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Der menschliche Umgang mit der Notdurft hat eine Geschichte. Er spiegelt die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsschritte von Gesellschaften. Um sie nachvollziehen zu können, reicht es nicht, nur die Entwicklung des Ortes der Notwendigkeit an sich sowie die damit verbundenen festen und mobilen Erzeugnisse unter die Lupe zu nehmen. Auf Grundlage von schriftlich überlieferten Schilderungen und persönlichen Berichten erhellt Johann-Günther König, wie sich die abendländischen Toilettengewohnheiten zu dem entwickelt haben, was sie heute sind.
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Seitenzahl: 328
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Johann-Günther König
Das große Geschäft
Eine kleine Geschichte
der menschlichen Notdurft
In Erinnerung an Berit Grindberg Mai (1944–2014) und Titus Wilhelm Mai (1941–2014).
Abbildungsnachweis:
S.6: Sitzabtritt 1635 aus Süddt. Dorflandschaft, Kupferstich von Matthäus Merian, mit freundlicher Genehmigung von Bodo Stratmann.
S.69: Bildausschnitt aus der Faksimileausgabe der Ars memorativa des Filser Verlags, Augsburg 1925.
© 2015 zu Klampen Verlag • Röse 21 • 31832 Springe
www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: www.hildendesign.de
Umschlagabbildung: © HildenDesign
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com
Satz: Melanie Beckmann
design-beckmann.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86674-460-8
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Bäuerlicher Sitzabtritt in Süddeutschland um 1625, Kupferstich von Matthäus Merian dem älteren
Cover
Titel
Impressum
Zu den Aborten
00 1 Tabu-Spülung
00 2 Tierisch menschlich
00 3 Vom Winde verweht
00 4 Kleine EnzyKLOpädie
00 5 Zivilisation im Seuchenherd
00 6 Gute Verrichtung?
00 7 Teutsch Unverblümtes vom französischen Hof
00 8 Stiller Ort ganz aufgeklärt
00 9 Wir beleidigen doch nicht Gott
WC 1 Die Erleichterung der Erleichterung
WC 2 Im Zeitalter des Welttoilettentags
Literatur
Nachweise
Danksagung
Fußnoten
Ich falle gleich mit der Tür ins Häusl: »Was natürlich ist, dessen hat man sich nicht zu schämen, sagte der Kerl und setzte einen Haufen auf den Markt.«I Um überleben zu können, muss Mensch essen und trinken. Was der Körper an Nahrung nicht verwerten kann, muss er allerdings auch wieder in die Umwelt abgeben, sonst wäre er nicht überlebensfähig, würde gleichsam platzen. Die Notdurft gehört wie die Ernährung zu den natürlichen Bedürfnissen, die ausschließlich aus unseren physischen Eigenschaften resultieren. Wie viele Säugetiere scheiden wir Menschen unsere Exkremente getrennt über das Harnorgan und den Darmausgang aus. Mittels der Miktion die flüssigen, mittels der Defäkation die festeren Bestandteile sowie ein gewisses Gasvolumen. Anders als beim Kerl im obigen Beispielsprichwort dient der Marktplatz allerdings üblicherweise nicht als Stätte der natürlichen Erleichterung; sitzt bei der konkreten Praktik wohl nicht nur mir die Scham im Nacken.
Für die Erleichterung muss das Gesellschaftstier Homo sapiens seit seinem ersten Weltendasein zwangsläufig täglich eine gewisse Zeit aufwenden. Immerhin verbringen Frauen heute durchschnittlich täglich achtzehn und Männer sechzehn Minuten auf dem Klo. Ab dem Kleinkindalter muss ein jeder Mensch eine eigenständige Verrichtungspraktik entwickeln, die unter den jeweils historisch und örtlich gegebenen Bedingungen von den Mitmenschen toleriert bzw. akzeptiert wird. Möglicher Ekel vor den eigenen Ausscheidungen und/oder denen von anderen resultiert auch aus Sozialisierungspraktiken. Und Gesellschaft entsteht nicht zuletzt dadurch, dass passable Lösungen für den Umgang mit den Körperausscheidungen gefunden werden.1
Einer der vielen in den mit WC, D, H oder 00 gekennzeichneten Räumlichkeiten hinterlassenen Sprüche verheißt: »Der wichtigste und schönste Ort auf Erden ist stets der Abort.« Allerdings gibt es auch an Wände gekritzelte Bekenntnisse, die das wieder in Frage stellen: »Gegen den Gestank hier ist meine Scheiße das reinste 4711.« Das ziemlich digital anmutende Hinweisschild 00 kam übrigens im späten 19. Jahrhundert auf, als in größeren Hotels auf jeder Etage zusätzlich ein separates heimliches Gemach eingerichtet wurde. Die Klosetts erhielten die Doppelnullnummer, damit sie nicht mit den Gästezimmern verwechselt werden konnten.
Der menschliche Umgang mit der Notdurft hat eine Geschichte. Er spiegelt die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsschritte von Gesellschaften. Um sie nachvollziehen zu können, reicht es meines Erachtens nicht, nur die Entwicklung des Ortes der Notwendigkeit an sich, den locus necessitatis, sowie die damit verbundenen festen und mobilen Erzeugnisse wie etwa Latrinen, Nachttöpfe, Bettpfannen, Leibstühle und Klosetts oder auch die Sickergruben, Abtransport- und schließlich Abwassersysteme unter die Lupe zu nehmen. Wesentlich aufschlussreicher sind, jedenfalls im Prinzip, die schriftlich überlieferten Schilderungen und Augenzeugenberichte, die über menschliche Gewohnheiten und Rituale mehr oder weniger ehrlich Auskunft geben. Wie heißt es nicht in einem Reim: »Meine Herren und Damen / machen Sie nicht auf den Rahmen / machen Sie in die Mitte / das ist deutsche Sitte.« Mir geht es weder um eine bereits vielfältig – sogar »gelehrt« – dargelegte europäische Geschichte der Scheiße, noch um eine – bislang allerdings nur rudimentär ausgelotete – Geschichte der Pisse. Auch geht es mir nicht um eine bloße Neufassung bereits vorliegender Kulturgeschichten des Aborts oder auch WCs.IIKennzeichnend für viele dieser Publikationen – und ihrer vielfältigen Kurzfassungen im Internet – ist das Schlagen eines Bogens vom Altertum bis heute. Geschildert wird ein Ablauf, der mit einem vermeintlichen sanitären Fortschritt in der Antike anhebt, dann einen langwährenden Rückschritt und elenden Stillstand bis in das 19. Jahrhundert hinein schildert, um ab dem 20. Jahrhundert endlich wieder einen, diesmal hygienischen und sanitären, Fortschritt zu konstatieren. Die Menschen selbst geraten dabei freilich mehr oder weniger aus dem Blick.
