese des Bildtypus

Eine dreifache Last

Die Lateiner bleiben unbeeindruckt – Auf Distanz zum Bild des Herrn

«Sie beten die Wände an und die gemalten Tafeln»

Traditionsstabilisierung und Überschreitungserprobung

Eine Frage des Mediums

In Textmedien des Regierens

In Büchern für den Altar

Mit dem Bronzepferd über die Alpen – Auf Sichtweite zum Triumph

Auf lange Sicht – Pfadabhängigkeiten – Sakralkönige, Kohärenzinseln, Ikonen im Westen und der Kultbild-Ablass-Reformation-Komplex

Der Kultbild-Bildkult-Ablass-Reformation-Komplex

4. Die Zeichnung des allersüßesten Gozbert – Gedankliche Architekturen kultureller Grundorientierung

Poeten als Baumeister – Gedankengebäude eines Lebensentwurfs

«Orte» und «Bilder» einer büßenden Gesellschaft – Altäre, Totensorge und der Geldwert der Messe

Kloster ohne Klostermauern – Viele Gozberte, Familien ohne Ahnenkult, geschenktes Land und geopferte Kinder

Stichwort «Cluny» – Ein Blick auf das Ende der vorurbanen Gesellschaft

5. Der Hobel der Eintracht – Überzeugungsarbeit für Frieden durch Selbst-Regierung

Eintracht hobelt – Die Kommune mystifizieren

Im Schnelldurchgang – Schwurvereinigungen, Stadtkommunen, Symbolkämpfe

Einige signifikante Fälle

Repräsentationen des Kommunalen

6. Das Dilemma der Hinterbliebenen – Zwischen ehelicher Treue, Verwandtschaft, Stand und Geschlecht

Das Jahrtausend der Turteltaube – Leitsemantiken des nachrömischen Lateineuropa

Zum Beispiel Shakespeare

Altes Wissen im neuen Kontext – Gonzalo Ponce de Léon

«Von der, die sich auf dem Grab ihres Mannes ficken ließ» – Ein Dilemma wird diskursmächtig

Höfisch oder kirchlich?

«Machs mir schlimmer als deiner Frau»

Die Großfamilie der dreimal verheirateten Anna – Die Wiederheirat wird bildwürdig und die Großfamilie heilig

Konkurrenz für die Ehelosen

Eine Großfamilie als Altarbild

Die kurze Karriere der heiligen Großfamilie

Der Stammbaum wird diskursmächtig – Gebrauchsweisen des Stammbaums nach der Entmachtung der Ahnen

Vom horizontalen Geflecht zum vertikalen Geschlecht

Den Ahnenverband verhindern – Grafiken verbotener Ehen

Wissen ohne Bezug zur eigenen Sozialordnung – Wurzel Jesse

Genealogie als Denkform vor dem Verwandtschaftsstammbaum

Semantische Nachbarschaften – Das Dilemma der Hinterbliebenen im Rückblick

7. Der Adam des jüngeren Holbein – Eine Ehescheidung, ein revolutionäres Bild und das Ende der Turteltaube

Von Ostendorfer zu Holbein, von Regensburg nach London – Die späte Karriere eines revolutionären Gemäldes

Negative Anthropologie im Kontext – London 1535

Ein Abgesang auf das Jahrtausend der Turteltaube

Bildkritik und Bildverteidigung

Ästhetik der Äußerlichkeit

Jedem Jünger seinen Schlüssel

Konfliktstoff für nicht einmal eine Generation – Das Kampagnenbild zwischen Flugblatt und Tafelgeschirr

Von der gemalten These zur gemalten Institution

Lateineuropa nach den Römern … – Epilog

Dank

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Nach dem Eurozentrismus

1. Das Grab der Turteltaube

2. Das Geschenk des Orest

3. Das echte Bild des Herrn

4. Die Zeichnung des allersüßesten Gozbert

5. Der Hobel der Eintracht

6. Das Dilemma der Hinterbliebenen

7. Der Adam des jüngeren Holbein

Lateineuropa nach den Römern …

Bildnachweis

Register geographischer Begriffe

Personenregister

Sachregister

Vorderer Vorsatz: In den 820er Jahren entstandene Grundrisszeichnung einer Klosteranlage (sogenannter Klosterplan von Sankt Gallen), gezeichnet wohl im Kloster Reichenau für einen Empfänger im Kloster Sankt Gallen (© Stiftsbibliothek St. Gallen)

Hinterer Vorsatz: Stirnwand der sogenannten Allegorie der guten Regierung (Ausschnitt) im «Palast der Kommune» (heute Palazzo Pubblico) von Siena, gemalt 1337–1339 von Ambrogio Lorenzetti (© mauritius images/SuperStock/Fine Art Images)

Nach dem Eurozentrismus

Hinterlassenschaften, große Erzählungen, Medien und die Ordnung des historischen Materials

Am Anfang war die Revolution  «Sexuelle Revolution», «Ehe-Revolution», «religiöse Revolution», «theologische Revolution», «Revolution der Vorstellungskraft», «kulturelle Revolution», «römische Revolution», «spätrömische Revolution» … Die historischen Wissenschaften nuancieren mit allerlei Attributen, wenn es um jene «Revolution» geht, die man inzwischen zumeist als «Transformation der römischen Welt» bezeichnet. Im Kern meint man damit die Geschichte der römischen Mittelmeergesellschaften vom vierten bis sechsten Jahrhundert – jene Zeit also, die bis zumindest in die 1960er Jahre ganz im Zeichen des «Untergangs des römischen Imperiums» gedeutet wurde und mit «Völkerwanderung» und der Genese von «Germanenreichen» verbunden war.[1]

Seit den frühen 1990er Jahren, mit dem Ende des Kalten Krieges, haben sich in fast allen historischen Wissenschaften die Diskussionen und die Erklärungsbedürfnisse erheblich verändert. Auch die Umdeutung der «römischen Welt» des vierten bis sechsten Jahrhunderts vom «Untergang» zur «Transformation» oder gar «Revolution» war geprägt von den neuen politischen und intellektuellen Herausforderungen, die das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte. Das Hauptinteresse an diesen fernen Jahrhunderten der «römischen Welt» gilt seither nicht mehr einer imperialen Großmacht, die samt ihrer «klassischen» Kultur und ihren zivilisatorischen Leistungen «untergegangen» ist und «barbarischen Königtümern» oder «Germanenreichen» weichen musste. Stattdessen gilt das Interesse der Genese jener «revolutionär» neuen Vorstellungswelten, die seit dem vierten Jahrhundert in christlichen, seit dem siebten auch in islamischen Institutionen manifest wurden. Es gilt der Transformation der sakralen und der menschlich-existentiellen («ontologischen») Vorstellungswelten und der Institutionalisierung jener neuen Kultgemeinschaften und Kultpraktiken rund um das Mittelmeer, die jeweils nur noch einen Gott anerkannten, nur bestimmte Formen der Gottesverehrung gelten ließen – und jederzeit zu robusten Auseinandersetzungen um die erlaubte Kultpraxis und Gottesvorstellung bereit waren.

Diese Neudeutung einer lange zurückliegenden umfassenden gesellschaftlichen Veränderung ist eines von vielen Beispielen für die Diskussionen, mit denen die «westlichen» historischen Wissenschaften nach «1989» ihre eigenen – gegenwärtigen – Gesellschaften überdacht haben. Es hat nicht einmal eine Generation gedauert, bis die 200 Jahre alte Leitdeutung vom «Untergang des Römischen Reiches» kaum noch ein Forum hatte. In den neuen Diskussionszusammenhängen nach dem Ende des Kalten Krieges war sie nicht mehr plausibel.[2]

Die «kulturelle» oder «religiöse» oder «römische» Revolution – wie sie in der Forschung seit den 1990er Jahren ihr Profil gefunden hat[3] – war im Kern eine spirituelle. Sie hat «revolutionär» neue Vorstellungen von den Bedingungen menschlicher Existenz, damit auch neue Strukturen der moralischen Ordnung und des Sakralsystems hervorgebracht. Sie betraf fast alle Bereiche des Lebens – die Formen der Gottesverehrung, die Konzeptionen des menschlichen Selbst, die Deutungsmuster des Sozialen, die Kulturtechniken des Umgangs mit dem Heiligen, die Jenseitsvorsorge, die Art der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden … und in manchen Regionen der römischen Welt, insbesondere im Raum der lateinischen Kirche, auch radikal neue Haltungen zu den zentralen Lebensvollzügen – zu Ehe, Sexualität, Familie und Totensorge. Nur den größeren Kontext dieser «Transformation der römischen Welt» mag man mit dem Stichwort «Durchsetzung des Monotheismus» erfassen können. Im Einzelnen führten die neuen monotheistischen Kultgemeinschaften rund um das Mittelmeer – auch wenn sie sich alle wie der viel ältere jüdische Monotheismus auf Abraham bezogen – zu sehr unterschiedlichen Gesellschaften in der lateinischen, griechischen und arabischen Welt.[4]

«Untergegangen» ist das Imperium ohnehin nicht. Zwar hat das römische Imperium seit dem sechsten Jahrhundert nach und nach einen großen Teil seines ehemaligen Herrschaftsraumes entweder wegen anderer Interessen verlassen oder in Kämpfen verloren. Aber «untergegangen» ist es erst im Jahr 1453, rund 1000 Jahre später, als die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert mit dem Schlagwort «Antike» vermitteln wollte.

