Das Gespenst der Inflation - Isabella M. Weber - E-Book

Das Gespenst der Inflation E-Book

Isabella M. Weber

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Beschreibung

Ein Lehrstück über den Umgang mit Preissteigerungen

Nach dem Ende von Maos Herrschaft stand die politische Führung in China Ende der siebziger Jahre vor gewaltigen Problemen: Wie sollte sie das bankrotte Wirtschaftssystem neu erfinden? Wie eine galoppierende Inflation vermeiden, die als Schreckgespenst durch das Land spukte? Durch Schocktherapie oder schrittweise Reformen? Letztendlich obsiegten die Kräfte, die für einen staatlich gelenkten Wandel plädierten. Anders als Russland, das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in einen katastrophalen Abwärtsstrudel geriet, erlebte China einen beispiellosen Aufstieg.

Isabella M. Weber, eine der bedeutendsten Ökonominnen ihrer Generation, zeichnet in ihrem hoch gelobten Buch die damaligen Debatten um die Neugestaltung des chinesischen Wirtschaftssystems minutiös nach und ordnet diese Diskussionen in die langen Traditionen des ökonomischen Denkens im Reich der Mitte und des Westens ein. Insbesondere zeigt sie, wie es gelang, die Inflation zu begrenzen. Chinas Weg zurück in die Weltwirtschaft, so Weber, ist nicht nur die Geschichte einer einzigartigen Transformation. Angesichts der Verwerfungen auf den Energiemärkten und der dramatisch gestiegenen Lebenshaltungskosten sind die Auseinandersetzungen um Preiskontrollen und andere staatliche Eingriffe zudem lehrreich für aktuelle Debatten.

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Cover

Titel

3Isabella M. Weber

Das Gespenst der Inflation

Wie China der Schocktherapie entkam

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Suhrkamp

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel How China Escaped Shock Therapy. The Market Reform Debate bei Routledge (London und New York).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023© 2021 Isabella M.WeberAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin

eISBN 978-3-518-77554-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einleitung

Der Grundgedanke der Schocktherapie

Die intellektuellen Grundlagen von Chinas gradueller Vermarktlichung und die Abkehr von der Schocktherapie

Teil

I

 ‌ Inflation und Preisstabilisierung zwischen Markt und Staat

1 Der Staat als Marktteilnehmer. Das

Guanzi

und die

Debatte über Salz und Eisen

Die »Leicht-Schwer«-Prinzipien der Preisregulierung im

Guanzi

Der historische Kontext

Das Leichte und das Schwere

Stabilisierung des Getreidepreises

Das Salz- und Eisenmonopol

Die Debatte über Salz und Eisen

Der historische Kontext

Idealismus oder Pragmatismus

Ergebnis und Vermächtnis der

Debatte über Salz und Eisen

und der Logik des

Guanzi

2 Von der Marktwirtschaft zur Kriegswirtschaft und zurück. Preiskontrollen und Inflationsdruck in den

USA

im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit

How to Pay for the War:

Nachdenken über Preiskontrollen

Die Praxis der Preiskontrollen in den Vereinigten Staaten

Der Übergang zur Friedenswirtschaft und die Lehren aus der Kriegswirtschaft

Der Angriff auf die Preiskontrollen

3 Sieg über die Hyperinflation. Kommunistische Revolution, Markterschaffung und Preisstabilisierung

Hyperinflation und gescheiterte Bemühungen um Preiskontrolle

Die kommunistische Preisstabilisierung durch »wirtschaftliche Kriegführung«

Xue Muqiao: Revolutionärer Ökonom und Architekt der Wirtschaftsreformen

Revolution und Sieg über die Hyperinflation

Teil

II

  Chinas Rückkehr zum Markt

4 Ausbruch aus der alten Ordnung. Preise in der maoistischen Wirtschaft und die Notwendigkeit von Reformen

Industrialisierung, Kluft zwischen Stadt und Land, Preisstabilität

Das maoistische Preissetzungssystem

Güterklassifizierung und Typen von Preisen

Staatsbetriebe, Planung und Preise

Reformdruck und Rolle der Preise

5 Der Markt tritt auf den Plan. Chinesische Ökonomen, die Weltbank, deutsche und osteuropäische Besucher

Erste Schritte zur Änderung des Preissystems

Grundprinzipien der Preisreform

Chinesische Funktionäre erklären der Weltbank die Preisreform und die Rückkehr des Gespensts der Inflation

Im Austausch mit ausländischen Ökonomen: Die Idee des Big Bang kommt nach China

Reform als Systemwechsel: Brus

Werben für das deutsche Wirtschaftswunder in China: deutsche Ordoliberale und Friedman

Preisliberalisierung als Ziel, Preisberechnung als Methode: Šik

Die Weltbank-Konferenz in Moganshan: Die Idee eines Big Bang nimmt Form an

6 Marktaufbau oder Preisfreiheit? Landwirtschaftsreform, junge Intellektuelle und das zweigleisige Preissystem

Ländliche Reformen und Aufstieg der jungen Intellektuellen

Von der informellen Praxis zur offiziellen Politik: Die Nachwuchskonferenz in Moganshan und das zweigleisige Preissystem

Die »Entscheidung« von 1984

7 Die Schocktherapie im Kreuzfeuer. Der Zusammenprall von zwei Paradigmen der Marktreform und das Gespenst der Inflation

Die Vorbereitungen für »einen großen Schritt«

Der Boden für die schlagartige Preisreform wird bereitet

Rückenwind aus dem Ausland: Die Bashan-Bootskonferenz

Das Programmbüro von 1986

Die Urknall-Lösung wird widerlegt

Eine Urknall-Preisreform ist keine Lösung für ein strukturelles Ungleichgewicht: Li Yinings Gegenangriff

Lehren aus der Reformpraxis: Die Studien des Systemreforminstituts in China, Ungarn und Jugoslawien

Zhao Ziyang wird gewarnt

8 Schock ohne Therapie. Ursachen und Folgen der Inflation von 1988

Reform in der Sackgasse

Drohende Inflation, Korruption und konkurrierende Reformparadigmen

Zhao Ziyangs Haltung und seine Kritiker

Die Lateinamerika-Connection

Die Preisreform wird verkündet

Schluss

Der Idealismus der Paketreform

Der Pragmatismus des zweigleisigen Preissystems

Eine folgenschwere Entscheidung

Wichtige chinesische Reformökonomen

An Zhiwen (安志文, 1919-2017)

Bai Nanfeng (白南风, 1952-)

Bao Tong (鲍彤, 1932-)

Chen Yizi (陈一咨, 1940-2014)

Cheng Zhiping (成致平, 1926-2015)

Deng Liqun (邓力群, 1915-2015)

Dong Fureng (董辅礽, 1927-2004)

Du Runsheng (杜润生, 1913-2015)

Gao Shangquan (高尚全, 1929-)

Guo Shuqing (郭树清, 1956-)

He Weiling (何维凌, 1944-1991)

Hua Sheng (华生, 1953-)

Huang Jiangnan (黄江南, 1949-)

Li Jiange (李剑阁, 1949-)

Li Xianglu (李湘鲁, 1949-)

Li Yining (厉以宁, 1930-)

Liao Jili (廖季立, 1915-1993)

Liu Guoguang (刘国光, 1923-)

Liu Zhuofu (刘卓甫, 1911-1993)

Lou Jiwei (楼继伟, 1950-)

Lu Mai (卢迈, 1947-)

Luo Xiaopeng (罗小朋, 1947-)

Ma Hong (马洪, 1920-2007)

Song Guoqing (宋国青, 1954-)

Sun Yefang (孙冶方, 1908-1983)

Tang Zongkun (唐宗焜, 1933-)

Tian Yuan (田源, 1954-)

Wang Qishan (王歧山, 1948-)

Wang Xiaolu (王小鲁, 1951-)

Wang Xiaoqiang (王小强, 1952-)

Weng Yongxi (翁永曦, 1948-)

Wu Jinglian (吴敬琏, 1930-)

Xue Muqiao (薛暮桥, 1904-2005)

Yu Guangyuan (于光远, 1915-2013)

Zhang Musheng (张木生, 1948-)

Zhang Weiying (张维迎, 1959-)

Zhu Jiaming (朱嘉明, 1950-)

Anmerkungen

Einleitung

1 Der Staat als Marktteilnehmer Das

Guanzi

und die

Debatte über Salz und Eisen

2 Von der Marktwirtschaft zur Kriegswirtschaft und zurück Preiskontrollen und Inflationsdruck in den

USA

im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit

3  Sieg über die Hyperinflation Kommunistische Revolution, Markterschaffung und Preisstabilisierung

4  Ausbruch aus der alten Ordnung Preise in der maoistischen Wirtschaft und die Notwendigkeit von Reformen

5  Der Markt tritt auf den Plan Chinesische Ökonomen, die Weltbank, deutsche und osteuropäische Besucher

6  Marktaufbau oder Preisfreiheit? Landwirtschaftsreform, junge Intellektuelle und das zweigleisige Preissystem

7  Die Schocktherapie im Kreuzfeuer Der Zusammenprall von zwei Paradigmen der Marktreform und das Gespenst der Inflation

8  Schock ohne Therapie Ursachen und Folgen der Inflation von 1988

Schluss

Dank

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Bildnachweise

Register

Fußnoten

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7Vorwort zur deutschen Ausgabe