In diesem Buch versuche ich zu erhellen, wie sich der menschliche Umgang mit der Notdurft im zentraleuropäischen (insbesondere deutschsprachigen) Raum seit der Ansiedelung von ersten Abkömmlingen der Gattung Homo sapiens bis in dieses frühe 21. Jahrhundert entfaltete. So etwas wie historische Wahrheit kann es für einen Großteil der von mir abgedeckten Zeitspanne allerdings nicht geben. Die Skizzierung der Alltagsgeschichte der Notdurftbefriedigung ist schon deshalb keine leichte Verrichtung, weil es für einen langen Zeitraum keine oder nur spärliche Spuren gibt. Von dem Problem nicht überlieferter Mündlichkeit bzw. nonverbaler Erfahrungen gar nicht zu reden, das eine erdrückende Mehrheit unserer Vorfahren quasi für immer stumm hält. Viele der von Mitgliedern der Höfe, Handelshäuser, Intelligenz, Kunst und der Kirche erhalten gebliebenen Zeugnisse sind zudem parteiisch und nicht selten satirisch überzogen (teils auch erstunken und erlogen). Im Zweifelsfall gilt insbesondere für die Praktiken der Defäkation und/oder Miktion die Erkenntnis: De normalibus non in actis. Das Selbstverständliche ist nicht überlieferungsfähig.
Menschen haben seit jeher natürliche und unaufschiebbare Bedürfnisse. Mein Versuch einer Geschichtsschreibung der Erleichterung kann bestenfalls nur andeuten, wie wir Mitteleuropäer zu genau den Damen und Herren bzw. Unisex-Vertretern geworden sind, die wir heute ausweislich einschlägiger Türschilder in öffentlich zugänglichen – häufig gar nicht stillen – Orten sind. Nicht mehr und nicht weniger. Wickeltische in mit H ausgeschilderten Aborten sind übrigens eine ziemlich junge historische Errungenschaft.
P.S. Der amerikanische Komödiant Charles Sale (1885–1936) legte 1929 das Bändchen The Specialist vor. Vom ehrwürdigen Times Literary Supplement als »zu genial, als dass es anstößig sein könnte« gepriesen, wurde es ein angloamerikanischer Bestseller. Ich habe die Häusl-Geschichte mit dem literarischen Übersetzer Jürgen Dierking neu ins Deutsche übertragen. Sie steht auf meiner Website www.johann-guenther-koenig.de unter der Rubrik Kultur zur vergnüglichen Einsicht parat.
Was den menschlichen Körper als Produkt der Verdauung verlässt, ist mehr oder weniger geruchsintensiv. Eben deshalb liegt der Versuch nahe, Urin und Kot möglichst hygienisch und effektiv aus Augen und Sinn zu bekommen. In den meisten europäischen Haushalten ist das heute schon deshalb kein Problem, weil Sitztoiletten bereitstehen, die das Sicherleichtern problemlos erleichtern. Eigentlich erinnert nur noch die Klobürste daran, dass große Geschäfte mehr Umsicht und Einsatz erfordern als kleine. Psychoanalytiker würden hinzufügen, Toiletten seien auch Orte der Entlastung und Befreiung von Bedrängendem und Belastendem.
Wir essen und trinken, wir tafeln und nippen, wir fressen und saufen. Täten wir es nicht, würden wir verhungern und verdursten. Wie heißt noch gleich das geflügelte Wort von Bert Brecht? – »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. – Denn wovon lebt der Mensch?«2 Und wie sieht es nach der Verdauung aus, wenn die vom Körper nicht benötigten Stoffe und Flüssigkeiten alternativlos wieder an die Umwelt abgegeben werden müssen? Erst kommt die Verrichtung der Notdurft, aber was kommt dann? Was passiert, wenn eine Toilette oder bei Großveranstaltungen eine mobile Sanitäranlage nicht in Reichweite sind? Kommt spätestens dann die Moral? Und wie steht es um die von vielen Wissenschaftlern und Journalisten artikulierte Auffassung, menschliche Exkremente und deren Erzeugung seien »noch immer ein Tabu-Thema«?3
Einer der Leitsätze der Outdoor-Bewegung lautet, für die Verrichtung der Notdurft seien ein Loch zu graben und die Hinterlassenschaften anschließend mit Erde abzudecken. Auf diese Weise soll die Abschwemmung der Exkremente in Gewässer unterbunden und eine »Besetzung« durch Insekten verhindert werden. Und warum dieser Aufwand? Kathleen Meyer, die mit ihrem Buch How to shit in the Woods viel Aufmerksamkeit erzielte, verdeutlicht in einem Interview: »Wir jetsetten rund um die Welt, wir können in Südost-Asien etwas essen, was wir dann in das Hinterland von Colorado ausscheiden. Wir verbreiten also Krankheiten wesentlich schneller als Tiere, es ist extrem wichtig, unsere Exkremente gut zu vergraben. Außerdem empfehle ich, auch das Klopapier wegzuräumen. Nehmen Sie einfach eine Plastiktüte mit und packen Sie das Papier hinein.«4
Ob mit Klosett oder ohne – wenn wir müssen, geraten wir unter Druck. Das liegt in der Natur der Sache. Wie heißt es nicht in Erich Kästners Gedicht Helden in Pantoffeln:
Auch der tapferste Mann, den es gibt,
schaut mal unters Bett.
Auch die nobelste Frau, die man liebt,
muß mal aufs Klosett.
Wer anläßlich dieser Erklärung
behauptet, das sei Infamie,
der verwechselt Heldenverehrung
mit Mangel an Phantasie.5
Alles nur Erdenkliche rund um die Themen Essen und Trinken wird täglich medial extensiv aufbereitet und als Gesprächsstoff dankbar aufgenommen. Die damit mehr oder weniger verbundenen Probleme wie etwa Erbrechen, Verstopfung, Völlegefühl, Diarrhöe und Harndrang werden dabei nicht ausgeblendet, sind laut Werbung kurierbare Kalamitäten. Auch der Ort des körperlichen Erleichterungsgeschehens ist keinesfalls ins verbale Schattendasein verbannt – die Frage, wo sich wohl die Toilette befindet, wird dafür viel zu häufig gestellt. Auch kommen viele Leute etwa in Hörergesprächen des Funks unmissverständlich auf den Punkt, wenn eine öffentliche Anlage nicht funktioniert oder ekelhaft heruntergekommen ist.