Zivilgesellschaft  Es ist unübersehbar, dass die Deutung des historischen Moments «um 500» als «Transformation der römischen Welt» von anderen Erkenntnisinteressen und anderen Erklärungsbedürfnissen getrieben war als die im 18. Jahrhundert etablierte Erzählung vom Untergang. Intellektuell vorbereitet waren diese neuen Erklärungsinteressen und Deutungen zwar schon seit den 1970er Jahren durch einige einflussreiche Fachpublikationen und durch die langsam Fahrt aufnehmenden Diskussionen um «postkoloniale» und «posteurozentrische» Formen wissenschaftlichen Denkens. Aber in der Breite geistes- und sozialwissenschaftlicher Arbeit haben sie sich erst in der veränderten Welt nach dem Ende des Kalten Krieges durchgesetzt.[5]

Auf den ersten Blick mag eine Diskussion um Ereignisse im römischen Imperium des vierten bis sechsten Jahrhunderts, die Umdeutung eines «Untergangs» in eine «Transformation» oder «Revolution», wie ein sehr fernes Echo aktueller politischer Diskussionen wirken. Doch schon diese Umdeutung ist offenkundig mehr als das Verschieben einiger Mosaiksteine in den Geschichtsbildern. Sie ist eine grundsätzliche Herausforderung für das historische Epochendenken insgesamt. Wer keinen epochalen «Untergang» um 500 mehr sieht, wird wohl auch keinen ebenso epochalen Wiederaufstieg zu alter Größe durch brillante Humanisten und Konfessionskämpfer um 1500 mehr suchen oder finden können. Und wie steht es ohne Untergang und Wiederaufstieg um die 1000-jährige «Dazwischen»-Zeit oder das «Mittel»-Zeitalter, mit dem die Gelehrten seit dem späten 18. Jahrhundert den Wiederaufstieg vom Untergang trennten? Vielen dieser früheren Gelehrten diente diese Dazwischenzeit als Projektionsraum des eigenen nationalen oder völkischen Ursprungs. Anderen diente sie als Projektionsraum einer im Kultischen und Kollektiven gefangenen Otherness, als der tiefdunkle Hintergrund, vor dem die eigene Zeit – die Zeit des Lichts, der Vernunft (Lumière, Enlightenment, Aufklärung) und des Subjekts – glänzen konnte. Wie also heute umgehen mit diesen Epochen-Denkfiguren, die immer zugleich Vergangenheitsvorstellung und Selbstkonzept waren und sind?

Wo nicht mehr eine «Antike» epochal «untergeht», sondern nur noch verschiedene Teile der alten römischen Welt «Transformationen» durchleben, hier heftiger, dort weniger heftig, hier zu neuen Gesellschaften mutierend, dort das römische Imperium noch fast 1000 Jahre – bis zum Jahr 1453 – weiterpflegend, da zeigt die alte Idee des weltgeschichtlich epochalen Untergangs um 500 und des ebenso epochalen Wiederaufstiegs um 1500 ihre Zeitgebundenheit. Sie gibt sich als Denkmodell früherer Zeiten zu erkennen, als Denkmodell jener Generationen, die unter «Europa» wesentlich das lateinische Europa verstanden haben, die dieses lateinische Europa selbstverständlich als Maßstab der Weltgeschichte wahrgenommen haben[6] und deren Erklärungsbedürfnisse wenig mit jenen zu tun hatten, die in den 1990er Jahren zur Entdeckung der «revolutionären» «Transformation der römischen Welt» geführt haben.

Kurz, im Kern getroffen von der «posteurozentrischen» und «postkolonialen» Diskussionslandschaft seit den 1990er Jahren war – neben vielem anderen – das seit etwa 1800 institutionalisierte Epochenmodell, also das Denken in «Antike, «Mittelalter» und «Neuzeit». Schnell wurde rückblickend seit den 1990er Jahren in einem neuen Schlagwort die Einsicht gebündelt, dass die unausgesprochene Hypothese dieses welthistorischen Verlaufsmodells eine nicht mehr haltbare Selbstgewissheit «aufgeklärter» europäischer Gelehrter des 18. bis 20. Jahrhunderts gewesen ist: die Vorstellung einer immer weiter fortschreitenden Säkularisierung der Weltgeschichte. Als «Säkularisierungsnarrativ» oder «Säkularisierungsparadigma» bezeichnet man seit den 1990er Jahren diese Leitidee des Epochenmodells.[7] Sie war in den 200 Jahren zuvor geradezu das Rückgrat des dreischrittigen Epochendenkens – von einer hochzivilisierten «Antike», deren «Untergang» in ein 1000-jähriges Zeitalter führte, in dem die Subjekte sich selbst und ihre Umwelt nur «träumend oder halbwach» unter einem «Schleier» aus «Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn» wahrnehmen konnten (mit den berühmten Worten Jacob Burckhardts von 1860), ehe «Humanismus» und «Renaissance», letztlich aber erst die «Reformation» zur glänzenden Zivilisationshöhe der «Antike» zurückfanden und den Aufstieg unserer eigenen «rationalen» Zeit, der immer säkularer werdenden «Neuzeit», begründeten.[8]

Längst also, unübersehbar seit dem Ende des Kalten Krieges, haben die historischen Wissenschaften die Probleme des vor rund 200 Jahren institutuonalisierten makrohistorischen Denkmusters ausführlich zum Thema gemacht. Die Weltsicht der Generationen um 1800, die bis zum Ende des Nationalismus ihre Dienste getan haben mag, wird spätestens seit den 1970er Jahren nur noch mit Distanzierungsgesten weitergeschleppt – entschuldigend, dekonstruierend, modifizierend, verfeinernd, ergänzend, relativierend und so weiter. Bis heute aber beherrschen die Schlüsselwörter des alten Epochendenkens als alltäglicher Sprachgebrauch die historischen Wissenschaften – nicht mehr ganz so selbstverständlich wie bis in die 1990er Jahre, aber immer noch alltäglich.

Solange die Diskussionen weitgehend «westlich» waren, konnte man mit dem Verfahren der Distanzierung und gleichzeitigen Weiternutzung leben. Doch seit sie sich in «posteurozentrischen» und «postkolonialen» Diskussionszusammenhängen neu orientieren müssen (und oft genug auch wollen), sind Denkkategorien wie das Epochenmodell eine Herausforderung, die man nicht mehr mit einer Distanzierungsgeste – nicht selten eher Vorwortprosa – meistern kann.

Erst unter den neuen Diskussionsbedingungen der 1990er Jahre haben «westliche» Gesellschaften begonnen, sich selbst mit einem Schlüsselkonzept zu entwerfen, das bis dahin eher ein Randdasein geführt hat: «Zivilgesellschaft» oder civil society ist erst nach dem Ende des Kalten Krieges ein zunehmend prominentes Schlüsselwort geworden. «Liberal», «pluralistisch», «multireligiös», «multikulturell» und zunehmend auch «Einwanderungsgesellschaft» sind inzwischen zentrale Attribute dieses Selbstkonzepts als «Zivilgesellschaft». Derartige Leitkonzepte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen erhellen schlaglichtartig, worum die historischen Wissenschaften ringen. Als das alte Epochenkonzept Karriere gemacht hat, hatten «Volk» und «Nation» jenen Platz, den jetzt das Leitwort «Zivilgesellschaft» mit seinen Attributen – und seinen Problemem – einnimmt.[9]

Die Distanz zwischen diesen Konzepten ist gewaltig. Gewaltig sind auch die Aufgaben, die sich daraus für die historischen Wissenschaften ergeben. Die Aufgabe betrifft besonders die Suche nach Darstellungsweisen des lateinischen Europa, die nicht auf das alte Epochendenken angewiesen sind und dieses auch nicht unbemerkt mit sich herumschleppen. Stattdessen gilt es, sich für die langfristige Deutung der lateineuropäischen Gesellschaften an Fragen jener Art zu orientieren, die seit den 1990er Jahren zur Entdeckung der «Revolution» des vierten bis sechsten Jahrhunderts geführt haben – zur Entdeckung der Transformation of the Roman World.

Ein Grab der Zukunft und ein Geschenk der Vergangenheit  Eine in den 520er Jahren in der Stadt Rom (offenbar) engagiert tätige Erneuerin der Lebensführung war die um 470 geborene, augenscheinlich reiche Römerin Turteltaube (Turtura). Sie mag eine Exzentrikerin gewesen sein, gleichwohl sind das von ihr erhalten gebliebene Monument und seine aussagekräftige Umgebung exemplarisch für die Verhaltens- und Haltungsänderungen vieler anderer, gewissermaßen eine Inszenierung der neuen Gesellschaft. Ihre Spur macht in verdichteter Form augenfällig, wie sich die römische Gesellschaft selbst, aus ihrer eigenen Mitte heraus, transformiert hat – letztlich durch massenhafte Hinwendung zum sakralen, intellektuellen und sozialen Universum der Kirche. Mit dem Grab dieser Römerin (Abb. 2), die um 530 im Alter von «mehr oder weniger 60 Jahren» gestorben ist, beginnt im ersten Kapitel mein Blick auf die langfristige Genese der nachrömischen lateinischen Gesellschaften.

Ein Zeitgenosse dieser wohlhabenden Turteltaube in derselben Stadt war der Aristokrat Orest. Etwa zu der Zeit, als sie starb, hat er es zu den höchsten politischen Ehren des Konsulats gebracht. Auch Orest ist exemplarisch für viele andere, nämlich für jene «Gestrigen», die noch um das Jahr 530 auf die Rettung ihrer Welt, auf das Römisch-Sein alten Stils gesetzt haben. Als einer der Letzten im alten Rom hat er das Amt des Konsuls bekleidet und zu seinem Amtsantritt wichtigen Personen des Imperiums ein repräsentatives Geschenk gesandt. Das Geschenk des Orest, das von seinem Amtsantritt noch erhalten ist (und meinem Buch den Titel gibt, Abb. 5), ist das letzte erhaltene Schaustück eines Konsuls im alten Rom, zugleich Relikt einer der letzten politischen Inszenierungen in Rom mit den Mitteln des alten Imperiums. Wenige Jahrzehnte später war von den Gesellschaftsvorstellungen, Statusinszenierungen und Zeichensystemen des Orest und seiner aristokratischen Welt kaum noch etwas relevant. Die konkurrierende Welt seiner Zeitgenossin Turteltaube hatte sich durchgesetzt.