Als ich dieses Buch schrieb, konnte ich nicht ahnen, welche wirtschaftspolitische Relevanz es kurz nach seiner Veröffentlichung bekommen sollte. Die englische Originalausgabe erschien im Mai 2021. Große Teile der Welt befanden sich wegen der Covid-19-Pandemie immer noch im Lockdown. Europäische Staaten und die USA griffen auf lange nicht gekannte Art und Weise in die Wirtschaft ein. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation im Frühjahr 2020 den Ausbruch einer Pandemie erklärt hatte, plädierten renommierte US-Ökonomen gar für eine Rückkehr zu einer Art Kriegswirtschaft. Eine solche Planwirtschaft wurde nicht von heute auf morgen eingeführt. Aber Regierungsentscheidungen und die Launen des Virus machten dem Markt als Herren der Wirtschaft ernst zu nehmende Konkurrenz. Staaten entschieden, wer zur Arbeit gehen durfte und wer zu Hause bleiben musste und welche Unternehmen ihre Produktion fortsetzen und welche sie vorübergehend einstellen mussten. Praktisch über Nacht veränderten die Konsumenten ihr Verhalten. Sie wollten nun Küchenmaschinen statt Mahlzeiten in Restaurants; Tulpenzwiebeln statt Flugtickets; Fahrräder statt Bahnfahrten usw. Es kam zu plötzlichen Verschiebungen entlang der vielen Wertschöpfungsketten in der globalisierten Wirtschaft. Inputs fehlten, weil Fabriken auf der anderen Seite des Planeten geschlossen wurden oder Chaos an den Häfen zu scheinbar endlosen Verzögerungen führte. Die Überflussgesellschaften, die daran gewöhnt waren, dass die Waren der Welt nur einen Klick entfernt waren, sahen sich auf einmal mit der Gleichzeitigkeit von Knappheit und Überangebot konfrontiert.

Mit einem Mal war Sand im Getriebe des globalen Produktionsnetzwerks, das noch vor Kurzem wie ein Uhrwerk funktioniert hatte. Das führte zu weitreichenden Verwerfungen, die der Preismechanismus nicht auf die Schnelle korrigieren konnte: Auch mit Preissenkungen konnte man die Menschen nicht in die Restaurants oder an die 8Flughäfen zurücklocken, solange Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen untersagt waren oder die Kunden aus Angst um ihre Gesundheit und ihr Leben fernblieben. Preissteigerungen wurden hingegen dort zur Norm, wo Unternehmen ihr begrenztes Inventar mit unsicheren Aussichten auf Neulieferungen zu höheren Preisen verkauften. Handelte es sich um die Preise verzichtbarer Luxusgüter, bescherten die Preissteigerungen so manchem Unternehmen gute Gewinne. Gesamtwirtschaftlich betrachtet, waren sie indes ohne größere Konsequenz. Als jedoch die Preise essenzieller Produktionsinputs wie Chemikalien, Öl, Gas, Nahrungsmittel und Rohstoffe sowie essenzieller Dienstleistungen etwa in der Logistik in die Höhe schnellten, kam es zu einem Kostendruck, der bald gesamte Volkswirtschaften erfasste und zur Rückkehr der Inflation beitrug.

Die meisten Ökonomen in Europa und den USA hatten sich lange Zeit nicht mehr mit dem Thema Inflation auseinandergesetzt. Ein galoppierender Preisanstieg war in den reichen Ländern zuletzt in den siebziger Jahren ein Problem gewesen. In den Jahrzehnten der Globalisierung hatte man sich an stabile Preise gewöhnt. Manche konservativen Ökonomen warnten dennoch, die großen Rettungspakete, die zur Bekämpfung der durch die Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Schwierigkeiten verabschiedet worden waren, würden Inflationsdruck zur Folge haben. Die Zentralbanken, so forderten sie, sollten umgehend die Zinsen erhöhen. Viele progressive und liberale Ökonomen hielten dagegen: Es bestehe kein Handlungsbedarf, weil die punktuellen Preisanstiege keine wirkliche Inflationsgefahr darstellten. Auch gebe es keinen hinreichenden Nachfrageüberhang.

Die Forschungen, die diesem Buch zugrunde liegen, werfen ein anderes Licht auf die Dinge. Chinas Marktreformen in den achtziger Jahren bilden den historischen Fokus der folgenden Kapitel. Thematisch steht die Inflationsgefahr in schnellen Umbruchsprozessen wie dem Übergang von einer Kriegs- zu einer Nachkriegswirtschaft und von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft im Zentrum. Während der Reformen in China, die durch Vermarktlichung einen rasanten Strukturwandel einleiten sollten, war eine aufgrund knapper Vorprodukte 9ausgelöste Inflation eine drohende Gefahr – ein Gespenst, das diesen Prozess von Anfang an begleitete. Als die Wirtschaft infolge der Pandemie in den Lockdown ging und anschließend »wiedereröffnet« wurde, ergaben sich Herausforderungen für die Preisstabilität, die denen in der Volksrepublik während der achtziger Jahre erstaunlicherweise durchaus ähnlich waren, auch wenn es in institutioneller und politischer Hinsicht radikale Unterschiede gibt. Ich erwartete, dass mit der plötzlichen Angebotsverknappung bei Vorprodukten aufgrund von Lieferkettenengpässen Preisanstiege einhergehen würden. Eine ähnliche Situation war auch in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg eingetreten. Damals kam es zu Engpässen und Preisschüben, da die Umstellung der Produktion Zeit kostete. Wie ich in diesem Buch darlege, hatten damals führende amerikanische Ökonomen verschiedenster Denkschulen dafür plädiert, selektive Preiskontrollen zu nutzen, um einer Inflation vorzubeugen. Nur die radikalsten Anhänger des freien Marktes waren unmittelbar nach dem Krieg gegen einen solchen strategischen Einsatz von Preiskontrollen.

Im November 2021 gab der White House Council of Economic Advisors ein Memo heraus, in dem er Parallelen zwischen der Pandemie und dem Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg darlegte. Kurz darauf veröffentlichte ich einen Artikel in der britischen Zeitung The Guardian. Ich verwies auf Präsident Bidens Wirtschaftsberater und darauf, dass einige der wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts in der unmittelbaren Nachkriegszeit für selektive Preiskontrollen plädiert hatten. Preiskontrollen sind ein äußerst kontroverses wirtschaftspolitisches Werkzeug und nur unter ganz bestimmten Umständen ein Mittel der Wahl. Weder argumentierte ich für eine unmittelbare Umsetzung solcher Kontrollen noch für ein umfassendes Preiskontrollregime. Ich versuchte lediglich darzulegen, dass die dominante Sicht auf die Inflationsbekämpfung wichtige historische Erfahrungen und Argumente ausblendete. Die Geschichte zeige, dass es neben Zinserhöhungen, die eine Rezession zur Folge haben können, und schlichtem Nichtstun noch eine dritte Möglichkeit gibt: Maßnahmen, um Preisschocks dort abzufedern, wo sie auf10treten, anstatt ihre Wirkungen das gesamte Wirtschaftssystem infizieren zu lassen. Es sei an der Zeit, so argumentierte ich, darüber nachzudenken, wie eine solche Preispolitik aussehen könnte.

Ich hatte mich um vorsichtige Formulierungen bemüht. Aber es stellte sich heraus, dass das Stichwort »Preiskontrollen« ausreichte, um in den sozialen Medien einen Sturm der Empörung auszulösen. Nicht zuletzt, um mit den extremen Anfeindungen fertigzuwerden, nahm ich mich selbst beim Wort und fing an, darüber nachzudenken, wie die von mir ins Spiel gebrachte Preispolitik aussehen könnte. Ich fokussierte mich auf Deutschland und den Gaspreis, denn dieser hatte schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 ein für viele Verbraucher problematisches Niveau erreicht. Ausgehend von den Einsichten in diesem Buch, kam ich zu dem Schluss, dass eine Preispolitik so angelegt sein müsse, dass sie den Preis dort stabilisieren würde, wo in kurzer Zeit keine ausreichende Angebots- oder Nachfrageanpassungen möglich waren, und gleichzeitig den Marktpreis dort wirken ließe, wo Sparpotenzial bestand. Gemeinsam mit Sebastian Dullien, dem Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf, entwickelte ich diese Idee weiter, bis wir schließlich gemeinsam unseren Vorschlag für einen Gaspreisdeckel am 12. Februar 2022 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten.

Der russische Krieg in der Ukraine, Putins Exportstopps und der Versuch der westlichen Staaten, dem Krieg durch Sanktionen Einhalt zu gebieten, bedeuteten für den Energiesektor, dass der Markt in seiner Funktion als Mechanismus zur Allokation von Gütern und Dienstleistungen noch größere Konkurrenz bekam als während der Pandemie. Ein beträchtlicher Teil des internationalen Öl- und Gasangebotes wurde nun von geostrategischem Kalkül und nicht von den Gesetzen des Marktes bestimmt. Das Ergebnis einer politisch erzeugten Knappheit war, dass die bereits vor dem Krieg schnell steigenden Energiepreise in Europa explodierten, insbesondere bei Gas und Strom. Dieser Preisexplosion folgte nicht unmittelbar eine ausreichende Anpassung des Angebots. Die Regierungen europäischer Staaten unternahmen enor11me diplomatische Anstrengungen, um neue Versorgungsquellen aufzutun. In der Zwischenzeit trieb der Preisschock die Inflation weiter in die Höhe. Für viele Haushalte in Deutschland und anderen europäischen Ländern hieß das ganz konkret: unbezahlbare Gasrechnungen. Erfolgreiche Unternehmen in energieintensiven Branchen sahen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit plötzlich gefährdet.