Ich muss in Gesprächen nur das Wort Gesundheit in den Ring werfen, und schon entspinnt sich nicht selten ein längerer Erfahrungs- und Gedankenaustausch, der zuweilen selbst Toilettengewohnheiten und die Analhygiene nicht ausspart. Die Spanne reicht von neumodischen Dusch-WCs und Taschen-Toiletten, den Vor- und Nachteilen der Hockstellung und der Gesundheitsschädlichkeit bestimmter Klopapiere bis hin zu Blähungen, Inkontinenz, Hämorrhoiden und dergleichen Leiden mehr. Die Werbung lässt jedenfalls nichts unversucht, alle nur denkbaren Lebenssituationen, Leiden und Unwohlgefühle im »Intimbereich« ins Gespräch und Blickfeld zu bringen, um einschlägige Mittelchen zu Verkaufserfolgen oder Therapiemaßnahmen zum Mittel der Wahl zu machen.
In der viel gelesenen und kostenlosen Apotheken Umschau mangelt es nicht an Aufklärung. Ein Beispiel: »Das Problem gibt es schon lange. Doch erst seit wenigen Jahren hat es auch einen Namen: Paruresis, auf Englisch ›Shy bladder Syndrome‹ (übersetzt in etwa: schüchterne Blase). Das bedeutet, dass ein Mensch Schwierigkeiten hat, außerhalb seiner privaten Umgebung Wasser zu lassen. Anders als man im ersten Moment vermutet, stehen nicht Ekel vor den hygienischen Zuständen auf bestimmten öffentlichen Toiletten im Vordergrund. Entscheidend ist die Anwesenheit oder auch nur die befürchtete Anwesenheit anderer Menschen.«6
Die in der Bundesrepublik noch vor einigen Jahrzehnten gesellschaftlich gepflegten Tabus in sexuellen und hygienischen Belangen lösen sich tendenziell in Luft auf. Ein Rückblick: 1956 erschien das Hausbuch für die deutsche Familie, in dem sich ein längeres Kapitel dem »Heim und Haushalt« widmet – einschließlich der »kleinen und gründlichen Reinigung«. Die ellenlangen Ausführungen von Irmgard Schütz-Glück über die Reinigungsschritte »einer guten Hausfrau« im Schlaf- und Wohnzimmer – »zuletzt wird noch Staub gewischt« – belehren nachdrücklich über alle nur denkbaren Reinigungsmaßnahmen.7 Ein Bad oder gar ein Klosett, die ja auch einer Reinigung bedürfen, sind in ihrem Text schlicht nicht existent, sind tabu.
Immerhin, als elf Jahre später die neunte, völlig neu bearbeitete Auflage des Ratgeberbuchs Etikette neu von Karlheinz Graudenz und Erica Pappritz die Gabentische junger Bundesbürgerinnen und -bürger bereicherte, konnte das Stichwort »Toilette« offenbar nicht mehr umgangen werden. Da heißt es: »Halten wir es mit dem liebenswürdigen Spötter Heinrich Spoerl und ›sprechen wir ruhig darüber‹! Heikle Themen erledigen sich nicht von selbst, indem man sie totschweigt. Und dieser kleine Raum bleibt nun einmal trotz seines nicht gern diskutierten Zwecks eine Visitenkarte auch der bescheidensten Wohnung. Dabei genügen anderthalb Quadratmeter völlig für diesen Raum. Waschbecken, Spiegel und Handtuchhalter, oder, noch praktischer, ein Behälter für die kleinen Gästehandtücher sollten nicht fehlen. Da an diesem Ort ein jeder für Reinlichkeit verantwortlich ist, darf eine Reihe bekannter Utensilien nicht fehlen, denn es wäre zu viel verlangt, wollte man die Beseitigung irgendwelcher Benutzungsspuren Dritten zumuten. Und, aller Kritik zum Trotz, sei ein Hinweis erlaubt: Wer findig ist und die moderne Installationstechnik geschickt zu nutzen versteht, wird sich ihrer besonders in kleinen, hellhörigen Wohnungen rechtzeitig bedienen. Am Fenster wird zweckmäßigerweise eine Lüftungsklappe angebracht sein, die ständig Frischluft zuführt. Im übrigen gibt es ja den desodorierenden Raumspray, der nicht nur in keiner Toilette fehlen, sondern auch so placiert sein sollte, daß ihn niemand übersehen kann.«8
Inzwischen haben sich die Sitten – und die Zahl und Verfügbarkeit toilettentauglicher Utensilien – entschieden geändert. So ließ 2014 in einer Folge der RTL-KuppelshowBauer sucht Frauder finanziell gut gestellte Günther die ihm zugesellte Claudia zum Nachweis ihrer Beziehungstauglichkeit quasi öffentlich seine Ferienwohnungen putzen. O-Ton: »Da werden wir mal schauen, ob sie dann eher sagt, ich mache das Staubwischen, oder ob sie auch richtig anpacken kann, ans Eingemachte geht und das Klo putzt.« Sie tat es, versenkte die Hände in der Schüssel und schrubbte nach Leibeskräften … Müßig zu erwähnen, dass spätestens seit der Messung von Sender-Einschaltquoten zahlreiche einst unumstößlich scheinende Tabus durch das gezielte Dauerfeuer von Tabubrüchen – sowohl in diversen Ekelshows wie auch Talkrunden, in denen der Intimität gleichsam der Garaus gemacht wird – ihren Geist aufgeben. Apropos Tabu:
Das wohl bekannteste Sinnbild sind die drei Affen (aus dem Schrein von Nikko), sprich: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Tabus fallen nicht vom Himmel. Sie unterliegen ebenso dem historischen Wandel wie die Gesellschaften, die sie in ihren jeweiligen Kulturräumen hervorbringen und statuieren. Anders als gesetzlich verfügte Verbote und Erlasse beruhen sie auf einem stillschweigenden Übereinkommen der Mehrheitsgesellschaft, über ganz bestimmte Dinge weder nachzudenken, noch darüber zu sprechen oder sie gar zu praktizieren. Verstöße werden umgehend geahndet, im Härtefall durch den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Individuen, die wissentlich oder unwissentlich gegen ein Tabu verstoßen, dürfen seit jeher nicht auf Toleranz hoffen.9 Wenn sich aber durchsetzungsmächtige Gruppen finden, die aus welchen politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen auch immer ein Tabu zur Erosion bringen wollen – einfach und über Nacht abschaffen lässt es sich ja nicht –, dann sind dessen Tage schneller, als manchem lieb ist, gezählt.