Turtura, die reiche Römerin, steht am Anfang dieses Buches als eine aktive Gestalterin jener spirituellen «Revolution» oder «Transformation der römischen Welt», die erst seit den 1990er Jahren in den historischen Wissenschaften herausgearbeitet worden ist. Die Relikte der reichen Turtura geleiten zu jenen Koordinaten, mit denen in den letzten Jahrzehnten neue Deutungen Lateineuropas erprobt worden sind, und zu jenen Kategorien, mit denen man die «Weltprovinz» Lateineuropa in «posteurozentrischen» Diskussionszusammenhängen neu denken kann.[10]

«Barbaren?»  Und welche Rolle haben die «Barbaren» bekommen, seit die «Untergang»-Erzählung kaum noch Interessenten findet? Natürlich bezweifelt auch nach dem Abschied von diesem Konzept niemand, dass das römische Imperium – ein großer, wohlhabender, im Inneren vergleichsweise friedlicher imperialer Raum – für viele Gesellschaften jenseits seiner Grenzen attraktiv gewesen ist, dass diese Attraktivität Migrationsbewegungen der verschiedensten Art hervorgerufen hat, friedliche ebenso wie gewalttätige.

Aber zumindest auf der Bühne der «Revolution», die in den Vordergrund des Interesses gerückt ist, haben «Barbaren» allenfalls eine Nebenrolle gespielt, oft gar keine. Aus den früher sogenannten barbarischen Invasionen (barbarian invasions), die den katastrophalen kulturellen Niedergang des einst glänzenden Imperiums vollzogen haben sollen (nach manchen Interpretationen sogar ausgelöst), ist im Licht der neuen Deutung eine «Migrationsphase» (migration period) geworden. Im kleinen Grenzverkehr oder in langen Märschen, friedlich oder gewaltsam sind Identifikationsgemeinschaften der verschiedensten Art (keine «Völker», schon gar keine «Germanen») eingewandert – Individuen, Familien, verschiedene Arten von Klein- oder Großgruppen. Überall im Imperium fanden sie die «revolutionäre» römische Transformationsgesellschaft vor, die gerade zu jener Zeit rund um das Mittelmeer neue Lebenshaltungen, Lebensordnungen und Kultgemeinschaften hervorbrachte – letztlich eine neue Gesellschaft installierte.[11]

Um die langfristigen Profile der nachrömischen lateinischen Gesellschaften zu deuten, hilft der Blick auf die Migrationsphänomene eher wenig. Nicht diese Einwanderer haben langfristig – bis in die Moderne – ihre Spuren hinterlassen, sondern die Haltungs- und Verhaltensänderungen in der Mitte der römischen Gesellschaft.

«Pfadabhängigkeit»  Die «Revolution» der sakralen Haltungen und Institutionen im vierten bis sechsten Jahrhundert hat (so erscheint es aus der Rückschau) institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen, die in der Folge wie Leitplanken historischer Veränderung funktionierten. Sie limitierten die künftigen Möglichkeiten historischer Veränderungen, banden gesellschaftliche Bewegungsspielräume an die einmal angelegten und immer weiter ausgetretenen «Pfade». Historische Veränderungen verlaufen – wie chaotisch und unvorhersehbar auch immer – «pfadabhängig», in den Grenzen der von früheren Generationen institutionalisierten Entscheidungen. So lassen sich bis in die Moderne die Spuren der «Transformation der römischen Welt» nachzeichnen, die zu jeweils spezifischen Pfadabhängigkeiten in den verschiedenen neuen Kultgemeinschaften geführt hat – in den lateinisch-römischen, in den griechisch-orthodoxen, in den islamischen.[12]

Die Beobachtung langfristiger Zusammenhänge ist eine heikle Aufgabe, deren Möglichkeit in den historischen Wissenschaften seit langem diskutiert wird. Zumindest über die grobe Richtung besteht wenig Dissenz: Dass es keine «geradlinigen» Verbindungen vergangener Phänomene mit der Gegenwart geben kann, versteht sich schon dadurch, dass die historischen Wissenschaften längst nicht mehr mit der Logik von «Ursache» und «Wirkung» argumentieren. So erkennt selbstverständlich niemand «geradlinige» Verbindungen etwa zwischen den Stadtkommunen seit dem elften Jahrhundert und den modernen Zivilgesellschaften (Kap. 5) oder zwischen den kirchlichen Eheverboten seit dem fünften Jahrhundert und der modernen «westlichen» Ehepraxis (Kap. 1 und 6).

Gesellschaftliche Transformationen sind nicht «kausal», schon gar nicht «monokausal» zu erklären, sind also nicht «Wirkungen» von «Ursachen». Gesellschaftssysteme sind keine Autos, also nicht Produkt einer «Entwicklung». Sie lassen sich nicht «entwicklungsgeschichtlich» verstehen – schon gar nicht «teleologisch» (auf ein Ziel – telos – bezogen) oder «deterministisch» (in der Art von Naturgesetzen festgelegt), nicht mit Blick auf ein Entwicklungsziel. Statt «Ursachen», «Wirkungen» und «Entwicklungen» suchen die historischen Wissenschaften zur Deutung gesellschaftlicher Veränderungen nach spezifischen historischen «Ermöglichungsbedingungen» (ein seit den 1960er Jahren durchgesetztes Schlüsselwort), innerhalb derer jede Transformation zwar «ergebnisoffen» (ein seit Beginn der 1990er Jahre durchgesetztes Schlüsselwort), aber dennoch «pfadabhängig» (ebenfalls seit den 1990er Jahren durchgesetzt) bleibt, abhängig von den institutionellen und diskursiven Vorstrukturierungen der vorangegangenen Generationen.[13] Von diesen Pfaden bleiben Veränderungsprozesse bei aller Ergebnisoffenheit abhängig. Bestimmte Veränderungsoptionen werden langfristig erleichtert oder ermöglicht, andere erschwert oder verhindert.

So weit der verbreitete Diskussionsstandard. Demnach ist es nicht plausibel, «Entwicklungslinien» nachzuzeichnen. Wohl aber lassen sich die Pfade beobachten, die bei den meisten Veränderungsgeschehen nicht verlassen werden, so chaotisch und unvorhersehbar die Veränderungen auch verlaufen sind. Diese Pfade wiederum sind abhängig von «pfadentscheidenden» Richtungswechseln und -stabilisierungen einer Gesellschaft. Es geht also bei dem Blick auf große Zeiträume zunächst darum, jene pfadentscheidenden Momente herauszuarbeiten, die langfristige Pfadabhängigkeiten geschaffen haben. In diesem Sinne sind die «revolutionären» Transformationen der spirituellen und sozialen Haltungen der römischen Gesellschaft des vierten bis sechsten Jahrhunderts ein instruktiver Anfang, wenn es um die langfristigen Veränderungsbedingungen in der lateinischen Welt geht. Ins Zentrum geraten dabei insbesondere (1) die Transformationen des Sakralsystems und (2) die Art, wie die neuen Sakralsysteme die Haltungen zu Ehe, Familie und Verwandtschaft fundamental und langfristig verändert haben.

Medienwechsel  Die Entscheidung, welches historische Material relevant für die Forschung ist und welches nicht, ist von den Hypothesen und Erkenntnisinteressen abhängig. Insofern haben Neuausrichtungen in den historischen Wissenschaften immer wieder den Blick auf Materialgruppen gelenkt, die zuvor keine oder wenig Aufmerksamkeit genossen, jedenfalls nicht gebraucht wurden, um langfristige Darstellungen oder auch nur einzelne Forschungsfelder zu strukturieren.

Ein solcher Wechsel des beobachteten Materials wird in den folgenden sieben Kapiteln im Zentrum stehen. Ich werde das historische Material weitgehend verlassen, das die Geschichtswissenschaft üblicherweise privilegiert, um Logiken vergangener Prozesse herauszuarbeiten und die Ordnung ihres eigenen Geschichtsentwurfs zu strukturieren. Mit dem Fokus auf andere Objekt- oder (manchmal) Textarten ist auch ein medienvergleichendes Beobachtungsinteresse verbunden. Es gilt der medienspezifischen Unterschiedlichkeit von Diskursen.

Etwa: Eine der wichtigsten Institutionen politischer und sozialer Hierarchie in der römischen Kaiserzeit – die in männlichen Ahnenreihen weitergegebene und repräsentierte väterliche Gewalt – wurde üblicherweise nicht in Stein gemeißelt, sondern in vergänglichen Installationen und in Prozessionen inszeniert. In Stein meißelte man andere Repräsentationsinteressen (Kap. 1). Oder: In den nachrömischen lateinischen Gesellschaften leistete der Bildeinsatz auf den zentralen Medien des politischen Geschäfts gerade nicht, was ihren Herrschern aus heutiger Sicht das Etikett «mittelalterlich» einbringt, er leistete nicht jene sakrale Legitimierung, die in anderen Medien – etwa in Eingangssätzen von Urkunden – gängig war (Kap. 3).

Derartige Beobachtungen decken nicht «Widersprüche» auf, sondern medienspezifisch verschiedene Aussagen, die nicht zueinander passen und nicht passen müssen. Sie verweisen auf die Reichweite von Aussagen und erinnern daran, dass die Logik von Aussagen (eines historischen Objektes oder einer Objektklasse) nicht aus der Rückschau über ihren medialen Zusammenhang hinaus «logisch» weitergedacht oder auf andere Objekte, Medien oder Situationen übertragen werden sollte. Die Logik der Praxis, so wird es in den historischen Wissenschaften nun seit beinahe einem halben Jahrhundert gelehrt, ist eine hinreichende, keine vollständige. Kulturelle Stabilität – so eine Grundhypothese der folgenden Kapitel – beruht darauf, dass die Aussagen in unterschiedlichen Medien nicht zueinander passen müssen. Kaum einmal werden Unterschiede überhaupt als «Widersprüche» thematisiert (zu solch seltenen Fällen vgl. S. 144 und S. 265 ff.). Deshalb ist es entscheidend, jede (bildliche, textliche, habituelle) Aussage zunächst in ihrem medialen Zusammenhang zu belassen und an diesem zu messen.