Im Verlauf des Frühjahrs und Sommers schlossen sich mehr und mehr Interessengruppen und Parteien, die normalerweise entgegengesetzte Positionen vertreten, unserem Vorschlag für einen Preisdeckel an: Mieter- und Vermieterverbände, Verbraucherschützer und Vertreter des Einzel- und Großhandels, CDU/CSU und Die Linke. Schließlich entschied sich die Regierungskoalition im September, eine Expertenkommission einzusetzen, um einen Vorschlag für eine Gaspreisbremse zu entwickeln. Ich wurde als Mitglied in die Kommission berufen. In den Diskussionen mit anderen Ökonomen tauchten viele der Argumente auf, die ich in diesem Buch nachzeichne.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Gaspreisbremse in der Praxis macht. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass sie bereits zu einer signifikanten Senkung der Inflation beiträgt. Eine der Lektionen dieses Buches lautet, dass eine Zeitenwende radikale Unsicherheit bedeutet. In einer solchen Situation geht es darum, »nach Steinen tastend den Fluss zu überqueren«. Es gibt keine letztgültigen Antworten; nur den Versuch, den richtigen nächsten Schritt zu finden, und bei Fehlern den Mut zur Korrektur aufzubringen. Das erfordert eine Diskussionskultur, die unterschiedliche Positionen und konstruktiven Austausch über verschiedene Lager hinweg zulässt.

Dieses Buch wurde in einer Zeit geschrieben, in der die Beziehungen zwischen China und dem Westen noch wesentlich entspannter waren als heute. Als ich in den Jahren 2016 und 2017 Teilnehmer an der chinesischen Reformdebatte interviewte, verwiesen einige meiner Gesprächspartner darauf, dass die Offenheit der achtziger Jahre lange der Vergangenheit angehöre und der hier geschilderte Ideenaustausch mit den mächtigsten Mitgliedern der politischen Führung in dieser Form inzwischen nicht mehr möglich wäre. Doch die Haltung 12gegenüber dem Ausland war noch nicht so konfrontativ wie gegenwärtig, und die Herrschaft einer Fraktion im Inland war noch nicht so gefestigt. In Anbetracht der dramatischen Umbrüche während der letzten Jahre könnte man meinen, dieses Buch stamme aus einer anderen Zeit. Die in ihm aufgearbeitete Geschichte macht das nicht weniger relevant. Es geht um die intellektuellen Grundlagen von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg. In der Gleichzeitigkeit von Aufstieg und ausgebliebener institutioneller und politischer Assimilation an den Westen liegt eine der Ursachen für die heutigen Spannungen.

Das Gespenst der Inflation ist ein wenig beachteter Verknüpfungspunkt in der Geschichte Chinas und Deutschlands. Beide Länder haben im 20. Jahrhundert extreme Erfahrungen mit Hyperinflation gemacht, die zu fundamentalen politischen Umbrüchen beitrugen, wenn auch in entgegengesetzte politische Richtungen: in Deutschland die Machtergreifung der Nationalsozialisten, in China die kommunistische Revolution. In beiden Ländern herrscht daher ein akutes Bewusstsein für das politisch explosive Potenzial der Inflation. In China spielte die Angst vor der Inflation eine große Rolle bei der Entscheidung der politischen Führung gegen eine Schocktherapie, auch wenn dieser Schritt immer wieder sehr ernsthaft in Erwägung gezogen wurde. In der chinesischen Marktreformdebatte kamen wiederholt auch deutsche Ökonomen zu Wort. Auf Chinas Suche nach dem richtigen Reformansatz wurde die Interpretation der Preis- und Währungsreform unter Ludwig Erhard zu einem hart umkämpften Thema. Hoffentlich kann dieses Buch ein neues Licht auf die unwahrscheinlichen Verbindungen in der deutsch-chinesischen Inflationsgeschichte werfen und durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu unseren heutigen Bemühungen beitragen, Inflation auch in Zeiten sich überlappender Krisen zu vermeiden.

Los Angeles, 22. Januar 2023

13Vorwort

Ich wuchs in den neunziger Jahren in einer Stadt auf, die eine gute Fahrstunde von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt liegt, die wenige Jahre vorher noch als der Eiserne Vorhang bezeichnet worden war. In meiner Jugend war der Eindruck des kapitalistischen Triumphs ebenso ein allgegenwärtiges, subtiles Thema wie die tiefe soziale Kluft zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands. Die sozialistische Vergangenheit großer Teile der Welt lebte in den Erzählungen von Verwandten und Bekannten weiter.

Im Jahr 1987, meinem Geburtsjahr, reisten meine Großeltern nach China. Wenige Monate nachdem auf einem Ausflugsschiff auf dem Jangtse die berühmte internationale Bashan-Wirtschaftskonferenz stattgefunden hatte, fuhren sie den gewaltigen Strom hinunter. Sie erinnerten sich gerne an einen chinesischen Studenten, der sie als Dolmetscher begleitet hatte. Er hatte ihnen über eine kulturelle Öffnung und weitreichende Debatten berichtet, aber auch die Befürchtung geäußert, dass diese Entwicklung ein plötzliches Ende finden werde. Einige Wochen nach der Einreichung meiner Doktorarbeit, auf der dieses Buch beruht, starb meine Großmutter. In ihrem Haus fand ich zu meiner Verblüffung zahlreiche Fotos und Zeitungsausschnitte über das China der achtziger Jahre, darunter Materialien über einige der bekannten Reformökonomen, mit deren Beiträgen ich mich in diesem Buch beschäftige.

Ich begann mein Bachelor-Studium in Berlin im Jahr 2008 während der globalen Finanzkrise. So wie viele andere Studierende war ich schockiert darüber, dass unsere Volkswirtschaftsprofessoren so wenig über die tieferen Ursachen der Krise zu sagen hatten. Im Jahr darauf ging ich nach Peking, um mein Studium dort fortzusetzen. Unzufrieden mit der Wirtschaftswissenschaft in den Lehrbüchern und neugierig auf die chinesische Wirtschaft, besuchte ich Vorlesungen in einem der angesehensten Management- und Volkswirtschaftsprogramme des 14Landes. Obwohl das chinesische Wirtschaftssystem offenkundig anders funktionierte als das westliche, stellte ich verwundert fest, dass dort die Wirtschaftswissenschaft aus den gleichen amerikanischen Lehrbüchern unterrichtet wurde, die ich an der Universität in Berlin studiert hatte. Diese Beobachtung führte mich zu folgender Frage: Wie hatte sich die chinesische Ökonomik seit maoistischer Zeit dem globalen Mainstream angepasst? Nach meiner Rückkehr nach Berlin arbeitete ich mit Kollegen aus der ehemaligen DDR zusammen, deren Leben sich infolge des Mauerfalls grundlegend verändert hatte. Ihre Lebensgeschichten bewegten mich dazu, eine zweite Frage zu stellen: Warum war die Geschichte Ostdeutschlands anders verlaufen als die Chinas? In diesem Buch versuche ich, zur Beantwortung dieser beiden Fragen beizutragen.

Auf der Suche nach einer Pluralität von Wirtschaftstheorien nahm ich nach meinem Bachelor-Abschluss ein Studium an der New School of Social Research in New York auf, wo ich später promovierte. Um mich auch mit China zu beschäftigen, ging ich an die Universität Cambridge für eine zweite Promotion. Hier begann meine Suche nach einer Antwort auf die zentrale Frage dieses Buchs: Welches waren die intellektuellen Grundlagen dafür, dass China in den achtziger Jahren der Schocktherapie entkam? Für meine Forschung habe ich zahlreiche chinesische und internationale Beteiligte und Beobachter der erbittert geführten chinesischen Reformdebatte der achtziger Jahre interviewt. Auf ihren Geschichten beruht dieses Buch.

15Einleitung

Das heutige China ist fest in den globalen Kapitalismus integriert. Doch die verblüffende wirtschaftliche Entwicklung der Volksrepublik über die letzten Jahrzehnte hat nicht zu einer umfassenden institutionellen Anpassung an den Neoliberalismus geführt1 – im Widerspruch zu der nach dem Ende des Kalten Kriegs verbreiteten Ansicht, die einen »völligen Sieg der wirtschaftlichen und politischen Freiheit« in aller Welt vorhersagte.2 Das Zeitalter der Revolutionen endete im Jahr 1989, aber wider Erwarten war die Folge nicht der universelle Siegeszug des »westlichen« Wirtschaftsmodells.3 Wie sich herausgestellt hat, ermöglichte die graduelle Vermarktlichung Chinas wirtschaftlichen Erfolg, ohne gleichzeitige völlige Anpassung. Die Spannung zwischen dem Aufstieg der Volksrepublik und ihrer lediglich partiellen Assimilierung prägt unsere Zeit. Ihren Ursprung hat sie im chinesischen Ansatz zur Marktreform.

