Das gestohlene Herz - Barbara Cartland - E-Book

Das gestohlene Herz E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Der attraktive Marquis von Veryan wacht eines Morgens neben der Schönheit Lady Rose Caterham auf und stellt zu seinem Entsetzen fest, dass sie von ihm die Ehe erwartet. Er ergreift die Flucht in sein Landhaus an der Südküste zusammen mit seinem engen Freund Sir Anthony Derville. Aber kaum ist er dort angekommen wird er auch schon in seinem eigenen Haus von Räubern überfallen. In seiner Sorge um die allein lebende Nachbarin Ivana Wadebridge, mit deren Familie sein eigener Vater verfeindet war, stattet er ihr einen Besuch ab und ist fasziniert von ihrer stillen Schönheit und dem mysteriösen Geheimnis das sie umgibt.

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Das Gestohlene Herz

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

Vorbemerkung der Autorin

Im Jahr 1802, zehn Tage, nachdem England den Friedensvertrag mit Frankreich unterzeichnet hatte, begann es mit einer fast ungehörigen Geschwindigkeit abzurüsten. Während Napoleon weiterhin eine ungeheure Rüstung aufrechterhielt und seine leeren Schiffsdocks wieder füllte, entließ England die Freiwilligen und halbierte seine Armee. Lord St. Vincent, der Chef des britischen Admiralstabs, benutzte sein immenses Ansehen dazu, in der Marineverwaltung drastische Einsparungen vorzunehmen. Innerhalb weniger Monate wurden 40 000 Seeleute entlassen, und Hunderte von erfahrenen Offizieren erhielten nur noch den halben Lohn.

Obwohl alle Schiffe nach einem langen Krieg reparaturbedürftig waren, wurden Dockarbeiter entlassen, Kontrakte mit privaten Docks gekündigt und überschüssige Vorräte verkauft, in manchen Fällen an französische Agenten.

Aber dieser Optimismus war von kurzer Dauer. Am 18. Mai 1803 war England wieder einmal gezwungen, Frankreich den Krieg zu erklären. Glücklicherweise war der Krieg, den Napoleon gewünscht und beabsichtigt hatte, für diesen zu früh gekommen. Dadurch, daß die Engländer ihn zum Kampf zwangen, ehe seine Marine gerüstet war, gewannen sie die Hälfte des Bodens wieder, den sie durch den Friedensvertrag verloren hatten.

Jahrhundertelang nahm ein Admiral seine eigenen Dienstboten mit auf See, gewöhnlich einen Kammerdiener, einen Küchenchef und einen Diener, der ihm bei den Mahlzeiten auf wartete. Er bezahlte sie stets selbst. Erst 1914 ordnete die Admiralität an, daß diese Dienstboten Uniform zu tragen hatten und auf die Lohnliste der Marine gesetzt wurden.

1.~ 1802

Als der Marquis de Veryan aufwachte, hatte er das ungute Gefühl, daß er nicht hätte schlafen sollen. Sein Kopf schmerzte, und er hatte einen trockenen, bitteren Geschmack im Mund. Plötzlich erinnerte er sich, daß er am vergangenen Abend zu viel getrunken hatte.

Dies tat er im Gegensatz zu seinen Mitmenschen recht selten. Aber es war ein äußerst unterhaltsamer Abend gewesen, und liebe Freunde hatten mit ihm auf seine Erfolge beim Pferdewettrennen angestoßen. Natürlich hatte er den Toast jedes Mal erwidern müssen. Der Wein, den er selbst ausgewählt hatte, war exzellent gewesen. Jetzt dachte er fast stöhnend, daß er für sein Vergnügen würde bezahlen müssen, und dabei bemerkte er, daß er das Zimmer, in dem er lag, zwar kannte, daß es aber nicht sein eigenes war.

In diesem Augenblick hörte er ein leises Schnarchen. Er blickte sich um, die Bewegung tat ihm weh und sah, daß Rose neben ihm lag und noch schlief.