Etwa: Was nützt uns für die Deutung des politischen Systems eine geringe Zahl von heute (und wahrscheinlich auch damals) für «meisterhaft» gehaltenen Zeichnungen von Königen oder Herzögen in einigen wenigen Exemplaren aus dem Meer der erhaltenen Liturgiebücher? Wie gehen wir damit um, dass all diese Zeichnungen sehr verschieden aussehen und auch keinen festen Platz in der Struktur der Bücher haben? Für welche Praxis, welche und wessen Bedürfnisse stehen sie? Verdienen sie ihre Prominenz für jenes Argument, für das sie heute herangezogen werden (Abb. 1 und Kap. 3)? Oder: Selbst die am weitesten verbreiteten Erzählungen des frühen Buchdrucks – der Titel ist zumeist ersetzt durch ein sprechendes Bild – tauchen in praktisch keinem geschichtswissenschaftlichen Buch auf, obgleich sie zentrale Herausforderungen der normativen Ordnungen verhandeln, obgleich höfische und klerikale Kreise augenfällig konkurrierende Versionen hervorgebracht haben, obgleich es kaum brutaler geht als in der klerikalen Version und kaum obszöner als in jener der Spielleute. Um die sozialen und mentalen Transformationen der urbanen Gesellschaften seit dem 13. Jahrhundert zu verstehen, sind derartige (buchstäblich) Massenprodukte an sich ein naheliegendes geschichtswissenschaftliches Material. Aber als man im Laufe des 19. Jahrhunderts bestimmte Spezialisierungen zu «Disziplinen» institutionalisiert hat und damit auch kanalisierte, welche «Disziplin» für welches Material zuständig ist, interessierte sich die Geschichtswissenschaft noch für den «Untergang des Römischen Reiches», für die «Ursprünge» und das «Werden» der (deutschen, französischen usw.) «Nation» und des (deutschen, französischen usw.) «Volkes». Seither sind die Literaturwissenschaften – aber nicht die Geschichtswissenschaft – zuständig für Erzeugnisse wie jene am weitesten verbreiteten Erzählungen des frühen Buchdrucks, in denen die sozialen und moralischen Kämpfe der urbanen Gesellschaft ausgetragen worden sind (Kap. 6).

Heute kann Geschichtswissenschaft mit dieser Einteilung von Zuständigkeiten aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr funktionieren. Soziologie und Sozialanthropologie sind schon seit den 1970er Jahren zu Referenzwissenschaften historischer Forschung geworden, die Aneignung von Medienwissenschaften oder Mediologie ist seit den 1990er Jahren unübersehbar.[14] Wie soll man die Logik von Gesellschaften soziologisch, kulturanthropologisch oder gar mediologisch beobachten, solange zentrale Materialgruppen soziologischer, kulturanthropologischer oder mediologischer Fragestellungen in das Feld «interdisziplinären» Austausches verlagert werden?[15] Seit sich mediologische Perspektiven in der Geschichtswissenschaft etablieren, gerät in den Blick, wie Verfahren der Kommunikation je nach Medium verschieden sind, welche Auswirkung der mediale Status eines Objektes etwa auf die Bildgestaltung hat (ein Siegelbild authentifiziert, eine Zeichnung im Liturgiebuch nicht), wie die Grenzen des Sagbaren und Darstellbaren vom Medium abhängen (Romane, Fabeln und erst recht «Fabelchen» – fabliaux – haben einen anderen Spielraum als Predigten), wie spezifische Medien für spezifische Interessen privilegiert werden (was wird in Stein gemeißelt, was nicht?). Alle diese unterschiedlichen medialen Diskurse sind zwingend notwendiges Material, wenn man die Stabilisierungs- und Veränderungslogiken der Gesellschaften verstehen will.

526 und 1535  Die Ordnung der Geschichte wird nicht von der Vergangenheit diktiert, Vergangenheit kann nichts mehr diktieren. Es ist die ordnende Hand der Geschichtswissenschaft, die aus dem hinterlassenen Material das eine heraussucht und für die große Ordnung von «Geschichte» verwendet – also zum «Geschichtszeichen» macht (S. 21) – das andere aber nicht. In den folgenden sieben Kapiteln werden die lateineuropäischen Gesellschaften und ihre Transformationen zwischen zwei bislang nicht spezifisch «besetzten» Daten beobachtet – 526 und 1535. Dabei wird weitgehend auf das Material verzichtet, das die Geschichtswissenschaft üblicherweise benutzt, um ihre jeweilige Geschichte Lateineuropas zu schreiben. Zu ergründen gilt es, wie sich Geschichte ändert, wenn man – versuchsweise – nicht auf der Basis von Rechtstexten oder Urkunden, Chroniken oder Viten, Traktaten oder Predigten die Vergangenheit Lateineuropas zu Geschichte ordnet, auch nicht auf der Basis von Material der «modernen Mediävistik», etwa von Reiseberichten oder Visionen – sondern auf der Grundlage von historischem Material aus dem Feld ästhetischer Kommunikation.

In den folgenden sieben Kapiteln untersuche ich Formen gesellschaftlicher Organisation und Transformation weitgehend durch Beobachtung visueller Medien, und zwar aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Natürlich hat die Geschichtwissenschaft immer schon «auch Bilder» eingebaut in ihre Deutungen, aber nicht, um langfristige gesellschafliche Beobachtungen auf eine andere als die gewohnte Materialbasis zu stellen, also auf andere medienspezifische Diskurse. Üblicherweise werden visuelle Medien harmonisch in eine Darstellungsstruktur eingefügt, die aus anderen Medien entwickelt worden ist. Bilddiskurse haben kaum einmal ein «Vetorecht» gegenüber jenen Geschichtsdarstellungen, die auf dem etablierten Material beruhen. Zumeist passen die ausgewählten visuellen Objekte zu dem, was man aus Gesetzestexten, Urkunden, Traktaten, Predigten oder Reiseberichten destilliert hat und bildlich bestätigt finden will – ganz unabhängig davon, ob die ausgewählte visuelle Aussage einen Bilddiskurs repräsentiert oder nicht, zumeist auch unabhängig davon, welchen Status das jeweilige Medium hatte. Dieser gewissermaßen additive Einsatz von visuellen Relikten führt dazu, dass nicht selten Bilder oder Objekte für das glatte Gegenteil dessen berühmt sind, was sie aussagen würden, wenn man sie im Rahmen ihres medialen Zusammenhangs deuten würde (Abb. 1).

In diesem Buch soll die Gewichtung herumgedreht werden. Es werden solche Erzeugnisse der lateineuropäischen Vergangenheit zwischen 526 und 1535 als «Geschichtszeichen» für längerfristige Stabilisierungs- und Veränderungsprozesse herausgehoben, die eher im Feld ästhetischer als im Feld argumentativer Sinnerzeugung zu finden sind. Es geht also eher um Effekte auf die Wahrnehmung als um Effekte auf den rationalen Nachvollzug. Ein solcher Blick hat in den Humanities der letzten gut 30 Jahre seinen Kontext in einem Zugriff, der heute mit Stephen Jay Greenblatt verbunden wird und von ihm den Namen «Poetik der Kultur» erhalten hat: «Wir können fragen, wie kollektive Überzeugungen und Erfahrungen geformt, von einem Medium zum anderen übertragen, in eine handhabbare ästhetische Form gebracht und zum Gebrauch angeboten wurden.» Dabei geht es darum, «wie kulturelle Objekte, Ausdrucksformen und Praktiken ihre Bindungskraft erlangt haben». Mit einem derartigen Blick auf ästhetische Formen zielt Poetik der Kultur auf «die Untersuchung der kollektiven Herausbildung spezifischer kultureller Praktiken und die Erforschung ihrer Beziehungen». Wer also im Sinne dieser Poetik historische «Aushandlungen» (oder mit Greenblatt «Verhandlungen», negotiations) anschaut, zielt nicht auf die Praktiken, sondern auf deren «kollektive Herausbildung» in Medien ästhetischer Kommunikation.[16]

Im Rahmen einer solchen Aufgabenstellung können geschichtswissenschaftliche Themen nur mit Blick auf die ästhetische Produktion der beobachteten Gesellschaften adressiert werden. Zu prüfen ist dabei, welche Konsequenzen ein solcher Blickwechsel auf Medien des ästhetischen Diskurses auf die historische Vorstellung hat, auf die Zusammenfügung des aus der Vergangenheit hinterlassenen Materials zu «Geschichte».

Abb. 1   

Wandtafel (Kosmos-Wandbild Der Neue Schulmann) aus dem Besitz einer deutschen Hauptschule von 1976 mit einer Illustration, die noch heute zu den am häufigsten genutzten gehört, wenn «Mittelalter» visualisiert werden soll: Kaiser Otto III. thront dort, wo üblicherweise Christus thront, in der «Mandorla». Die Darstellung stammt aus dem um das Jahr 1000 entstandenen Liuthar-Evangeliar (fol. 16r), das heute in der Aachener Domschatzkammer liegt.

Die exzentrische Komposition eines offenbar im Kloster Reichenau tätigen Zeichners stellt einen Kaiser in der Position dar, die üblicherweise Christus als Weltenrichter einnimmt. Sie wird heute in Publikationen zum «Mittelalter» besonders häufig abgebildet, obgleich es keine zweite auch nur annähernd ähnliche Darstellung gibt. Es handelt sich um die rechte Hälfte einer doppelseitigen Komposition, die nur selten komplett gezeigt wird. Diese Bildkomposition ist Teil eines Konvoluts von etwa zwei Dutzend oft abgebildeten – ebenfalls durchweg eigenwilligen – Herrscherbildern aus der Zeit von etwa 850 bis 1050, die heute gezeigt werden, um die Vorstellung des typisch «mittelalterlichen», nämlich sakral legitimierten Herrschers, also des «Sakralkönigtums», bildlich authentisch werden zu lassen. Im Zusammenhang der Bildproduktion jener Jahrhunderte ist die heutige Nutzung dieser Bilder seltsam und irreführend.

Das hier gezeigte Exemplar, ein 90 x 65 cm großes Wandbild für den Schulunterricht aus den 1970er Jahren, ist am unteren Rand beschriftet: Nr. 4275 Der Herrscher im frühen Mittelalter. Souvereign in the Dark Ages. Le Souverein au début du Moyen Age. Otto Codex, Aachen, Domschatz, Foto Ann Münchow Kosmos-Wandbild Der Neue Schulmann; der Stempel weist die Wandtafel als Eigentum einer Hauptschule aus und trägt das Datum 31.5.1976. Vgl. zu diesem Bildentwurf unten S. 130 ff. – Saarländisches Schulmuseum Ottweiler, Inv. 2007SSM5.4275.