Die Literatur zum chinesischen Reformprozess ist umfangreich und vielgestaltig. Die Wirtschaftspolitik, die das Land bei der Lösung vom Staatssozialismus verfolgte, ist gut erforscht. Dabei wurde jedoch weitgehend außer Acht gelassen, dass die graduelle, vom Staat geleitete Transformation der chinesischen Volkswirtschaft keineswegs von vornherein feststand oder aufgrund des chinesischen Exzeptionalismus die »natürliche« Wahl war. Im ersten Jahrzehnt der »Reform- und Öffnungspolitik« unter Deng Xiaoping (1978-1988) wurde um den künftigen wirtschaftspolitischen Weg in einer erbittert geführten Debatte gerungen. Befürworter einer Liberalisierung mittels Schocktherapie stritten mit Ökonomen, die eine von den Rändern des Wirtschaftssystems ausgehende graduelle Vermarktlichung empfahlen. Bei zwei Gelegenheiten wurden die Weichen für einen »Big Bang« in der Preisreform gestellt. Beide Male nahm die chinesische Führung schließlich Abstand von dieser Lösung.

Was in der Debatte über die Marktreform auf dem Spiel stand, 16wird deutlich, wenn man den Aufstieg Chinas mit dem Zusammenbruch Russlands vergleicht.4 In Russland, dem anderen ehemaligen Riesen des Staatssozialismus, wurde die Schocktherapie angewandt, die das neoliberale Rezept schlechthin war.5 Mit dramatischen Folgen: Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sieht einen »Kausalzusammenhang zwischen der von Russland verfolgten Politik und dem schlechten wirtschaftlichen Abschneiden des Landes«.6 Russland und China haben mittlerweile ihre Positionen in der Weltwirtschaft getauscht. Russlands Anteil am globalen Bruttoinlandsprodukt schrumpfte zwischen 1990 und 2017 um fast die Hälfte von 3,7 auf 2 Prozent, während der chinesische Anteil im selben Zeitraum von lediglich 2,2 Prozent um das Sechsfache auf etwa ein Achtel der globalen Wirtschaftsleistung wuchs (siehe Schaubild 0.1). Russland erlebte eine dramatische Deindustrialisierung, während China zur sprichwörtlichen Werkbank des globalen Kapitalismus wurde.7 Das durchschnittliche Realeinkommen von 99 Prozent der Russen war im Jahr 2015 niedriger als im Jahr 1991, während es sich in China im selben Zeitraum trotz rasant zunehmender Ungleichheit mehr als vervierfachte und im Jahr 2013 das russische Durchschnittseinkommen überstieg (siehe Schaubild 0.2).8 Infolge der Schocktherapie erhöhte sich die Sterblichkeit in Russland in einem Maß, das nie zuvor in Friedenszeiten in einem industrialisierten Land beobachtet worden war.9

In Anbetracht des verglichen mit Russland niedrigen Entwicklungsstands Chinas zu Beginn der Reformära hätte eine Schocktherapie wahrscheinlich ein noch größeres Maß an menschlichem Leid verursacht. Sie hätte auch das Fundament des wirtschaftlichen Aufstiegs der Volksrepublik untergraben, wenn nicht sogar zerstört. Es ist schwer vorstellbar, wie der globale Kapitalismus heute aussehen würde, hätte China denselben Weg wie Russland eingeschlagen.

Trotz ihrer weitreichenden Konsequenzen hat die wichtige Rolle der chinesischen Debatte über den Reformkurs kaum Beachtung gefunden. Der bekannte Entwicklungsökonom Dani Rodrik von der Universität Harvard spricht für die Mehrheit der Volkswirte, wenn er auf die Frage, ob »irgendjemand die (westlichen) Ökonomen oder 17die Forschungsarbeiten benennen« könne, »die eine wichtige Rolle in den chinesischen Reformen spielten«, die Antwort gibt, die Wirtschaftsforschung habe »zumindest in ihrer herkömmlichen Form« in diesem Prozess keine »nennenswerte Rolle« gespielt.10

Schaubild 0.1: Anteil Chinas und Russlands am globalen BIP, 1990-2017. Quelle: World Bank 2019b.

In den folgenden Kapiteln werden wir in die achtziger Jahre zurückkehren und uns mit der Frage beschäftigen, welches die intellektuellen Grundlagen dafür waren, dass China der Schocktherapie entkam. Die Angst vor einer Rückkehr der Inflation, die im chinesischen Bürgerkrieg der vierziger Jahre eine wichtige Rolle für die Niederlage der Kuomintang, der Nationalen Volkspartei Chinas unter Führung von Chiang Kai-shek, spielte, spukte dabei wie ein Gespenst im Hintergrund. Die Auseinandersetzung mit der chinesischen Debatte über die Marktreform liefert Aufschlüsse über die wirtschaftlichen Gründe für den Aufstieg des Landes und die Ursprünge der heutigen Beziehung zwischen Staat und Markt.

China weicht im Wesentlichen nicht durch die Größe seines Staatsapparats im Verhältnis zur Volkswirtschaft, sondern durch die Art der 18wirtschaftlichen Lenkung vom neoliberalen Ideal ab. Der neoliberale Staat ist weder klein noch schwach, sondern vielmehr stark.11 Sein Zweck besteht darin, die Unabhängigkeit des Marktes zu verteidigen. Auf einer grundlegenden Ebene bedeutet dies, dass er freie Preise als unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft schützen muss. Im Gegensatz dazu setzt der chinesische Staat den Markt als Werkzeug ein, um seine übergeordneten Entwicklungsziele zu erreichen. So wahrt er ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Souveränität, welche die chinesische Wirtschaft bis zu einem bestimmten Grad von Schwankungen an den globalen Märkten entkoppeln kann – wie die Asienkrise von 1997 und die globale Finanzkrise im Jahr 2008 deutlich gezeigt haben. Die Beseitigung einer solchen »wirtschaftlichen Abschottung« war lange ein Ziel der Neoliberalen, und die ge19genwärtige globale Ordnung wurde so gestaltet, dass sie dem Schutz nationaler Volkswirtschaften vor dem globalen Markt ein Ende machte.12 Indem es der Volksrepublik gelang, der Schocktherapie zu entkommen, bewahrte sich der chinesische Staat die Fähigkeit, die für die wirtschaftliche Stabilität und das Wachstum wichtigsten Sektoren zu lenken, während die chinesische Volkswirtschaft in den globalen Kapitalismus integriert wurde.

Schaubild 0.2: Durchschnittseinkommen in China und Russland nach Bevölkerungsquantilen, 1980-2015. Quelle: Alvaredo et al. 2017.

Der Grundgedanke der Schocktherapie

Die Schocktherapie stand im Mittelpunkt der im Washington-Konsens festgeschriebenen »Doktrin des Übergangs«,13 welche die Bretton-Woods-Institutionen, also die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, vielen Entwicklungsländern, den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie Russland nahelegten.14 Bei oberflächlicher Betrachtung handelte es sich um ein umfassendes Maßnahmenpaket, das auf einen Schlag umgesetzt werden sollte, um die Planwirtschaft durch einen Schock in eine Marktwirtschaft umzuwandeln.15 Das Paket umfasste (1) die schlagartige Freigabe sämtlicher Preise, (2) die Privatisierung der Staatsunternehmen, (3) die Liberalisierung des Handels und (4) die Stabilisierung der Wirtschaft durch eine strikte Geld- und Haushaltspolitik.

Diese vier Bestandteile der Schocktherapie sollten gleichzeitig umgesetzt werden und bildeten theoretisch ein umfassendes Paket. Eine genauere Analyse zeigt, dass tatsächlich nur ein Teil des Maßnahmenpakets auf einen Schlag umgesetzt werden konnte, nämlich eine Kombination der Bestandteile (1) und (4): Preisliberalisierung und strenge Sparpolitik.

Die beiden US-amerikanischen Ökonomen David Lipton und Jeffrey Sachs sprachen für die Befürworter der Schocktherapie, als sie einräumten, dass eine schnelle Privatisierung in der Praxis schwierig sei.16 Ihnen war bewusst, dass die Privatisierung in einer Volkswirtschaft, die in erster Linie auf dem Staatseigentum beruhte, eine gewaltige 20Aufgabe war. Sie setzten die große Zahl von Staatsbetrieben in den sozialistischen Ländern in Beziehung zu den Privatisierungsbemühungen in Großbritannien und erklärten, dass Margaret Thatcher, die »weltweit führende Vorkämpferin der Privatisierung«, im Lauf der achtziger Jahre lediglich den Übergang von einigen Dutzend Staatsunternehmen in private Hände durchgesetzt hatte.17 »Die große Vexierfrage lautet, wie eine Vielzahl von Firmen auf eine Art privatisiert werden kann, die gerecht, schnell und politisch durchsetzbar ist und wahrscheinlich eine effektive Struktur für die Unternehmensleitung hervorbringen wird.«18 Ihre einigermaßen unbestimmte Empfehlung lautete: »Zur Privatisierung sollten wahrscheinlich zahlreiche verschiedene Mittel eingesetzt werden«, und sie müsse »rasch, aber nicht unbedacht« durchgeführt werden.19 Die Autoren des im Jahr 1990 von Internationalem Währungsfonds, Weltbank, OECD und Europäischer Bank für Wiederaufbau und Entwicklung gemeinsam erstellten Berichts The Economy of the USSR warnten ebenfalls davor, die Privatisierung zu schnell voranzutreiben, solange »die relativen Preise noch nicht gefunden sind«.20 Die Freigabe der Preise auf dem Binnenmarkt war nach Einschätzung der Befürworter der Schocktherapie auch eine Vorbedingung für die Handelsliberalisierung.21 Ein »Urknall« in der Preisliberalisierung wurde so zur Voraussetzung sowohl der Privatisierung als auch der Handelsliberalisierung erklärt und stellt den »Schock« in der Schocktherapie dar.