Als er sie ansah, regte sich irgend etwas in seinem Gedächtnis, blieb aber ärgerlicherweise undeutlich.

Sie hatte etwas Wichtiges zu ihm gesagt, aber was war es gewesen?

Sie sah jetzt nicht besonders gut aus. Ihre Schönheit war in diesem Augenblick nicht göttlich wie der Marquis und jeder andere Mann es gestern abend beim Essen empfunden hatte.

Die Tusche war von ihren langen Wimpern an ihren Wangen heruntergelaufen, und das Rot ihrer Lippen, gestern unwiderstehlich einladend, war jetzt verschmiert.

Sie schnarchte. Es war ein sehr leises Schnarchen, aber trotzdem ein Schnarchen, und der Marquis blickte zu dem mit Rüschen eingefaßten Satin des Himmelbettes hinauf.

Jetzt fiel ihm ein, woran er sich zu erinnern versucht hatte, und es traf ihn mit der Gewalt eines Donnerschlags.

»Wirst du mich heiraten, liebster Justin?« hatte Rose ihn gefragt.

Und er wußte nicht mehr, was er geantwortet hatte, angeregt durch den Champagner und den Rotwein und beflügelt von der Tatsache, daß sie nach seiner kurzen, aber hartnäckigen Werbung mit ihm ins Bett gegangen war.

Lady Rose Caterham war die Schönheit von St. James und galt während der letzten zwei Jahre unter den jungen Herren als die Unvergleichliche unter den Unvergleichlichen.

Ihr Mann war im Krieg gefallen, und als Witwe hatte sie den Kreis um den Prinzen von Wales betört. Die Reihe ihrer Liebhaber war immer größer geworden, bis sie schließlich auch den Marquis für sich begeistern konnte.

Das war keine geringe Errungenschaft, denn obwohl er als der Begleiter der begehrenswertesten und reizvollsten Schönheiten der Saison bekannt war, nachdem er der intelligenten Lady Melbourne viele Jahre lang mehr oder weniger treu gewesen war, hatte er erklärt, er würde sich nicht mehr für die Lebedamen der Gesellschaft interessieren.

Er hielt die meisten für prätentiös und zu gekünstelt und fand nun die freizügigen, lockeren Manieren der Ballettänzerinnen und der Frauen vom Typ einer Harriet Wilson mehr nach seinem Geschmack.

Lady Rose aber war entschlossen gewesen, ihn für sich zu gewinnen, und hatte alle Reize und ihren ganzen Charme spielen lassen, um den Marquis zu verführen.

Doch sie war klug genug gewesen, ihm die Eroberung nicht zu leicht zu machen.

Sie hatte ihm ,etwas für sein Geld‘ gegeben, wie der Marquis es in Gedanken ausdrückte, und er hatte den Flirt genossen, obwohl er das unvermeidliche Ende nur zu gut kannte.

Vielleicht war er zu abgebrüht, aber es war ihm tatsächlich nicht in den Sinn gekommen, daß Lady Rose ihn nicht als Liebhaber, sondern als Gatten wünschte.

Die Idee, sie zu heiraten, erschien ihm absurd. Die Ehe war für ihn ein Thema, das so weit außerhalb seiner Vorstellungen lag, daß er nur gezwungenermaßen mit seinen Verwandten darüber sprach.

Die älteren Familienmitglieder tadelten ihn, weil er keinen Erben zeugte, der einmal seine riesigen Besitztümer übernehmen würde.

Jetzt dachte er entsetzt daran, wie sich Roses Lippen verführerisch den seinen genähert hätten.

»Wirst du mich heiraten, liebster Justin?«

Und er wußte nicht, was er darauf geantwortet hatte. Er sah sie noch einmal an. Dabei wurde ihm klar, daß die Anziehungskraft, die sie auf ihn ausgeübt hatte, erloschen war.

