Das große Glück mag kleine Fehler - Anna Daniels - E-Book

Das große Glück mag kleine Fehler E-Book

Anna Daniels

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Beschreibung

PS: Meine Eltern wohnen noch bei mir!

Lucy hat einen renommierten Job in Melbourne, einen festen Freund und überhaupt ein ziemlich gutes Leben. Doch dann steht plötzlich alles Kopf, und Lucy findet sich als arbeitsloser Single wieder. Zu allem Übel muss sie auch noch zu ihren Eltern in die tiefste Provinz ziehen. Aber von Idylle kann auch hier keine Rede sein. Denn während ihre Mutter tagtäglich Pop-Diva Cher zitiert, schleift sie ihre beste Freundin von einer Party zur nächsten. Da reicht es Lucy endgültig. Mit ihrem letzten Geld tritt sie eine Reise an, die sie nicht nur zu japanischen Thermalbädern, sondern auch zu gutaussehenden Schotten führt. Wird Lucy ihr großes Glück in der Ferne finden?

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Seitenzahl: 379

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Das Buch

Worauf warte ich eigentlich? Wenn ich mir bis zum Kinderkriegen noch ein Zeitfenster von drei Jahren gebe, sollte ich dann nicht langsam zurück in die Großstadt und mich um meine Karriere kümmern? Oder noch mal nach Europa und mich noch ein letztes Mal jung und frei fühlen? Wer weiß, wen ich im Zug nach Wien kennenlernen würde? Solange ich hier bei Mum und Dad auf dem Bett rumliege, lerne ich jedenfalls niemanden kennen. Vielleicht komme ich auch nicht gerade wie ein Hauptgewinn rüber. Eine Frau, die im Auto ihrer Eltern nach Kleingeld sucht, erscheint wohl nicht auf der Jahresliste der Sexiest People vom WHO Magazine …

Die Autorin

Anna Daniels ist eine australische Autorin, Produzentin und Entertainerin. Ihren Durchbruch hatte sie mit einem misslungenen Interview mit Russel Crowe. Für ihren Debütroman Das große Glück mag kleine Fehler war sie in ihrer Heimat bereits für den Vogel’s Literary Award nominiert.

ROMAN

Aus dem Australischen

von Stefanie Frida Lemke

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Girl in Between erschien 2017 bei Allen & Unwin.

Obwohl dieses Buch Persönlichkeiten des echten Lebens erwähnt, ist die Geschichte frei erfunden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2018

Copyright © 2017 by Anna Daniels

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673, München

Redaktion: Rabea Güttler

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design

unter Verwendung eines Fotos von Stephanie Vennemann,

www.partystories.de, Flamingoposter: www.miomodo.de

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-21950-5V001

www.heyne.de

Für Mum und Dad.

Und für meine Freundin Ange –

wir alle lieben und vermissen dich.

1

Nichts holt einen schneller auf den Boden der Tatsachen zurück als ein Besuch beim Steuerberater. Gerade habe ich Todd Doherty eine Dreiviertelstunde lang Zahlen von ausgeblichenen Belegen angesagt, und er hat mir versprochen, meine Steuererklärung zeitnah zu erledigen, damit ich nicht so lange von zwei Dritteln von nichts leben muss. Super peinlich, wo Todd und ich doch zusammen auf der Highschool waren. Wahrscheinlich streicht er ein sechsstelliges Gehalt ein, während er nun ganz genau weiß, dass ich im Moment noch nicht mal sechs Dollar zusammenkratzen könnte.

»Fatal«, hat Todd meine finanzielle Situation genannt. Immerhin hat er dabei entschuldigend gelächelt. Das letzte Mal, dass ich aufgrund meiner Finanzen gelächelt habe, ist schon ziemlich lange her. Mein treuer alter Corolla, mit dem ich gerade zum Haus meiner Eltern in Rockhampton fahre, ist mein einzig wertvoller Besitz – na ja, der und meine Anne-auf-Green-Gables-Sammlung. Und meine Hündin Glenda, ein Kelpie. Wenn ich meiner besten Freundin Rosie von meinem Vormittag erzähle, wird sie sich totlachen.

Auf Rockhamptons breiten Straßen fühle ich mich fast wie die Einzige beim Autoscooter. Hach, Rocky. Wir sind berühmt für diese breiten Straßen, ebenso wie für die Tatsache, dass in der Mitte davon Züge fahren. Und natürlich für die Bullenskulpturen aus Glasfaser, die die Kreisel zieren – wie es sich für die Rinder-Hauptstadt Australiens gehört.

Apropos Züge, gerade rauscht einer neben mir her. Ich glaube, Rocky ist der einzige Ort auf der Welt, wo sich Züge einfach so von hinten anschleichen und die Straße mit dir teilen können. Eben standen sie noch alle Cappuccino schlürfend im Depot, und dann wollen sie auf einmal unbedingt mit zu deinem Lieblingschinesen Wah Hah Chinese.

Als ich am Paradise Plaza vorbeifahre, werde ich ganz nostalgisch. Ich bin schon fast zu Hause, und an jeder Ecke winkt eine Erinnerung. Da ist der Hungry Jack’s, wo früher ein Secondhandladen war, dann die Gasse neben dem Kino, wo wir als Teenies unsere West Coast Cooler zischten, und Holy Mackerel, der Fish-and-Chips-Laden für freitagabends. Die neuen Inhaber sind wohl neulich verknackt worden, weil sie Drogen über die Ladentheke verkauft haben. Krass, oder? »Ich nehm zweimal Backfisch und für fünf Dollar Pommes.« Zwinker, zwinker.

Trotzdem gibt es nirgendwo so viele grundanständige Menschen, die dir ihr letztes Hemd gäben und deswegen nur noch in ihren Nylon-Footballshorts rumlaufen würden wie in Rockhampton. Mum und Dad sind ein typisches Beispiel, auch wenn Dad Gott sei Dank keine Footballshorts trägt. Vor vierzig Jahren haben sie zusammen All About Town, eine Kombi aus Zeitschriftenladen und Abendkleidungsgeschäft aufgemacht. Erstaunlicherweise funktionierte die Mischung. Vor anderthalb Jahren verkauften sie den Laden an ein Paar aus Newcastle, das versprach, das Geschäft so weiterzuführen wie bisher. Innerhalb von sechs Wochen war der Laden einem Waxingstudio mit dem Namen Gone Bush gewichen.

Als ich jetzt daran vorbeifahre, fallen mir lauter Geschichten von früher ein. Lenny, Max und ich sind quasi im All About Town aufgewachsen. Ich habe schon Gold-Lotterie-Tickets verkauft, lange bevor ich es vom Gesetz her durfte, und meine Brüder waren sehr beliebt in der Schule, da sie leicht an gewisse Magazine herankamen. Mich reizten nicht so sehr die Magazine, als vielmehr die Süßigkeiten, aus denen ich Gewinn schlagen wollte. Ich schenkte sie den Jungs, in die ich verknallt war. Eines Tages sagte Mum zu Dad: »Ich versteh das nicht, Brian, die Mint Patties sind schon wieder alle!« Dad sah mich schief an und meinte: »Ich kann dir sagen, wo die abgeblieben sind, Denise. Bei Paddy Parker, Paddy Wyatt und Paddy Sadler. Patties für die Paddys.« Meine Brüder brachen in Gelächter aus, ich in Tränen. Dann flüchtete ich ins Büro.