Was als umfassendes Reformpaket präsentiert wurde, erwies sich als ein Vorgehen, das zunächst auf ein einziges Element der Marktwirtschaft fixiert war: die Preisbildung auf dem Markt. Und diese Einseitigkeit beruhte nicht einfach darauf, was machbar war. Der tiefere Grund für die Fixierung auf die Preisliberalisierung liegt in der neoklassischen Vorstellung vom Markt als Preismechanismus, unabhängig von den institutionellen Realitäten.22 Die Neoliberalen sehen im reinen Markt den einzigen Mechanismus, der geeignet ist, die Wirtschaft rational zu organisieren, und seine Funktionstüchtigkeit hängt von freien Preisen ab.23

Entsprechend der Logik der Schocktherapie, wie man sie beispiels21weise in den Arbeiten von David Lipton und Jeffrey Sachs findet, würde die Freigabe aller Preise »auf einen Schlag« die Verzerrung der relativen Preise korrigieren, die als Vermächtnis der Planwirtschaft zu niedrig für Erzeugnisse der Schwerindustrie und Anlagegüter und zu hoch für Produkte der Leichtindustrie, Dienstleistungen und Konsumgüter waren.24 Auch in dem Bericht The Economy of the USSR wurde gefordert:

 

Nichts wird wichtiger für einen erfolgreichen Übergang zu einer Marktwirtschaft sein als die Freigabe der Preise, um die Ressourcenzuteilung regulieren zu können. Eine frühe und umfassende Aufhebung der Preiskontrollen ist unverzichtbar, um sowohl den Mangel als auch die makroökonomischen Ungleichgewichte, welche die Volkswirtschaft zunehmend beeinträchtigen, zu beseitigen.25

 

Eine solche umfassende Preisliberalisierung musste mit Stabilisierungsmaßnahmen kombiniert werden, um das allgemeine Preisniveau unter Kontrolle zu bringen.26 Sofern ergänzende Makromaßnahmen ergriffen wurden, konnte die Preisliberalisierung nach Einschätzung der Verfechter der Schocktherapie zwar »zu einem einmaligen sprunghaften Preisanstieg, aber nicht zu anhaltender Inflation führen«.27 Als tatsächliche Gründe für die anhaltende Inflation in den staatssozialistischen Volkswirtschaften identifizierten sie den Nachfrageüberhang infolge hoher Budgetdefizite, die »schwachen Budgetbeschränkungen«, die lockere Geldpolitik und Lohnerhöhungen infolge der Politik, keinerlei Arbeitslosigkeit zuzulassen.28 Nach Einschätzung der Schocktherapeuten konnten diese Probleme mit einer »hohen Dosis makroökonomischer Sparsamkeit« unter Kontrolle gebracht werden, da sie im Wesentlichen keine strukturellen Ursachen hatten, sondern auf die Geldpolitik zurückzuführen waren.29

Den »einmaligen sprunghaften Preisanstieg«, mit dem die Neoliberalen nach einer umfassenden Preisliberalisierung rechneten, begrüßten sie, weil er »die überschüssige Liquidität absorbieren« und dadurch die Sparpolitik festigen würde.30 Mit anderen Worten, ein Anstieg des allgemeinen Preisniveaus würde den Wert der Ersparnisse mindern und dadurch den chronischen Nachfrageüberhang in den sozialistischen Volkswirtschaften verringern. Der dafür zu zahlende Preis – der darin 22bestand, dass den Bürgern der bescheidene Wohlstand entzogen wurde, den sie in den ersten Reformjahren erworben hatten – wurde als notwendiges Opfer betrachtet.31 Tatsächlich handelte es sich um eine regressive Umverteilung, die den Eliten zugutekam, die Zugang zu nichtmonetäre Vermögenswerte hatten. Die Umverteilung von unten nach oben war seit der westdeutschen Preis- und Währungsreform unter Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bestandteil der Schocktherapie.32 Um der Gesellschaft über Nacht Marktbeziehungen aufzuerlegen, musste die Ungleichheit vergrößert werden.

Der Natur und Struktur der Institutionen, aus denen die neue Marktwirtschaft bestehen würde, schenkten die Anhänger der Schocktherapie nur geringe Aufmerksamkeit. Das von Lipton, Sachs und vielen anderen einschließlich von Ökonomen in sozialistischen Ländern empfohlene Reformpaket »erschuf« keine Marktwirtschaft, wie ihre einflussreiche Studie über Polen nahelegte.33 Stattdessen war die Hoffnung, dass die Zerstörung der Planwirtschaft automatisch eine Marktwirtschaft hervorbringen werde.34 Die Schocktherapie ist kein Rezept für den Aufbau, sondern für Zerstörung. War die Planwirtschaft erst einmal dem Schock zum Opfer gefallen, so würde die »unsichtbare Hand« eingreifen und auf wundersame Weise die Entstehung einer funktionierenden Marktwirtschaft ermöglichen.

Dies war eine Verdrehung von Adam Smiths berühmter Metapher. Smith, ein scharfsinniger Beobachter der industriellen Revolution, die sich vor seinen Augen entfaltete, sah in der »natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen«, den Ursprung der Arbeitsteilung,35 wobei er jedoch darauf hinwies, dass »die Marktgröße den Umfang der Arbeitsteilung begrenz[t]«.36 Der Markt entfaltete sich Smith zufolge langsam, während die Institutionen entstanden, die den Güteraustausch ermöglichten.37 Im Verlauf dieses Prozesses konnten die unsichtbare Hand und mit ihr der Preismechanismus nur Schritt für Schritt ihre Wirkung entfalten. Im Gegensatz dazu besagt das Konzept der Schocktherapie, ein Land könne »zur Marktwirtschaft springen«.38

Die bei der Schocktherapie verschriebene Zerstörung beschränkt 23sich nicht auf das Wirtschaftssystem. Eine weitere Bedingung muss erfüllt werden: eine »revolutionäre Veränderung des Staatssystems«.39 Oder wie es Lipton und Sachs ausdrückten: »Der Zusammenbruch der kommunistischen Einparteienherrschaft war die unabdingbare Voraussetzung für den effektiven Übergang zu einer Marktwirtschaft.«40 Tatsächlich mussten erst der sowjetische Staat und die kommunistische Einparteienherrschaft zusammenbrechen (Dezember 1991), damit eine Urknall-Reform stattfinden konnte. Am 2. Januar 1992 schaffte der russische Präsident Boris Jelzin fast alle Preiskontrollen ab. Eine radikale Preisreform war unter Parteichef Michail Gorbatschow seit 1987 mehrfach ins Auge gefasst, aber nie durchgeführt worden, da die russische Bevölkerung dagegen protestierte und die Experten vor Unruhen warnten. Gorbatschow versuchte es auch mit einem graduellen Zugang wie in China, der jedoch scheiterte.41

Mit dem Versprechen des langfristigen Nutzens versuchten die Verfechter der Urknall-Reform, kurzfristige Schäden wie eine hohe Inflation als auch die augenblicklichen Auswirkungen auf die Interessen von Arbeitskräften und Unternehmen sowie auf die staatlichen Behörden zu rechtfertigen. Die radikale Preisliberalisierung wurde in Russland erst nach der Auflösung des sowjetischen Staats möglich. Der »Zusammenbruch der kommunistischen Einparteienherrschaft« erwies sich tatsächlich als »unabdingbare Voraussetzung« für die radikale Preisfreigabe, aber diese ermöglichte keinen Sprung in eine funktionierende Marktwirtschaft. Statt des vorhergesagten einmaligen Anstiegs des Preisniveaus trat Russland in eine lang andauernde Hochinflationsphase ein, die mit einem Produktionseinbruch und folglich niedrigen Wachstumsraten einherging (siehe Schaubild 0.3).42 Viele postsozialistischen Länder, die eine Art von Schocktherapie anwandten, erlebten eine tiefe und mehrjährige Rezession und galoppierende Inflation.43 Abgesehen von der Verwüstung, die in den Wirtschaftsindikatoren zum Ausdruck kommt, schrumpften die Kennzahlen für das Wohlergehen der Bevölkerung, darunter Zugang zu Bildung, Abwesenheit von Armut sowie Volksgesundheit.44

24Die intellektuellen Grundlagen von Chinas gradueller Vermarktlichung und die Abkehr von der Schocktherapie