Plötzlich ekelte er sich vor ihr. Es war ein Gefühl, das er schon mehrmals erlebt und das außerordentlich unangenehme Folgen hatte - Tränen, Wutausbrüche und Szenen, die er verabscheute und mit denen die Frauen niemals ihr Ziel erreichten, so sehr sie sich auch bemühten.

,Ich interessiere mich nicht mehr für Lady Rose Caterham.‘

Es war so, als hätte jemand diese Worte laut ausgesprochen. Sie prägten sich ihm ein und sagten ihm, daß er etwas unternehmen mußte.

Der Marquis schlüpfte leise aus dem Bett, mit der Geschmeidigkeit eines Mannes, dessen Körper es gewohnt war, seinem Willen zu gehorchen.

Er blickte sich noch einmal um und vergewisserte sich, daß seine Flucht die schlafende Frau nicht geweckt hatte. Erleichtert stellte er fest, daß sie sich nicht gerührt hatte, seitdem er aufgestanden war. Er vernahm nur ihr leises Schnarchen.

Es gelang ihm, die Tür ohne das geringste Geräusch zu öffnen, und nachdem er in den Flur hinausgetreten war, schloß er sie ebenso lautlos.

Er ging zu seinem Zimmer. Dabei sah er in die große marmorne Halle hinunter und bemerkte, daß das Licht der aufgehenden Sonne durch die Ritzen der Vorhänge fiel. Er schätzte, daß es schon nach vier Uhr sein mußte.

Auf einem gepolsterten Stuhl saß ein müder Diener, der während der Nachtstunden Dienst tun mußte.

Der Marquis wußte, daß Punkt fünf Uhr der Haushalt zum Leben erwachen würde. Die weiblichen Dienstboten und das Personal aus den hinteren Quartieren würden ins Haus schwärmen und beginnen, die Unordnung, die der Hausherr und seine Freunde am Abend zuvor angerichtet hatten, aus der Welt zu schaffen.

Leere Karaffen und schmutzige Kristallgläser standen herum, einige waren zerbrochen. Das Eis war in den Kübeln geschmolzen, überall lagen weiche, schmutzige Kissen.

Der Marquis konnte sich kaum erinnern, was tatsächlich geschehen war. Er wußte nur, daß es eine der wildesten Abendgesellschaften gewesen war, die er in letzter Zeit gegeben hatte. Jetzt bereute er, daß sie die Würde und Schönheit seines Vaterhauses beschmutzt hatte.

Als er sein Schlafzimmer betrat, schmerzte sein Kopf so unerträglich, daß er sofort ein kaltes Bad nehmen wollte.

Das Zimmer war außerordentlich eindrucksvoll. Schon sein Vater und sein Großvater hatten darin geschlafen.

Der Marquis betätigte die Klingelschnur und läutete nach seinem Diener. Dann zog er die Vorhänge auf, stellte sich ans Fenster und sah hinunter auf den See und in den Park mit den alten Eichen, um die der Morgennebel wallte, wie ein Reigen tanzender Nymphen.

Der Himmel war klar, und man sah noch ein paar vereinzelte Sterne in dem rasch schwindenden Dunkel der Nacht.

Es ist die Zeit, dachte der Marquis, da alles still und ruhig ist und eine seltsame magische Schönheit an sich hat, die mich mit jedem Versprechen eines neuen Tages tief berührt.

Dann sagte er sich, daß er sich über wichtigere Dinge den Kopf zerbrechen mußte, und zwar über Rose.

Er überlegte, was er ihr auf die Frage, ob er sie heiraten würde, geantwortet haben könnte.

War er töricht genug gewesen, ihr sein Jawort zu geben?

Er wußte, daß sie ihn in dem Augenblick gefragt hatte, als das Verlangen nach ihr wie eine Flamme in ihm brannte. In einem solchen Augenblick verspricht ein Mann alles. Er fürchtete, daß sie diesen Zeitpunkt ganz bewußt gewählt hatte.