Mein Dad war schon immer sehr direkt. Manchmal ist es geradezu peinlich. Letzte Woche erst war ich mit Mum und Dad bei Bits ’n’ Pizzas, wo sich immer der halbe Ort trifft, und Dad begrüßte einen Bekannten mit den Worten: »Da ist ja der alte Doug McRae – ich dachte, der wär längst tot!«

Auch mit unerwünschten Ratschlägen hält er sich nicht zurück. Ärgerlicherweise trifft er dabei meist den Nagel auf den Kopf. Manchmal sieht er die Dinge allerdings ein kleines bisschen zu einfach. Einmal, als Mum ihn ins Ballett mitgeschleppt hatte, fragte er, wann denn der Gesang losginge. Als Mum ihm erklärte, dass im Ballett nicht gesungen würde, meinte er: »Ich kann dir jetzt schon sagen, damit werden die keinen Erfolg haben.«

Und letzte Woche, als ich ihm erzählte, wie viel der neue Automechaniker in Brisbane für die Wartung meines Corolla haben wollte, sagte er sofort: »Maden leben nicht nur im Garten, meine Liebe!«

Wenn Dads Denken schwarz-weiß ist, dann ist Mums deutlich farbenreicher. Wahrscheinlich passen sie deswegen so gut zueinander, sie gleichen sich aus. Wobei Mum in Sachen Schrullen Dad in nichts nachsteht. Ich weiß noch, wie sie mit uns drei Kindern auf der Rückbank des Commodore durch Rockys breite Straßen raste und uns anschrie, endlich mit dem Streiten aufzuhören. Dann hielt sie vor der St. Joseph’s Cathedral, und wir marschierten hinter ihr her zum Sonntagsgottesdienst, wo sie vom Lesepult aus in ihrer »Kirchenstimme«, wie wir sie nannten, aus der Bibel vorlas. Nach dem Gottesdienst stritten wir uns im Commodore sofort weiter.

Lenny und Max sind inzwischen beide aus Rocky weggezogen, aber immerhin ist Rosie, meine schräge beste Freundin aus der Grundschule, noch hier. Rosie ist gerade die Einzige, die mich vorm Durchdrehen bewahrt – sie schafft es immer, mich aufzumuntern.

Sie will heute Nachmittag vorbeikommen, fällt mir ein. Schlagartig bessert sich meine Laune. Einer ihrer Patienten hat ihr offenbar erzählt, dass Mums und Dads neue Nachbarn diese Woche einziehen, und jetzt ist sie neugierig. Wir beide versuchen schon die ganze Zeit herauszufinden, wer das Haus gekauft hat, doch nicht mal mein Vater, der inoffizielle Bürgermeister von Rockhampton, hat eine Ahnung.

Wenn Rosie und ich nicht gerade Nachbarschaftswache spielen, halte ich mich diszipliniert an die Schreibroutine, die ich mir die letzten zehn Monate verordnet habe: Ich wache auf, frühstücke, laufe mit Glenda an der Yeppen Lagoon, dusche und schreibe drei Stunden, bevor ich mit Mum das Mittagessen bespreche … das war’s auch schon. Mein strenger Tagesablauf scheint zu funktionieren, denn ich bin schon fast fertig mit Diamanten im Staub, meinem mitreißenden Mehrgenerationen-Roman über die Pionierzeit des Edelsteinabbaus im hinteren Queensland.

Ich will den Roman dieses Jahr noch zu Ende schreiben. So kann ich auch meine Entscheidung von vor zwölf Monaten rechtfertigen, mein semiglamouröses Leben als Fernsehreporterin in Melbourne hinter mir zu lassen und nach Port Douglas zu ziehen. Meinen Freundinnen und Kollegen in Melbourne gegenüber begründete ich es damals noch mit dem Wetter und dem weiten Arbeitsweg.

»Es ist einfach zu kalt hier unten«, erklärte ich meiner fassungslosen Chefin, die wissen wollte, warum ich aufhörte. »Ich komme aus Queensland! Ich ertrage diese Winter einfach nicht!«

Tief in meinem Herzen wusste ich natürlich, dass ich Melbourne nur deswegen verließ, weil ich eindeutig noch in meinen Exfreund Jeremy verliebt war und ich unserer Beziehung neues Leben einhauchen wollte. Doch als ich ihm drei Monate nach unserer Trennung in den äußersten Norden von Queensland folgte, wo er aufgrund eines neuen Jobs hingezogen war, war es offensichtlich, dass er keine Zukunft mehr für uns sah. Kurz darauf fand er prompt die Liebe seines Lebens.

Von Herzschmerz benebelt hielt ich es noch ganze acht Wochen in Port Douglas aus und übernahm immer wieder Jobs für WIN TV, bevor ich über den Bruce Highway nach Süden flüchtete und wieder bei Mum und Dad in Rocky einzog, um meine Wunden zu lecken.

Als ich in die Auffahrt zum Haus meiner Eltern einbiege, bin ich erleichtert, dass sich mein Herz beim Gedanken an Jeremy nicht mehr jedes Mal anfühlt, als würde es ausgewrungen. Stattdessen durchlebe ich jetzt die emotionale Berg-und-Tal-Fahrt: Im einen Moment bin ich überzeugt, über ihn hinweg zu sein, im nächsten habe ich totalen Liebeskummer und ziehe alle um mich herum mit meinem Katzenjammer runter. Ich kultiviere den ersten Zustand, indem ich Facebook, Alkohol und alle Leute, die Jeremy nebenbei erwähnen könnten, meide. Innerhalb der tröstenden Grenzen von Rocky hebt sich langsam die schwere Trauerwolke, und ich kann den Kummer, an den ich mich die letzten Monate geklammert habe, loslassen.

Ich steige aus dem Auto, und Glenda kommt schwanzwedelnd auf mich zugelaufen. »Hi, Süße!«, sage ich und umarme sie. Sobald ich sie loslasse, läuft sie zielstrebig weiter und blickt sich am Zaun nach mir um. Scheinbar ist sie gar nicht meinetwegen so aufgeregt, sondern wegen der zwei Männer in der Auffahrt nebenan. Ich kann sie kaum davon abhalten, über den Zaun zu springen und die beiden abzuschlabbern.

Als ich es schließlich geschafft habe, Glenda mit Leber-Leckerlis ins Haus zu locken, rufe ich: »Hey, Mum, sieht aus, als hätten wir endlich neue Nachbarn.«

Keine Antwort von Mum, die ich mit Schlagzeugsticks in den Händen vor dem Fernseher vorfinde, wo sie aufmerksam einem afrikanischen Bongo-Trommler zuschaut. Seit dem Verkauf von All About Town fängt Mum ein seltsames Hobby nach dem anderen an, und afrikanisches Trommeln scheint das neueste zu sein. Wenn sie nicht gerade mit Steinheilkunde, Kalligrafie oder Ausmalbildern beschäftigt ist. Oder mit Cher – Mum ist absolut besessen von ihr!

»Ma! Du bist schon wieder in deiner Trommel-Trance!«

»Nein, ich hab dir zugehört«, antwortet sie, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.

»Und, was hab ich gerade gesagt?« Ich lasse mich auf die Couch sinken.