Das makroökonomische Ergebnis der chinesischen Reformpolitik war dem der russischen diametral entgegengesetzt: Die Inflation war gering oder bewegte sich in erträglichen Grenzen, während die Produktion rasant wuchs (siehe Schaubild 0.4). Anstatt das bestehende Preisbestimmungs- und Planungssystem in der Hoffnung zu zerstören, »aus den Ruinen« werde eine Marktwirtschaft auferstehen, wählte China einen experimentellen Zugang und nutzte die institutionellen Gegebenheiten, um ein neues Wirtschaftssystem mit einer zentralen Rolle des Marktes zu errichten. Der Staat schuf schrittweise Märkte an den Rändern des alten Systems. Wie ich zeigen werde, war der chinesische Reformprozess graduell, und zwar nicht einfach in Bezug auf die Geschwindigkeit, sondern was das Vorgehen von den Rändern des alten Industriesystems zu seinem Zentrum anbelangt. Die graduelle Vermarktlichung setzte eine Dynamik von Wachstum und Reindustrialisierung in Gang, die schließlich in kurzer Zeit die gesamte politische Ökonomie verwandelte, wobei der Staat die Kontrolle über die Schlüsselpositionen in der entstehenden kapitalistischen Wirtschaft wahrte. Das wichtigste Element der chinesischen Reformmethode ist das zweigleisige Preissystem, das Gegenteil der Schocktherapie. Anstatt alle Preise auf einen Schlag freizugeben, plante der Staat anfangs weiterhin die Aktivität des industriellen Kerns der Volkswirtschaft und setzte die Preise grundlegender Güter fest, während die Preise der Überschussproduktion sowie der nicht grundlegenden Güter sukzessive freigegeben wurden. Das Resultat war, dass der Markt schrittweise die Preisfindung übernahm (siehe Schaubilder 0.5, 0.6 und 0.7). So konnte nicht zuletzt eine galoppierende Inflation vermieden werden.

Das zweigleisige System war nicht einfach eine Preispolitik, sondern ein Prozess der Markterrichtung und -regulierung durch staatliche Beteiligung. Vor der Reform war die gesamte Industrieökonomie als eine einzige Fabrik mit untergeordneten Produktionseinheiten 25konzipiert. Das zweigleisige Preissystem verwandelte sozialistische Produktionseinheiten in gewinnorientierte Unternehmen und schuf Raum für expandierende Marktbeziehungen samt all ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Umwelt. Die Umwandlung des Wirtschaftssystems wurde in jeder Phase vom Staat gelenkt. Im Gegensatz dazu führte die schlagartige Preisliberalisierung im Rahmen der Schocktherapie zu einer Desorganisation der vorhandenen Produktionsbeziehungen, ohne sie in der kurzen Frist durch effektive Marktbeziehungen zu ersetzen. In diesem Schwebezustand funktionierten weder die alten Befehlsstrukturen der Planwirtschaft noch der Markt richtig.45

Schaubild 0.3: Verbraucherpreisindex und reales BIP in der UdSSR und (ab 1990) Russland, 1980-2016. Quellen: VPIUdSSR, 1971-1990 (IWF et al. 1991: 100); VPI Russland, 1991 (Filatochev et al. 1992: 746), 1992 (Sachs 1994: 70), 1993-2016 (IWF 2017); BIP (Alvaredo et al. 2017).

Ende der siebziger Jahre hatte Chinas Führung die revolutionären Bestrebungen des maoistischen Regimes weitestgehend aufgegeben. In den achtziger Jahren lautete die zentrale Frage nicht einfach nur, ob die Wirtschaft reformiert werden sollte, wie eine übliche Verengung auf einen Gegensatz zwischen Konservativen und Reformern na26helegt. Vielmehr war eine hart umkämpfte Frage, wie die Wirtschaft reformiert werden konnte: Sollte man das alte System zerstören oder als Fundament nutzen, auf dem das neue errichtet werden konnte?

Schaubild 0.4: Verbraucherpreisindex und reales BIP in China, 1980-2016. Quellen: VPI (IWF 2017); BIP (Alvaredo et al. 2017).

Um eine Metapher zu verwenden: Während die Schocktherapie vorsah, das ganze Haus abzureißen und an seiner Stelle ein neues zu errichten, funktionierte die chinesische Reform wie das Jenga-Spiel: Es wurden nur jene Bausteine entfernt, die flexibel neu angeordnet werden konnten, ohne die Stabilität der gesamten Konstruktion zu gefährden. Trotzdem wurde das Gebäude in diesem Prozess grundlegend verändert. Wie jeder, der schon einmal Jenga gespielt hat, weiß, können bestimmte Bausteine nicht entfernt werden, ohne dass der Turm einstürzt.

China hätte beinahe eine zerstörerische Methode angewandt und stand im entscheidenden ersten Jahrzehnt der Reformen (1978-1988) kurz davor, die Preise essenzieller Güter schlagartig freizugeben. Aber letzten Endes nahm die Führung davon Abstand, nicht zuletzt aufgrund der Angst vor dem Gespenst der Inflation. Dieses Gespenst 27war seit der Hyperinflation der vierziger Jahre, die der Revolution den Weg bereiten half, von großer Bedeutung für die Kalküle führender Kommunisten. Selbst in den häufig chaotischen wirtschaftlichen Verhältnissen der Mao-Jahre war Preisstabilität ein oberstes Gebot. Um einen Kontrollverlust zu vermeiden, entschieden sich die Reformer für einen experimentellen Gradualismus. Die graduelle Reformmethode, die China in die Lage versetzte, wirtschaftlich aufzuholen, seine Industrie aufzubauen und sich in den globalen Kapitalismus zu integrieren, sorgte auch dafür, dass die institutionelle Konvergenz zwischen China und der neoliberalen Ausprägung des Kapitalismus unvollständig blieb. Wie im Jenga-Spiel wurde der neue Turm von der Struktur des alten geprägt. Es war also sowohl für den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes als auch für seine nur partielle institutionelle Assimilierung entscheidend, dass sich das Land der Schocktherapie entzog.

Schaubild 0.5: Änderung der Methode zur Bestimmung der Einzelhandelspreise, 1978-2004.

Die Schocktherapie beruht auf der neoklassischen Ökonomie, die den intellektuellen Brückenschlag zwischen maßgeblichen westlichen Wirtschaftswissenschaftlern und Marktsozialisten im Osten ermöglichte.46 Hingegen wissen wir wenig über die Theorien und Ideen, die 28China vor der Schocktherapie bewahrten – die Ökonomie der graduellen Vermarktlichung. In diesem Buch unterziehe ich die chinesische Marktreform der achtziger Jahre einer historischen Analyse und untersuche, wie das zweigleisige Preissystem theoretisch entworfen, angefochten und gegen die Schocktherapie verteidigt wurde. Dabei spielt die Herausforderung, Preisstabilität durch einen wirtschaftlichen Umbruch hinweg zu wahren, eine wichtige Rolle.

Schaubild 0.6: Änderung der Methode zur Bestimmung der Preise von Agrarerzeugnissen, 1978-2004.

In diesem Buch analysiere ich die verschiedenen chinesischen Reformperspektiven und setze mich eingehend mit dem Gehalt, den Ursprüngen und der zugrunde liegenden Logik der ökonomischen Argumente auseinander, die von den konkurrierenden Fraktionen von Reformökonomen vorgebracht wurden. Gleichzeitig will ich diese Argumente in den jeweiligen Kontext einordnen. Ich konzentriere mich auf eine zentrale Frage im Reformprozess, nämlich die der Preisreform und damit des Marktaufbaus. Doch die Analyse der verschiedenen Standpunkte in Bezug auf diesen zentralen Aspekt der Wirtschaftsreform fördert einen umfassenderen Konflikt zwischen fundamental widersprüchlichen Ansätzen in Fragen der Wirtschaftspolitik und der 29Wirtschaftswissenschaft zutage. Hier handelt es sich nicht um die Darstellung einer Teilnehmerin an der chinesischen Marktreformdebatte, sondern um die Analyse einer Außenstehenden. Das unterscheidet mein Buch von den Darstellungen aus erster Hand.47

Schaubild 0.7: Änderung der Methode zur Bestimmung der Preise von Produktionsgütern, 1978-2004. Quelle: Cheng Zhiping 2006: 163.

Dieses Buch beruht auf einer Vielzahl veröffentlichter und unveröffentlichter chinesischer Primärquellen und Oral-History-Interviews mit Ökonomen, die in den achtziger Jahren an der chinesischen Debatte über die Marktreform teilnahmen oder Zeugen davon wurden. Ich stellte ergebnisoffene Fragen, die auf die spezifischen Positionen meiner Gesprächspartner und auf ihre Beiträge zur Reformpolitik zielten. Ich wollte mir ein Bild von ihrer Einschätzung des Verlaufs der Reformen machen, anstatt ihnen eine vorgefertigte Struktur vorzulegen. Die meisten Interviews führte ich in chinesischer Sprache. Meine Gesprächspartner stellten mir Dokumente und Publikationen zur Verfügung, die sich als wichtige Quellen erwiesen. Ich identifizierte und kontaktierte die Interviewpartner anhand des Schneeballsystems. Abgesehen von direkten Bezugnahmen auf diese Interviews im Buch, wurde meine Einschätzung des ersten Reformjahrzehnts in 30China von den vielgestaltigen Perspektiven und konkurrierenden Interpretationen meiner Interviewpartner geprägt. Die in diesem Buch eingehend analysierten chinesischen Artikel wurden aufgrund der Beurteilung durch die Gesprächspartner ausgewählt, die der Meinung waren, diese Publikationen hätten die Richtung der Debatte beeinflusst oder seien von der chinesischen Führung bei ihrer Auseinandersetzung mit der Marktreform berücksichtigt worden.