Sie war mit kühler Berechnung ans Werk gegangen, während er entflammt von ihrer Schönheit und halb betäubt vom Wein die Kontrolle über sich verloren hatte.

Ich kann doch nicht so töricht gewesen sein, oder doch, fragte sich der Marquis.

Während er nachdachte, ging hinter ihm die Tür auf, und sein Diener trat ein.

»Sie haben geläutet, my Lord?«

 Nichts in der Stimme des Dieners verriet, daß er es ungewöhnlich fand, so früh geweckt zu werden.

Er war ein drahtiger, kleiner Mann und diente dem Marquis, seitdem dieser alt genug gewesen war, einen Diener zu haben, mit einer Mischung von Bewunderung und der beschützenden Strenge eines besorgten Kindermädchens.

»Bitte, machen Sie kein solches Aufheben um mich«, sagte der Marquis oft.

Aber er wußte, daß Hawkins für seine Bequemlichkeit unentbehrlich war, und auch er empfand eine Zuneigung zu dem kleinen Mann, die sich von seinen Gefühlen für alle anderen Diener, die für ihn arbeiteten, unterschied.

»Ich möchte ein kaltes Bad nehmen«, sagte er jetzt.

»Das dachte ich mir, my Lord«, antwortete Hawkins. »Ich habe es schon gestern abend für Sie gerichtet.«

Er öffnete eine Tür, die vom Schlafzimmer in einen kleinen Raum führte, der zur Zeit seines Vaters als Puderkabinett gedient hatte.

Jetzt war er als Bad eingerichtet, mit einer großen Wanne, die eine enorme Menge Wasser faßte, das in Kannen von jungen, kräftigen Dienern die Treppe herauf getragen werden mußte. Die Wanne war jetzt mit kaltem Wasser gefüllt.

Der Diener sah sich in dem kleinen Raum prüfend um und vergewisserte sich, daß ein großes Badetuch über einem Stuhl hing, daß die Steife, ein kleines Frottiertuch, ein Waschlappen und die Badematte mit dem Familienwappen in Reichweite lagen.

Dann sagte er: »Es ist alles für Eure Lordschaft bereit.«

Der Marquis zog seinen Morgenmantel aus, reichte ihn im Vorbeigehen seinem Diener und stieg in die Wanne.

Er war abgehärtet und badete im Frühjahr und Sommer immer kalt. Sein trainierter Körper, den er durch stundenlanges Reiten auf eigenwilligen und oft nur halb gezähmten Pferden schlank hielt, wurde durch das Wasser belebt, in das er auch das Gesicht und den ganzen Kopf tauchte.

Als er aus der Wanne stieg, fühlte er sich wohler, aber das Problem, wie er Lady Rose loswerden konnte, erschien ihm schwieriger denn je.

Plötzlich fielen ihm die Worte ein, die sein Kommandant zu ihm gesagt hatte, als er in sein Regiment gekommen war.

»Nur ein Narr zieht sich angesichts eines überlegenen und unschlagbaren Feindes nicht zurück. Das ist keine Feigheit, sondern einfach gesunder Menschenverstand.«

»Genau das werde ich tun!« sagte der Marquis laut. »Ich werde den Rückzug antreten.«

Während er sich mit einem Handtuch trockenrieb, rief er durch die offene Tür: »Wie spät ist es, Hawkins?«

»Gleich fünf, my Lord.«

»Dann wecken Sie bitte Sir Anthony, und sagen Sie ihm, daß ich ihn sofort sprechen möchte.«

»Sehr wohl, my Lord.«

Als Hawkins gegangen war, hoffte der Marquis, daß Anthony schon in seinem Zimmer war. Er war am vergangenen Abend in eine sehr hübsche Frau verliebt gewesen, deren Gatte nicht an dem Fest teilnehmen konnte.