»Du hast gesagt, die neuen Nachbarn seien eingezogen.«

Ich nicke und nehme mir ein MiNDFOOD-Magazin, aber die vielen Artikel von irgendwelchen Geld-Gurus deprimieren mich, sodass ich es seufzend wieder weglege.

Mum drückt auf Pause und sieht mich an. »Geht es dir nicht gut, Liebes?«

»Doch, doch.« Ich lächle, so gut ich kann.

»Lucy, was stimmt nicht? Hat Jeremy sich gemeldet?«

»Nein. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder von ihm hören werde.«

»Dann sag, was los ist. Irgendwas bedrückt dich doch.«

»Mir geht’s gut, Ma«, antworte ich. »Tasse Tee?«

»Ja, gern. Machst du mir einen von den Rooibostees?«

Ich gehe in die Küche, setze Wasser auf und hole die Milch aus dem Kühlschrank. Unter den Kühlschrankmagneten hängen lauter Fotos meiner mich glücklich anlächelnden Geschwister. Fotos von Lennys und Camilles wunderschöner Hochzeit in Sydney neben ebenso fröhlichen Schnappschüssen von Max und Brooke bei der Eröffnungsfeier von Fancy Pants, ihrem neuen Online-Shop für Bambus-Windeln für den chinesischen Markt. Dann die Fotos meiner fünf Nichten und Neffen in diversen Posen. Auf einmal fühlt sich die Milch in meiner Hand genauso schwer an wie mein Herz.

Dad kommt in die Küche und reißt mich aus den Gedanken. »Machst du Tee, Lucy?«

Ich drehe mich zu ihm um. »Ja. Magst du auch einen?«

»Gern.« Sagt es und ist schon wieder weg. Seit er im Ruhestand ist, wirkt Dad noch geschäftiger als sonst. Ständig macht er irgendwas im Jockey Club, was seltsam ist, wo er sich früher überhaupt nicht für Pferderennen interessiert hat. Andererseits hat er auch immer von früh bis spät im Zeitschriftenladen gearbeitet, da hatte er nicht viel Zeit für irgendwas anderes.

»Was überlegst du?«, fragt Mum, die auf einmal neben mir steht, während ich geistesabwesend auf den pfeifenden Teekessel starre.

»Ob ich die ganzen Schokokekse von Crabtree-&-Evelyn schon aufgegessen hab.«

Mum lacht, sieht aber immer noch besorgt aus.

»Ach, ich weiß nicht, Ma«, sage ich. »Ich hab mit Todd Doherty meine Steuererklärung gemacht, und es sieht nicht gut aus. Manchmal denke ich, es war ein Fehler, aus Melbourne wegzugehen, und dass jetzt alles zu spät ist.«

»Zu spät wofür?«, fragt Mum.

»Für eine Karriere. Dafür, wenigstens eine Sache gut zu können.«

»Lucy, du bist aus Melbourne weggegangen, weil das mit dem Producing nicht so deine Sache war, und außerdem war es schwer mit deiner Arbeit als Reporterin zu vereinbaren«, erinnert mich Mum. »Du hast Überstunden gemacht und warst Ewigkeiten unterwegs, um überhaupt zur Arbeit zu kommen. Dazu war die Miete viel zu hoch und das Wetter miserabel. Du bist gegangen, weil du da unten nicht glücklich warst.«

Ich nicke. Sie hat ja recht.

»Hinterher ist es immer leichter, sich nur an die guten Dinge zu erinnern«, fährt sie fort. »Mit Jeremy ist es das Gleiche. Klar, ihr hattet schöne Zeiten, aber manchmal vergisst du, glaube ich, dass du von Anfang an deine Zweifel an der Beziehung hattest.«

Ich nicke wieder.

»Du musst aufhören, dir vorzumachen, dass in Melbourne alles perfekt war.«

»Hmm, ich denke nur …«

»Man kann auch zu viel denken«, unterbricht sie mich. »Neulich erst habe ich einen Artikel von Deepak Chopra gelesen, und es stimmt vollkommen, was er sagt.«

»Was sagt er denn?«

»Dass es Zeitverschwendung ist, nur in Gedanken zu leben, und wir uns mehr auf die Natur besinnen sollen, einfach nur sein und sich der Welt gegenüber öffnen.«

»Ha! Ich war in Melbourne bei einem Vortrag von Deepak Chopra«, sage ich, während ich die Teebeutel rausnehme, »und er hat die ganze Zeit nur davon geredet, dass wir, wenn wir seinen Ratschlägen folgen, den perfekten Körper, den perfekten Geist und die perfekte Gesundheit erlangen würden. Und er selbst hatte den schlimmsten Schnupfen, den man sich vorstellen kann.«

Mum lacht. »Nein!«

»Doch! Er hat uns einen erzählt, wie wir unseren Körper dazu bringen könnten, alle Krankheiten zu überwinden, und dann hat er sich die Nase geputzt, und es klang, als hätte er eine richtig krasse Allergie.«

»Ach, Lucy! Wirklich?«

»Ja, wirklich. Von daher solltest du Deepak vielleicht nicht alles abkaufen«, kichere ich.

Wir gehen mit unserem Tee ins Wohnzimmer. »Dann sind die neuen Nachbarn jetzt wohl eingezogen, was?«, sagt Mum mit einem Blick aus dem Fenster, und im selben Moment höre ich, wie ein Fahrrad auf unsere vordere Veranda gestellt wird. Kurz darauf knallt die Tür.

»Wer ist wo eingezogen?« Rosie erscheint in einem prächtigen Rad-Outfit aus Lycra und nimmt ihren Helm ab.

»Du bei uns, so viel, wie du hier bist!«, lacht Mum.

Rosie würde wahrscheinlich auch auf eine Tasse Tee vorbeischauen, wenn ich nicht hier wäre. Letzte Woche kam ich vom Schreiben aus meinem Zimmer, da hatte sie schon eine Stunde lang mit Mum in der Küche geplaudert. Sie saßen über den neuesten HomeHints-Katalog gebeugt und redeten über die Vorteile von extralangen Ofenhandschuhen. Die beiden haben einen Narren aneinander gefressen, seit Rosie im Alter von sechs Jahren mit einem Schlafsack in den Armen bei uns aufkreuzte und zu Mum sagte: »Machen Sie die Musik lauter, Mrs. Crighton, das Lied ist toll!« Zufälligerweise war es Mums Lieblingslied – »If I Could Turn Back Time« von Cher. Und Dad gegenüber macht Rosie gern flapsige Bemerkungen, die sie sich nur erlauben kann, weil sie nach all den Jahren schon fast zur Familie gehört. Aber eben doch nur fast.

Für mich war Rosie schon immer ein Zugang zu einer anderen Welt, einer Welt ohne Regeln. Ich weiß noch, wie wir als Kinder einmal spätabends bei ihr zu HauseKaffee-Milchshakes getrunken und Blumen der Nacht geguckt haben. Da waren wir in der dritten Klasse. Meine Eltern wären entsetzt gewesen.

Rosies laute, sonnige Art ist das perfekte Gegenmittel gegen meine Introvertiertheit. Wenn ich mich in Grübeleien verliere, ist sie da, um mich aus meinen verworrenen Gedankengängen zu befreien. Im Gegensatz zu mir kümmert es sie nicht, was die Leute über sie sagen oder denken könnten. Wenn ihr jemand blöd kommt, gibt sie kontra und vergisst die Angelegenheit sofort wieder, während ich quasi erst mal ein Flowchart zeichne, um die Kette von Ereignissen zu verstehen, die zu meiner ungerechten Behandlung geführt haben.

