Das Glück läuft, wohin es will - Elle Spellman - E-Book
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Das Glück läuft, wohin es will E-Book

Elle Spellman

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Beschreibung

Zusammen läuft man weniger allein

Nachdem ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen hat, beschließt die 48-jährige Hannah trotzig, sich für einen Marathon anzumelden. 12 Wochen hat sie Zeit, um fit zu werden. Die ersten Versuche, ihren Körper in Schwung zu bringen, scheitern kläglich. Doch dann trifft Hannah im Park zwei Frauen, die das gleiche Ziel verfolgen wie sie. Alle drei wollen dem Leben endlich eine zweite Chance geben. Gemeinsam gründen sie einen ungewöhnlichen Laufclub. Und schon bald muss Hannah feststellen, dass ihr neues Leben viel schöner ist als ihr altes. Und dann ist da ja auch noch der charmante Polizist Steve, der sie anfeuert. Ohne es zu ahnen, ist sie dem Glück geradewegs in die Arme gelaufen.

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Zum Buch

Nachdem ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen hat, beschließt die 48-jährige Hannah trotzig, sich für einen Marathon anzumelden. Zwölf Wochen hat sie Zeit, um fit zu werden. Die ersten Versuche, ihren Körper in Schwung zu bringen, scheitern kläglich. Doch dann trifft Hannah im Park zwei Frauen, die das gleiche Ziel verfolgen wie sie. Alle drei wollen dem Leben endlich eine zweite Chance geben. Gemeinsam gründen sie einen ungewöhnlichen Laufclub. Schon bald stellt Hannah fest, dass ihr neues Leben viel schöner ist als ihr altes. Und dann ist da ja auch noch der charmante Polizist Steve, der sie anfeuert. Ohne es zu ahnen, ist sie dem Glück geradewegs in die Arme gelaufen.

Zur Autorin

Elle Spellman ist eine leidenschaftliche Läuferin und findet, es macht am meisten Spaß, mit Freunden zu laufen. Sie liebt es, am Meer zu sein und sich kurze und lange Geschichten auszudenken. Sie wohnt in Bristol. »Das Glück läuft, wohin es will« ist ihr erster Roman bei Heyne.

ELLE SPELLMAN

DAS GLÜCK LÄUFT,

WOHIN ES WILL

ROMAN

Aus dem Englischen

von Babette Schröder

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Running into Trouble erschien erstmals 2020 bei Trapeze, London.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2020 by Elle Spellman

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sandra Ladwig

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München,

unter Verwendung von Shutterstock.com (Lera Efremova)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-27731-4V001

www.heyne.de

Wenn du aufgeben willst, denk immer daran,

warum du angefangen hast.

TEIL 1

Drei Monate

bis zum Marathon!

1

Hannah

Wie bei vielen etwas fragwürdigen Entscheidungen in Hannahs Leben war auch bei dieser Wein im Spiel.

Rotwein, um genau zu sein; bestens geeignet, um ganz nebenbei ein Leben zu zerstören. Hannah holte eine Flasche Merlot, die Hausmarke des Supermarkts, aus der zerknitterten Einkaufstüte. Eigentlich fing es jedes Mal ganz harmlos an. Mit den besten Absichten nahm man sich vor, nur ein Glas zu trinken, und ehe man sichs versah, hatte man eine ganze Flasche billigen Supermarktwein geleert und rettete mal eben die Welt. Nebenbei vertilgte man eine Packung Cadbury Chocolate Fingers, die eigentlich für das Geburtstagsbüffet des Chefs bestimmt gewesen war.

Hannah sah den Ablauf des Abends bereits deutlich vor sich, noch bevor die rubinrote Flüssigkeit über den Glasrand zu schwappen drohte. Sie betrachtete sie aufmerksam und rechnete: Acht Wochen, drei Tage und ungefähr zwei Stunden war es her, seit Dan überstürzt das Haus verlassen hatte und sehr wahrscheinlich ihr Leben. Seitdem war aus dem gelegentlichen Glas Wein oder Gin Tonic zum Feierabend schnell ein kostspieliges allabendliches Ritual geworden. Dieser Hauch von Glück an einem ansonsten einsamen Abend war tröstlich.

Hannah ging in den Flur und schleuderte die abgenutzten schwarzen Schuhe von sich. Nach einem Neunstundentag in diesen Dingern bei Travel Town fühlten sich ihre Füße ähnlich gequält an wie ihr Lächeln. Ihr Job war es, maßgeschneiderte Urlaubspakete für glückliche Jetsetter zusammenzustellen. Wenn sie aufgeregt zu ihr kamen und von Infinitypools und Insta-würdigen Cocktails träumten, war es nicht ganz leicht, nicht neidisch zu werden.

Die Weinflasche in der einen, das Glas in der anderen Hand ging Hannah ins Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen. Der kratzige blaue Stoff erinnerte sie sofort wieder an Dan. Er hatte ihn unbedingt haben wollen – sie fand ihn furchtbar –, und jetzt zahlten sie immer noch den Kredit für das blöde Ding ab. Hannah stellte den Fernseher an und schaltete zu dem Krimi, den sie auf Netflix angefangen hatte, froh, dass sich das Haus durch das Hintergrundrauschen etwas weniger leer anfühlte. Sie trank den lang ersehnten Schluck Wein, der warm ihre Kehle hinunterfloss.

Die Sonne schien noch auf die von Reihenhäusern gesäumte Straße. In letzter Zeit sorgte die sommerliche Hitze für eine hohe Luftfeuchtigkeit, die andere nach draußen lockte. Es war zu heiß, um die Fenster geschlossen zu lassen, sodass Hannah notgedrungen das Glück der anderen mitanhören musste. Die Geräusche von spielenden Kindern, Familien und Freunden, die sich in den Nachbargärten trafen, ihr helles Lachen, schlichen sich wie ein ungebetener Gast an den Vorhängen vorbei ins Haus. Hannah konnte nichts anderes tun, als im Wohnzimmer zu sitzen, das für sie allein zu groß war, und es irgendwie zu ertragen.

Auf dem Bildschirm lief der Krimi: Eine Polizistin machte sich bereit, in die heruntergekommene Wohnung eines Verdächtigen einzubrechen, aber Hannah war nicht wirklich bei der Sache. Sie versuchte, der Geschichte zu folgen, verlor aber den Faden. Seit Stunden hatte sie sich darauf gefreut, nach Hause zu kommen und sich auf ihr bequemes Sofa zurückzuziehen, nur um jetzt festzustellen, dass sie überall lieber wäre als hier. Es genügte eine kleine Erinnerung – ein verliebtes Paar vielleicht, das mit verträumtem Blick ins Reisebüro schwebte, um die Flitterwochen zu buchen –, schon wurde Hannah nur wenige Monate zurückkatapultiert, als in ihrem Leben noch alles in Ordnung zu sein schien. Hier war sie von Erinnerungen umgeben. Überall im Haus waren noch Dans Sachen – im Regal standen seine Bücher, im Schrank hing seine Kleidung, und in der Garage waren seine Golfschläger. Sie waren Überbleibsel von einem seiner zahlreichen Versuche, ein Hobby zu beginnen, das er nur wenige Wochen später wieder aufgab. Er hatte nur mitgenommen, was in einen Koffer passte. Das konnte doch nicht reichen, oder?

Sicher würde er noch einmal zurückkommen müssen.

Die Erinnerung an jenen Abend, an dem er es ihr gesagt hatte, war noch so lebendig, als hätte er ihr diesen Schlag erst gestern versetzt. Darüber kam sie nicht so leicht hinweg. Selbst wenn Hannah bei Sirenengeheul, orangefarbenem Himmel und dem beginnenden Weltuntergang aufwachte, würde sie Dans jämmerlichen Gesichtsausdruck an jenem Abend vor sich sehen. Wie ein wiederkehrender Albtraum hatte er sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, noch schlimmer als der Nackt-im-Supermarkt-Traum, der sie jahrelang verfolgt hatte.