Die Interviews waren die wichtigsten Ereignisse im Lauf meiner intellektuellen Reise auf der Suche nach einer Erklärung dafür, wie China der Schocktherapie entkam. Um die übergeordnete Relevanz der in diesen Gesprächen und aus den Primärquellen gewonnenen Erkenntnisse zu beleuchten, trete ich in Teil I des Buchs einen Schritt zurück und ordne dieses Material in den größeren Kontext der relevanten historischen Methoden der Marktentwicklung ein.

Um die im zweigleisigen Preissystem entstehende Beziehung zwischen Staat und Markt konzeptuell zu erfassen, nehme ich eine langfristige Perspektive ein, die Chinas eigentümlichem institutionellen Vermächtnis der Preisregulierung mittels staatlicher Beteiligung am Markt Rechnung trägt (Kapitel 1). In der vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft des antiken Chinas und der Kaiserzeit waren Preisschwankungen aufgrund von Wetterbedingungen eine andauernde Herausforderung, und die Inflation wurde mit dem Verfall einer Dynastie assoziiert. Ich beabsichtige nicht, irgendeine monolithische Kontinuität oder sogar eine lineare Entwicklung von der Antike bis zum Wendepunkt in den achtziger Jahren zu konstruieren. Stattdessen verwende ich diese traditionellen Konzepte der Preisstabilisierung und des Marktaufbaus, um die Debatte der achtziger Jahre in einer neuartigen analytischen Perspektive zu betrachten. Weit davon entfernt zu behaupten, die chinesische Marktreform sei im Wesentlichen von der Natur der Gesellschaft oder der Kultur des Landes bestimmt worden, zeige ich, dass die gewählte Reformmethode das Ergebnis einer intensiven intellektuellen und politischen Auseinandersetzung war. In diesem Schlagabtausch klangen Debatten über den richtigen Umgang mit dem Markt durch den Staat und der Herausforderung 31der Preisstabilität an, die sich im Lauf der chinesischen Geschichte wiederholt hatten.

Ich habe nicht vor, China dem Westen oder die chinesische Ökonomie der westlichen entgegenzusetzen. Stattdessen werde ich zeigen, dass sich ein erbittert umkämpftes Verständnis der Ökonomie, das induktiver, institutioneller und pragmatischer war als das neoklassische, am entscheidenden Wendepunkt im ersten Jahrzehnt der chinesischen Wirtschaftsreformen als beherrschend herausstellte. Diese Ökonomie ist keineswegs eine chinesische Besonderheit. Das zeige ich in Kapitel 2 anhand einer Analyse der Debatten über die Inflationsgefahr und den Marktaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland. Meine chinesischen Gesprächspartner nahmen wiederholt auf die Erfahrungen dieser Länder nach dem Krieg Bezug. Der Übergang von einer Kriegswirtschaft zu einer Marktwirtschaft war mit Herausforderungen verbunden, die denen ähnelten, die später beim Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft bewältigt werden mussten. Amerikanische und europäische Ökonomen stritten nach dem Krieg erbittert über die Frage, wie die Preise dereguliert und die Märkte wieder aufgebaut werden konnten, ohne wie nach dem Ersten Weltkrieg in eine Inflation abzurutschen. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder, das auf die umfassende Preisliberalisierung in Westdeutschland folgte, lieferte den Befürwortern der Schocktherapie in der chinesischen Reformdebatte einen wichtigen Referenzpunkt für ihr Argument.48 Einige prominente institutionalistische Ökonomen, darunter John Kenneth Galbraith in den Vereinigten Staaten und Alec Cairncross in Großbritannien, sprachen sich für eine graduelle Aufgabe der Preiskontrollen aus, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den später in China ergriffenen Reformmaßnahmen hatte. Die Thesen von Cairncross und Galbraith wurden zu Bezugspunkten für die Befürworter gradueller Reformen in China.

In Kapitel 3 untersuche ich die Bemühungen der chinesischen Kommunisten um Preisstabilisierung in den vierziger Jahren. Diese Erfahrungen wirkten sich unmittelbarer auf die Reformdebatte der 32achtziger Jahre aus. Anders als die uralten Konzepte der Preisregulierung durch Marktbeteiligung wirkte sich die Erfahrung der vierziger Jahre direkt und explizit darauf aus, wie die chinesischen Ökonomen und Reformer in den achtziger Jahren über den Marktaufbau dachten. Viele der bekanntesten Reformpolitiker und Ökonomen hatten seinerzeit am Revolutionskrieg teilgenommen. Die Überwindung der Hyperinflation und die Reintegration der Wirtschaft waren unverzichtbar, um die materiellen Grundlagen für einen Erfolg der Revolution zu schaffen. Die Kommunisten wandten im chinesischen Bürgerkrieg eine Strategie der wirtschaftlichen Kriegführung an, die darauf beruhte, mittels staatlich gelenkter Handelsbeziehungen die Märkte und den Geldwert wiederherzustellen. Die Techniken der wirtschaftlichen Kriegführung hatten Ähnlichkeit mit Elementen der traditionellen Praxis der Preisstabilisierung und wurden in der Frühphase der Wirtschaftsreformen in den achtziger Jahren im Rahmen der Bemühungen um eine graduelle Vermarktlichung wieder aufgegriffen.

Ausgehend von meiner Auseinandersetzung mit den Methoden des Marktaufbaus, der Herausforderung der Inflation und der Preisstabilisierung, widme ich mich im zweiten Teil des Buchs einer detaillierten Analyse der chinesischen Marktreformdebatte in den achtziger Jahren. Im Anschluss an einen Überblick über das maoistische Entwicklungsmodell und Preissystem zeige ich, wie schwierig es war, Marktmechanismen einzuführen und eine Inflation zu vermeiden. Um den Ausgangspunkt für die Debatte nachvollziehbar zu machen, untersuche ich, warum sich die chinesische Führung Ende der siebziger Jahre zu Reformen entschloss. Ich erkläre, wie eine Abkehr vom spätmaoistischen Ideal der permanenten Revolution und eine Hinwendung zum wirtschaftlichen Fortschritt als allem übergeordneten Ziel der Reformen dazu führte, dass die Wirtschaftswissenschaft als Forschungsdisziplin wiederhergestellt wurde, nachdem sie in der Kulturrevolution als bürgerliches Projekt verboten gewesen war (Kapitel 4).

In Kapitel 5 untersuche ich die Frühphase der Debatte über die Marktreform. Ich spüre den intellektuellen Ursprüngen des Konzepts der umfassenden Preisliberalisierung nach, die ich im Gedankenaus33tausch zwischen den etablierten chinesischen Wirtschaftswissenschaftlern und osteuropäischen Exilökonomen, der Weltbank und anderen ausländischen Besuchern einschließlich dem Vordenker des Monetarismus, Milton Friedman, finde. Dieses Reformkonzept hatte große Ähnlichkeit mit der Schocktherapie und wurde in der chinesischen Debatte als »Paketreform« bezeichnet. Wie in anderen Kontexten beruhte es auf der neoklassischen Ökonomie sowohl neoliberaler als auch sozialistischer Prägung.

In Kapitel 6 stelle ich der Paketreform die Denkweise jener jungen Intellektuellen und älteren Parteikader gegenüber, die im gemeinsamen Bemühen um die Reform des ländlichen Raums ein Bündnis schlossen. Diese Allianz trug entscheidend zur Erforschung, theoretischen Begründung und Verteidigung einer von den Rändern ausgehenden graduellen Vermarktlichung der Volkswirtschaft bei, die auf praktischen Experimenten beruhen sollte. Diese Methode stützte sich auf eine interdisziplinäre, institutionalistische und induktive Ökonomik, die sich sozialwissenschaftlicher Methoden bediente.

In den Kapiteln 7 und 8 zeige ich, wie diese beiden Reformansätze – umfassende Liberalisierung auf der einen, Vermarktlichung von den Rändern her auf der anderen Seite – aufeinanderprallten, als China der Schocktherapie entkam. Im Jahr 1986 ließ sich Ministerpräsident Zhao Ziyang von den Ökonomen, die eine Urknall-Reform ablehnten und stattdessen eine graduelle Vorgehensweise empfahlen, dazu bewegen, das Vorhaben einer umfassenden Preisfreigabe aufzugeben. Diese Ökonomen hatten gewarnt, dass eine schlagartige Freigabe der Preise zu einer galoppierenden Inflation führen könnte. Zhao Ziyang war letztlich nicht bereit, dieses Risiko einzugehen. Im Jahr darauf forderte Deng Xiaoping persönlich eine umfassende Urknall-Reform. Dieses Vorhaben scheiterte, als im Sommer 1988 zum ersten Mal seit den vierziger Jahren die Inflation in China außer Kontrolle geriet. Deng war bereit, die umfassende Vermarktlichung voranzutreiben – allerdings nur so lange, wie dies die Kontrolle des Staates über die Gesellschaft und die Wirtschaft nicht untergrub. Die Inflation war ausschlaggebend für eine 180-Grad-Wende hin zu einem zwischenzeitlichen Einfrieren der Reformen.