Mum und Rosie lesen sich gerade lachend ihre Horoskope vor, als Dad mit zwei Krawatten um den Hals ins Wohnzimmer eilt. »Denise! Denise! Konzentrier dich mal kurz«, sagt er, klatscht in die Hände und zeigt auf die Krawatten.

»Was ist denn los, Brian? Ich bin doch da.«

»Blau oder rot?«

»Rot«, sagt Mum.

»Rosie?«, fragt Dad.

»Rot.«

»Lucy?«

»Halt die blaue noch mal hoch«, sage ich und tue so, als würde ich beide Möglichkeiten ernsthaft abwägen. »Rot.«

»Okay. Ich bin dann beim Jockey Club.« Er bindet sich auf dem Weg zur Tür die rote Krawatte.

»Dad, du hast deinen Tee noch gar nicht getrunken!«, rufe ich ihm hinterher.

»Keine Zeit!«

»Hey, Brian, lass uns dein Portemonnaie da!«, ruft Rosie.

»Such dir einen verdammten Vollzeitjob!«, antwortet Dad lachend, bevor die Tür ins Schloss fällt.

»Genau. Als ob’s mein Leben besser machen würde, den Leuten vierzig statt zwanzig Stunden die Woche in den Mund zu gucken. Oder mich mit Kindern zu befassen, die zu viel Süßes fressen und austicken, wenn ich ihre Löcher fülle.« Rosie wirft ein WHO Magazine auf den Couchtisch und nimmt sich eine Ausgabe von HELLO!. »Was ist, Lucy, gibt es jetzt nebenan einen Mann für dich oder nicht?«

Ich gehe zum Fenster und beäuge unsere zwei neuen Nachbarn – die, wie ich zugeben muss, beide ziemlich attraktiv sind. Der kleinere von beiden macht gerade ein Bier auf und hält es dem ziemlich ähnlich aussehenden, aber athletischeren Typen hin, der am Telefonieren ist.

»Schwer zu sagen, Rosie«, sage ich, den Blick immer noch auf den Größeren, Schlankeren gerichtet, und erschrecke, als er das Gespräch beendet und zu mir herüberguckt. Ich schätze ihn auf Anfang bis Mitte dreißig, und sein Lächeln und der durchtrainierte Körper sagen ganz klar, dass er garantiert nicht mehr zu haben ist. Ich überlege kurz, ihm zuzuwinken, doch dann ist er auch schon aus meinem Blickfeld verschwunden.

»Die hat sich die Zähne machen lassen«, sagt Rosie und hält eine Doppelseite voller Filmsternchen aus der Woman’s Day hoch. »Und die auch. Und die sollte sie sich machen lassen.«

Als Mum wieder ihre Bongo-Trommel-DVD angeschaltet hat und Rosie mir gerade das Neueste über Brad Pitts angeblich wieder aufflammende Liebe zu Jennifer Aniston berichtet, klopft es plötzlich an der Tür.

Mum drückt auf Pause, und wir gucken uns alle doof an. Niemand, den wir kennen, klopft.

Wir sitzen immer noch wie versteinert da, als es klingelt. Ich springe auf und öffne die Tür. Vor mir steht der größere der beiden neuen Nachbarn und lächelt mich durchs Fliegengitter an.

Ich erwidere sein Lächeln, und einen Moment lang stehen wir einfach nur da und grinsen.

»Hi, ich bin Oscar Simpson«, sagt er schließlich.

»Lucy Crighton«, antworte ich, öffne die Fliegengittertür und gebe ihm die Hand. »Willkommen in Rocky.«

2

Ich mache einen Schritt zurück, um Oscar reinzuwinken, und stoße dabei gegen Rosie, die sich räuspert.

»Ach, das ist Rosie«, stelle ich sie vor.

Oscar nickt ihr zu. »Hi, Rosie.«

Sie schenkt ihm ein umwerfendes Lächeln. Oscar sagt etwas, aber das meiste geht in Mums Trommellärm unter. »Ich wollte nur … heute Nachmittag … im Garten …«

»Warte mal«, sagt Rosie und brüllt: »Denise! Denise!«

»Was denn?«, ruft Mom aus dem Wohnzimmer.

»Hör mal kurz auf!«

Das Trommeln verstummt, und ich muss kichern. Oscar wirkt leicht verwirrt, aber amüsiert. »Wie gesagt: Wir wollen heute Nachmittag auf Mums Einzug anstoßen. Ihr seid herzlich eingeladen.«

»Klingt gut«, sage ich.

»Sehr gut«, sagt Rosie. »Wo doch Samstag ist und so.«

»Sollen wir irgendwas mitbringen?«, frage ich.

»Nicht nötig. Wir haben alles da.«

»Wir bringen Würstchen mit«, platzt Rosie heraus.

»Super. Bis dann!«, sagt Oscar. »Und gebt gern auch euren Mitbewohnerinnen Bescheid.«

»Äh, das sind nicht unsere Mitbewohner – sondern Lucys Eltern«, feixt Rosie.

»Ah, okay, die können natürlich auch kommen«, sagt Oscar etwas erstaunt. »Bis dann.«

»Bis dann«, sagen Rosie und ich gleichzeitig.

»Musst du ihm sofort erzählen, dass ich noch bei meinen Eltern wohne?«, flüstere ich verärgert, als Oscar durch den Vorgarten davongeht.

Kaum ist er außer Sichtweite, pfeift Rosie laut durch die Zähne.

Ich packe sie am Arm. »Das hat er bestimmt gehört!«

»Er sieht gut aus.« Rosie grinst mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Sehr gut, sogar.«

»Wer sieht gut aus?«, ruft Mum. »Außer mir natürlich?«

Wir gehen zurück ins Wohnzimmer. Mum liegt jetzt auf dem Sofa und hat ihr Handy zum Laden an die Salzlampe gehängt. Ihre Füße zeigen auf ein signiertes Poster von Cher, das eingerahmt an der Wand hängt.

»Der Typ von nebenan. Wie der lächeln kann! Und er hat super Zähne. Und diese blauen Augen!«, schwärmt Rosie. »Er hat uns zu ihrer Einweihungsparty nachher eingeladen, Denise.«

»Du solltest dich an ihn ranmachen, Rosie«, sage ich.

»Nein, du! Du bist jetzt schon seit einem Jahr depri«, sagt Rosie. »Ich hab Trent den Handwerker, schon vergessen?«

»Ich bin überhaupt nicht depri!«, protestiere ich schwach.

Rosie und Mum wechseln einen Blick und setzen dann beide dieselbe Trauermiene auf. Ich sehe sie finster an.

»Zieh dich um, Lucy«, sagt Mum. »Und zieh Herrgott noch mal was Schickes an und schmink dich ein wenig …«

»Ja, Herrgott noch mal!«, stimmt Rosie lachend ein.

»Ihr seid unmöglich«, schnaube ich. Ich trolle mich, bleibe aber auf dem Flur gleich wieder stehen und spitze die Ohren.