Der Marquis warf das nasse Handtuch auf den Fußboden und zog sich an.

Da Hawkins offensichtlich erwartet hatte, daß er ausreiten würde, hatte er den exquisit geschneiderten Reitanzug bereitgelegt und ein Paar auf Hochglanz polierte Stiefel hingestellt, die am oberen Rand mit dem breiten, von Brummel eingeführten Lederband besetzt waren.

Der Marquis war kein Dandy, aber wie der Prinz von Wales fand auch er, daß die Neuerungen Brummels, der die Mode diktierte, überfällig waren.

Brummels Meinung über die Sauberkeit und darüber, daß die Wäsche eines Herrn makellos zu sein hatte und zweimal täglich gewechselt werden mußte, und sein Dekret, daß ein Rock keine Falten werfen durfte und eine Krawatte fleckenlos zu sein hatte, trugen auf jeden Fall zum besseren Aussehen eines jeden Mannes bei.

Der Marquis selbst war immer sorgfältig gekleidet, aber er wußte, daß viele seiner Bekannten nicht nur schlampig, sondern eindeutig schmutzig waren und daß der Wandel, den Brummel bewirkt hatte, positiv gewesen war.

Der Marquis war bis auf den Cutaway angekleidet und bürstete sich gerade das Haar vor dem goldgerahmten Spiegel über der Kommode, als sein Freund Sir Anthony Derville in das Zimmer trat.

Anthony war groß, sah vorzüglich aus, und alle Frauen fanden, daß er einer der stattlichsten Männer war, die ihnen je begegnet waren, bis sie den Marquis kennenlernten.

Gemeinsam sahen die Freunde überwältigend aus.

Eine begeisterte Dame hatte einmal gesagt: »Es ist einfach ungerecht, daß uns armen Frauen nicht eine reife Pflaume angeboten wird, sondern deren zwei, und eine ist so köstlich wie die andere.«

»Warum läßt du mich so früh wecken, zum Teufel?« fragte Sir Anthony, als er auf seinen Freund zuging. »Ich war gerade erst schlafen gegangen.«

»Und ich bin gerade aufgestanden!« erwiderte der Marquis. »Ich fahre fort, Anthony, kommst du mit?«

»Du fährst weg? Warum?«

Der Marquis senkte die Stimme.

»Rose hat in der vergangenen Nacht um meine Hand angehalten, und ich kann mich um alles in der Welt nicht daran erinnern, was ich ihr geantwortet habe.«

»Guter Gott!« rief Anthony. »Du mußt sehr betrunken gewesen sein. Ich hatte schon immer den Eindruck, daß Rose ihren Willen durchzusetzen versteht.«

»Ich werde sie jedenfalls nicht heiraten, wenn du das meinst.«

»Und deshalb läufst du davon?«

»Ich nenne es einen taktischen Rückzug angesichts eines überlegenen Feindes«, erwiderte der Marquis grinsend. »Aber du hast recht, Anthony, ich suche tatsächlich das Weite. Ich bin nicht tapfer genug, um zu bleiben und mir eine Szene machen zu lassen. Falls sie noch weiß, was ich ihr in der vergangenen Nacht versprochen habe und ich bin ganz sicher, daß sie es noch weiß, dann ist die Hölle los, wenn ich ihr klarmache, daß ich mich nicht mehr an meine Worte erinnern kann...«

»...aber daran, was du getan hast«, fügte Anthony trocken hinzu.

Der Marquis schwieg, und nach einem Augenblick sagte Anthony: »Warum willst du Rose nicht heiraten? Es könnte dir was Schlimmeres passieren. Sie ist sehr attraktiv.«

»Aber nicht am frühen Morgen.«

»Daran liegt es also. Gut, wenn man das feststellt, ehe der Ring am Finger ist.«

»Wie du weißt, habe ich nicht vor zu heiraten«, stieß der Marquis mit scharfer Stimme hervor. »Und wenn ich an eine Frau gefesselt werden muß, dann kann ich dir versprechen, daß es nicht Rose Caterham sein wird.«

»Schön, schön«, sagte sein Freund beschwichtigend. »Du brauchst mich nicht so furchtbar anzufahren.«

»Ich weiß, ich habe mich zum Narren gemacht, aber ich bin schon in schlimmeren Situationen gewesen und wieder herausgekommen«, erklärte der Marquis.