Dan war nach Hause gekommen – an einem Dienstag, einem Bolognese-Abend – und hatte das von Hannah liebevoll zubereitete Essen hinuntergeschlungen. Erst danach war er mit der schäbigen Geschichte herausgerückt. Verlassen. Ohne es zu bemerken, hatte sie die Gabel fallen lassen und ihren Mann angestarrt, der Dinge sagte, die irgendwie keinen Sinn ergaben. Sein Mund bewegte sich, aber die Worte verstand sie nicht. Es war, als hätte man ihn irgendwie durch jemand anderen ersetzt. Durch wen wusste sie nicht – vielleicht war es so eine Art umgekehrte Version von DieFrauen von Stepford –, jedenfalls klang er nicht wie der Dan, den sie kannte.

Also hatte sie stumm zugehört. Gewartet, bis er fertig war. Geblinzelt, ihn angesehen und noch etwas weiter zugehört, während die Worte über seine mit Soße verschmierten Lippen kamen.

»Nicht glücklich.«

»Will eine Pause.«

Wie betäubt hatte Hannah dagesessen. Die sinnlosen Sätze hingen in der Luft und warteten darauf, dass sie sie verstand.

»Ziehe eine Weile aus.«

»Das Beste für uns.«

Und dann der absolute Clou, bei dem Hannah das Gefühl hatte, ihre Seele würde schlagartig ihren Körper verlassen:

»Ich habe mich in eine andere verliebt.«

Wie gelähmt hatte sie am Tisch gesessen und vergeblich versucht, einen zusammenhängenden Satz zustande zu bringen, während das Leben, das sie dreiundzwanzig Jahre lang geführt hatte – sieben Jahre als unverheiratetes, dann sechzehn Jahre als verheiratetes Paar – um sie zusammenbrach.

»Warum?«, murmelte sie schließlich.

Sie brachte das Wort kaum heraus. Hannah hörte, dass sie wie ein Mäuschen klang, und das war ihr zuwider.

Dan konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Es ist einfach passiert«, gestand er kleinlaut. »Man kann nichts dafür, in wen man sich verliebt, oder?«

Fast hätte Hannah gelacht, hätte die Situation sie nicht vollkommen gelähmt.

»Im Ernst, Dan? Man kann nichts dafür, in wen man sich verliebt? Das ist das dämlichste Klischee, das ich seit Langem gehört habe. Du kannst sehr wohl etwas dafür. Vor allem musst du deine Frau nicht betrügen. Warum hast du nicht mit mir geredet?«

Dan zuckte mit den Schultern. »Ich hatte das nicht geplant.«

»Wer ist sie?«

Dan hatte den Anstand, leicht verlegen zu wirken. »Sie ist eine Trainerin«, gestand er. »Aus dem Fitnessstudio.«

Hannah war innerlich zu Stein erstarrt. Eine Personal Trainerin. Ist das so eine Art Midlife-Crisis? Die meisten Opfer kamen mit einem peinlichen Sportwagen nach Hause, doch ihr Dan, ihr liebenswerter, zuverlässiger, attraktiver Dan, brannte mit einer Trainerin aus dem Gym4Less Studio durch. Kein Wunder, dass er in letzter Zeit so oft dort gewesen war. Und Hannah hatte gedacht, er würde das Training endlich ernst nehmen, nachdem er sich nach einem Wellnesstag in der Firma erschrocken vorgenommen hatte, mehr auf seine Gesundheit zu achten. Ganz offensichtlich hatte sie sich getäuscht.

Dan sah merklich fitter aus, überlegte Hannah und bedauerte es sogleich.

Er hat mich für eine sportliche Frau verlassen. Für das Gegenteil von mir.

Dann waren ihr die Tränen gekommen, und alles war verschwommen – die Küche, die sie gemeinsam eingerichtet hatten. Ihr Zuhause. Ihre Träume.

Natürlich hatten sich nicht all ihre Träume erfüllt. Aber damit hatte Hannah nicht gerechnet.

»Dann packe ich mal meine Sachen«, hatte Dan gesagt, den Teller in die Spüle gestellt und war die Treppe hinaufgegangen.

Das ist nur vorübergehend, hatte Hannah sich gesagt und sich ins Bad zurückgezogen. Sie stellte die Dusche an, damit Dan ihr Schluchzen nicht hörte, während er so viele Habseligkeiten wie möglich in ihren Lieblingsurlaubskoffer warf. So etwas kommt vor. Das dauert nicht lange.

Traurigerweise dauerte es nun schon über zwei Monate.

Hannah trank noch einen Schluck Wein. Die TV-Polizistin hatte den Verdächtigen festgenommen. Hannah war unruhig. Inzwischen war sie leicht beschwipst, und ihr Blick wanderte zu ihrem Smartphone. Nur einmal kurz, dachte sie, unfähig der Verlockung zu widerstehen, und öffnete Facebook.

Sie gab seinen Namen ein. Dan hatte sie zwar blockiert – ist leichter so, hatte er gesagt –, doch ihm war nicht klar, wie viele seiner Fotos für alle sichtbar waren.

Da war er. Dan Saunders. Auf seinem Profilbild saß er in einem T-Shirt, das sie nicht kannte, in einem sonnigen Biergarten. Hannah klickte das Foto an und vergrößerte es.

Bei Dans Lächeln ging Hannah vor Sehnsucht das Herz über, bis sie einen Arm und kastanienbraune Haarsträhnen über einer gebräunten Schulter bemerkte. Dan mochte sie abgeschnitten haben, doch Hannah war sofort klar, dass der straffe glänzende Arm Sophia gehörte.

Dan hatte nicht viel über seine geheimnisvolle Affäre gesagt, aber Hannah musste nicht Sherlock Holmes sein, um herauszufinden, was sie wissen wollte. Social Media lieferten alle Antworten.

Sophia Sandford war das genaue Gegenteil von Hannah. Eine natürliche Schönheit, groß und schlank mit wundervollem Haar. Ihr glänzendes Aussehen schrie geradezu »Erfolg«. Sophia sah aus wie aus einem Hochglanzmagazin entstiegen. Die Fotos zeigten ihren zierlichen, supertrainierten Körper in Fitnesskleidung. Ein Körper zum Angeben. Das konnte Hannah ihr nicht verübeln. Wenn ich so aussähe, würde ich nackt im Supermarkt herumlaufen.

Hannah könnte niemals wie Sophia aussehen. Ein paar Jahre lang hatte sie es probiert, bis ihr klar geworden war, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Hannah war von Natur aus kurvig, sie kam nach der Familie ihrer Mutter. Zudem war sie kleiner als Sophia und trug lieber lange Pullover und Kleider, die ihren Körper verbargen, anstatt ihn zu betonen. Ganz anders Sophia mit ihrem langen, wallenden Haar und den schmal geschnittenen Kleidern, die jede trainierte Kurve betonten. Hannahs schulterlanges Haar war blond gefärbt, um die grauen Strähnen zu verdecken, die sich seit ihren Dreißigern schleichend vermehrten.

Wieder starrte sie auf das Profilbild. War das wirklich »gerade erst passiert« oder hatte Dan sich schon die ganze Zeit nach einer anderen umgesehen?

Hannah trank noch einen Schluck Merlot und klickte das Bild weg. Auf Facebook rekelte sich eine ihrer ehemaligen Kolleginnen an einem tropischen Strand und nippte an einem leuchtend orangefarbenen Getränk. #Selig. Einen kurzen Moment lang stellte Hannah sich vor, selbst dem Alltag zu entfliehen. Bristol für einige Tage zu verlassen, ihren alten blauen Bikini und den zuverlässig ihren Bauch verhüllenden Sarong in eine Tasche zu packen und irgendwo in die Sonne zu düsen. Sie würde die Riesenluftmatratze in Form einer Ananas kaufen, die sie in der Stadt gesehen hatte, und sich mit einem Drink in der Hand auf dem Pool treiben lassen. Eine vollkommene Fantasie – bis ihr klar wurde, dass der Bikini ihr inzwischen vermutlich drei Größen zu klein war und ihr Bankkonto kaum für einen Trip an die Küste nach Skegness reichte, geschweige denn nach Portugal.

Wenn das eigene Leben gerade beschissen war, konnte Facebook einen in tiefe Verzweiflung stürzen. Das wusste Hannah, dennoch konnte sie nicht anders, sie musste nachsehen. Ehe sie es verhindern konnte, tippte sie den Namen in die Suchfunktion.

Sophia Sandford.