»Rosie«, flüstert Mum, »hilf ihr etwas auf die Sprünge, wenn ihr rübergeht, ja?«

»Kommst du etwa nicht mit?«

»Ich komme nach. Ich muss erst mal meine Chakren auf die Reihe kriegen, sonst laufen sie mir noch davon.«

»Wenn du meinst. Aber was soll ich denn machen?«

»Sieh zu, dass sie mit diesen jungen Männern redet – egal worüber«, sagt Mum, und dann fragt sie zögernd: »Hat sie Jeremy in letzter Zeit erwähnt?«

»Nee, schon länger nicht mehr«, seufzt Rosie. »Aber das heißt nicht, dass sie nicht an ihn denkt.«

»Ich weiß, ich hab sie neulich erst auf diesem Facebook gesehen …«

Ich gehe weiter in mein Zimmer. Die beiden meinen es natürlich nur gut, aber trotzdem ist es ziemlich deprimierend, wenn deine Lieben so über dich reden. Und wenn die Verzweiflung dich erst mal im Griff hat, sind ihre besten Freundinnen – die Hoffnungslosigkeit und die Verbitterung – auch nicht mehr weit. Ich versuche, meine düstere Stimmung durch positive Gedanken zu ersetzen, wie es die ganzen Selbsthilfebücher und Lululemon-Yoga-Taschen empfehlen, doch meine gegenwärtige Realität zieht mich immer mehr runter, bis ich schließlich aufs Bett sinke und mich dafür verfluche, dass ich es nicht schaffe, aus dem Tief rauszukommen und Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.

So bleibe ich eine Weile sitzen und höre zu, wie Mum für Rosie die letzte Folge von The Crown zusammenfasst und Rosie ihr dann einen Artikel vorliest, der »16 Tricks mit Bolognese-Resten« verspricht.

»Hör dir das an, Denise«, sagt sie, »du kannst Chili con Carne machen, Fajitas – oh, und hier ist ganz was Exotisches: getoastetes Sandwich!«

Die beiden kriegen sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Süß. Wenn sie nicht gerade über mich reden, finde ich ihr Gequassel ja ganz beruhigend. Solange deine beste Freundin und deine Mum sich nebenan über die Vorteile von Bolognese-Resten austauschen, ist doch eigentlich alles in Ordnung.

Mein Blick fällt auf den Laptop, und dann bin ich gedanklich auch schon wieder bei Diamanten im Staub. Wann lasse ich die Heldin wohl den 64 Karat schweren grünen Saphir finden? Wahrscheinlich im nächsten Kapitel …

Nach einer Weile ruft Rosie: »Nähst du dir ein Outfit, oder was?«

Seufzend fange ich an, den Schrank zu durchwühlen, und entscheide mich schließlich für meine Lieblingsjeans und ein T-Shirt mit Blütenmuster.

Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, verstummen Mum und Rosie und blicken schuldbewusst auf.

»Ihr habt über mich geredet, oder?«, frage ich.

»Nein«, flöten sie einstimmig, wenn auch wenig überzeugend.

»Doch, habt ihr.«

»Nein, haben wir nicht«, sagt Rosie und betrachtet mich von oben bis unten. »Wie wär’s mit ’nem anderen Shirt?«

»Was stimmt denn nicht mit dem hier?«, frage ich.

»Ein bisschen altbacken, wie von Noni B«, antwortet sie. »Warum ziehst du nicht das Glitzertop von mir an?«

»Und mal dir die Lippen an«, wirft Mum ein.

Also gehe ich wieder auf mein Zimmer und ziehe das silberne Country-Road-Top an, das Rosie mir zum Geburtstag geschenkt hat und ich nie trage, weil es viel zu tiefe Einblicke gewährt. Dann lege ich Mum zuliebe im Bad noch etwas Make-up auf. Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, sehen Rosie und Mum vom neuesten HomeHints-Katalog auf und nicken anerkennend.

Ich spähe durchs Fenster in den Nachbargarten. Die Frau, die neben dem Typen steht, mit dem ich Oscar zuvor gesehen habe, muss Oscars Mum sein. Bei der Aussicht, neue Leute kennenzulernen, werde ich langsam ein bisschen aufgeregt. Da erscheint eine weitere Frau mit einer Palette Dark ’n’ Stormy, und ich muss kichern. »Sie haben Ruth eingeladen«, sage ich zu Mum. Ich weiß ganz genau, dass sie das auf die Palme bringen wird.

Mum zieht eine Grimasse. »Nächstes Mal sind sie schlauer.«

Zwar ist es schon über vierzig Jahre her, dass Ruth und Dad beim Nacktbaden im College-Swimmingpool erwischt wurden, aber Mum ist immer noch sauer auf sie. Obwohl Mum und Dad da nicht mal zusammen waren. Ich meine, klar, Ruth ist ziemlich schroff und tut gern wichtig, doch trotz ihres draufgängerischen Auftretens als männermordende Dampfwalze ist sie im Grunde ein guter Mensch. Rosie sagt immer, sie würde Ruth nicht über den Weg trauen, und fügt jedes Mal hinzu, dass sie eh nicht an ihr vorbeikäme. Sie meint, ich würde den Leuten zu viel Vertrauen entgegenbringen, dabei ist Ruth wirklich harmlos. Wie auch immer, ich frage Mum nicht mehr, was für ein Problem sie mit ihr hat, es müssen ja nicht alle mögen.

Ruth kippt gerade eine Dose Bier, da höre ich hinter mir Glas klirren, und als ich mich umdrehe, hockt Rosie vor der Bar und räumt vorsichtig Flaschen in eine Tüte von Woolies.

Mum hat sich auf der Couch wieder in die Horizontale begeben und unterstreicht etwas in Wünschen und Bekommen – Wie Sie Ihre Sehnsüchte erfüllen. Sie ist schon immer ein Hippie gewesen, aber seit sie und Dad den Laden verkauft haben, ist sie noch empfänglicher für übernatürliche Botschaften geworden. Wahrscheinlich will sie damit die Leere füllen, die der Verkauf des Geschäfts hinterlassen hat. Sie liebte es, mit den Kundinnen zu schnacken. Manchmal probierte sie sogar die gleichen Sachen an wie diese, damit sie sehen konnten, wie fantastisch sie selbst darin aussehen könnten.

»Du kommst dann nach, Mum?«, frage ich jetzt.

»Auf jeden Fall.« Sie legt das Buch weg und greift nach ihrem Handy. »Ich höre nur noch mal kurz diesen Podcast über die fünf Leute, die man im Himmel trifft.«

»Du hast nichts gesehen, Denise«, sagt Rosie, schwer bepackt mit Hochprozentigem. »Komm, wir fahren Eis holen, Luce. Und dann muss ich noch kurz nach Hause und mich umziehen, okay?«

»Klar, kein Problem.«

»Viel Spaß, Mädchen!«, ruft Mum, als wir schon auf dem Weg zur Tür sind. »Und denkt dran, was Cher sagt!«

»›Die Strapse sind zu eng, und der Slip rutscht mir ständig in die Kimme!‹«, ruft Rosie. Als wir in meinen Corolla steigen, lacht sie immer noch. »Das würde ich an Chers Stelle jedenfalls sagen.«

Mit Rosie neben mir, meinem Lieblingssender Triple J im Radio und dem weiten blauen Himmel über uns geht es mir gleich besser. Wir düsen an den Schulen in The Range vorbei den Hang hinab. In Allenstown entdecken wir vor Bernie’s Pie Van ein paar bekannte Gesichter. Im Vorbeifahren sehen wir einige Mädels aus Highschoolzeiten, die mit Kinderwagen die breiten Straßen entlangschieben.

