Das Haus der roten Töchter - Kazuki Sakuraba - E-Book

Das Haus der roten Töchter E-Book

Kazuki Sakuraba

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Beschreibung

Eine japanische Familiensaga, die sich über drei Generationen erstreckt

Japan 1953: Manyo, das Mädchen aus den Bergen, hat eine besondere Gabe: Sie kann die Zukunft voraussehen. Doch sie verrät nicht, was ihre Visionen beinhalten. Als ihr eigener Stamm sie aus diesem Grund verstößt, muss sie unten im Tal leben. Mit ihrem langen schwarzen Haar und ihren großen Augen fällt sie in der kleinen Dorfgemeinschaft auf. Jahre später nimmt der Sohn der angesehensten und reichsten Familie sie zur Frau. Doch warum erwählt er ausgerechnet die arme Manyo? Dieses Geheimnis wird Manyos Enkelin Toko erst Jahrzehnte später lüften. Und auch, warum ihre Großmutter auf dem Sterbebett sagte: „Ich bin eine Mörderin.“

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Seitenzahl: 566

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Das Buch

Japan 1953: Manyo, das Mädchen aus den Bergen, hat eine besondere Gabe: Sie kann die Zukunft voraussehen. Als ihr eigener Stamm sie aus diesem Grund verstößt, muss sie unten im Tal leben. Mit ihrem langen schwarzen Haar und ihren großen Augen fällt sie in der kleinen Dorfgemeinschaft auf. Jahre später nimmt der Sohn der angesehensten und reichsten Familie sie zur Frau. Doch warum erwählt er ausgerechnet die arme Manyo? Dieses Geheimnis wird Manyos Enkelin Toko erst Jahrzehnte später lüften …

Die Autorin

Kazuki Sakuraba ist eine erfolgreiche Autorin in Japan. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht und erhielt unter anderem 2008 den renommierten Naoki-Preis. Das Haus der roten Töchter ist ihr erster Roman bei Heyne.

Kazuki Sakuraba

Das Haus der rotenTöchter

Roman

Aus der englischen Übersetzung von Jocelyne Allenübertragen von Marie Rahn

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Akakuchibake no Densetsu.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 02/2019

Copyright © 2006 by Kazuki Sakuraba

German translation rights arranged with TOKYO SOGENSHA CO., LTD. through The Grayhawk Agency Ltd in association with Liepman AG, Literary Agency.

English translation © 2015 VIZ Media

Translated from the English language: RED GIRLS: THE LEGEND OF THE AKAKUCHIBAS

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Birgit Bramlage

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

Umschlagabbildung: © Alamy Stock Foto (Ben McRae, Sean Pavone), Getty Images (xia yuan/Moment), Bigstock (Crooked Eye)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-23586-4V001

www.heyne.de

TEIL EINS Die letzte Ära der Legenden

1953 –1975 Manyo Akakuchiba

EINS Der Sommer der Visionen

Im Sommer, als Manyo Akakuchiba zehn Jahre alt war, sah sie einen Mann hoch am Himmel fliegen. Manyo war meine Großmutter, und da sie damals, bevor sie in die alte Familie Akakuchiba, den Geldadel der Region San’in einheiratete, noch ein einfaches Mädchen vom Lande war, hatte sie keinen Nachnamen. Im Ort rief man sie nur »Manyo«.

Meine Großmutter hatte seltsame Dinge gesehen, seit sie denken konnte. Sie war eine große, kräftig gebaute Frau mit Haaren so schwarz wie nasse Krähenflügel, die ihr bis zur Taille reichten – obwohl ihr Haar später, wie zu erwarten war, schneeweiß wurde. Hin und wieder machte sie ihre großen Augen ganz schmal und starrte hinauf zu den fernen Berggipfeln. Sie hatte sehr gute Augen; und sie sah Dinge, die für das Auge unsichtbar sind. Die Geschichte, wie es dazu kam, dass sie die hellsichtige Herrin des Hauses Akakuchiba genannt wurde, liegt noch vor uns – ich will hier zunächst von der Kindheit meiner Großmutter erzählen. Doch schon als sie noch ganz klein war, wurde deutlich, dass sie manchmal in die Zukunft blicken konnte.