»Weißt du noch, wie du einmal eine Regenrinne hinuntergerutscht bist, als der Ehemann der Frau unerwartet nach Hause kam? Gott, was habe ich gelacht, als du mir das erzählt hast! Aber es muß damals recht brenzlig gewesen sein.«

»Das war es«, stimmte der Marquis zu.

»Dann war da dieses hübsche kleine Ding in Newmarket, wie war doch gleich ihr Name?«

»Um Himmels willen, Anthony, höre auf, in Erinnerungen zu schwelgen, und zieh dich an! Sonst muß ich allein losfahren.«

»Ich werde mich beeilen«, versprach Anthony. »Sag Hawkins, er soll veranlassen, daß meine Sachen gepackt werden.«

»Hawkins wird sich darum kümmern. Ich bestelle inzwischen das Frühstück.«

»Für mich bitte Brandy«, sagte Anthony, »und Kaffee, damit ich nicht einschlafe.« Er folgte dem Marquis zur Tür. »Wohin fahren wir?«

»Ich habe mich noch nicht entschlossen«, erwiderte der Marquis, »aber ich denke mir etwas aus, während wir frühstücken.«

»Wähle um Gottes willen ein Haus mit bequemen Betten«, sagte Anthony. »Ich werde eines brauchen, wenn wir dort ankommen.«

Der Marquis gab Hawkins Anweisungen.

 »Packen Sie bitte meine und Sir Anthonys Sachen. Ich nehme meinen Phaeton, und Sie können mit Jem im Reisewagen folgen.«

»Sehr wohl, my Lord«, erwiderte Hawkins, ohne die plötzlichen Reisepläne seines Herrn verwunderlich zu finden.

»Und schicken Sie Mr. Bradly zu mir. Ich möchte ihm sagen, was er meinen Gästen erzählen soll, wenn wir abgereist sind.«

»Wohin fahren wir, wenn ich fragen darf, my Lord?« fragte Hawkins. »Damit ich weiß, was ich einpacken muß.«

Der Marquis legte die Hand an die Stirn.

 »Ich habe mich noch nicht entschieden, Hawkins. Was schlagen Sie vor?«

»Erst gestern dachte ich, als Eure Lordschaft bemerkten, daß es für September unerträglich heiß sei, daß ich persönlich gern ein wenig Seewind genießen würde, wie Seine Königliche Hoheit in Brighton.«

Der Marquis sah Hawkins überrascht an und rief dann: »Sie haben recht, Hawkins. Natürlich, Sie haben recht! Wir fahren nach Heathcliffe!«

»Das ist eine gute Idee, my Lord. Wir waren seit vier oder fünf Jahren nicht mehr dort.«

»Es sind fünf Jahre«, sagte der Marquis. »Vor zwei Jahren war ich von Brighton aus kurz zu einem Essen dort.« Er dachte kurz nach, dann flüsterte er: »Heathcliffe ist das richtige Versteck.« Mit lauter Stimme fügte er hinzu: »Wir fahren nach Heathcliffe, aber behalten Sie das für sich. Ich möchte nicht, daß meine Gäste mir in der irrtümlichen Annahme folgen, ich würde ihre Gesellschaft brauchen.«

»Ich verstehe, my Lord. Aber ich glaube, es wäre klug, wenn Eure Lordschaft einen Diener vorausschicken würden, um Ihre Ankunft anzukündigen.«

»Ich habe immer Wert darauf gelegt, daß man mich in meinen Häusern, wo immer sie auch sein mögen, ohne große Vorbereitungen empfangen kann«, sagte der Marquis scharf.