34Im Jahr 1988 entkam China ein weiteres Mal der Schocktherapie. An diesem Punkt hatten die Marktreformen bereits eine rasche Zunahme der Ungleichheit und die Ausbreitung der Korruption ermöglicht. Das »goldene Reformzeitalter« der ersten Jahre, als anscheinend alle Chinesen gleichermaßen von der wirtschaftlichen Öffnung profitierten, ging zu Ende. Die Aussicht auf eine weitere Radikalisierung der Marktreformen erschütterte die Fundamente der chinesischen Gesellschaft. Die Forderungen nach einer neuen Ordnung wurden von der Führung abgeschmettert. Die soziale Bewegung des Jahres 1989 wurde auf dem Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen. Der Reformprozess kam zeitweilig zum Stillstand. Als China im Jahr 1992 die Vermarktlichung wieder in Gang setzte, war das Vorhaben der Schocktherapie keineswegs zu den Akten gelegt worden. Im Gegenteil, in den neunziger Jahren errangen die Neoliberalen in China bedeutende Siege. Viele der Vordenker des Gradualismus, die in diesem Buch besprochen werden, verschwanden von der Bildfläche. Doch in den achtziger Jahren war die Grundlage für eine Vermarktlichung geschaffen worden, die die staatliche Kontrolle über essenzielle Bereiche der Wirtschaft sicherte. Obwohl die Methode des experimentellen Gradualismus in den folgenden Jahrzehnten neu ausgehandelt, in Frage gestellt und abgewandelt wurde, wurde sie nicht aufgegeben.

Teil I

35 ‌Inflation und Preisstabilisierung zwischen Markt und Staat

1

37Der Staat als Marktteilnehmer

Das Guanzi und die Debatte über Salz und Eisen

Wenn es ein Gut im Überfluss gibt, ist es billig; wenn es knapp ist, ist es teuer. […] In diesem Wissen beobachtet der Fürst Überschüsse und Knappheit im Land und steuert den Wohlstand und die Güter. Ist das Getreide billig, tauscht der Fürst Geld gegen Nahrung. […] Er achtet auf den relativen Wert (qingzhong) der Dinge und steuert ihre Verteilung, um die Preise stabil zu halten. So können das Teure und das Billige in Einklang gebracht werden, und der Fürst erntet den Gewinn.

Guanzi nach Rickett 1998: 384

Eine unter den westlichen Ökonomen allgemein akzeptierte Annahme lautet, dass im Bereich der antiken Wirtschaftstheorien nur die Griechen und Römer etwas entwickelten, das des Studiums wert ist. […] So ist die chinesische Geschichte sehr schwer zu verstehen.

Hu 2009: i

Als Ende der siebziger Jahre in China die ersten Wirtschaftsreformen angestoßen wurden, stieg dort die Zahl der Publikationen zu antiken ökonomischen Konzepten. Dazu zählten Artikel über das Guanzi (管子) und die Debatteüber Salz und Eisen (盐铁论), zwei klassische Texte zu Fragen der Preisregulierung und Marktsteuerung.1 Das neu erwachte Interesse an diesen Klassikern hing offenkundig mit Forschungen zu möglichen Wirtschaftsreformen zusammen. Beispielsweise wandten sich einige junge Reformintellektuelle wie etwa Bai Nanfeng Anfang der achtziger Jahre der Frage der ländlichen Entwicklung zu und beschäftigten sich mit dem, was sie als vergleichende Zivilisationsstudien bezeichneten. Um praktische Erkenntnisse über geeignete Maßnahmen zur Reform der Landwirtschaft zu gewinnen, so 38glaubten sie, müsse man die Geschichte und die intellektuellen Traditionen Chinas studieren und mit den europäischen Erfahrungen vergleichen.2 Wirtschaftliche Entwicklung ist aus dieser Sicht nicht einfach eine technokratische Herausforderung, sondern der Versuch, im Wissen der Geschichte verwurzelt die Zukunft zu gestalten.

Die traditionelle chinesische Bezeichnung für die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen lautet »Studium der Wege, um das Land reich zu machen« (富国学).3 Die Regierungspraxis wird üblicherweise unter dem Begriff der »Staatskunst« (经世) zusammengefasst, aber eine bessere Übersetzung wäre »die Welt ordnen«.4 Die »richtige Handhabung« der Preise durch den Staat nimmt einen zentralen Platz in diesen Bemühungen ein. In der modernen Volkswirtschaftslehre sind die Preise eine quintessenzielle wirtschaftliche Variable und gehören ausschließlich in die Sphäre des Marktes. Im Gegensatz dazu kreist die traditionelle chinesische Debatte über die Preisbildung um die Beziehungen zwischen den spontanen Aktivitäten der Menschen, ihren Bedürfnissen und Wünschen, den Marktkräften, der politischen Macht und der staatlichen Ordnungspolitik.

Die Konfrontation zwischen Ideen eines freien Marktes auf der einen Seite und der aktiven Lenkung von Märkten durch den Staat auf der anderen wird heute häufig mit dem Gegensatz zwischen Keynesianismus und Neoliberalismus in Verbindung gebracht. Im chinesischen Kontext geht dieser Wettstreit der Ideen auf die Debatteüber Salz und Eisen im 1. Jahrhundert v. ‌Chr. zurück.5 Kaufleute, die im Dienst des Staates tätig waren, versuchten, den Herrscher davon zu überzeugen, dass der Staat ein Monopol auf die Produktion von und den Handel mit strategischen Gütern wie Salz und Eisen haben sollte. Sie wurden jedoch von Intellektuellen scharf kritisiert, die dagegenhielten, der Staat habe sich aus den Angelegenheiten des Marktes rauszuhalten und solle sich besser auf eine Rückkehr zu einer moralischen Ordnung besinnen. Es handelt sich bei dieser Debatte um eine klassische Formulierung von zwei alternativen Vorstellungen bezüglich der Angemessenheit staatlicher Eingriffe in die Marktkräfte sowie der konkreten Funktion von Preisen.

39Beide Argumentationslinien waren jedoch schon damals nicht neu. Das Guanzi liefert wichtige Hinweise zu den antiken chinesischen Vorstellungen von der Stabilisierung der Preise. Der Ansatz des Guanzi zur Preisregulierung kommt in den »Leicht-Schwer«-Prinzipien (轻重, qingzhong) zum Ausdruck, wobei »schwer« für wichtig, wesentlich oder teuer und »leicht« für unwichtig, unwesentlich oder billig steht. Der Schlüssel zur Preisstabilisierung liegt darin, diese beiden Elemente zu unterscheiden. Im gesamten Buch stütze ich mich auf mein Verständnis des Guanzi und der Debatte über Salz und Eisen, um die Auseinandersetzungen und Praktiken in den chinesischen Marktreformen in jüngerer Zeit in einem neuen Licht zu betrachten. Die Beamten des chinesischen Kaiserreichs entwickelten schon vor langer Zeit ein eigenes Verständnis der Marktkräfte. Eine Hinwendung zum Markt, wie sie in der Reformära seit den achtziger Jahren stattfand, ist daher nicht einfach ein aus dem Westen importierter Trend.6 Die chinesischen Debatten über marktwirtschaftliche Reformen sind nicht einfach eine »Verwestlichung«, sondern Teil eines komplexen Wettstreits alternativer Vorstellungen von Märkten und Preisen, der in China und im Westen gleichermaßen stattfindet.

Es ist üblich, die chinesischen Reformschritte und das ökonomische Denken seit den achtziger Jahren anhand von Konzepten der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft zu analysieren, die ihren Ursprung in der westlichen politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts hat. Ich versuche hingegen, klassisch-chinesische Diskussionen über Preisregulierung und Marktbildung durch den Staat als einen weiteren konzeptuellen Bezugspunkt hinzuzufügen. Wie die beiden Historiker Pierre-Étienne Will und R. Bin Wong in ihrer Studie zum System staatlicher Getreidespeicher in China feststellen: »Dass der Preisstabilisierung [in China] so große Bedeutung beigemessen wird, ist Ausdruck einer frühen Auseinandersetzung der Chinesen mit den potenziellen Auswirkungen von Marktaktivitäten und der Überzeugung, dass der Staat die Bedingungen von Angebot und Nachfrage gestalten sollte.«7 Diese Vorstellung der Preisregulierung durch eine Beteiligung der Verwaltung am Wirtschaftsleben steht im Gegensatz zu der in den 40meisten Bereichen der modernen Wirtschaftswissenschaft vorherrschenden Annahme, Staat und Markt seien separate Einheiten. Der Staat gilt ihr zufolge als ein Gebilde, das in eine autonome Wirtschaft oder einen Markt eingreift. Demgegenüber bedeutet die Preisregulierung durch staatliche Marktteilnahme, dass Markt und Wirtschaft durch die Interaktion von privaten und bürokratischen Akteuren gemeinsam erzeugt werden. Diese alternative Betrachtungsweise verändert unser Verständnis der Beziehung zwischen Plan und Markt, der Neugestaltung dieser Beziehung in der Reformdebatte der achtziger Jahre und der Inflationsbekämpfung.

Die »Leicht-Schwer«-Prinzipien der Preisregulierung im Guanzi

Der historische Kontext

Die Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (772-476 v. ‌Chr.)8