Geschichtszeichen  Warum ein Wechsel des historischen Materials, warum der Blick auf Erzeugnisse ästhetischer Diskurse? Es geht um «Geschichtszeichen». Das Material aus der Vergangenheit bietet sich nicht von selbst an als «zuständig» für bestimmte Fragen. Die kollektive Art geschichtswissenschaftlicher Aufmerksamkeit privilegiert bestimmte Begebenheiten, oft kondensiert in spezifischen Relikten, und ignoriert andere. Die mit jeder Frage verbundene Aufmerksamkeitsökonomie destilliert aus der Masse der Relikte bestimmte historische Phänomene und stilisiert sie zu Geschichtszeichen, zu herausragenden Phänomen für die im Beobachten erzeugte historische Ordnung.

Das Denken in «Geschichtszeichen» hat Immanuel Kant (†1804) in die Welt der Geisteswissenschaften gebracht, als er unter dem Eindruck der Französischen Revolution seinen «Enthusiasmus» in Theorie transformierte – in Königsberg, fernab von den Ereignissen. Lange hat sein Konzept jenseits der Philosophiegeschichte kaum eine Rolle in den historischen Wissenschaften gespielt. Aber seit den 1970er Jahren ist – in Umkehrung des Kant’schen «Enthusiasmus» für die Französische Revolution – ein gewissermaßen postmetaphysischer Gebrauch der Idee «Geschichtszeichen» immer wieder anzutreffen – etwa Stalingrad als Geschichtszeichen, die Landung der US-Truppen am Strand von Omaha Beach in der Normandie (verdichtet in Robert Capas ikonischem Foto) als Geschichtszeichen, der Prager Frühling als Geschichtszeichen und so fort.[17]

Welche «Begebenheiten» aus der Masse des Vergangenen als Geschichtszeichen herausragen, ist – so hat es Kant formuliert – abhängig von der «Denkungsart der Zuschauer», also der Denkungsart von jenen, die in die Vergangenheit zurückschauen. Geschichtszeichen verändern sich also. Sie treten hervor, und sie verschwinden wieder in der Wissensgeschichte, je nach «Denkungsart». Die Veränderungen dessen, was jeweils als Geschichtszeichen herausgehoben und beleuchtet wird, ist mithin ein entscheidendes Merkmal dafür, wie sich «Geschichte» – das durch den «Diskurs» hervorgebrachte Bild der Vergangenheit – ändert. Nicht jede retrospektive Änderung von «Geschichte» führt zu einer Änderung der «Geschichtszeichen». Aber wenn die «Denkungsart» von Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt und verändert wird, dann trifft es die Geschichtszeichen – so wie in der westlichen Welt nach dem Nationalismus und Nationalsozialismus seit 1945, nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 und nun 30 Jahre später vermutlich erneut durch die Wiederkehr polarer Systemkämpfe zwischen pluralistischen Zivilgesellschaften und autoritären Regimen. Fundamentale Deutungsänderungen lassen «Geschichtszeichen» versinken, die bislang für die «Denkungsart der Zuschauer» strukturbildend waren und heben Neues als Geschichtszeichen heraus.

«Investiturstreit» – um ein Beispiel zu nennen – war für Generationen ein Geschichtszeichen, geradezu Merkmal für ein «Zeitalter». In deutschsprachigen Publikationen begann die Karriere der Formel «Zeitalter des Investiturstreits» in den frühen 1930er Jahren. Nach einem starken Rückgang von 1939 bis 1945 stieg die strukturierende Präsenz des «Investiturstreits» – zumindest in der deutschsprachigen Forschung – wieder steil an, erreichte ihren Höhepunkt um 1970, verlor seither kontinuierlich an Präsenz in den historischen Darstellungen.[18] In heutigen Geschichtsbüchern ist «Investiturstreit» kaum noch ein strukturierendes Wort auf der Ebene der Überschriften, es versinkt zumeist in den Fließtexten, muss sich Distanzierungssignale gefallen lassen wie Anführungszeichen und den Zusatz «der sogenannte».[19] All die Begebenheiten, die unter dem Stichwort «Investiturstreit» über viele Generationen als Geschichtszeichen herausgehoben worden sind und gewirkt haben, sind nun wieder eingetaucht in die Masse des überlieferten Materials, vielleicht eingebaut in den Deutungskontext neuer Geschichtszeichen – oft aber auch, ganz wie die noch vor einer Generation in Schulbüchern allgegenwärtigen «Bildquellen» zum Investiturstreit, verschwunden.

«Reformation» war schlechthin das Geschichtszeichen, mit dem seit etwa 1800 eine Generation nach der anderen «unsere» Epoche – eben die «Neuzeit» – beginnen ließ. Sie verdankt ihren Status weniger dem Theologen Martin Luther (†1546) als vielmehr dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (†1831), der «Reformation» mit der Aura des Anfangs «unserer» Welt versehen hat. Auch dieses besonders prominente Geschichtszeichen «Reformation» ist abhängig von einer Grundsatzentscheidung historischen Arbeitens – von der Entscheidung für das Epochenmodell «Antike–Mittelalter–Neuzeit», also jener makrohistorischen Langzeitbehauptung, die sich im späten 18. Jahrhundert etablierte, seither das historische Denken in Portionen teilte, seit den 1960er Jahren zumindest in den Bekenntnissen der Einleitungsprosa bestritten wurde, heute prinzipiell kaum mehr ernst genommen, aber immer noch durch Modifikationen am Leben gehalten und weitergeschleppt wird. Ich will (und kann natürlich) mit der Suche in den folgenden sieben Kapiteln keine neuen «Geschichtszeichen» setzen. Aber vielleicht kann man – insbesondere durch den Medienwechsel – deutlich machen, wie sich die Blicke auf das Material der Vergangenheit, die Auswahlkriterien für wichtig und unwichtig, die Bedeutung spezifischer Medien für die Darstellung vergangener Gesellschaften derzeit verändern.

Im Jahr 526 starb jener Papst, für dessen ebenso politische wie spirituelle Baumaßnahmen sich die reiche Turteltaube (oder Turtura) engagiert hatte, die Protagonistin des ersten Kapitels. Am Grab dieser Römerin beginnen die Beobachtungsstrecken der folgenden Kapitel, die auf langfristige Pfadabhängigkeiten in der Geschichte Lateineuropas zielen, insbesondere mit Blick auf Effekte der «römischen Revolution» des vierten bis sechsten Jahrhunderts für das Verwandtschaftssystem und die gesellschaftliche Aufgabenverteilung fundamentaler sozialer Aufgaben wie der Totensorge und der Gottesverehrung.

Im Jahr 1535 ist in England ein politisch hochriskantes Druckerzeugnis erschienen – die erste vollständige englischsprachige Bibel. Der gerade von Basel nach London umgesiedelte jüngere Hans Holbein hat sich mit einem erstaunlichen Frontispiz beteiligt. Dieses Frontispiz ist Kontext und Datierungshinweis für ein undatiertes, handliches Gemälde desselben Holbein, mit dem das letzte Kapitel beginnt. Es führt ins England der 1530er Jahre, in einen Moment, in dem in weiten Teilen der lateinischen Gesellschaften zwar nicht um «revolutionäre» Transformationen gerungen wurde, aber doch um signifikante Modifikationen jener sakralen und menschlich-existentiellen («ontologischen») Vorstellungswelten, die von Figuren wie Turtura durchgesetzt worden sind.

1. Das Grab der Turteltaube

Spuren einer epochalen Revolution

Hier ruht Turteltaube  Eine aussichtsreiche Fährte zu jenen Protagonistinnen und Protagonisten, die in den lateinischen Provinzen des römischen Imperiums binnen weniger Generationen eine neue Zivilisation hervorgebracht haben, führt zu einem Grabmal in den Katakomben des alten Rom am Tiber.[1] Um 530, so deutet man gemeinhin die Indizien, ist das aufwendige Grab in Auftrag gegeben worden.[2] Bestattet wurde darin eine Privatperson, eine reiche Römerin. Bildgestaltung, Text und die prominente Platzierung des Grabes führen einerseits zur damaligen Tagespolitik, zur systematischen Umgestaltung der politischen wie kultischen Topografie Roms durch die Päpste. Ein halbes Jahrhundert war vergangen seit dem letzten Versuch der politischen Elite, sich in der alten Italia wenigstens ein «Kaiserlein» (augustulus) zu halten, weit entfernt vom glänzenden Kaiserpalast in «Neu-Rom» (Νέα Ῥώμη, Nova Roma) oder «Constantinstadt» (Κωνσταντινούπολις, Constantinopolis) am Bosporus. Wichtiger aber als dieser Blick auf die tagespolitisch unruhigen Zeiten ist die Perspektive, die das Grab öffnet auf ein besonders instruktives Phänomen des Self-Fashioning, des performativen Selbstkonzepts einer durch ihren Wohlstand, ihr Netzwerk und ihre inszenierte Lebensweise öffentlich visiblen Privatperson, einer reichen Römerin in ausgesprochen turbulenten Jahrzehnten.