»Natürlich, my Lord«, antwortete Hawkins besänftigend. »Aber es wäre...«

»Nun gut. Sie sollen Ihren Willen haben. Sie fürchten, es könnte keine gute Mahlzeit für uns bereitstehen, wenn wir unser Kommen geheim halten. Aber wenn alles andere nicht in Ordnung ist, werde ich außerordentlich verärgert sein.«

Hawkins antwortete nicht, sondern eilte den Korridor hinab, um die Anweisungen des Marquis auszuführen.

Als der Marquis langsam die Treppe hinunterstieg, kam ihm der Gedanke, daß es dem Personal in Heathcliffe sehr gut tun würde, aus der Lethargie herausgerissen zu werden, in die es zweifellos durch seine lange Abwesenheit gefallen war.

Während der letzten vierundzwanzig Stunden dachte er nun schon zum zweiten Mal an Heathcliffe.

Am Abend zuvor hatte ihm einer seiner Gäste, Peregrine Percival, ein Dandy, den er erst kürzlich kennengelernt hatte, eine Brise Schnupftabak angeboten, den er verabscheute.

»Ich rühre das Zeug niemals an«, hatte der Marquis geantwortet.

»Das habe ich vergessen. Aber da ich Ihren außergewöhnlich guten Geschmack kenne, bin ich sicher, daß Sie meine neue Schnupftabakdose bewundern werden. Ich habe sie vor wenigen Tagen gekauft.«

Der Marquis hatte die Schnupftabakdose in die Hand genommen und sofort gesehen, daß sie wertvoll und einmalig schön war. Nicht die Diamanten, die sie einfaßten, erregten seine Bewunderung, sondern die Tatsache, daß die Dose stilvoll emailliert, mit Edelsteinen besetzt und mit einem Schlachtschiff bemalt war.

Das Schiff war mit prallen Segeln abgebildet, und Rubine stellten das Feuer der Kanonen dar, während das Meer aus winzigen Smaragden bestand.

Der Marquis sagte nachdenklich: »Ich bin sicher, daß ich diese Dose schon einmal gesehen habe.«

»Wirklich?« fragte Peregrine Percival interessiert. »Ich habe sie bei einem Händler gekauft, aber er konnte mir nicht sagen, wem sie vorher gehört hatte.«

»Jetzt fällt es mir ein«, sagte der Marquis. »Es muß das Zwillingsstück einer Dose sein, die ich selbst besitze.« Er sah die überraschte Miene des Mannes und fuhr fort: »Mein Vater sammelte für das Haus an der Küste, in dem er lebte, vielerlei Dinge, die mit dem Meer zusammenhängen. Wenn ich mich nicht irre, gibt es dort das genaue Gegenstück zu dieser Dose.«

»Wie interessant! Wir müssen sie einmal miteinander vergleichen«, erwiderte Peregrine Percival.

»Das sollten wir tun«, stimmte der Marquis zu.

»Ich wüßte gern, was die Dose für eine Geschichte hat. Ich denke, sie ist zwischen fünfzig und hundert Jahre alt.«

»Das glaube ich auch«, stimmte der Marquis zu.

»Es wäre amüsant, die Spuren zu verfolgen.«

Dann hatte Rose die Aufmerksamkeit des Marquis auf sich gelenkt, und er hatte nicht weiter an die Schnupftabakdose gedacht.

Doch jetzt fiel ihm das Gespräch wieder ein. Wenn er nach Heathcliffe kam, würde er nach der Schnupftabakdose schauen und nachsehen, ob sein Vater irgend etwas darüber in dem sehr gewissenhaft angelegten Katalog erwähnt hatte, einem Verzeichnis, in dem alle interessanten Sammelobjekte eingetragen waren.