Erwartungsgemäß wurde Hannah übel. Fast jeden Abend besuchte sie das Profil, irgendwie konnte sie nicht aufhören, sich zu quälen. Über Dan stand nichts Neues auf der Seite, doch wieder einmal wagte sich Hannahs zitternde Hand zu den Fotos vor, zu den Selfies aus dem Gym, den Strandfotos und Schnappschüssen von abendlichen Unternehmungen, die sie schon eine Million Mal gesehen hatte. Nicht nur dass Sophia wunderschön war, sie war auch erst dreiunddreißig. Dan hatte Hannah verlassen, um sein Glück bei einer anderen zu suchen. Die sportlicher war. Und über zehn Jahre jünger.

Ein Foto zeigte Sophia grinsend beim Laufen in der Menge. Hannah wischte über den Bildschirm. Jetzt hielt Sophia eine Medaille in der Hand und strahlte vor Stolz.

»Wenn ich dagegen antrete, bin ich erledigt«, nuschelte Hannah resigniert.

Sie ließ den Tränen freien Lauf. Sie wollte aufstehen, doch ihr war schwindelig. Hannah blickte auf die Flasche auf dem Couchtisch. Sie hatte fast den ganzen Wein ausgetrunken. Am besten ging sie ins Bett. Sie rappelte sich vom Sofa hoch, doch als sie mit der Anmut eines Babys, das gerade Laufen lernt, zur Tür wankte, stieß sie sich den Zeh am Couchtisch.

»Herrgott!«, schrie sie, und das Telefon flog auf den Boden.

Hannah beugte sich hinunter, um es aufzuheben, und stellte dankbar fest, dass Sophias Seite verschwunden war. Stattdessen erschien ihre eigene Startseite. Während der Raum sich um sie zu drehen begann, blieb Hannahs Blick an einer Anzeige hängen.

LUST AUF EINE HERAUSFORDERUNG?

Beim Great South West Marathon sind noch Startplätze frei!

Die bunte Anzeige leuchtete verführerisch. Die Worte tanzten vor Hannahs Augen. Ein Marathon?

MELDE DICH JETZT AN!

Hannah lachte auf. Sie starrte auf die Anzeige und die Läufer, die sie anstrahlten, als wollten sie sagen: Komm zu uns. Dann tauchte in ihrem Kopf ein Bild von Dan auf. Offenbar mochte Dan sportliche Frauen. Vielleicht habe ich mich an dieser Stelle getäuscht. Vielleicht hätte ich mehr Interesse zeigen sollen. Im Geiste sah sie sich selbst mit einer Medaille, wie sie lächelnd durch die Menge auf die Ziellinie zu lief, wo Dan sie mit ausgebreiteten Armen empfing.

Es ist nur ein Lauf! Das kann ja wohl nicht so schwer sein, oder? Wenn tausend andere Leute das können, kann ich das auch. Morgen fange ich an! Ich werde über Felder und Berge laufen wie die Frauen in den Anzeigen für Sportbekleidung …

Es erschien ihr wie ein Wink des Schicksals. Plötzlich wusste sie genau, was sie zu tun hatte.

Mit zitternden Fingern klickte sie auf »Anmeldung«. Lachend gab sie ihre Daten ein und fragte sich, warum sie darauf nicht schon früher gekommen war.

Die Worte auf dem Bildschirm verschwammen.

Herzlichen Glückwunsch, du bist angemeldet!

»Ja!«, rief Hannah. Sie würde einen Marathon laufen. Sie würde fit und schnell und absolut großartig sein. Sofort postete sie ein Update auf ihrer Facebook-Seite, dann ließ sie sich zurück aufs Sofa fallen.

Wo sie umgehend einschlief.

Am nächsten Morgen erwachte Hannah mit hämmernden Kopfschmerzen und hatte achtunddreißig neue Facebook-Benachrichtigungen.

Achtunddreißig? Das ist ungewöhnlich.

Sie hielt sich das Telefon dicht vors Gesicht und blinzelte in dem verzweifelten Versuch, den Schmerz hinter ihren Augen zu verdrängen, genau wie die Übelkeit und den widerlich pelzigen Geschmack in ihrem Mund. Hannah schielte auf die fast leere Flasche Merlot auf dem Couchtisch und empfand einen Anflug von Scham.

Nervös betrachtete sie die Nachrichten. Normalerweise hatte sie zwei, höchstens sechs. An ihrem Geburtstag waren es vielleicht bis zu dreißig, aber bestimmt nicht an einem normalen Tag. Sie wartete, bis sich ihr Blick scharf stellte und sie endlich die Wörter erkennen konnte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr stieg die Galle hoch.

WISST IHR WASS??? Ich laufe den GREAT SOUTH WEST MARATHOOOOOON! Jetzt geht’s looos! Hab mich gerade angemeldet, jetzt heißt es, fit & schnell werden!!!

Oh, nein.

Bitte, nicht.

Langsam drang die schwache Erinnerung an den gestrigen Abend in ihr Bewusstsein. Hannah sah wieder auf das Display, in der Hoffnung, dass die Wörter verschwanden, sie noch schlief und das Ganze nur ein Albtraum war. Doch das war nicht der Fall. Ganz offensichtlich hatte sie diese Wörter getippt.

Ihre beste Freundin Bronwen hatte als Erste einen Kommentar verfasst.

Was, Han? Du bist betrunken, das sehe ich doch. Stimmt’s? Du musst mir alles erzählen, wenn wir uns treffen! Also … LAUF, HANNAH!!

Unter Bronwen hatten andere Freundinnen und Bekannte gute Wünsche gepostet:

Gut gemacht, Han! Ich wünschte, ich wäre so mutig wie du! Ein Marathon! Wow! Das ist großartig, Hannah. Viel Glück!

LAUF HAN! LAUF HAN!

Wow, 42,195 km! Ich würde schon beim zweiten zusammenbrechen. Viel Glück, Han, wir werden dich anfeuern!

Zweiundvierzig Kilometer und hundertfünfundneunzig Meter.

Hannah hatte sich angemeldet, um mehr als zweiundvierzig Kilometer zu laufen.

Natürlich fand sie in ihrem Postfach die Glückwunsch-E-Mail vom Veranstalter des South West Marathons, die sie fröhlich daran erinnerte, dass sie einen Marathon laufen würde.

Und als wäre das nicht genug, war das Rennen auch schon in drei Monaten.

Hannah erbleichte. Laufen. Sie konnte ja kaum zur Bushaltestelle am Ende der Straße laufen, ohne Atemnot zu bekommen und ins Schwitzen zu geraten. Sie hatte seit Jahren nicht mehr richtig Sport getrieben. Und trotzdem hatte sie sich in aller Öffentlichkeit freiwillig, betrunken, idiotischerweise zu einem ganzen Marathon angemeldet. Der Raum begann, zu schwanken, zugleich schlich sich die Morgensonne durch die Vorhänge und mit ihr eine Ahnung der Realität.

Zweiundvierzig Kilometer.

Allein bei dem Gedanken daran stieg ihr unangenehm der Geschmack des gestrigen Weins in die Kehle. Gerade noch rechtzeitig schaffte sie es ins Bad.

Das war’s, beschloss sie. Ich trinke nie wieder.

2

Malika

Malika vermisste den Geruch der Blumen.

Das war merkwürdig. Noch vor Kurzem war ihr der faulige Gestank zuwider gewesen, den die anfangs wohlduftenden Blumen verströmt hatten, als sie allmählich zu welken begannen. Sie fand es unerträglich, wenn ihr der Geruch morgens in die Nase stieg – eine Art Überfall auf ihre Sinne. Eine brutale Erinnerung. Anfangs war es noch schön gewesen. Eine Zeit lang hatte der Duft das Büro von Rocket Recruitment erfüllt und Kindheitserinnerungen an Besuche bei ihrer Großmutter geweckt. Ihre geliebte Großmutter hatte jede Woche bei der Floristin im Ort einen kunstvollen Blumenstrauß gekauft und ihn neben das Telefon auf den Flurtisch gestellt. Doch genau wie bei ihrer Großmutter war der charmante Duft irgendwann gekippt und hatte sich mit einem anderen Gefühl verbunden – Verlust.

Dieses Gefühl war überall.