Zugang zum Kontext des Grabmonumentes und zum Self-Fashioning der Verstorbenen bietet zunächst die auffallend lange Inschrift im unteren Teil des Freskos. Ich-Person des Textes ist der Sohn der Verstorbenen, der das Grabmal für seine Mutter hat anlegen lassen (Abb. 2):

Nimm hin, o Mutter, die Tränen, die der überlebende Sohn mit Seufzern zu deinem Lob vergießt. Nach dem Tode des Vaters hast du 36 Jahre lang verwitwet (viduata) deinem Mann enthaltsam die Treue gehalten und Vater- und Mutterstelle an dem Sohne vertreten. In des Kindes Antlitz lebte dir Obas, der Gatte. Turteltaube hast du geheißen, und du warst auch wirklich eine Turteltaube, die nach dem Tod des Mannes keinen zweiten geliebt hat. Das Einzige, das einer Frau zum Lob gereicht, lehrst du, da du es in der Ehe gezeigt hast. Hier ruht in Frieden Turteltaube, welche mehr oder weniger 60 Jahre gelebt hat.[3]

«Turteltaube hast du geheißen». Der Name ist sehr selten, und er ist auffällig, zumal mit dem heutigen Wissen um die Geschichte des lateinischen Europa. Vor dem vierten Jahrhundert hat wohl kaum eine Frau so geheißen, auch später findet man diesen seltsamen Eigennamen nicht mehr.[4] Abgesehen von ihrem Grab wissen wir nichts über die reiche Turteltaube und ihren lange verstorbenen Ehemann Obas. Immerhin können wir über den Sohn sagen, dass er im Lobpreis seiner Mutter ein spezifisches Wissen offenbart, über das ein Sohn des fünften Jahrhunderts noch kaum hätte verfügen können. Auch modernen Leserinnen und Lesern ist es nicht mehr zugänglich: «Du warst auch wirklich eine Turteltaube.»

Abb. 2   

«Du warst auch wirklich eine Turteltaube» – so preist der trauernde Sohn seine Mutter auf dem Grabmal der Turteltaube (Turtura) in der Katakombe Commodilla vor den Toren Roms. Das Grab dürfte im Zuge umfassender Renovierungs- und Umbauarbeiten in der Katakombe durch Papst Johannes I. (523–526) an prominenter Stelle angelegt worden sein – nach geläufiger Datierung «um 530».

Das auffällig große Grabfresko einer Witwe mit dem – auch zu ihrer Zeit – seltenen Namen «Turteltaube» manifestiert das Ende der römischen Sozialstruktur, das Ende des männlichen Verwandtenverbandes und seiner Ahnenorientierung zugunsten der neuen, nachrömischen Welt – einer um das lebenslange, sogar überlebenslange Ehepaar organisierten Welt. Das Grab wird gewöhnlich «um 530» datiert. Nicht nur seine Größe war sehr ungewöhnlich, auch sein Standort, die Bildsprache in allen ihren Teilen sowie die extrem lange Inschrift waren zu Beginn des sechsten Jahrhunderts auffällig. Auch der Name der Verstorbenen – Turteltaube (Turtura) – muss Aufmerksamkeit erzeugt haben, zumal die Inschrift ihn eigens erläutert.

Wichtig für das Verständnis der umfassenden kulturellen Transformation, die in diesem Grab gebündelt aufscheint, ist auch der Sohn der Turteltaube – die Ich-Person der Inschrift – und besonders das, was dieser Sohn in der Inschrift für erwähnenswert hält: Seine Mutter sei genau das gewesen, was ihr Name sage: eine Turteltaube. Für ein gutes Jahrtausend sollte «Turteltaube» ein Wort höchstmöglicher moralischer Anerkennung bleiben, ehe es unverständlich wurde und sich in der Moderne geradezu ins Gegenteil verkehrte. Wer heute «turtelt», sammelt damit weder soziales Kapital noch bessere Aussichten auf einen Platz im Jenseits. – Rom, Catacombe di Commodilla, Via delle Sette Chiese.

Unser heutiges Alltagswissen reicht nicht aus, um in diesem Satz ein Lob zu erkennen, auch ein Griff zum Wörterbuch – «Wahrig» oder «Duden» – führt nicht weiter.[5] Das Wort «turteln» kennt man noch im Deutschen, «to bill and coo» (schnäbeln und turteln) im Englischen, «roucoluer» im Französischen, «tortoreggiare» im Italienischen; all diese Wörter sind heute – und schon seit etwa dem 18. Jahrhundert – weit entfernt von einem Lob für eine verstorbene Mutter. Wer heute «turtelt», sammelt damit weder soziales Ansehen noch bessere Aussichten auf einen guten Platz im Jenseits. «Turteln» ist in der Moderne nichts anderes als ein despektierliches Wort für einen Flirt.[6]

Als sei der Sinn des Lobes auch damals noch nicht selbstverständlich gewesen, schob der Sohn eigens eine Definition des Daseins als Turteltaube nach: «die nach dem Tod des Mannes keinen zweiten geliebt hat», stattdessen «enthaltsam die Treue gehalten». Für ein ganzes Jahrtausend – von den römischen Katakomben des sechsten Jahrhunderts bis zu William Shakespeares riesigem Globe Theatre im Londoner Stadtteil Bankside im frühen 17. Jahrhundert – sollte «Turteltaube» eines der höchstmöglichen Attribute des moralischen Lobes bleiben. Mehr noch, es war Abbreviatur einer sozialen Konzeption, sehr bald auch eines umfassenden Institutionengefüges, das mit der alten römischen Welt und ihren Institutionen kategorial gebrochen hat. Wie durch ein Brennglas bündeln das Grabmal und der Selbstentwurf dieser wohlhabenden Römerin die spezifischen Entstehungsbedingungen des lateinischen Europa. Erst seit dem 18. Jahrhundert wurde die Bedeutung von «Turteltaube» unverständlich und drehte sich in der Moderne geradezu ins Gegenteil.

Im Rom des letzten Kaiserleins  Um das Jahr 470 muss Turteltaube geboren sein, wenn man der gängigen Datierung des Grabmals folgt. Sie hatte kaum gelernt zu lesen, als der letzte Versuch scheiterte, im alten Rom einen Kaiser zu installieren. Der Kaiserhof am Bosporus erkannte den Versuch nicht an. Ein römischer Offizier mit einer sicher nicht römischen, ansonsten aber völlig unklaren Herkunft, Flavius Odoacer, schickte das letzte «Kaiserlein» (augustulus, er war – wie einige andere des fünften Jahrhunderts vor ihm – buchstäblich ein Kind) mit 6000 Goldmünzen (solidi) jährlich in Pension nach Neapel, sandte die Insignien des Kaisertums zurück nach Constantinopel und steuerte fortan selbst die Provinz Italien, entweder mit seinem römischen Titel patricius oder einfach als rex, also «Anführer».[7] Ein rex war um jene Zeit nicht unbedingt, was wir «König» nennen, sondern einfach eine Führungsfigur, die jenseits der römischen Ämterlogik regierte.

Als die reiche Dame starb und ihr Sohn das Grabmal errichtete, war der «Patrizier» oder «Anführer» Flavius Odoacer schon lange tot (†493). Um ein paar Jahre überlebte sie auch Odoacers Nachfolger Theoderich – ein Kind des römischen Imperiums mit Migrationshintergrund, geboren in Pannonien, aufgewachsen am Kaiserhof am Bosporus und mit den kulturellen Codes beider Welten vertraut. Den Tod jenes Papstes, dem sie ihr exponiertes Grab verdankte, hat sie ebenfalls miterleben müssen; er ist in Ravenna in den Kerkern des Theoderich zu Tode gekommen, «als Märtyrer».[8]

Nichts von diesen Ereignissen wird unmittelbar sichtbar an dem Grab der reichen Römerin, aber mittelbar ist das Grab ein Manifest jenes gewaltigen Umbruchs, den Historiker seit Edward Gibbons Buch von 1776 als «Verfall und Untergang des Römischen Imperiums» beklagt haben und den «Barbaren» in die Schuhe schieben wollten. Seit dem späten 20. Jahrhundert ist der «Niedergang» umgedeutet worden in eine «Transformation».[9] Die Vorstellung einer «Völkerwanderung» und des Aufstiegs «germanischer Reiche» ist als Altlast nationalistischer Geschichtsschreibung identifiziert und aus heutigen Hand- und Lehrbüchern weitgehend verschwunden.[10] Diese Korrekturen waren ein erster, wichtiger Schritt zu einer neuen historischen Deutung jenseits des Eurozentrismus und Nationalismus.

Das Grab der Turteltaube spielte in den großen historischen Darstellungen von Edward Gibbon bis zum Ende des Kalten Krieges keine Rolle. Es konnte nichts beitragen zu Deutungsmustern wie «Niedergang», «Barbaren», «Völkerwanderung» oder «Germanische Reiche». Heute stellen wir andere Fragen als zur Zeit der Aufklärung, auch andere als die Historiker (hier bedarf es ausnahmsweise keiner gender-neutralen Sprache) nationalistischer Geschichtsentwürfe. Deren Denkrahmen kann man für historische Antworten auf heutige Fragen nicht mehr brauchen. Durch diese Verschiebung der Fragen brechen alte Deutungsmuster zusammen und mit ihnen verschwinden Monumente, die bislang zum Kanon des stets Abgebildeten gehörten. Neue Monumente werden signifikant, die bislang keine Rolle gespielt haben.

Römer und Romanen bauen die postimperiale Welt  Was zu tun bleibt, ist die Arbeit an alternativen Deutungen. In den Blick geraten dabei weniger Migrationsgeschichten einiger Feldherren als eher Selbstinszenierungen wie jene der seltsamen Römerin um das Jahr 530. Denn es waren weitgehend Romaninnen und Romanen, die ihre alte Welt selbst auseinandergenommen haben. Es waren Römerinnen und Römer im alten Rom, Romanen und Romaninnen in Spanien oder jenseits der Alpen, die im Angesicht zunehmender Ferne und zunehmenden Desinteresses des Kaiserhofs selbst eine dramatisch andere Gesellschaft gebaut haben.[11] In großen Arealen des ehemals lateinischen Teils des Imperiums – in Nordafrika, Sizilien und Spanien – fanden diese internen Reorganisationen ein gewaltsames Ende durch die Expansion arabischer Gesellschaften seit den 630er Jahren. Diese wirbelten das alte Imperium nicht wie die Romanen mit dem Glaubensstifter Christus – einem Kind der römischen Welt – durcheinander; sie brachten ihren eigenen, sehr viel zeitgenössischeren Stifter mit, den eben erst gestorbenen Propheten Muhammed (†632, nach der Zählung der Christen).