Plötzlich dachte er, wie sehr er es genießen würde, wieder einmal in Heathcliffe zu sein. Die drei letzten Sommer hatte er den Prinzen von Wales nach Brighton begleitet, weil Seine Königliche Hoheit seine Anwesenheit wünschte, aber drei Wochen hatten genügt, um ihn mit den immer gleichen Unterhaltungen, den gleichen Spielen und den gleichen Leuten zu langweilen. Es hatte sich in diesem Jahr wiederholt, und deshalb hatte er Ende Juli Brighton verlassen und war nach Veryan zurückgekehrt, wo er sich seither aufhielt.

Auf seinem zehntausend Morgen großen Landsitz in Kent gab es für ihn viel Arbeit, und er war stolz darauf, daß es ein Musteranwesen war, das jedermann, auch den Prinzen beeindruckte.

Außerdem gab der Marquis große Gesellschaften und trainierte Pferde, mit denen er in den kommenden Jahren Rennen gewinnen wollte.

Es war deshalb nicht erstaunlich, daß er Heathcliffe, ebenso wie sein Besitztum in Cornwall und ein weiteres im Norden, seit einigen Jahren nicht mehr mit seiner Anwesenheit beehrt hatte und sich auf die Tüchtigkeit seiner Verwalter verließ.

Wenn er Zeit fand, ging er die Bücher eines jeden Besitztums durch und machte es sich zur Pflicht, einen bestimmten Punkt anzuzweifeln und um eine Erklärung zu bitten, damit seine Verwalter wachsam blieben. Heathcliffe war das kleinste seiner Besitztümer. Es umfaßte etwa fünftausend Morgen, und ein großer Teil davon war unbebaubar.

Sein Vater hatte während seiner letzten Lebensjahre dort gewohnt, weil die Ärzte der Meinung waren, die Seeluft wäre seiner Gesundheit bekömmlich. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn er seinen Lebensabend im Ausland hätte verbringen können. Aber die französische Revolution und dann der Krieg mit Napoleon hatten ihn in seinem Geburtsland festgehalten.

Rückblickend erinnerte sich der Marquis daran, wie sehr er in seiner Jugend Heathcliffe geliebt und wie sehr er es genossen hatte, im Meer zu schwimmen. Dort fühlte er sich freier als in irgendeinem seiner anderen Häuser.

Anthony und ich werden dort allein miteinander sein, dachte er, und das ist gut so.

Er schüttelte sich, als er an Roses verschmierte Lippen und die verwischte Wimperntusche dachte.

Lange, ehe die Gäste in Veryan aufwachten, stiegen der Marquis und Anthony in den Phaeton, der erst kürzlich für weite Reisen gebaut worden war. Er war in den Familienfarben Blau und Gold gehalten und sah sehr elegant aus, aber es war fraglich, ob jemand außer dem Marquis selbst etwas anderes beachten würden als das prachtvolle Gespann pechschwarzer Pferde, die das Fahrzeug zogen. Sie waren der Stolz ihres Besitzers.

»Fahr nicht so schnell«, bat Anthony, als sich der Wagen in Bewegung setzte. »Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Augenblick bersten, und wenn du mich so durchschüttelst, fürchte ich, daß er abbricht.«

»Du solltest mehr Selbstbeherrschung zeigen«, antwortete der Marquis.

»Das gleiche könnte ich dir vorhalten«, erwiderte Anthony. »Was glaubst du wohl, was deine Gäste sagen, wenn sie hören, daß du geflohen bist?«

»Ich interessiere mich nicht im Geringsten dafür, was sie über mich denken«, antwortete der Marquis. »Ich habe Bradly aufgetragen, ihnen zu erklären, ich sei wegen wichtiger Familienangelegenheiten weggerufen worden und du seist so freundlich, mich zu begleiten. Wenn du mich fragst, habe ich dir einen großen Gefallen getan, indem ich dich aus den Fingern von Lucy Bicester befreit habe.«