2003 erschien die vortreffliche Doktorarbeit Toiletten und Urinale für Frauen und Männer von Bettina Möllring. In der Einleitung heißt es: »Die Gestaltung und Verwendung von Toiletten wird immer durch den gesellschaftlich geprägten Umgang mit dem individuellen Körper bestimmt. In den westlichen Kulturen gehören die Ausscheidungsprozesse noch zu den tabuisiertesten Handlungen – während das Tabu der Sexualität, die in vergleichbarer Weise intimisiert war, schon weitgehend aufgehoben ist. Mit der Tabuisierung der körperlichen Verrichtungen und der daraus resultierenden Intimität der Handlungen ist verbunden, dass bei Sanitärgegenständen ein vergleichsweise hohes Niveau an Gewohnheit und Vertrautheit während ihrer Benutzung besonders wichtige Faktoren sind.«10
Möllrings Befund einer »Tabuisierung der körperlichen Verrichtungen« liegt bereits mehr als ein Jahrzehnt zurück. Zwar kann ich mir gut vorstellen, dass es – mich inbegriffen – durchaus noch viele Zeitgenössinnen und Zeitgenossen gibt, die nicht ungeschützt über ihre individuellen Toilettengewohnheiten sprechen wollen. In den Medien aber kann von einer Tabuisierung längst keine Rede mehr sein. Was heute etwa in als Bestseller beworbenen Büchern demonstriert wird, lässt kaum einen Intimitätswinkel ausgespart. Ich öffne das Taschenbuch Mondscheintarif der 1968 geborenen Autorin Ildiko von Kürthy. Darin erzählt eine Fotografin, die 33-jährige Cora, ihre Geschichte – und bekennt nach einer Liebesenttäuschung: »Die Geburtstagsfeier habe ich heulend auf dem Klo verbracht.« Bei einem Filmempfang überkommt die Protagonistin ein Bedürfnis, und sie fragt ihren Begleiter: »Darf ich mal auf die Toilette gehen, oder komm ich dann ins Fernsehen?« Sie darf natürlich …
»Mir lief das Wasser im Mund zusammen, während ich mich an der überladenen Tafel vorbei in Richtung Damenklo vorarbeitete. Ich stieß die Schwingtür auf und fand mich in einem unglaublichen Pinkel-Palast wieder. Überall Spiegel, überall Marmor. Neben den Porzellanwaschbecken hing nicht etwa so ein gefährlicher Heißluftgebläseautomat, unter dem man sich die Haut verbrennt, trotzdem nicht trocknet, und der Nächste, dem man die Hand schüttelt, denkt, man hätte ihn mit Exkrementen besudelt. Hier lagen, ordentlich gestapelt, frische, kleine, weiße Frottee-Handtücher bereit. Und neben den weißen Handtuchstapeln saß eine hutzelige Klofrau auf einem Höckerchen und schaute mich erwartungsvoll an. So was hab ich ja nicht gerne. Ich kriege Probleme beim Wasserlassen, wenn ich den Eindruck habe, dass mir dabei jemand zuhört. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wie Männer es schaffen, nebeneinanderzustehen und zu pinkeln. Wie tun sie das? Reden sie dabei? Worüber? Was ist, wenn sich der Chef neben einem erleichtert? Urinstau? Gehaltsverhandlungen?«11
Und was passiert, wenn der Blick durch die sprichwörtliche Brille in die Weiten des historisch noch sehr jungen Internets geht – in den immer dominanteren virtuellen öffentlichen Raum? Das World Wide Web hat zu jeder erdenklichen Problematik entweder nur wenig oder unfasslich viel zu bieten. Als ich damit begann, die mit unseren natürlichen Körperausscheidungen verbundenen Begriffe in eine Suchmaschine einzugeben, stieß ich zum Beispiel unter dem Suchwort »Kacke« umgehend auf das Forum gofeminin und einen Beitrag vom Januar 2013: »Dass auch Mädchen/Frauen kacken gehen müssen, ist ja klar. Aber mir ist es trotzdem jedes Mal peinlich, wenn ich zu Hause kacken gehe und nach mir geht jemand ins Badezimmer. Ich wohne mit Mama, ihrem Freund und meinen beiden kleinen Schwestern in einer 4-Raum-Wohnung, und da wir ein sehr, sehr kleines Badezimmer haben ohne Fenster, habe ich natürlich keine Möglichkeit, den Geruch irgendwie wegzubekommen. Raumspray hilft nichts, man riecht’s ja trotzdem.«12
An Problemschilderungen, derben Sprüchen, Ratschlägen und Tipps fehlt es in Internetforen, Blogs und Websites gewiss nicht – und schon gar nicht zu den vermeintlich scham- und ekelbehafteten, zumindest intim aufgefassten Angelegenheiten rund um unsere natürlichen Bedürfnisse. Insbesondere in den Foren, in denen die Teilnehmer mit Tarnnamen operieren, wird wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen. Zwar schieben viele User den Hinweis ein, ihre Notdurftbedürfnisse und die damit verbundenen Probleme und Fragen seien ihnen peinlich, und spielen damit auf ein Gefühl der Verlegenheit und des Unbehagens an; aber was sie dann und wie sie es berichten – Schwamm drüber. In den einschlägigen und frei zugänglichen Angeboten des weltweiten Webs wie auch in Talkshows ist der Begriff Tabu längst sprach-, ton- und bildgewaltig ausgehebelt, ja ad absurdum geführt. Was eine vielgenutzte Suchmaschine etwa nach der Eingabe des Stichworts Pisse gleich auf der ersten Seite zugänglich macht, spricht Tabuisierungswünschen nachgerade Hohn: Videofilmchen, die die Handlung als solche aus jeder Perspektive und in allen nur denkbaren Varianten darstellen und kommentieren sowie anklickbereite Piss-Pornos, die keine – zumal menschlich entwürdigende – Praktik auslassen.