Die Abwesenheit des angenehmen Dufts erinnerte Malika daran, dass es vorbei war. Seit vier Wochen trafen keine Sträuße mehr ein. Allmählich wagten sich alle in die sogenannte »Normalität« zurück, obwohl Malika noch nicht annähernd bereit dazu war. Die Blumen im Büro waren verwelkt und im Müll entsorgt, die Vasen geleert und wieder hinten in den Schrank geräumt worden. Die Wolke aus Mitgefühl, die in den letzten Wochen über dem Gebäude geschwebt und sie mürbe gemacht hatte, verzog sich allmählich und machte der Sommersonne Platz, die draußen auf die Straße schien. Malikas Kollegen – bevor es passiert war, waren sie zu viert gewesen – hatten wieder angefangen, zu lachen und zu scherzen. Fast kam es Malika so vor, als hätten sie Abbie vergessen.

Vier Wochen. Länger hatte es nicht gedauert, bis die Erinnerung an Abbie zu verblassen begann. Die kühle Juniluft war wärmer geworden und ließ den Sommer näher rücken. Das zeigte sich deutlich an den vielen Menschen, die die steile Park Street zu den Läden, den Cafés und der Riesenbibliothek im College Green hinauf- und hinunterwanderten: Studenten, Angestellte und vereinzelte Touristen. Neidisch beobachtete Malika sie durchs Fenster. Noch vor wenigen Wochen hatte sie sich darauf gefreut, sich unter sie zu mischen. Unter die Einwohner der Stadt, die zurzeit noch zahlreicher waren als die Touristen. Sie liebte den Sommer in Bristol, die unbeschwerten Abende in den Hafenbars, die Lichter, die übers Wasser tanzten, während die Zeit verstrich. Entspannt mit ihren Mitbewohnern Roz, Dean und Kath Bier aus der Flasche zu trinken und das ganze Wochenende über zu quatschen.

Doch jetzt fürchtete sie den Sommer. Die warme Luft fühlte sich schwül und aufdringlich an. Der Himmel leuchtete nicht mehr so wie vorher.

Der Tag war gerade erst angebrochen, als Malika das Büro betrat, ihre Jeansjacke an den Garderobenständer in der Ecke hängte und zu ihrem Schreibtisch ging. Eigentlich war es Abbies Schreibtisch gewesen. Malika hatte ihn mit ihrem getauscht, weil sie den leeren Anblick nicht länger ertrug. Ihre Kollegen hatten ihn betreten ignoriert, weil niemand zugeben mochte, dass Abbie nicht mehr zurückkam. Malika schaltete den Computer ein und schob vorsichtig einigen Kram beiseite, der einst Abbie gehört hatte: ein Notizbuch, ein Schälchen mit Büroklammern, ein paar Post-it-Zettel mit Abbies Handschrift. Malika brachte es nicht über sich, sie wegzuwerfen.

»Morgen!« Eva, die Filialleiterin, steckte den Kopf aus der Küche. »Ganz schön warm heute, was? Wollte gerade Wasser heiß machen. Tee?«

»Dumme Frage«, scherzte Malika und hoffte, dass Eva ihr den frechen, forschen Ton abnahm, der früher ganz natürlich gewesen war, jetzt aber aufgesetzt klang.

Malika ging ihre E-Mails durch und markierte einige, die sie beantworten musste. Ihr Blick ging zum Fenster. Sie genoss die Ruhe, wenn die Stadt erwachte und die Morgensonne über den hohen alten Gebäuden aufstieg. In weniger als fünfundvierzig Minuten würden Malikas erste Bewerber durch die Tür hereinhasten – hoffnungsvoll, ungeduldig und auf der Suche nach einem neuen Job, manchmal auch nach einem neuen Traumjob. Die Aussicht, sie bei dieser Suche zu unterstützen, half Malika normalerweise, mit Schwung und Entschlossenheit in den Tag zu starten, doch vorerst genoss sie die Ruhe und kostete den Moment aus.

Bis die Tür aufging und Marc hereinkam. Da war es mit der Ruhe vorbei.

»Hey, M!«, rief er laut, winkte ihr zu und hängte sein Sakko auf. Dann holte er eine Trinkflasche heraus, in der eine schlammartige grünliche Substanz schwappte, und stellte sie auf den Schreibtisch. Marc fing ihren Blick auf. »Ein neuer Smoothie. Willst du probieren?«

»Sieht eklig aus«, sagte Malika lächelnd.

»Stimmt«, gab er zu. »Da kann ich nicht widersprechen. Er sieht aus wie Moorschlamm. Aber er wirkt.«

Malika beobachtete, wie Marc seine Tasche unter den Schreibtisch schob und sich dabei die ausgeprägten Muskeln unter dem makellos weißen Hemd abzeichneten. Marc erschien immer wie aus dem Ei gepellt zur Arbeit. Beunruhigt fragte sich Malika, ob sie es ihm gleichtun und sich mehr Mühe geben sollte. Abbie hatte das schließlich auch getan.

Eva kehrte mit zwei Teebechern aus der Küche zurück. »Alles klar, Marc?«, fragte sie. Stirnrunzelnd blickte sie auf das Chaos auf Malikas Schreibtisch und suchte nach einem freien Platz, um den Becher abzustellen.

»Ach, Mal, das hab ich ganz vergessen. Hast du es letzte Woche geschafft, die Aushänge mit den neuen Stellenausschreibungen auszudrucken?«

Malika machte ein langes Gesicht. »Nein. Das hab ich total vergessen. Mach ich sofort, Eva. Tut mir sehr leid.«

»Keine Sorge«, erwiderte Eva lächelnd. »Wenn du das nachher erledigst, wäre das toll. Aber …« Ihr Blick wanderte über den Schreibtisch. »…. vielleicht sollten wir etwas von diesem Kram wegräumen. Du kannst dich ja kaum bewegen.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Malika schnell. »Ich mach das demnächst.«

Eva beugte sich vor und pflückte eine Visitenkarte von einem Stapel: Abbie Gordon, stellvertretende Filialleiterin.

»Nun, die brauchen wir doch nicht mehr, oder?«, fragte sie.

Zu Malikas Entsetzen nahm sie die Karten und warf sie in den Papierkorb. Malika streckte die Hand aus, doch Eva hielt sie zurück.

»Mal.«

»Es ist nur …«

»Entrümpeln ist gut«, rief Marc. »Sonst wirst du noch zum Messie und landest irgendwann im Fernsehen«, fügte er lachend hinzu.

Malika war klar, dass Marc ihr mit seiner dreisten Bemerkung nur helfen wollte. Das war gut. Meist lavierten Eva und Marc übervorsichtig um das herum, was passiert war. Oder noch schlimmer: Sie mieden das Thema ganz.

Eva verließ das zentrale Büro und kehrte kurz darauf mit einem Karton zurück, wie man ihn für Umzüge benutzt. Oder wenn man einen neuen Job antritt und seine Erinnerungen und Abschiedskarten mit lauter guten Wünschen einpackt, ehe die Kollegen einem Lebewohl sagten.

Oder ein Karton, in den deine Freunde deine Habseligkeiten packen, wenn du tot bist.

Malika schob den Karton fort. »Meinst du nicht, dass das etwas früh ist?«

Eva schüttelte den Kopf. »Das macht es dir nur noch schwerer. Je länger du ihre Sachen behältst, desto härter wird es. Ich weiß, wie gern du Abbie hattest. Wir hatten sie alle gern, aber wir müssen zur Normalität zurückkehren, sonst werden wir verrückt. Irgendwann müssen wir nach vorn schauen.«

Noch nicht, wollte Malika sagen, fand jedoch nicht die richtigen Worte.

Leise sagte Eva: »Mal, ist alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus. Wenn du dir Urlaub nehmen willst, sag einfach Bescheid, okay? Das ist kein Problem.«

»Nein, Eva, schon gut …«

Eva hob die Hand. »Im Ernst, Mal. Ich weiß, du hast gesagt, dass du Abbies Arbeit gern übernimmst, bis …« Sie verstummte.

Bis wir sie ersetzt haben, dachte Malika.