»Hi, Susie!«, rufe ich einer Frau mit einem Buggy hinterher.

»Hi, Lucy!«, antwortet sie.

Wir sind kaum einen Block weiter, als Rosie ihr Fenster runterkurbelt.

»Hi, Katie!«

»Hi, Rosie!«

Ich biege auf den Bruce Highway und sehe schon wieder eine alte Freundin. »Gina!«, rufe ich und bekomme ein Winken als Antwort.

Rosie blickt in den Rückspiegel. »Das war nicht Gina«, sagt sie.

»Nicht?«

»Nee.«

Kichernd fahren wir beim Bottle-O vor, und eine Frau mittleren Alters, die ich schon öfters im Ort gesehen habe, schlendert auf unser Auto zu. Laut dem Namensschild an ihrem dunkelgrünen Poloshirt heißt sie Colleen.

»Hi«, sagt Rosie. »Eine Tüte Eis, bitte.«

»Sonst nichts?«

»Glaub nicht«, antwortet Rosie. »Willst du noch was?«, fragt sie mich.

Ich zucke die Achseln. »Doritos?«

»Und ’ne Packung Doritos«, sagt Rosie und reicht der Frau zehn Dollar.

Colleen seufzt und schlurft davon.

»Die arbeiten hier nicht auf Provisionsbasis, oder?«, frage ich.

»Glaub nicht.«

Schließlich kommt Colleen mit den Tortilla-Chips und einem Beutel Eis wieder. »Hinten rein?«, fragt sie.

»Ja, danke«, sagt Rosie.

Wir zucken zusammen, als das Eis krachend im Kofferraum landet.

»Hier, das Wechselgeld.« Colleen lehnt sich in Rosies Fenster. »Und, was habt ihr Mädels heute vor?«

»Wir gehen auf ’ne Einweihungsparty«, sagt Rosie.

»Zwei Kisten Tooheys New, eine Magnum-Flasche Champagner und ein paar Alcopops?«

»Was?«, fragt Rosie verwirrt.

»Haben vorhin zwei Typen gekauft. Ich glaub Brüder. Kann das sein?«

Rosie nickt. »Kann sein.«

Colleen macht einen Schritt zurück und schlägt zweimal aufs Dach, als hätte sie uns grad bei der Formel 1 am Boxenstopp die Reifen gewechselt.

»Diese Frau ist einfach überall«, sage ich, als sie geht.

Wir fahren drei Blocks weiter zu Rosies Apartment oben auf der Denham Street.

»Hey, Luce, schon gesehen?«, fragt Rosie und zeigt auf den Rasen vorm Haus.

»Äh, sieht aus wie ein Sprinkler«, sage ich. Keine Ahnung, was daran so interessant sein soll.

Rosie schüttelt den Kopf. »Nee, der ist fake! Es ist ein Sprinklerkopf-Schlüsselversteck.« Sie dreht den falschen Plastiksprinkler um. Darunter liegt ihr Hausschlüssel.

Ich lache. »Und wozu soll das gut sein? Du könntest den Schlüssel doch genauso gut unter einem Stein verstecken!«

»Du verstehst aber auch keinen Spaß, was?«, antwortet sie. »Der ist aus Denises HomeHints-Katalog. Da sind ein paar verdammt nützliche Sachen drin.«

Ich verdrehe die Augen. Mum und Rosie bestellen ständig irgendwelchen Quatsch aus diesem albernen Katalog.

»Wie läuft’s mit Trent dem Handwerker?«, frage ich, als wir zu ihrem Apartment im zweiten Stock raufgehen.

»Gut«, sagt sie und öffnet die Tür. »Er ist ziemlich geschickt und repariert immer alles Mögliche, wenn er hier ist.«

»Wie oft ist er denn hier?« Ich setze mich auf die Couch.

»Ich weiß, worauf du hinauswillst«, antwortet sie. »Und ja, bisher nur montags, mittwochs und samstags. Wenn ich merke, dass ich mehr von ihm will, kann er von mir aus auch dienstags oder donnerstags kommen. Vielleicht auch freitags.«

Ich lächle gequält. »Na ja, sind ja erst drei Monate – er kann wohl von Glück sagen, dass er schon drei Tage die Woche kriegt.«

»Aber sowas von«, meint Rosie und bewundert ihr Spiegelbild in der Mikrowelle. »Wie auch immer, manchmal brauch ich eben einfach Sex«, sagt sie und verschwindet im Schlafzimmer.

»Aber heute ist doch Samstag, Rosie!«, rufe ich ihr hinterher. »Heute ist Trent-der-Handwerker-Abend!«

»Nein, heut nicht!«, ruft sie zurück. »Er ist mit ein paar Freunden in Armhem Land zum Angeln.«

»Ah, verstehe.« Gott sei Dank. Dann wird sie wohl nicht früher von der Party abhauen.

Ich gehe auf den Balkon und genieße die Aussicht. In ungefähr einem Kilometer Entfernung ragen die zwei Sandstein-Türme der St. Joseph’s Cathedral in den Himmel. Der Fitzroy River glitzert in der Ferne, und über die zwei Brücken, die den Norden und den Süden der Stadt miteinander verbinden, schlängelt sich langsam der Verkehr. Hinter den Brücken, im Norden, liegen die hohen blauen Berge der Berserker Range.

Zurück in der Küche schenke ich mir ein Glas Wasser ein. Ich betrachte den Stapel Kochbücher neben der Spüle und die große Glasvase mit pinken Bougainvillea, die im farblichen Kontrast zum Teekocher und Toaster in leuchtendem Orange stehen. Den Kühlschrank hat Rosie knallgelb gestrichen. Bei Rosie ist alles auffällig und bunt, seien es die Schuhe, die Handtasche oder ihre Ausdrucksweise.

Auf der Bank steht ein ungeöffneter Karton mit der Aufschrift »Universal-Dosen-Seiher«. Ich will mir das Ding gerade näher ansehen, da erscheint Rosie in einem blauen Sommerkleid. Sie sieht toll aus.

»Das ist ein Sieb, das auf jede Dose passt«, erklärt sie lächelnd.

»Das ist ja unglaublich, Rosie!«

»Ich weiß«, sagt sie und ignoriert meinen Sarkasmus. »Wir verstauen das Eis mal besser in einer Kühlbox, was?«

3

Als wir zu unseren neuen Nachbarn rübergehen, hämmert mein Herz, als wäre ich sechzehn und auf dem Weg zu meinem ersten Schulball. Ich war schon seit Ewigkeiten auf keiner Party mehr, wird mir klar. Ein Blick auf Rosie bestätigt mir, dass es ihr genauso geht.

»Wenn wir abhauen müssen, haben wir es wenigstens nicht weit«, flüstere ich.

»Da hast du absolut recht«, sagt Rosie und öffnet die quietschende Pforte. »Apropos, was sagt Cher denn nun eigentlich?«

»Was?«

»Deine Mum hat gesagt …«

»Ach ja – Cher.« Ich schüttle den Kopf. »Cher sagt: ›Are you strong enough?‹«

Rosie sieht mich an. »Ich hoffe, die Getränke sind stark genug«, sagt sie trocken.