Und wie steht es um die Aufrechterhaltung des Tabus in Fernsehserien und im Film? Bleibt die Toilette als Rückzugsort zur Verrichtung so privater wie intimer Angelegenheiten mehr oder weniger unangetastet oder zumindest frei von Menschen, die sich erleichtern müssen? Nun, in den Fernsehserien der Gegenwart sind Kloszenen nichts Ungewöhnliches mehr. In der 1993 gestarteten Serie Motzki rauscht gleich in der ersten Folge eine Wasserspülung, geht die Tür auf und tritt ein älterer Herr ins Treppenhaus, dem die Jogginghose noch in den Kniekehlen hängt und der eine Rolle Klopapier unterm Arm trägt. Motzki kommt gerade aus dem früher in den Mietskasernen üblichen Abort auf halber Treppe … In der hierzulande ab 1998 präsenten Anwaltsserie Ally McBeal werden die wichtigsten Belange stets in der Unisex-Toilette der Kanzlei diskutiert. Dass Tatort-Kommissare Urinale aufsuchen, dort ihre Penisse abschütteln und dabei Worte wechseln, nicht zu vergessen. Wie selbstverständlich der Besuch und die Thematisierung des Klosetts inzwischen in der Welt der Unterhaltungssendungen bzw. Sitcoms ist, ergibt sich etwa aus der Folge »Der König der Klos« der Serie Eine schrecklich nette Familie. Nachgerade offenherzig, wie folgender Auszug vermittelt:
AL: »Kann einer nicht versuchen Kelly aus dem Klo rauszukriegen in mir rumorts. Und ich versuch’ immer noch zu verdauen.«
(Kelly kommt die Treppe herunter.)
KELLY: »Nächste.«
AL: »Ach, endlich. […] Als junger Mann hatte ich zwei Träume. Einer war Astronaut zu werden und auf dem Planeten Jane Mansfield zu landen. Der andere war ein Klo zu haben für mich ganz allein. Naja, Janey ist von der Bahn abgekommen und musste auf einem dunkleren Planet notlanden. Aber Familie, ich verwirkliche jetzt meinen zweiten Traum. Ich habe beschlossen, ein Klo zu bauen. Das tollste Klo auf der ganzen Welt und ich möchte, dass ihr euch gleich etwas merkt. Niemand wird dieses Klo benutzen außer mir.« […]
(Al entfernt die Holzverkleidung der Kiste und zum Vorschein kommt eine weiße Toilette mit Spülkasten.)
KELLY: »Ist das ’ne Fata Morgana oder ’ne Toilette?«
AL: »Nicht nur eine Toilette. Eine Ferguson. Die Königin der Schüsseln. Bud, setz dich. Ich will dir die Geschichte der Ferguson erzählen. Also … diese Babys werden in Maine fabriziert, in der kleinen Ferguson Fabrik. Sie ist die Stradivari der Toiletten und mein Dad konnte darauf spielen wie auf ’ner Geige. Ja, ich werde nie vergessen, wie mein Dad mich mitgenommen hat nach Maine, um die Fabrik zu besichtigen. Ich musste dringend pinkeln. Ich habe ihn gebeten, mal rechts ran zu fahren. Aber er hat gesagt: Nein, warte bis wir dort sind, es lohnt sich. Und er hatte recht.«
BUD: »Entschuldige bitte, Dad. Aber eine Toilette ist eine Toilette.«
AL: »Toiletten von heute verdienen nicht mal den Namen. Sie kommen in Designerfarben daher und sind zu niedrig. Und wenn du spülst machen sie einen kleinen, schwachen, fast um Verzeihung bittenden Ton. Nicht die Ferguson. Die gibt es nur in Weiß. Und wenn du spülst … bah … wuusch … Das ist ’ne männliche Spülung. Eine Ferguson sagt: Ich bin ’ne Toilette. Setz dich und gib mir deinen besten Schuss.«13
In der Serie South Park gibt es in der dritten Episode der siebten Staffel sozusagen die Ergänzung – sprich: »Das Schweigen des Klopapiers«. Kinder die im Kunstunterricht zum Nachsitzen verdonnert wurden, kaufen sich anschließend Unmengen von Klopapier und bewerfen damit das Haus ihrer Lehrerin. Das WC samt sämtlicher Utensilien und damit verbundener Gänge dient in Fernsehserien spätestens seit den 1990er Jahren ganz selbstverständlich dazu, möglichst alle Tiefen der menschlichen Existenz auszuloten. Und im Film? Georgi Gospodinovs Ich-Erzähler spielt in dem das 00 in jeder Hinsicht auslotenden Werk Natürlicher Roman (2007) in einem Gespräch auf die noch häufig vertretene Auffassung an, auf der Leinwand wäre das stille Örtchen nicht nur still, sondern einfach weg gewesen:
»– Und als ich klein war, konnte ich mir, wenn ich ins Dorfkino ging, überhaupt nicht erklären, warum in den Filmen niemand aufs Klo ging. Du siehst Indianer, Cowboys, ganze römische Legionen, und keinen zeigen sie dabei, wie er scheißt oder pinkelt. Ich rannte nach den zwei Stunden im Kino wie verrückt aufs Klo, und jene Typen aus den Filmen nicht ein einziges Mal in einem ganzen Leben. Bitteschön, sagte ich mir, echte Männer hocken sich nicht mit warmen Hintern hin, und ich nahm mir vor auszuprobieren, wie lange ich es aushalten würde, ohne zumindest das große Geschäft zu verrichten. Ich verkniff es mir drei Tage lang. Ich krümmte mich vor Bauchschmerzen, ging leicht vornübergebeugt, meine Eltern erschraken und wollten mich schon zum Arzt bringen. Am Abend des dritten Tages hielt ich es nicht mehr aus. Ich schloss mich im Klo ein und lief aus. Ich fühlte mich wie ein losgebundener Ballon, der zusammenschrumpelt, es zischt, und am Ende bleibt nichts von ihm übrig. Damals zweifelte ich zum ersten Mal am Kino. Es lag etwas Falsches in ihm, etwas … wie soll ich sagen … etwas Unehrliches.
– Nur, weil du dir die falschen Filme angeschaut hast. Eines werde ich dir sagen, du kannst nur dadurch herausfinden, ob ein Film etwas taugt, wenn seine Kamera auch ins Klo geht. Nehmen wir zum Beispiel ›Pulp Fiction‹, als Bruce Willis zurückkommt, um seine Uhr zu holen, und beschließt, sich zwei Scheiben Brot in den Toaster zu hauen, während Travolta auf dem Klo hockt. Die Toastbrote springen heraus. Bruce erschrickt und erschießt den anderen. Der Toaster drückt also den Abzug, und die Küche reißt dem Klo den Arsch auf. Siehst du, wie das zusammenhängt?