»… vorerst«, korrigierte sich Eva. »Ich mache mir nur Sorgen, dass das im Moment alles ein bisschen zu viel für dich ist. Vielleicht war es nicht die beste Lösung, dich zur Stellvertreterin zu machen. Ich habe dir einiges aufgebürdet.«

»Nein!« Malika schrie beinahe. Auch wenn sie Evas Sorge zu schätzen wusste, war ihr das zu viel. »Ehrlich. Ich schaff das, Eva. Wirklich. Ich brauche keinen Urlaub. Mir geht’s gut.«

Mir geht’s gut. Das war in letzter Zeit ihre größte Lüge. Sie hatte es so oft gesagt, dass sie es fast selbst glaubte. Gegenüber ihrer Chefin, ihren Mitbewohnern, ihren Eltern, Fremden, die zu Rocket kamen und nach Abbie fragten, um dann zu erfahren, dass sie nicht mehr da war. Mir geht’s gut. Alles in Ordnung. Was spielte das schon für eine Rolle? Das war nicht wichtig. Abbie war wichtig. Abbie, Malikas Kollegin und Freundin.

Sie hatten sich angefreundet, als Malika bei Rocket angefangen hatte. Nach gelegentlichen Gesprächen beim Mittagessen hatten sie sich schon bald nach Feierabend zu einem Drink oder zu Konzerten verabredet, sie waren gemeinsam auf Shoppingtour gegangen und hatten in den Secondhandläden auf der Gloucester Road nach Schätzen gestöbert. Abbie war immer für Malika da gewesen und hatte sich ihren Frust über ihre Mitbewohner angehört, wie damals, als Dean eine neue Freundin hatte, die praktisch bei ihnen eingezogen war. Abbie war eine Problemlöserin. Und eine tolle Freundin. Ein wundervoller Mensch.

Abbie war auf dem Heimweg vom Büro gestorben, als ein Auto in ihr Fahrrad gerast war.

Eva lächelte traurig und bot Malika noch einmal den Karton an. »In Ordnung. Wenn du dir sicher bist. Aber kannst du bitte erst mal etwas von diesen Sachen wegräumen? Wir können sie eine Zeit lang im Schrank aufbewahren, bis wir geklärt haben, was wir damit machen.«

Malika nickte stumm. Vielleicht hatte Eva recht. Vielleicht musste sie loslassen. Nach vorn schauen. Es ging darum weiterzuleben.

Sie stellte den Karton neben ihren Füßen ab, holte tief Luft und packte nacheinander Abbies Habseligkeiten hinein. Ganz vorsichtig, als handele es sich um kostbare Antiquitäten. Sie öffnete die oberste Schublade, die sie unverändert gelassen hatte. Stifte, noch mehr Notizhefte, drei Schachteln mit Kräutertee, ein Hefter … und ein kleines Notfall-Schminkset, für den Fall, dass Abbie und Malika spontan nach der Arbeit ausgingen. Bei der Erinnerung musste Malika lächeln.

Als sie eine alte Aktenmappe herausholte, flatterte etwas darunter hervor. Ein Flugblatt. Malika hob es auf. Eine Werbung für eine Laufveranstaltung. Auf glänzendem Papier leuchteten fette große Buchstaben über einem Foto, das ein Meer von lächelnden Läufern zeigte. Abbie war eine eifrige Läuferin gewesen und hatte immer versucht, Malika ebenfalls dazu zu motivieren. »Komm schon!«, hatte sie gesagt. »Los! Das macht Spaß. Dann können wir zusammen laufen.«

Malika hatte jedes Mal abgelehnt. »Irgendwann vielleicht«, hatte sie geantwortet.

»Das heißt nie. Ich kenne dich, Malika!«

»Wahrscheinlich hast du recht. Laufen ist einfach nichts für mich.«

Abbie hatte ihre Ausreden immer mit einem Lachen abgetan. Doch Malika hatte nicht gelogen, Laufen war einfach nicht ihre Stärke. Sie war insgesamt nie besonders sportlich gewesen, abgesehen von ein bisschen Netball auf der Highschool. Für sie war Sport mehr Pflicht als Vergnügen, es sei denn Tanzen bei Popworld mit Roz und Kath zählte auch dazu.

»Bitte?«, hatte Abbie gefragt und schmollend vor ihrem Schreibtisch gestanden. »Das macht Spaaaaß.«

»Gut!«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Ich nagele dich darauf fest, Mal. Denk ja nicht, dass du mir entkommst.«

Aber sie war entkommen. Auf die furchtbarste Weise.

Bei der Erinnerung daran verzog Malika das Gesicht und wünschte, sie hätte es getan, sie hätte alles nur Erdenkliche getan, um so viel Zeit wie möglich mit ihrer Freundin zu verbringen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Abbies Zeit bald abgelaufen sein würde. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, würde sie alles machen. Jede Sportart. Einfach alles.

Sie blickte auf das Flugblatt und las:

Im Oktober findet der Great South West Marathon statt

– Bist DU bereit?

Nach dem überwältigenden Erfolg der Halbmarathons in Bristol und Bath sind wir stolz, ein neues jährliches Laufereignis anzukündigen – 42,195 Kilometer durch die fantastische Stadt und über Land!

Malika ließ das Flugblatt in den Karton fallen und räumte die Schublade weiter aus. Ihr Blick blieb an einem kleinen silbernen Gegenstand hängen, der zwischen alten Heft- und Büroklammern lag, sie holte ihn heraus.

Eine Medaille.

Malika fühlte das massive Gewicht in ihrer Hand. Die Medaille, an der ein blaues Band befestigt war, glänzte im hereinfallenden Sonnenlicht. »Great Bristol Halbmarathon 2017« stand dort eingraviert. Malika erinnerte sich an den Tag, an dem Abbie sie mitgebracht und allen gezeigt hatte. Sie hatte über dreihundert Pfund für die britische Herzstiftung erlaufen. Kurz überlegte Malika, warum Abbie so etwas in ihrer Büroschublade aufbewahrte. Wenn sie eine Medaille gewonnen hätte, würde sie sie stolz zu Hause ausstellen und jedem von ihrer tollen Leistung erzählen. Aber Abbie hatte ständig an irgendwelchen Rennen teilgenommen. Wahrscheinlich hatte sie zu Hause eine ganze Medaillensammlung und einfach vergessen, dass sie diese hiergelassen hatte.

Malika schloss die Hand um die Medaille und strich mit den Fingern über das Band. Sie wollte sie schon in den Karton fallen lassen, als sie es sich anders überlegte. Die Medaille war viel zu wertvoll, um in einem Karton vergessen zu werden, der irgendwann weggeworfen wurde. Stattdessen steckte Malika die Medaille in die Hosentasche.

Sie holte das Flugblatt wieder heraus.

Ein Marathon.

Kurz geisterte die Idee durch ihren Kopf, dann schob sie sie energisch zur Seite. Nein, dachte sie. Das wäre verrückt. Was für eine alberne Idee.

Doch ihre Hände lagen bereits auf der Tastatur und tippten in die Suchleiste.

Die bunte Website erschien.

Nimm die Herausforderung an!

Bilder von Läufern, die lächelnd und mit entschlossenem Blick über eine sonnige Straße liefen.

Malika konnte kaum glauben, dass sie überhaupt darüber nachdachte. Ausgerechnet ein Marathon. Und das auch noch in drei Monaten. Die Zeit reichte sicher nicht, um genügend zu trainieren.

Los! Wieder hallte Abbies Stimme durch ihren Kopf.

Malika erinnerte sich an ihre Worte. Versprochen. Sie zog die Medaille aus der Hosentasche, um noch einmal einen Blick darauf zu werfen, und begriff, dass dies die perfekte Gelegenheit war, ihr Versprechen wahr zu machen.

Sie brauchte einen Abschluss. Das hatte nicht nur Eva gesagt, sondern auch ihre Mutter bei ihren regelmäßigen Telefonaten. Seit Abbies Tod sorgte sich Mrs. Sade noch mehr um ihre Tochter. »Mir geht’s gut, Mum«, sagte Malika jedes Mal und versuchte, nicht gereizt zu klingen.

Doch das hier war eine Chance. Etwas, auf das sie sich konzentrieren konnte. Etwas, auf das sie zielgerichtet hinarbeiten konnte, anstatt sich in ihrer Trauer zu verlieren. In der Angst vor dem Unausweichlichen, die Malikas Leben wie ein dunkles Monster beherrschte.

Vielleicht konnte sie auch etwas Geld sammeln. Helfen, etwas zu bewirken.

Sie atmete tief durch und klickte auf »Anmeldung«.