In den griechischsprachigen Teilen des Imperiums führten die Impulse von «neuen» Römern und Römerinnen wie Turtura schon deshalb nicht zu einer dramatisch anderen Gesellschaft, weil (und dies muss trotz seiner Offensichtlichkeit immer noch kursiv herausgestellt werden) in der Griechisch sprechenden Welt noch für fast ein Jahrtausend der römische Kaiserpalast am Bosporus die Kontrolle behielt, das römische Imperium also weiterlebte, oft im Verteidigungskampf gegen militärische Gegner an seiner Ostgrenze. In den lateinischen Provinzen Mittel- und Norditaliens sowie nördlich der Alpen aber setzten sich jene Römer und Römerinnen durch, für die das Konzept «Turteltaube» eine zentrale Dimension war und «Kirche» (noch lange nicht «Reich», schon gar nicht «Staat») für Jahrhunderte das dominante politische Ordnungskonzept wurde.[12] Römer und Romanen, nicht «Barbaren», haben dieses nachrömische politische System entworfen und etabliert.

Die Konstruktion und Durchsetzung dieser neuen Kultur durch Architektinnen und Architekten aus dem Inneren der alten griechisch-römischen Mittelmeerwelt kann man nicht wahrnehmen, wenn man sich auf Chroniken und ähnliche erzählende Texte verlässt. Die Schlacht, der Krieg, die Intrige, die einfallenden Barbaren, der Mord, die Verwüstung – dies ist der Erzählmodus und die Begründungslogik der zeitgenössischen Chroniken. So mag man sich zwar hier und dort bei der Lektüre von Chroniken des fünften bis achten Jahrhunderts eine «Völkerwanderung» zusammenreimen. Wer aber die sehr verschiedenen Ausdrucksweisen einer Gesellschaft nebeneinander anschaut, muss sehr verschiedene, oft nicht zusammenpassende Indizien zusammenbauen. Dadurch wird viel deutlicher, dass die Römer und Romanen selbst die zentrale Rolle gespielt haben. Ihr Verhältnis zu den diversen Gruppen und Individuen von – oft vor Generationen – Eingewanderten, ohnehin eine verschwindende Minderheit, erscheint in ganz anderem Licht als mit dem Konzept «Völkerwanderung».[13] Das Grab der Turteltaube ist ein nützlicher Einstieg auf der Suche nach einem neuen Deutungsgerüst.

Viele der bildlichen Versatzstücke des Grabes sind aus heutiger Sicht erste oder sehr frühe Belege. Nur mit kleinen, aber signifikanten Accessoires greift das Grabmal auf das Zeichensystem der untergehenden Welt zurück. Wer immer die Bildkomposition für dieses große Grabmonument entwickelt hat, die Entscheidung manifestiert die Dekonstruktion einer alten und den Bau einer neuen Welt. Dies betrifft zunächst (1) das Bauprojekt als solches, seine Raumsituation und seine Finanzierung. Es betrifft (2) die Gestaltung des zentralen Personals der Gottesverehrung, also Christi, Mariens und der Märtyrer. Es betrifft (3) die Darstellung der verstorbenen Turteltaube, die keine Verbindung mehr zur langen römischen Tradition des Totenportraits hat. Schon ein Jahrhundert zuvor, zu Beginn des fünften Jahrhunderts, hatte man in Rom das Interesse an Bildern der Verstorbenen verloren. Es betrifft (4) die explizite Botschaft des Textes, denn das Monument preist ausdrücklich einen Lebensentwurf, der für die römische Gesellschaftsordnung geradezu zerstörerisch war. Er manifestiert das Ringen um soziale Klassifikationen, also um die Kriterien zur Einteilung der Gesellschaft in «Klassen» oder «Sorten» (genera), «Stände» (ordines, professiones), «Namen» (nomina). Kurz, er inszeniert die kämpferische Durchsetzung neuer sozialer Ordnungsmuster. Das Grab inszeniert damit zugleich (5) die Ablehnung der überlieferten Sozialstruktur samt ihrer Rechtfertigung – die Ablehnung der traditionellen Geschlechterverhältnisse im Rahmen der männlich strukturierten Verwandtschaftsverbände (Stichwort patria potestas, «väterliche Gewalt»), der Totensorge im Rahmen der Verwandtschaftsverbände (Stichwort «Ahnenkult»), der Rolle von Familie und Verwandtschaft (Stichwort «Durchsetzung der Monogamie»), der Zeichensysteme sozialer und politischer Positionierung. Ob diese reiche Frau aus einer senatorischen Familie stammte oder nicht, war nicht von Belang. Denn der zu jener Zeit seltsame Name Turteltaube war in der alten Gesellschaft keine soziale Kategorie, für die zukünftige, nachrömische lateinische Gesellschaft aber geradezu programmatisch.

Das Etikett «Turteltaube» ist eine besonders aussichtsreiche Fährte zu einer revolutionären Transformation, deren Effekte das lateinische Europa maßgeblich geformt haben: Es führt zu einer – im Vergleich der großen Weltkulturen – exzeptionellen Reorganisation von Ehe, Familie und Verwandtschaft binnen weniger Generationen. Seit der Ablösung der nationalen Geschichtswissenschaft durch ethnologisch und kulturwissenschaftlich geprägte Deutungen in den 1980er Jahren ist gerade die fundamentale Reorganisation von Ehe und Verwandtschaft – allein im lateinischen Teil des ehemaligen römischen Imperiums – als Schlüssel für die Deutung des lateinischen Europa und seiner spezifischen politischen Geschichte herausgearbeitet worden.[14]

Du warst wirklich eine Turteltaube

Eine reiche Römerin inszeniert die neue Gesellschaft

Wenn man den Versuch machen kann, in weit entfernten Zeiten nach Exzentrikern zu suchen – nach Leuten, die ihr Anderssein in Szene setzten und mit ihrem performativen Überschreiten des Gewöhnlichen zu jenen Zeitgenossen gehört haben, die eine Neugestaltung der Gesellschaft herausgefordert haben –, dann ist die reiche Turteltaube eine geeignete Kandidatin.

Nach der Zeit der Katakomben  Wer sich zu Beginn des sechsten Jahrhunderts einen Grabplatz in einer Katakombe sicherte, zumal an derart exklusiver Stelle in einem Kultraum gleich neben einem Heiligenpaar, war schon deshalb nicht normal. Als Turteltaube starb, war die Zeit der unterirdischen Totenstätten schon seit einem Jahrhundert vorbei. Nur für gut anderthalb Jahrhunderte – etwa gleichzeitig mit der Christianisierung der römischen Gesellschaft – haben die Stadtrömer massenhaft ihre Toten in unterirdischen Gängen bestattet, offenbar aus Platzmangel und wegen hoher Grundstückspreise. Kleinere Anlagen gab es zwar schon seit dem zweiten Jahrhundert, aber erst seit Beginn des vierten Jahrhunderts haben die Stadtrömer die unterirdischen Gänge massiv ausgebaut. Seinerzeit hat sich die Bevölkerung in rasantem Tempo der Weltdeutung und Kultpraxis der Kirche zugewendet, nachdem unter der Herrschaft Constantins des Großen (306–337) die Kirche nicht nur zu einer erlaubten, sondern zu einer gegenüber älteren Formen der Gottesverehrung begünstigten und geförderten Gemeinschaft geworden war (Stichwort: «Constantinische Wende»). Je nach dem Gott oder den Göttern, mit denen es die Familien der Toten hielten, gab es andere Vorlieben, aber offenbar nur wenige Vorschriften oder exklusive Katakomben. Auf rund 175 Kilometer summieren sich die bisweilen planlos über mehreren Etagen mäandernden, bisweilen auch planvoll im Schachbrettmuster angelegten Gänge der etwa 70 Katakomben des alten Rom. Rund 875.000 Gräber haben Archäologen ermittelt. Ein winziger Teil war mit Malereien versehen. Während bis heute immerhin 40.000 Grabinschriften erhalten sind, sind nur rund 400 ausgemalte Grabbereiche erhalten.[15]

Abb. 3   

Das Bild zeigt den heutigen Zustand des Kultraums für die beiden heiligen Märtyrer Felix und Adauctus in der Commodilla-Katakombe. Die Katakombe ist von der päpstlichen «Kommission für sakrale Archäologie» in den Jahren 1903 bis 1905 ausgegraben worden.

In den Jahren 523 bis 526 hat Papst Johannes I., so steht es in seinem Tätigkeitsbericht, «die Ruhestätte der heiligen Felix und Adauctus umgearbeitet» in den seinerzeit längst verfallenen Katakombengängen. Dabei hat er einen kleinen Kultraum anlegen lassen. Das Foto bietet den Blick von dem ebenfalls neu angelegten Eingang in den neuen Kultraum: Linkerhand sahen die Eintretenden das Grabbild der Turtura, das wegen seiner Prominenz auf ihr Mäzenatentum schließen lässt, an der Frontseite in der linken Nische die Gräber der heiligen Felix und Adauctus, rechts daneben eine zweite, ebenfalls neu angelegte Nische. Oberhalb der rechten Nische sind Reste der ursprünglichen Eingangstreppe in die Katakomben erhalten geblieben, die bei der Umgestaltung der alten Begräbnisstätte in einen Kultraum zerstört wurde. – Rom, Catacombe di Commodilla, Via delle Sette Chiese.