– Und der Bulle in ›Reservoir Dogs‹, hieß er nicht Mister Orange, der die Geschichte mit den Drogen im Klo mit allen Details erzählt, um sie glaubhafter zu machen. Während er die Geschichte auswendig lernt, ruft sein Chef: Du musst dich nur an die Details erinnern. Das wird sie dazu bringen, dir zu glauben. Die Handlung, sagt er, spielt sich im Männerklo ab. Du musst alles über dieses Klo wissen. Ob es Papiertücher gibt oder einen Föhn für die Hände, was für eine Art von Seife es ist. Ob es stinkt. Ob nicht irgendein Bastard eine der Kabinen mit dünnflüssiger Scheiße vollgeschissen hat … Alles.
– Oh, ich glaube, ich muss mich übergeben … […]
– Das Größte in den 90er Jahren bleibt die Tauchszene in der schmutzigsten Toilette Schottlands in ›Trainspotting‹.
– Oder nimm die Filme von Fassbinder und Antonioni, überall wirst du mindestens eine Szene in einem Klo sehen. Und Kusturica mit diesem komischen Selbstmordversuch im Klo.«14
Im Kinofilm gehört der wie auch immer von der Kamera eingefangene menschliche Akt der Erleichterung seit den 1960er Jahren fest zur fiktiven Realität. Philipp Alexander Tschirbs verzeichnet in seiner wissenschaftlich fundierten Studie Das Klo im Kino »eine anschwellende Flut« einschlägiger Szenen.15 Seine Untersuchung legt die Vermutung nahe, dass es im Bereich der schambesetzten menschlichen Bedürfnisbefriedigungen heute schon deshalb keinen überraschenden Tabubruch mehr geben kann, weil sämtliche vorstellbaren Tabus schon viel zu häufig gebrochen worden sind. In Filmen aller Genres, so viel steht fest, dienen Toiletten neben ihrem eigentlichen Zweck vor allem als Orte des Drogenkonsums, der Gewaltausübung und sexueller Abenteuer gleich- und andersgeschlechtlicher Heldinnen und Helden. Sie dienen natürlich auch als Versteck oder – wenn sie ein Fenster haben – als willkommener Fluchtweg. Titelgebend sind sie auch, sonst hieße eine 1981 in die Kinos gekommene Komödie ja nicht Taxi zum Klo.
Tschirbs’ akribischer Recherche verdanke ich vor allem die Erkenntnis, dass das Klosett in namhaften Filmen eine zentrale Funktion in der Handlung einnimmt. Alfred Hitchcock war einer der ersten Regisseure, der 1960 in Psycho das WC für eine Schlüsselszene nutzte, und das noch gegen erhebliche Widerstände. In dem berühmten Streifen landet die ums Leben gebrachte Marion Crane (Janet Leigh) direkt neben der Kloschüssel, in deren Wasser die papierenen Beweise für ihre illegalen Machenschaften und den Mord an ihr schwimmen. Altmeister Hitchcock rühmte sich in einem Interview übrigens dafür, »er verlasse die Toilette stets so sauber, daß niemand, der den Raum genauer inspiziere, auf die Idee käme, daß er dort gewesen sei«.16
Spätestens ab 1928, als der Stummfilm The Crowd (Ein Mensch der Masse) in den USA gedreht wurde, rücken Aborte auf der Leinwand zunehmend vor. Einer der ersten Tonfilme, in denen das WC eine Rolle spielt, erschien 1930: Das goldene Zeitalter von Luis Buñuel. Allerdings in verfremdeter Form. Eine sitzende Frau wird von Meereswogen bedrängt, deren Rauschen sich beim näheren Hinhören als das einer Klospülung entpuppt. Als der berühmte Regisseur und Filmemacher 1974 das aus einer lose zusammengehaltenen Folge surrealer Szenen bestehende Werk Das Gespenst der Freiheit in die Kinos entließ, wurde gleichsam Hand an Röcke, Hosenbünde und allemal das Klo-Tabu gelegt. Zwar bildet das unnachahmliche Toiletten-Dinner keine eigenständige Episode. Aber als Beispiel in einer Rede eines etwas verwirrten Professors, der an der Polizeiakademie ein Seminar über die Relativität des Gesetzes abhält, entfaltet die Szene plötzlich Wirkung. Nachdem der Professor auf Melanesien und die Forscherin Margarete Mead zu sprechen gekommen ist, fährt er fort: »Ja, die Polygamie, bei uns verboten, dort ganz normal. Oder stellen Sie sich vor, meine Frau und ich sind zum Essen eingeladen …« Prompt werden zum Dinner geladene gutbürgerliche Gäste in einem Wohnzimmer an einen Esstisch platziert, dessen Sitzgelegenheiten aus WC-Becken bestehen. Die Gäste klappen folgsam die Klodeckel hoch, ziehen Kleider hoch und Hosen runter und nehmen Platz. Die Hausangestellte reicht Toilettenpapier auf Silbertabletts. Die Spülung rauscht. Als ein Kind vom Essen spricht, folgt umgehend die Ermahnung: »Nicht bei Tisch!« Dann erhebt sich einer der Herren, und bedeutet, er müsse mal austreten. Er sucht eine kleine Kammer auf, in der Baguette und Aufschnitt angerichtet sind.
Wofür Buñuel diese Szene dient, wird spätestens deutlich, als die sich manierlich erleichternde Gesellschaft die Übervölkerung und die vielen Tonnen Exkremente beklagt, die Menschen produzieren. (Mich erinnert diese Szene an die römischen Prachtlatrinen, auf denen die Angehörigen der Oberschicht der Überlieferung zufolge gemeinschaftlich defäkierten und dabei in jeder Hinsicht Geschäfte machten.) Nur zwei Jahre nach diesem Highlight der Filmgeschichte legte Wim Wenders quasi eine Schippe nach. In seinem Film Im Lauf der Zeit (1976) kackt der Schauspieler Rüdiger Vogler vor laufender Kamera reell in den weißen Sand.
Toilettenräume, Pissoirs und WC-Becken dienen seit den 1960er Jahren als fast schon unverzichtbare narrative Stilmittel. Der außerhalb des Kinos als intimer Rückzugsort verstandene stille Ort wurde und wird seitdem nicht nur von cineastischen Großmeistern wie Hitchcock, Buñuel, Pier Paolo Pasolini (z.B. Die 120 Tage von Sodom; 1975), Bernardo Bertolucci (z.B. Der letzte Tango in Paris; 1972) oder Stanley Kubrick (z.B. Lolita; 1962, Uhrwerk Orange; 1971, Eyes Wide Shut; 1999) in jeder Hinsicht enttabuisiert.