3

Hannah

Noch nie hatte die Haustür so Furcht einflößend ausgesehen.

»Ich schaff das nicht, Bron. Das ist gruselig. Ich wünschte, es wäre ein Witz.«

Hannah umklammerte das Telefon und näherte sich der Tür, als würde sie auf der anderen Seite ein axtschwingender Clown erwarten. Durch die Milchglasscheibe waren der klare blaue Himmel und das leicht verwilderte Grün zu sehen, das den kurzen Weg durch den Vorgarten säumte. Normalweise wäre das ein einladendes Bild gewesen, kaum Furcht einflößend. Bis jetzt.

Ganz ehrlich, da würde ich mich ja noch lieber mit einem Killerclown anlegen.

»Was machst du denn, Han?«, dröhnte Bronwen über den Lärm eines Fußballspiels am anderen Ende der Leitung.

Die Menge grölte.

»Gut gemacht. Ethan. Huuuuu!«, kreischte Bronwen viel zu laut in Hannahs Ohr. »Sorry, Han. Er hat ein Tor geschossen. Egal, natürlich schaffst du das. Geh einfach zur Tür, du weißt schon, dieses große weiße rechteckige Ding mit dem Griff? Öffne sie, und geh nach draußen. Dann stellst du einen Fuß vor den anderen, et voilà.«

Hannah war klar, dass ihre Freundin ihr nur Mut machen wollte, aber das war leichter gesagt als getan. Sie atmete tief durch und machte einen weiteren Schritt in Richtung Tür. Ihre alten Turnschuhe versanken im Flurteppich. Am liebsten hätte sie sie von den Füßen geschleudert und wäre zurück aufs Sofa gehuscht, um sich dort einzuigeln.

»Ich werde mich zum Deppen machen«, widersprach sie.

»Nein, das wirst du nicht! Glaub mir, keiner wird auf dich achten. Und selbst wenn du dich zum Deppen machst: Wäre das so schlimm?«

Natürlich, verdammt, schäumteHannah innerlich, sagte jedoch nichts. Vielleicht sollte sie nicht unbedingt Bronwen anrufen, wenn sie moralische Unterstützung suchte. Aber wen konnte sie sonst anrufen? Dan?

Bei der Vorstellung spannten sich Hannahs Muskeln an. Laufen. Ihr trunkenes Hirn hatte offenbar Möglichkeiten gesehen, die ihr nüchternes nicht sah. Sie stellte sich vor, wie sie langsam vor sich hin schnaufte und ihre Beine aufgaben, ehe sie überhaupt zwei Minuten gelaufen war. Die mitleidigen Blicke. Was für ein jämmerliches Bild. Sie stellte sich vor, wie sie alles andere als sexy vor sich hin keuchte, während Läufer vom örtlichen Club blitzschnell mit wehenden Pferdeschwänzen und teuren Laufschuhen an ihr vorbeisausten. Sie hatte sie jede Woche vom Sofa aus durchs Fenster beobachtet.

Für Bronwen, die gar nicht schlecht aussehen konnte, auch wenn sie nur zu Hause herumhing, war das okay. Sie passte mit achtundvierzig immer noch in die Jeans, die sie mit dreiundzwanzig getragen hatte. Lediglich die zarten Linien in ihrem Gesicht gaben einen Hinweis auf ihr Alter. Ansonsten hatte sich Bronwen seit ihren unbeschwerten Tagen in den Achtzigern kaum verändert, abgesehen von der krassen Dauerwelle. Selbst als sie mit den beiden Jungs schwanger gewesen war, jetzt zwei lang aufragende, gut aussehende Teenager, hatte sie auf beneidenswerte Weise gestrahlt. Sie hatte ihre Figur behalten und war die Babypfunde schnell wieder losgeworden. Wieder so ein paar Punkte, in denen das Leben Hannah gegenüber einfach nicht fair war.

Nein, Bronwen hatte nie erfahren müssen, was Hannah erlebt hatte. Die gemeinen Spötteleien auf dem Spielplatz, die Ablehnung in den Teenagerjahren, in denen das Aussehen so wichtig war. Sie war zur Außenseiterin geworden. Bronwen hatte nicht erlebt, wie die Königin der Gesamtschule bei ihrem Anblick »Dickerchen« oder »Stampferchen« gekreischt hatte. Schrill und bösartig hatte ihr Kichern über den Sportplatz und durch die Flure gehallt.

Karen Smith, die Anführerin, war mit Abstand die Schlimmste gewesen. Wie ein hämisches Nebelhorn hatte ihre Stimme geklungen, als Hannah beim Schlagball mit Müh und Not die erste Base erreichte, ohne ohnmächtig zu werden. Hannah hatte es einfach hingenommen und die Tränen bis zu Hause zurückgehalten, wo sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen und ihre Gedanken in ihrem glitzernden abschließbaren Tagebuch festgehalten hatte, das sie niemals jemandem gezeigt hätte. Nicht einmal Bronwen.

Wenn Karen Smith damals ausnahmsweise ein paar Minuten genug von Dickerchen-Witzen hatte und stattdessen davonstolzierte, um Sprüche an die Wände der Mädchentoilette zu schmieren, war die reizende Bronwen Lewis zur Stelle gewesen. »Ignorier sie einfach«, sagte sie dann und bot Hannah etwas aus ihrer Tüte mit Süßigkeiten an oder erzählte ihr ein bisschen Klatsch über die Lehrer. »Das sind die nicht wert.« Doch so sehr Hannah ihre beste Freundin auch mochte, das Mädchen, mit dem sie aufgewachsen war, es war, als würden sie in unterschiedlichen Welten leben. Bronwen war ein anderes Wesen – klug, hübsch, eine zurückhaltende Schönheit. Sie wusste nicht, dass man grausame Bemerkungen nicht einfach mit Plattitüden oder aufmunternden Sprüchen abschütteln konnte oder mit dieser beiläufigen Lässigkeit, mit der Bronwen ebenfalls gesegnet war.

Es gab Dinge, die sie einfach nicht verstand, die sie nicht verstehen konnte.

»Ich bin immer noch beeindruckt, dass du einen Marathon laufen willst. Das ist doch nicht … vergiss es.«

Wieder ertönte lauter Jubel vom Fußballfeld.

»Wie bitte, Bron?«

»Hier geht es doch nicht etwa um Dan, oder?«

Sofort schoss Hannah die Röte in die Wangen. »Nein! Ganz bestimmt nicht.« Sie dachte an den todsicheren Plan, den sie bei der Arbeit auf ein Post-it gekritzelt hatte. Den Dan-Plan: 1. Fit werden. 2. Marathon laufen. 3. Dan zeigen, was er verpasst! »Ich dachte nur, das wird lustig.«

»Lustig? Ein Marathon?«

»Warum nicht? Okay, jetzt weiß ich, warum nicht. Es ist angsteinflößend. Darum stecke ich im Flur fest.«

»Ich will nur nicht, dass du was Dummes tust, das ist alles. Aber wenn du das durchziehen willst, solltest du jetzt das Haus verlassen.«

»Gut«, sagte Hannah schließlich. »Na, dann.« Sie wollte sich nicht mit ihr anlegen, sie hatte Bronwen bei Streitereien mit ihren Söhnen Ethan und Joshua erlebt. Einen Streit mit Bronwen konnte niemand gewinnen. »Aber wenn ich ohnmächtig werde, bist du schuld. Dann musst du kommen und mich vom Pflaster kratzen.«

»Einverstanden.« Bronwen lachte. »Viel Glück, Han. Hab dich lieb!«

Hannah legte auf und versuchte, sich zu dehnen. Sie hob die Arme und beugte ein Knie, woraufhin es im linken Bein knackte. Das wirkte nicht sehr vielversprechend.

Doch sie musste es hinter sich bringen. Zwei Tage waren vergangen, seit sie sich betrunken zu dem Lauf angemeldet hatte, und seither war sie ein Nervenbündel. Hannah hatte schon oft Dinge bedauert, die sie angetrunken getan hatte, aber das hier war mit Abstand das Schlimmste. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?

Dan. Es ging nur um Dan.