Ich fasse sie an der Schulter. »Mist. Wir haben vergessen, Würstchen zu kaufen.«

»Das macht nichts, das sagt man doch nur so, dass man was mitbringt«, beruhigt sie mich, während wir ums Haus herum in den Garten gehen. Ruth, Oscar und die anderen beiden, die ich vorher schon aus dem Fenster gesehen habe, sitzen in einem Halbkreis aus Klappstühlen unter einem Flammenbaum. Vor ihnen steht eine große Kühlbox. Im Hintergrund läuft Triple J, ein gutes Zeichen. Oscar begrüßt uns lächelnd, dann stellt er uns seiner sehr nett aussehenden Mutter Helen vor.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Lucy«, sagt sie lächelnd und reicht mir die Hand.

»Freut mich auch«, antworte ich. »Ich wohne im Moment nebenan bei meinen Eltern. Und Rosie wohnt da quasi auch.«

Lächelnd sehe ich hinüber zu Rosie, die sich großzügig ein Glas Rum einschenkt.

»Und, was hat Sie nach Rocky gebracht? Arbeit oder Familie?«, frage ich.

»Weder noch«, antwortet Helen. »Ich habe bisher in Sydney gewohnt, aber mein Mann ist Anfang des Jahres gestorben, und ich dachte, eine räumliche Veränderung würde mir guttun. Die Jungs haben mir beim Umzug geholfen und bleiben noch ein paar Tage, bis ich alles ausgepackt und mich etwas eingelebt habe.«

»Das tut mir leid mit Ihrem Mann«, sage ich, überrascht, dass es mir auch ein bisschen leidtut, dass Oscar und sein Bruder nicht lange hier sein werden.

»Er hatte Schmerzen, von daher war es am Ende eine Erlösung. Aber für die Jungs ist es ziemlich schwer, besonders für Ben.«

Ich folge ihrem Blick zu Oscars Bruder, der gerade einen Sambuca ext.

»Lucy!«, ruft Rosie und leert ihr Glas Rum. »Kannst du mir ein Bier geben?«

»Ich glaube, wir haben keins mitgebracht, oder?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Das Funkeln in ihren Augen macht mich misstrauisch.

»Kein Problem«, sagt Oscar und öffnet die Kühlbox. »Greif zu.«

Ich werfe Rosie einen finsteren Blick zu, dann beuge ich mich vor und merke, wie mein Ausschnitt aufklafft, als ich ein Tooheys New aus dem Eis fische. Ich spüre Bens und Oscars Blicke auf mir und halte mit der freien Hand schnell das Top fest. Rasch richte ich mich wieder auf.

Rosie nimmt zwinkernd das Bier entgegen.

»Und, was machst du beruflich, Lucy?«, fragt Oscar, als ich mich wieder auf meinen Stuhl setze.

»Ach, ich war früher beim Fernsehen, mach aber grad ’ne Pause, um einen Roman zu schreiben.«

»Ist viel Sex drin?«, fragt Ben.

»Ben!«, ruft Oscar empört.

»Was denn, Sex sells«, sagt Ben und grinst.

»Das stimmt«, sagt Ruth und verlagert ihr beträchtliches Gewicht auf dem Plastikstuhl. »Auf meinem letzten Flyer für die Waschanlage hatte ich einen Bikini an – seitdem hab ich alle Hände voll zu tun.«

Helen nickt höflich, während Ben sich fast an seinem Bier verschluckt. »Arbeiten Sie als Franchise-Unternehmerin, Ruth?«, fragt Helen.

»Gott bewahre! Ich mach alles selbst. Ruth’s Wax ’n’ Shine auf der Fitzroy, Ecke Albert Street«, antwortet Ruth, zerknüllt eine leere Dose Dark ’n’ Stormy und wirft sie sich über die Schulter.

»Verstehe«, sagt Helen zögerlich.

»Was ist mit dir?«, frage ich Ben, der versucht, sein Lachen zu unterdrücken, während Rosie mit Schnappatmung zur Wäschespinne geht, vollkommen unfähig, sich unter Kontrolle zu bringen.

»Immobilien … in Sydney«, sagt er und holt tief Luft. »Luxusobjekte an der Nordküste. Aber ich mach grad ein, zwei Wochen frei.«

»Klingt spannend«, sage ich lächelnd.

»Ja? Ich weiß nicht«, antwortet er, auf einmal ernst.

Bevor ich etwas erwidern kann, geht quietschend die Pforte auf, und wir blicken uns alle um, als Mum in einem hawaiischen Kleid mit einem Obstkorb und zwei Geschenkpäckchen in den Garten kommt. »Hallo, hallo, hallo! Ich bin Denise Crighton. Willkommen in der Straße«, sagt sie und reicht Helen den Obstkorb.

»Oh, wie schön! Danke. Ich bin Helen Simpson, und das hier sind meine Jungs, Ben und Oscar. Und kennen Sie …«

»Ruth«, sagt Mum ausdruckslos. »Ja, ich kenne Ruth.«

»Wunderbar! Setzen Sie sich, Denise«, sagt Helen fröhlich.

»Ach, und ich hab noch was für die Jungs«, sagt Mum und hält lächelnd ihre zwei Päckchen hoch.

»Cool! Werfen Sie sie her, ich such mir eins aus«, sagt Ben und streckt die Hände aus.

»Ben!«, ruft Helen, während Mum bereits zu ihm geht und ihm die Päckchen gibt.

Grinsend packt er beide aus und hält zwei sehr große Hawaii-Hemden hoch. »Danke, Denise«, sagt er, bevor er Oscar zuflüstert: »Voll krass.«

»Was für wunderschöne Farben, Denise«, sagt Helen. »Einfach bezaubernd.«

»Hmm.« Mum nickt. »Das waren Brians, bevor er das Laufen wieder angefangen hat.«

»Hatte er einen Unfall?«, fragt Helen betroffen.

»Nein, er hatte einfach nur mit seinen Morgenspaziergängen aufgehört und ist ziemlich aus dem Leim gegangen, aber die letzten Jahre haben sie nur noch im Schrank gelegen.«

»Oh«, sagt Helen und verlagert das Gewicht auf ihrem Stuhl.

»Ja, er hat schrecklich viel ferngesehen, nachdem wir unser Geschäft verkauft hatten und in Ruhestand gegangen sind«, plappert Mum weiter. »Ich hab versucht, ihn fürs Tandemfahren und für Clogging und alles Mögliche zu begeistern, aber er wollte nichts davon hören. Ich hab ihm sogar seine eigenen Bongos gekauft, aber die stehen nur rum und stauben ein.«

Rosie sieht zu mir rüber, und ich zucke die Achseln.

»Wie auch immer«, fährt Mum fort und setzt sich aufrechter hin. »Cher sagt, man holt das Spielzeug nicht rein, nur weil es regnet, und zum Glück hat Brian jetzt den Jockey Club – und seine Figur wieder.«

Als sich neben mir auf dem Zaun eine Krähe zu Wort meldet, schrecke ich auf. Erst da merke ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe. Ruth zerknüllt die nächste Bierdose und tut so, als wäre Mum gar nicht da. »Wirf mal her«, sagt sie zu Ben. »Die sind eh zu groß für euch Zwerge. Ich könnte fürs Autowaschen ein paar neue gebrauchen.«

Ben wirft Ruth die Hemden zu, und sie zieht sofort eins über ihr schwarzes Lycra-Unterhemd. Es passt perfekt. »Prost, Denise«, sagt sie und hält eine Dose UDL Passionsfrucht hoch.