Nicht zu vergessen das skandalträchtige Werk Das große Fressen des Regisseurs Marco Ferreri. Als sein Film 1973 in die Kinos kam, liefen die derben Sex- und Fress-Szenen, Letztere begleitet von unüberhörbaren Verdauungsgeräuschen und Blähungen der Protagonisten, den damals noch üblichen Seh- und Hörgewohnheiten ziemlich zuwider. In Irland verfügten die Behörden umgehend ein Aufführungsverbot. Bemerkenswert ist vor allem die sich aus einer Fress-Szene entwickelnde Katastrophe auf der Toilette. Philipp Alexander Tschirbs vermerkt: »Nachdem sich die zügellos Speisenden abwechselnd auf dem Klo erleichtert haben, wird die Kongruenz von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung visuell verdeutlicht: Das Klosett läuft über und die ›Scheiße‹ ergießt sich in einer Schwemme über das gesamte Badezimmer und dringt unaufhaltsam in die Wohnräume vor.«17O-Ton des Protagonisten Ugo, als er das Badezimmer betritt und ins Becken schaut: »Hier liegt noch Scheiße drin. Nicht mal spülen können diese Schweine!«
Sind menschliche Exkremente und die konkreten Orte, an denen diese Produkte der Verdauung ausgeschieden werden, ein Tabuthema? In der Vergangenheit schon, heute bestenfalls bedingt. Sprachliche wie auch bildliche Unantastbarkeiten gibt es so gut wie keine mehr – und einen Gesichtsverlust muss niemand befürchten, der etwa beiläufig erzählt, er habe den 2009 erschienenen Roman Feuchtgebiete von Charlotte Roche mit Interesse gelesen. Immerhin laut Der Spiegel ein »Mega-Seller« mit circa drei Millionen verkauften Exemplaren allein in Deutschland. Hier ein kleiner, nicht unbedingt feiner Auszug:
»Hygiene wird bei mir kleingeschrieben. Mir ist irgendwann klar geworden, dass Mädchen und Jungs unterschiedlich beigebracht kriegen, ihren Intimbereich sauber zu halten. Meine Mutter hat auf meine Muschihygiene immer großen Wert gelegt, auf die Penishygiene meines Bruders aber gar nicht. Der darf sogar pinkeln ohne abwischen und den Rest in die Unterhose laufen lassen. Aus Muschiwaschen wird bei uns zu Hause eine riesenernste Wissenschaft gemacht. Es ist angeblich sehr schwierig, eine Muschi wirklich sauberzuhalten. Das ist natürlich totaler Unfug. Bisschen Wasser, bisschen Seife, schrubbel-schrubbel. Fertig. […] Eine andere Muschiregel meiner Mutter war, dass Muschis viel leichter krank werden als Penisse. Also viel anfälliger sind für Pilze und Schimmel und so. Weswegen sich Mädchen auf fremden oder öffentlichen Toiletten niemals hinsetzen sollten. Mir wurde beigebracht, in einer stehenden Hockhaltung freischwebend zu pinkeln, ohne das ganze Igittigitt-Pipi-Mobiliar überhaupt zu berühren. Ich habe schon bei vielen Dingen, die mir beigebracht wurden, festgestellt, dass die gar nicht stimmen. Also habe ich mich zu einem lebenden Muschihygieneselbstexperiment gemacht.
Mir macht es Riesenspaß, mich nicht nur immer und überall bräsig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen. Ich wische sie auch vor dem Hinsetzen mit meiner Muschi in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung einmal komplett im Kreis sauber. […] Das mache ich jetzt schon seit vier Jahren auf jeder Toilette. […] Und ich habe noch nie einen einzigen Pilz gehabt. Das kann mein Frauenarzt Dr.Brökert bestätigen.«18
Zurück ins WWW. Unter Verwendung der Begriffe Toilette und Knigge verwandelt es sich unversehens in eine irreale Verbesserungsanstalt. Vorausgesetzt wird in vielen Beiträgen, wie auch immer formuliert, folgendes Szenario: »Aufreger Nummer eins in vielen Haushalten ist die Toilettenbenutzung und -hygiene. Besonders in WGs, doch auch in Familien oder bei jungen Paaren ist das Ignorieren einfachster Hygieneregeln ein ständiges Streitthema. Der offene Toilettendeckel, Spritzer rund um die Kloschüssel oder das penetrante Ignorieren der Toilettenbürste – diese Aufreger kennt wohl jeder, der sich mit anderen eine Toilette teilt. Damit das heimische WC nicht zu einer verwahrlosten Bahnhofstoilette wird, gelten auf dem stillen Örtchen bestimmte Benimmregeln. Mit nur wenigen Hygienemaßnahmen haben unschöne Hinterlassenschaften und miese Gerüche keine Chance.«19
Und welche Benimmregeln beinhaltet im Zeitalter der Digitalisierung und Individualisierung ein selbst ernannter »WC-Knigge«? Die auf vielen Websites (und in der ausgeuferten Ratgeberliteratur) dargebotenen Winke mit dem Zaunpfahl und Tipps lesen sich in meiner Zusammenfassung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, so:
Die Toilette wird täglich genutzt und gebraucht. Daher sollte an diesem Ort aus Respekt vor den Mitmenschen Wert auf Sauberkeit und Hygiene gelegt werden.
Selbst wenn sich das Urinieren, Pinkeln, Pullern oder Pissen im Stehen für den Mann anbietet, sollte er sich auch zum Urinieren hinsetzen, denn so werden unerwünschte Spritzer und Gerüche verhindert. (Tipp: Beim Aufstehen die Tropfen mit einem Stück Klopapier auffangen.)
Nach dem großen Geschäft sollte jede und jeder die Toilettenbürste benutzen, um eventuelle Bremsspuren zu beseitigen. (Tipp: Durchgeweichtes Klopapier setzt sich in den Borsten fest und schreckt nachfolgende Toilettenbenutzer von der Benutzung ab.)
Nach jedem Geschäft muss ordentlich gelüftet werden. Vor allem, wenn sich die Toilette im Badezimmer befindet. (Tipp: Wenn keine Entlüftung möglich ist, ein Streichholz anzünden. Dann entweicht Schwefel, der wiederum den unangenehmen Geruch bindet.)
Nach der Säuberung mit der Klobürste wird der Toilettendeckel wieder aufgelegt. Das minimiert ebenfalls Gerüche. Auch schaut niemand gerne in den offenen Abfluss. Beim Verlassen der Toilette muss die Klotür hinter sich geschlossen werden.
Nach jedem Toilettengang Hände waschen nicht vergessen. Gründliches Reinigen verhindert, dass Fäkalkeime im gesamten Haushalt und an andere Personen verteilt werden.