Wenn sie an ihn dachte, machte ihr Herz einen Sprung. Sie stellte sich sein stolzes Gesicht vor, wenn er sie über die Ziellinie laufen sah. Nur dieser Gedanke hatte sie den Tag bei Travel Town überstehen lassen. Sie war mit der Hoffnung ins Büro geschlichen, dass noch niemand ihr Facebook-Desaster gesehen hatte. Dem war nicht so.

»Ein Marathon!«, hatte ihr Chef David quer durchs Büro gerufen. »Ich wusste ja gar nicht, dass du läufst.«

»Wie meinst du das?«, hatte Hannah abwehrend entgegnet und sich gefragt, worauf er hinauswollte.

»Nun ja, du hast gar nichts davon erzählt«, antwortete er. »Und sonst erzählst du doch eigentlich alles.«

Abgesehen davon, dass mein Mann mich verlassen hat, dachte sie. Das brauchte niemand zu wissen.

Und bald mussten sie es auch nicht mehr wissen.

Natürlich lag es nicht an ihrem Aussehen, dass David so überrascht war, sondern an der schlichten Tatsache, dass nur ein absoluter Vollidiot freiwillig 42,195 Kilometer laufen würde.

»Ich dachte, ich behalte das für mich«, log sie.

Etwas anderes, als zu lügen, fiel ihr nicht ein. Entweder das, oder sie musste zugeben, dass sie einen Riesenfehler begangen hatte. Die ganzen aufmunternden Nachrichten; noch nie hatte sie so viel Aufmerksamkeit auf Facebook erhalten. Alle feuerten sie an. Und so verrückt und beängstigend ein Marathon auch sein mochte, wenn sie aufgab, hieß das nur eins: Ich bin nicht gut genug.

Die Worte quälten Hannah, manchmal schallten sie ihr aus der Dunkelheit entgegen, wenn sie nachts im Bett lag und zu schlafen versuchte. Du warst nicht gut genug für Dan. Darum hat er dich verlassen.

Also musste sie weitermachen.

Was bedeutete, sie musste hinausgehen und tatsächlich laufen.

Hannah besaß keine Sportkleidung, nur ein Paar abgewetzte Turnschuhe, die seit Ende der Neunziger kein Tageslicht mehr gesehen hatten. Sie hatte alte Leggins angezogen, die an den Knien bereits etwas durchscheinend war, und in Dans T-Shirts nach einem gesucht, das sich nicht an jede Kurve schmiegte. Schließlich hatte sie eins mit Darth Vader gefunden. Das saß zwar auch nicht gerade locker, aber es ging.

Hannah stopfte Schlüssel und Smartphone in ihren BH, holte tief Luft und griff nach der Türklinke, um sich ihrem neuen Feind zu stellen: dem Freien.

Hannah ging durch die Pforte und begann, die Straße hinunterzuwalken. Gar nicht schlecht, dachte sie. Sie lief an den Reihenhäusern mit den gepflegten farbenfrohen Gärten vorbei und konzentrierte sich auf den Weg. Den Blick auf die Straße mied sie. Sie stellte sich vor, wie die Autofahrer sie angafften und über die fast durchsichtigen Leggins und ihre wackelnden Brüste lachten, die versuchten, aus ihrem BH zu entkommen, der schon bessere Tage gesehen hatte. Sie beschleunigte das Tempo, spürte aber bereits einen dumpfen Schmerz in den Beinen. Mit achtundvierzig hatte sie noch immer das Gefühl, dass die Leute sie beobachteten. Über sie urteilten. Als würden Karen Smith und Konsorten hinter der nächsten Ecke lauern und gleich hervorspringen, um sie wieder zu demütigen.

Es dauerte nur eine Minute, bis sie zu schwitzen begann. Die Leggins fühlten sich warm und rau auf ihrer Haut an. Wenn sie schwitzte, nahm ihr Gesicht die Farbe von Roter Bete an, und dabei hatte Hannah noch nicht einmal angefangen, richtig zu laufen. In dem sonnigen Dunst tauchte eine Straßenlaterne auf, und Hannah erklärte sie zum Ziel. Wenn ich es bis zu der Straßenlaterne schaffe, ist das in Ordnung.

Doch sie schaffte es nicht. Ihre Beine gaben nach.

Sie ließen sie als Erstes im Stich. Sie hatte Schmerzen in den Waden, in den Füßen, überall. Auch wenn ihr Kopf wollte, dass sie weitermachte, dass sie den Schmerz aushielt und das Ende der Straße erreichte, ihr Körper hatte andere Vorstellungen.

Hannahs Knie wurden weich, und sie stützte sich an einer Mauer ab. Sie hatte sich in ein unbewegliches, geleeartiges rot gesichtiges Wesen verwandelt. Gerade, als sie sich nach vorn beugte, um Kraft zu sammeln und sich wieder aufzurichten, schaute Mrs. Gibson aus Nummer dreiundsechzig mit besorgter Miene über die ordentlich geschnittene Hecke.

»Hannah! Ist alles in Ordnung, meine Liebe? Sie sehen etwas krank aus.«

»Mir geht’s … gut, danke«, keuchte Hannah und versuchte, ihre Beine dazu zu bringen, ihr wieder zu gehorchen.

»Wenn Sie meinen«, sagte Mrs. Gibson und musterte Hannah mit zweifelndem Blick, die in ihrem Darth-Vader-T-Shirt fast auf dem Bürgersteig kauerte. Sie wandte sich zur Haustür um, doch dann hielt sie inne. »Ach, wo ich Sie gerade treffe, ist Dan zu Hause?«

Hannah stieg die Hitze in die Wangen. »Nein, leider nicht. Er ist …«

»Ach? Wo ist er denn? Ich habe ihn schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen. Normalerweise parkt er seinen Van immer in der Nähe, aber das tut er schon seit Wochen nicht mehr.«

»Er ist … weg. Hat gerade ziemlich viel zu tun.«

Mrs. Gibson hob eine Augenbraue, zweifellos hätte sie gern weitergefragt, hielt es aber wohl für unhöflich. »Oh! Na, dann. Er hat nur gesagt, dass er meine Regenrinne reinigen würde. Könnten Sie ihn darauf ansprechen, wenn er zurückkommt?«

»Klar«, sagte Hannah mit zusammengebissenen Zähnen.

Der liebe Dan, der hilfsbereite Nachbar, stets zur Stelle, um mit anzupacken. Was würde Mrs. Gibson sagen, wenn sie die Wahrheit wüsste? Hannah wusste, dass Mrs. Gibson es nicht für sich behalten würde. Sie liebte Nachbarschaftsklatsch.

Langsam ging Hannah die Straße wieder zurück und war froh darüber, dass ihr Gesicht schweißnass war.

So sah zumindest niemand die Tränen.

Wieder zu Hause ließ Hannah sich aufs Sofa fallen und strich sich mit einer Hand durch das schweißnasse Haar. Schon nach drei Minuten hatte ihr Körper aufgegeben. Sie hatte versagt.

Vielleicht bin ich dafür einfach zu alt, sagte sie sich und dachte an die Frauen mit den frischen Gesichtern und den schicken Pferdeschwänzen – an Sophia – und empfand plötzlich schmerzhaftes Bedauern. Sie hatte zu lange gewartet. Sie war zu dick und zu untrainiert, um jetzt noch anzufangen. Hannah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, fischte das Smartphone aus ihrem BH und öffnete Facebook. Sie tippte:

Sorry, Leute, aber ich laufe den Great South West Marathon nicht.

Sie zögerte, den Post abzuschicken, und dachte an ihre Freunde und ihre guten Wünsche. Und an Dan, der sicherlich durch ihre gemeinsamen Freunde von Hannahs Fehlversuch erfahren würde. »Wer hätte denn gedacht, dass ausgerechnet Hannah einen Marathon läuft? Meine Güte«, würde er lachend sagen, verstohlen einen verliebten Blick auf Sophia werfen und dem Schicksal dafür danken, dass er eine so perfekte Frau gefunden hatte.

Plötzlich sah Hannah ihre Zukunft vor sich. Sie als eine Art Miss Havisham, die in mottenzerfressenen Pyjamas in einem verstaubten stillen Haus lebte. Je länger Dan weg war, desto kälter war ihr Haus geworden. Seelenlos. Hannahs Welt veränderte sich, ohne dass sie es verhindern konnte.