»Okay«, sagt Rosie und klatscht in die Hände. »Das soll doch eine Party sein – also, immer, wenn jemand ›trinken‹, ›Sydney‹ oder ›Rocky‹ sagt, muss er oder sie einen Sambuca exen.«

»O nein, nicht Sambuca, Rosie«, sage ich. »Den vertrag ich nicht.«

»Ich weiß, Luce, aber nur wer wagt, gewinnt«, antwortet sie mit einem nicht gerade subtilen Nicken in Oscars Richtung.

»Denise, möchten Sie vielleicht eine kleine Hausführung bekommen?«, fragt Helen und steht schon halb auf.

»Sehr gern«, sagt Mum.

Während die beiden reingehen, rücken wir anderen unsere Stühle näher zusammen.

Ruth räuspert sich laut und verkündet: »Also, wenn ich nicht in Rocky wohnen würde, würde ich jetzt in Sydney was trinken gehen.«

»Gut gemacht, Ruth«, sage ich und schlage mir auf die Schenkel.

Ben schenkt ihr drei Schnapsgläser ein, und Oscar sieht fasziniert zu, wie Ruth sie eins nach dem anderen leert, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

»Luce, wie heißt noch mal der Film, wo Sylvester Stallone einen Boxer spielt?«, fragt Rosie.

»Noch nie davon gehört«, antworte ich grinsend.

»Rocky, Rocky II, Rocky III, Rocky IV, Rocky V und Rocky Balboa«, sagt Ruth und zählt dabei die Rockys an den Fingern ab. »Das macht sechs Kurze, Ben.«

»Ruth, du schummelst«, sagt Rosie verärgert.

»Es kann mich wohl keiner davon abhalten, ›Rocky‹, ›Sidney‹, oder ›trinken‹ zu sagen, oder?«, gibt Ruth zurück. »Ben, das macht übrigens noch mal drei. Insgesamt also neun. Gib mir doch einfach die Flasche, okay?«

Ben umklammert den Sambuca, und Oscar blickt auf seine Schuhe.

»Hey, keine Sorge«, sage ich schnell. »Es ist genug zu trinken für alle da.«

Rosie und die Jungs brüllen plötzlich los. Reingefallen, verdammt.

Ich lasse den Kopf in die Hände sinken. Ruth und Rosie kichern. Mir wird später wahrscheinlich hundeelend sein, aber wenigstens habe ich damit die Anspannung gelöst. Widerwillig nehme ich das Glas Sambuca von Ben entgegen und verziehe das Gesicht, als die warme Flüssigkeit meinen Hals runterläuft. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Doch wenn ich mir schon die Kante geben muss, dann will ich es wenigstens nach meinen Regeln tun. »Okay«, sage ich beim Aufstehen. »Spielen wir Wein-karussell.«

»Weinkarussell?«, fragt Oscar. »Was ist das?«

»Du hast noch nie Weinkarussell gespielt?«, frage ich und muss grinsen. »Verrückt. Oh, warte, vielleicht kennst du es als Schicksalskarussell?«

Er lacht. »Nee. Keine Ahnung, was das sein soll.«

Rosie beugt sich über die Kühlbox und reißt den Tütenwein aus dem Coolabah-Karton.

»Wenn ihr mir bitte folgen würdet«, sage ich und gehe zur Wäschespinne, wo Ruth sich bereits unter einem der Arme positioniert hat. Die Jungs stehen ebenfalls auf, und wir verteilen uns unter der Wäschespinne. Rosie hängt die silberne Weinblase feierlich an die Leine, dann stellt sie sich direkt darunter, öffnet den Mund und dreht den Hahn auf. Nachdem eine erschreckend große Menge goldener Flüssigkeit in ihren Mund gelaufen ist, dreht sie den Hahn wieder zu und sagt mit andächtiger Stimme: »Willkommen zum Weinkarussell.«

Dann schubst sie die Wäschespinne mit einem kräftigen Stoß an, und wir sehen zu, wie die silberne Weinblase herumwirbelt, bis Rosie auf einmal die Hand in die Luft streckt und die Wäschespinne wieder anhält. »O nein, nicht schon wieder ich!«, ruft sie gespielt ungläubig und öffnet den Hahn. Sie schluckt mehrmals, bevor sie sagt: »Okay, das nächste Mal sollte besser jemand anders drankommen.« Sie stößt die Wäschespinne schwach an, und die Weinblase bleibt über Ben hängen. Als er jedoch den Hahn öffnet und der Wein in seinen Mund läuft, jault er vor Schmerzen auf. »Scheiße, ist das Zeug süß!«, ruft er und hält sich die Wange. »Ich glaub, ich hab ein Loch.«

»Lass mal gucken«, sagt Rosie und geht zu ihm rüber. »Ich bin Zahnärztin.«

»Genau, und ich bin Richter am Obersten Gerichtshof«, sagt Ben.

»Sie ist wirklich Zahnärztin!«, sage ich. »Und zwar die beste, die es je in Rocky gab.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, spottet Ruth. »Ich gehe zu Justin Adams im Norden, und der ist sehr gut.«

»Wenn du das sagst, Ruth. Mach den Mund auf, Ben«, befiehlt Rosie.

Ich blicke zu Oscar, und wir lachen, als Rosie Ben tatsächlich in den Mund schaut.

»Du musst dich hinlegen«, sagt sie. »Von hier aus kann ich nichts sehen.«

Ben gehorcht, und Rosie beugt sich über ihn, bis ihre Gesichter so nah beieinander sind, dass sie genauso gut Mund-zu-Mund-Beatmung machen könnte. Ich falle vor Lachen fast um.

Dann setzt Rosie sich auf und sagt: »Du hast zurückgehendes Zahnfleisch. Besorg dir Sensodyne und eine Zahnbürste mit weichen Borsten. Das sollte helfen.« Sie nimmt die geschrumpfte Weinblase von der Wäscheleine, trinkt den Rest aus und bläst die leere Blase auf wie einen Luftballon. »Hier«, sagt sie und reicht sie Ben. »Ein Kissen für dich. Nach einem Nickerchen darauf fühlst du dich wie neugeboren.«

Wir setzen uns wieder auf die Stühle, und Oscar fragt mich nach meinem Roman und wie lange es dauert, ein Buch zu schreiben. Ich erzähle ihm, dass ich seit sechs Monaten daran schreibe und mir selbst das Ziel von siebzigtausend Wörtern bis Ende des Jahres gesetzt habe. Als ich ihm erkläre, wie viel DIN-A4-Seiten das sind, schüttelt er erstaunt den Kopf und sagt: »Wow, das könnte ich nicht.« Dabei lächelt er hinreißend.

Als er nach der Handlung des Romans fragt, habe ich ein bisschen Angst, ihn zu langweilen, doch er hört meiner Erzählung von der Welt der Fosters und den Edelsteinfeldern um Rubyvale aufmerksam zu.