Binden und Tampons gehören nicht in die Toilette, wo sie für Verstopfung und Überschwemmung sorgen. Auch Speiseabfälle und Essensreste haben nichts in der Kloschüssel zu suchen. Sie machen die Klärung der Abwässer schwieriger; außerdem sind nahrhafte Stoffe ein gefundenes Fressen für Ratten.
Wer das letzte Toilettenpapier einer Rolle verbraucht, hat für Nachschub sorgen. Der nächste Benutzer würde es nach seinem Geschäft empört vermissen.
Viele Menschen lesen gern auf der Toilette. Die Tageszeitung oder Zeitschrift auf der Toilette kann aber schnell unhygienisch werden. (Tipp: Bitte nur kurze Sitzungen einplanen, das Klo ist keine Bibliothek …)
Mit dieser Übersicht heute vielfach kommunizierter Benimmregeln könnte ich es gut sein lassen, wenn es da nicht noch die viel beschworene Geschäftswelt gäbe und mit ihr den Business-Knigge. Merke: »Zunächst gehört es zum guten Ton, die Toilette auch als solche zu bezeichnen. Der Begriff ›Klo‹ zeugt in der Geschäftswelt nicht gerade von Stil. Auch Ankündigungen wie ›Ich geh aufs stille Örtchen‹ oder ›Ich muss mal für kleine Mädchen/Jungen‹ sind außer unter sehr vertrauten Kollegen fehl am Platz. Das Handy lassen Sie bitte vor der Tür oder machen es aus. Es ist sehr unhöflich, andere Toilettenbesucher durch einen Anruf zu stören.«20
All das, was heute mit dem Begriff Knigge verbunden wird, hat mit dem profilierten Republikaner Adolph Freiherr Knigge (1752–1796) und seinem aufklärerischen Werk Ueber den Umgang mit Menschen von 1788 nichts zu tun. Knigge hatte kein Benimmbuch, sondern einen kritischen Leitfaden zur Lebensphilosophie vorgelegt.21 Obwohl der ob seines Eintretens für die Ideale der Französischen Revolution von konservativen Kreisen gehasste Freiherr posthum durch Umschriften seines Hauptwerks nachgerade seiner Ideale beraubt wurde, scheut sein 1968 geborener Nachfahre Moritz Freiherr Knigge nicht davor zurück, sich auf genau den »Benimm-Knigge« zu beziehen, den es leibhaftig nie gab. Er nutzt den inzwischen wohlklingenden Namen für seine Beratungstätigkeit in Umgangsfragen. Und wie lauten die zentralen Benimmregeln von Moritz Freiherr Knigge (allerdings nur für Herren)?
»Es gibt eine einfache Faustregel am Urinal: Pinkeln und Mund halten. Dies ist weder der Ort, um geschäftliche Gespräche weiterzuführen, noch gar Intimes zu besprechen. […] Steht der Vorgesetzte direkt neben einem, verbieten sich sowohl verstohlene Blicke in seine Richtung als auch der Einsatz karrierefördernder Selbstmarketingstrategien! Spülungen sind dazu da, um sie zu betätigen, Klobürsten, um sie zu benutzen, Fenster, um zu lüften, und Wasserhähne, um sie aufzudrehen und sich die Hände zu waschen. Wer meint, auf Letzteres verzichten zu können, dem sei ein Satz Adolph Freiherr Knigges ans Herz gelegt, der gerade auf dem Herrenklo seine zeitlose und allgemeine Gültigkeit beanspruchen darf: ›Tue nichts im Verborgenen, dessen Du Dich schämen müsstest, wenn es ein Fremder sähe.‹«22
Körperliche Ausscheidungsprozesse sind eine alltägliche Herausforderung für sich. Selbst im Falle des »kleinen« Geschäfts. Die menschliche Blase hat ein Volumen von gut einem halben Liter. Wenn ihre Füllung ein Volumen von 200 bis 300 Millilitern überschreitet, erhält das Gehirn die Information: Harndrang. Wird der Drang häufig unterdrückt, meldet sich die Blase seltener. Zudem können wir die Füllmenge der Blase ausdehnen, indem wir viel trinken. Nun gibt es – unabhängig vom Geschlecht – Menschen, die den Harndrang weniger unterdrücken als andere, und eben häufiger eine Toilette aufsuchen. Rein statistisch betrachtet scheinen Frauen ihrem Harndrang häufiger nachzugeben als Männer – sie suchen durchschnittlich fünf- bis siebenmal täglich die Toilette auf, während Männer es bei drei bis vier Gängen belassen. Wie dem auch sei, sicherlich empfinde nicht nur ich ein schnell erreichbares und gepflegtes WC als einen Segen, vor allem außerhalb der eigenen vier Wände. Die Heldin Annabel in Ildikó von Kürthys Roman Freizeichen nicht minder. Sie reist eines Tages spontan zu ihrer exzentrischen Tante nach Mallorca, die aber nicht wie vereinbart zu Hause ist. Da Annabel dringend auf Toilette muss, beschließt sie, in nächster Nähe eine Erleichterungsmöglichkeit zu suchen:
»Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht, aber wenn ich auf die Toilette muss, dann muss ich immer ganz plötzlich und dringend auf die Toilette. Vor langen Autofahrten zum Beispiel trinke ich immer tagelang nichts. Vergeblich. Schon bei der ersten Raststätte muss ich raus. Immer. Ben sagt, ich hätte eine Altherrenblase, und meine Freundin Mona schlug vor, ich solle beim nächsten Mal Windeln tragen oder mir einen Katheter legen lassen. […] Aber es ist tatsächlich so: Eigentlich befinde ich mich die meiste Zeit meines Lebens auf der Suche nach einem Klo.
Für mich also eine absolut vertraute Situation: Annabel Leonhard eilt mit zusammengepressten Schenkeln durch irgendeine völlig toilettenfreie Zone dieser Welt. […] Glücklicherweise habe ich durch jahrzehntelange Praxis ein seismografisches Gespür für Toiletten entwickelt oder für Gegenstände, die man als Toilette benutzen kann. Ich […] denke, der Satz, den ich in meinem Leben am häufigsten gesagt habe, ist: ›Dürfte ich wohl mal Ihre Toilette benutzen?‹ […] Unter Blasendruck verliert man viele seiner ansonsten hartnäckigen Hemmungen. Ich habe schon in Spelunken gepinkelt, die ich bei klarer geistiger Verfassung nur mit Schutzanzug und Atemmaske betreten hätte.«23