Hannah wollte kein neues Leben beginnen. Sie war glücklich mit dem gewesen, was sie hatte. Dan musste nur einsehen, dass auch er mit ihrem Leben glücklich sein konnte.

Hannah blickte auf das Facebook-Update und änderte ihre Meinung. Sie löschte die jämmerlichen Worte, schnappte sich stattdessen ihre Turnschuhe und stellte sie ordentlich auf den Boden, dann machte sie ein Foto. Nachdem sie das Bild noch mit einem Filter bearbeitet hatte, damit es möglichst strahlend und zuversichtlich wirkte, lud Hannah es hoch.

Einen Lauf in der Sonne genossen und für das große Rennen trainiert! #fitness #marathon #olympiawirkommen #lol

Es war falsch, zu lügen, das war ihr klar. Aber wenn sie ihr altes Leben zurückhaben wollte, dann musste sie etwas ändern. Angefangen bei sich.

Sie musste diesen Marathon schaffen.

4

Malika

»Mal!«

Roz’ Stimme schallte so laut durchs Treppenhaus, dass Malika es sogar durch ihre Kopfhörer hörte. Sie nahm sie ab, während ihre Mitbewohnerin mit schweren Schritten die zwei Treppen zu ihrer Dachkammer hinaufstieg.

»Darf ich reinkommen, Mal?«, rief Roz, dann öffnete sie die Tür.

Roz sah sich im Zimmer um und musterte Malika, die im Bett lag. Nur ein Bein lugte unter der Decke hervor. Sie hatte sich einen Haufen Kissen in den Rücken geschoben und sah einen Film auf ihrem Laptop an.

»Meine Güte«, sagte Roz. »Was ist denn hier los? Bist du okay?«

»Was meinst du?«

»Mach Platz«, sagte Roz und ließ sich auf das Fußende von Malikas Bett fallen. »Was ich meine«, fuhr sie fort und deutete auf das gemütliche Zimmer mit den schrägen Wänden, »ist das. Du bist schon im Pyjama, dabei ist es erst acht Uhr.«

Malika drückte die Pause-Taste auf dem Laptop. Um bessere Laune zu bekommen, hatte sie in letzter Zeit angefangen, Komödien zu schauen. Zumindest waren sie eine angenehme Ablenkung.

»Wir wollen gleich ein bisschen ausgehen«, sagte Roz. »Kath arbeitet heute nicht, darum könnten wir ins The Lanes gehen, ein bisschen bowlen und was essen. Hast du Lust?«

Malika schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich bleibe hier und geh früh schlafen.«

»Schon wieder? Komm schon.« Roz stieß scherzhaft gegen Malikas Fuß, setzte eine traurige Miene auf und sah ihre Freundin aus großen, mit Kajal umrandeten Augen an. Dann schwang sie ihre geblümten Doc Martens über die Bettkante, stand auf, eilte zur Kleiderstange auf der anderen Seite des Zimmers und zog einen Jeansrock und ein Seidentop heraus. »Hier«, sagte Roz und warf die Klamotten aufs Bett. »Zieh dich schnell um, wir können warten. Du bist ewig nicht mit uns ausgegangen, und du fehlst uns.«

Malika blickte auf die Kleidung und auf Roz’ hoffnungsvolle Miene. Natürlich hatte sie recht, aber das änderte nichts.

»Danke, Roz. Nicht heute Abend. Die Woche war anstrengend, ich will einfach nur chillen.«

»Ist alles in Ordnung, Mal?«

Die Frage kam unvermittelt, aber nicht unerwartet. Malika hatte sie schon tausendmal gehört, und die Antwort war immer noch dieselbe.

»Alles okay.« Allmählich wurde es ihr persönliches Motto. »Alles bestens. War nur eine anstrengende Woche, das ist alles.«

»Okay. Wenn du sicher bist.« Ein besorgter Ausdruck huschte über Roz’ Gesicht, so kurz, dass Malika es fast nicht bemerkt hätte.

Doch sie sah es, und es bedrückte sie. Noch vor einem Monat war sie regelmäßig mit ihren Freundinnen ausgegangen. Jetzt konnte sie sich das nicht mehr vorstellen. Nach Feierabend hatte sie überhaupt keine Lust mehr, vor die Tür zu gehen. Allein die Vorstellung, das Haus wieder zu verlassen, andere Leute zu treffen und so zu tun, als würde sie sich amüsieren, war ermüdend. Stattdessen blieb sie lieber in ihrem gemütlichen Zimmer unter dem Dach und setzte Kopfhörer auf, um das laute Gelächter von unten auszublenden.

Roz lächelte und ging zur Tür. »Kein Problem«, sagte sie und blieb stehen, als ihr Blick an etwas hängen blieb. »Was ist das?«, fragte sie neugierig und griff nach dem blauen Band, das auf der Rückseite der Tür neben Malikas Jacke hing. »Oooh, das ist ja eine Medaille. Ist das deine, Mal?«

»Meine? Im Ernst, Roz, wie gut kennst du mich eigentlich?« Malika lachte. »Nein, die hat Abbie gehört. Ich habe sie gestern im Büro gefunden und dachte, ich behalte sie.«

»Das ist schön«, sagte Roz. Sie drehte die Medaille in ihrer Hand und strich mit den Fingern über die glatte, glänzende Oberfläche. »Das weckt Erinnerungen. Als Kind habe ich haufenweise Medaillen gewonnen.«

»Wofür?«

»Hauptsächlich im Bodenturnen. Und Pokale! So viele Pokale. Meine Eltern bewahren sie zu Hause in einem Regal auf, was ziemlich albern ist, weil ich jetzt gar nichts mehr kann. Ich schaffe noch nicht mal mehr einen Spagat.«

Malika stellte sich vor, wie es gewesen wäre, Pokale zu gewinnen, die ihre Eltern in ihrem kleinen Heimatort in Gloucestershire auf dem Kaminsims aufbewahrten, neben den Auszeichnungen ihres Bruders, die dort in einer glänzenden Reihe standen. Von Malika hing ein einsames Zertifikat von einem schulischen Lyrikwettbewerb in einem Rahmen darüber, doch sportlich war sie nie gewesen. Sie hatte nicht wie Khari einen Preis nach dem anderen abgeräumt. Khari war zwei Jahre älter als Malika und auf der Highschool der Star der Fußballmannschaft gewesen. Tagsüber umschwärmten ihn die liebeskranken Mädchen, die Abende verbrachte er beim Fußballtraining. Fotos von dem hochgewachsenen Khari im Fußballtrikot schmückten die Flurwände ihrer Eltern, und obwohl sie auf ihre beiden Kinder gleichermaßen stolz waren, gab es nur einen Sportstar. Während Khari sportlich gewesen war, seit er laufen konnte, war Malika auf diesem Gebiet eine Niete. Sie hatte sogar erst mit vierzehn Schwimmen gelernt.

Nicht dass es Malika etwas ausmachte; sie war froh über ihren großen Bruder. Ihren großen, starken Beschützer, der ihr in den ersten Schultagen zur Seite gestanden und sie bei ihren kreativen Versuchen unterstützt hatte. Der hinter ihr hergelaufen war, als sie in der achten Klasse bei einer Theateraufführung von der Bühne geflohen war, weil vor lauter Lampenfieber ihre Stimme versagt hatte.

Die Sade-Geschwister standen sich nah, sie waren sich nur nicht ähnlich.

»Nun, ja«, sagte Malika und blickte auf die Medaille in Roz’ Händen, »vielleicht bekomme ich bald meine eigene. Ich habe mich für den Great South West Marathon angemeldet.«

Am liebsten hätte sie die Worte sofort wieder zurückgenommen. Als Roz’ Augenbrauen vor Überraschung nach oben schossen, lief Malikas Gesicht vor Scham rot an. Ein Marathon. Allein bei dem Gedanken wurde ihr schon wieder ganz schwindelig vor Aufregung. Sie umklammerte fest die Decke, als könnte das weiche Material sie vor der Außenwelt schützen.

»Du hast was?«

Malika atmete tief durch. »Ich weiß, ich weiß. Es war eine spontane Entscheidung, ich bereue sie auch schon. Aber Abbie ist gelaufen, und ich habe ihr versprochen, dass ich eines Tages zusammen mit ihr an einem Rennen teilnehmen würde und … nun ja …«

»Das hast du nie gemacht.«