Vom Tempo, mit dem die Bevölkerung in den frühen 300er Jahren von mythologischen zu kirchlichen Bildern und Kultpraktiken übergegangen ist, vermitteln die Bilder der Verstorbenen einen Eindruck: Als die Römer begannen, bei den Katakombenbetreuern und Grabbauern (den fossores) Gräber mit christlichen Motiven zu bestellen, haben sie traditionelle Gewohnheiten aus der Zeit der mythologischen Grabbilder weitergepflegt. Die Wohlhabenden ließen weiterhin Totenportraits auf die Gräber malen, und weiterhin gab es das regelmäßige rituelle Totenmahl in der Nähe der Gräber.[16] Christliche Versionen des Totenportraits, insbesondere die sogenannte Orantenhaltung («Bittendenhaltung» oder «Betendenhaltung» mit erhobenen Armen) setzten sich als serielles und zunehmend monumentales Motiv schnell durch. Besonders der Bestand der erhaltenen christlichen Sarkophage ist sprechend: Obwohl die frühesten Sarkophage mit christlichen Themen erst aus den 280er/90er Jahren stammen, sind die alten mythologischen Themen kaum noch zu finden, seit die Kaiser Constantin und Licinius im Jahr 313 «sowohl den Christen wie auch allen übrigen die freie Befugnis gewährten, sich der Gottesverehrung (religio) anzuschließen, die jeder sich wählen würde».[17] «Der Wechsel zu fast ausschließlich christlichen Themen», um Norbert Zimmermanns Zuspitzung zu wiederholen, «vollzieht sich radikal, wie ein Bruch, in weniger als einer Generation.» Das häufigste Bildmotiv dieser neuen, christlichen Grab- und Sarkophagbilder, häufiger als jedes biblische Bildthema, waren Bilder der Verstorbenen.[18]

Doch diese um 300 ins christliche Sinnuniversum übertragenen römischen Bildnisse der Verstorbenen sind so plötzlich wieder verschwunden, wie sie sich durchgesetzt hatten. Im frühen fünften Jahrhundert – also ein gutes Jahrhundert vor dem Tod der reichen Turteltaube – verloren die Römer das Interesse an den Katakomben, und zwar wiederum binnen weniger Jahrzehnte. Begräbnisplätze kaufte man nun oberirdisch, meist in der Nähe von Kirchen. Mit der Aufgabe der Katakomben verschwanden auch die Bilder der Verstorbenen. Die lange Geschichte des römischen Totenportraits endet also nicht mit der Christianisierung der Gräber, sondern erst mit ihrer Verlagerung im fünften Jahrhundert auf oberirdische Plätze – auf Plätze jener Art, die heute noch die Regel sind.[19]

Wer Erklärungen sucht für das rasche Verschwinden der Totenportraits, wird zunächst bei den Aktivitäten der römischen Bischöfe fündig: Der Eingang in die Katakombe der Commodilla ist heute noch dort, wo er seit dem Jahr 526 war, an der Via delle Sette Chiese, im Süden Roms. Wer herabsteigt, etwa zwanzig Meter dem engen, dunklen Gang folgt und sich dann nach links wendet, trifft auf einen länglichen, unregelmäßigen Raum von etwa elf mal vier Metern. Archäologen haben ihn zwischen 1903 und 1905 im Auftrag der päpstlichen «Kommission für sakrale Archäologie» ergraben.[20] Das gut zwei Meter breite und etwa 2,30 Meter hohe Grabfresko (Abb. 2) beherrscht den Raum, ist aber nicht das einzige Grab. Es gibt zwei weitere, ebenfalls durch Position und Gestaltung herausgehobene Gräber an der Stirnseite des Raumes. Bestattet waren dort zwei lange zuvor verstorbene Heilige – Felix und Adauctus. Das vergleichsweise riesige Grabmal der Turteltaube steht für eine der spätesten Bestattungen, die es insgesamt in den Katakomben Roms gegeben hat. Insofern ist das Grabbild ein letztes Bild. Beobachtet man aber die Raumsituation und durchwandert die Einzelheiten von Bild und Text, so zeigt sich: Es ist ein erstes Bild, ein Bild, das für das fundamental veränderte gesellschaftliche Koordinatensystem der damaligen Zukunft steht.[21]

 … die Ruhestätten umgearbeitet …»  Auf der Suche nach der Deutung und Datierung der überdimensionierten Repräsentation in einem offensichtlich privilegierten Raum orientiert sich die Forschung an einem sehr kurzen und trockenen zeitgenössischen Bericht. Seit dem frühen sechsten Jahrhundert ließen die römischen Bischöfe ein Buch mit fortlaufenden Tätigkeitsberichten in Form kurzer Protokolle führen – das Bischofsbuch, in dem die Handlungen der gesegneten Hohepriester der Stadt Rom enthalten sind.[22] Dieses Buch erzählt nur sehr knapp von den Baumaßnahmen, die der römische Bischof Johannes in den Jahren 523 bis 526 durchführen ließ. Der Text lässt immerhin deutlich genug erkennen, wie die alten Totenstollen vor den Toren Roms einer neuen Verwendung dienen sollten:

Dieser Papst (papa) hat die Ruhestätte (cymiterium) der seligen Märtyrer Nereus und Achilleus an der Via Ardeatina wiederhergestellt (refecit); ebenso hat er die Ruhestätte der heiligen Felix und Adauctus umgearbeitet (renovavit); und er hat die Ruhestätte der Priscilla umgearbeitet.[23]

Was das Bischofsbuch als «Ruhestätte der heiligen Felix und Adauctus» bezeichnet, befand sich in einer großen, längst verfallenen unterirdischen Anlage, der Katakombe (catacumba) oder Ruhestätte (coemeterium) der Commodilla. Bei den Baumaßnahmen des sechsten Jahrhunderts ging es darum, mehr als hundert Jahre nach Aufgabe der Katakomben bestimmte Gräber wie jene der Märtyrer Felix und Adauctus intensiv aufzuwerten und in einen systematischen kirchlichen Märtyrerkult zu integrieren. Die «Umarbeitung» (oder «Erneuerung») bedeutete, wie noch heute sichtbar ist, für die Heiligen Felix und Adauctus nicht weniger als die Verdopplung der Raumbreite, zudem eine deutliche Anhebung der Raumhöhe, die den Bau vielleicht, wie bisweilen vermutet wird, aus der Erde herauswachsen ließ und nun Tageslicht durch Fenster statt wie zuvor durch senkrechte Lichtschächte gewährte.[24] Für den Effekt des Umbaus war wichtig, dass der Eingang des neuen Raumes weiterhin unter der Erde lag, Besucher mithin schon im Herabsteigen erlebten, dass sie direkt dort ankamen, wo tatsächlich die Körper der Heiligen ruhten. Diese bauliche Lösung, eine kleine Kirche mit einem Altar am authentischen Ort des Märtyrergrabs, erlaubte Priestern die Messfeier direkt am Grab der Märtyrer.

Derartige Baumaßnahmen mit dem Geld privater Finanziers durchzuführen, war zur Zeit Turturas schon lange keine Herausforderung mehr. Die systematischen Grundlagen hatte seit den 360er Jahren, als im Stadtraum Roms noch in alter Gewohnheit Senat und Zirkusspiele funktionierten,[25] der römische Bischof Damasus (366–384) gelegt. Er hatte, so erinnert dasselbe Bischofsbuch, «viele Körper von Heiligen gesucht und gefunden». Mit aufwendigen steinernen Inschriften hat er seine «gefundenen» Körper zu Monumenten gemacht. Im Rahmen dieser Maßnahmen wurde auch «auf Damasus’ Befehl» für Felix und Adauctus «das Grab gebaut und die Wohnstätte der Märtyrer geschmückt». Ein Fragment dieses Schmucks, eine Inschrift, ist noch heute in den Vatikanischen Museen erhalten.[26] Zigtausende Römer müssen zu dieser Zeit noch die unterirdischen Gräbertunnel bevölkert haben, um ihre Toten zu besuchen oder, wie es um 400 ein berühmter Autor schildert, einfach um dort herumzugehen:

Als ich ein Kind Roms war und die freien Künste studierte, pflegte ich mit anderen gleichgesinnten Altersgenossen an Sonntagen in den Gräbern (sepulcra) der Apostel und Märtyrer herumzugehen und häufig die Grüfte (crypta) zu betreten, die, tief in die Erde gegraben, beiderseits der Eintretenden in den Wänden die Leiber der Begrabenen bergen.

Der Autor dieser Erinnerung war der Intellektuelle und Kirchenpolitiker Hieronymus, ihn hatten diese Ausflüge anscheinend ordentlich gegruselt:

Selten fällt von oben Licht ein, das den Schrecken der Finsternis mildert, und es tritt wohl nicht so sehr aus einem Fenster als vielmehr einem Loch. Wenn man schrittweise zurückgeht, umgeben von dunkler Nacht, stellt man sich jenen Vers Vergils vor: ‹Schrecken überfällt mich allenthalben, gleichzeitig ängstigt mich gerade die Stille›.[27]

Hieronymus muss als junger Einheimischer die strategischen Umbaumaßnahmen des Bischofs Damasus miterlebt haben, mit denen der Bischof einen offiziellen Märtyrerkult etabliert und zum zentralen Teil kirchlicher Politik gemacht hat. Umfassend hat der römische Bischof Märtyrermonumente geschaffen, die Verehrung strukturiert und vereinheitlicht, durch Beschriftungen Routen für Besucher vorgegeben und auf diese Weise die Pilgerströme geradezu erzeugt.[28] Die so gewonnene Kontrolle über die Märtyrerverehrung war zugleich ein Eingriff in die traditionelle Art der Totensorge. Binnen weniger Generationen etablierte sich statt des Totengedächtnisses am Grab mit dem traditionellen Totenmahl in der Nähe des Grabes eine neue Art der Totensorge, für die das Grab nicht wichtig war: Die Gräber wanderten ins Umfeld der Kirchen, oft sogar in die Kirchen – entscheidend für das Totengedächtnis war nun der Altar.[29] Die institutionellen Folgen dieser Verschiebung waren grundsätzlich und langfristig, denn Totensorge war nun nicht mehr in der Hand der Familien, sondern in der Hand der Priester. Nur diese konnten Messen feiern (Kap. 4).

Die aufwendige Grabstätte der Turteltaube in der Commodilla-Katakombe ist Generationen nach diesen Veränderungen errichtet worden, 150 Jahre nach der Etablierung des organisierten Märtyrerkultes durch Bischof Damasus, ein gutes Jahrhundert nach dem Ende der Katakomben, des Totenmahls und des Verstorbenenbildes. Sie repräsentiert ein grundsätzlich verschobenes Interesse und eine grundsätzlich neu organisierte Form der Totensorge. Im Kern zeigt das Grab zwei gesellschaftlich einschneidende Veränderungen: das Ende des um männliche Ahnenreihen organisierten römischen Verwandtenverbandes und das Ende der Familie als Trägerin der Totensorge. Da keine weiteren Informationen zu Turteltaube, ihrem Mann Obas und ihrem Sohn erhalten sind, bleiben nur die Indizien des Grabes und seiner spezifischen, für die Zeit außergewöhnlichen Raumsituation.