Ab und zu zeigte sich das als Voraussage, die sich durch eine spontane Neuordnung der kunstvoll gemalten, tintenschwarzen Buchstaben auf einer Schriftrolle in einem traditionellen Wohnzimmer ergab; dann wieder erschien ein Toter in einem Zimmer und wies ihr die Zukunft; und ein anderes Mal sah sie sie als ein Bild, dessen Bedeutung sie nicht verstand. Aber eigentlich erwähnte Manyo dies nicht gegenüber den Leuten im Ort. Für sie war sie nur das fremde »Ausländerkind«, was in meiner Großmutter gleichzeitig Stolz und Sorge weckte, weil sie anders war als andere. In diesem 28. Sommer der Showazeit – 1953 nach dem westlichen Kalender – war Manyo wohl etwa zehn Jahre alt. Das ist nur geschätzt, denn niemand im Ort wusste ihr genaues Alter, nicht mal Manyo selbst. Eines Tages war sie einfach in einer abgeschiedenen Region Japans erschienen, die man San’in nennt und die aus einem schmalen Streifen Land zwischen der schwarzen Gebirgskette der Chugoku-Berge und der grauen Fläche des Japanischen Meers besteht, wo immer schlechtes Wetter herrscht. Es war, als wäre sie irgendwo aus den Tiefen der Berge aufgetaucht. Manyo erinnerte sich nicht mehr daran, aber die Ausländer hatten sie einfach im Ort gelassen, als sie ungefähr drei Jahre alt war.

Beim Schreiben dieser Geschichte habe ich mich für den Namen »Ausländer« entschieden. Die Menschen der Region San’in hatten sehr lange Zeit versteckt in den Bergen gelebt, und im Gegensatz zu uns Ortsansässigen bekamen diese Nomaden keinen festen Namen, sondern wurden nur »sie«, »die da« oder auch »die Bergmenschen« genannt. In neuerer Zeit haben Völkerkundler ihnen offenbar Bezeichnungen wie »Sanka«, »Nobuse« und »Sangai« gegeben, aber im Ort Benimidori im Westen der Präfektur Tottori wurden sie nie benutzt.

Wahrscheinlich Hunderte von Jahren oder noch viel, viel länger haben Menschen tief verborgen in den Bergen gelebt: Der Wind ließ ihre langen, pechschwarzen Haare wie eine Fahne hinter ihnen wehen, ihre Haut war so dunkel wie Leder, sie waren kräftig gebaut und blieben niemals lange an einem Ort, sondern streiften frei durch die Berge, so wie die Jahreszeit es erlaubte. Es gab keine jährlichen Tribute, keine Versammlungen und keine der neumodischen Steuern, aber da sie auch keinen Staat hatten, mussten sie auf sich selbst aufpassen.

Allerdings hat niemand in Benimidori, Tottori oder dem entfernteren Izumo in den letzten fünfzig Jahren auch nur eine Spur von ihnen gesehen, daher weiß ich nicht, ob sie immer noch in den Chugoku-Bergen leben. Die kleine Manyo jedenfalls kam vor etwa fünfundsechzig Jahren mit Erwachsenen des Stammes hinunter nach Benimidori, mit der letzten Generation, die noch den Ort besuchte, und wurde aus unerfindlichen Gründen allein zwischen den Häusern zurückgelassen, als die Erwachsenen wieder in die Berge aufbrachen.

Da die meisten, die sich noch an diese Zeit erinnern, bereits unter den Toten weilen, kenne ich keine Einzelheiten, aber während der letzten hundert Jahre dieser Zeit kamen die Ausländer, wann immer sie gebraucht wurden, schnell wie ein schwarzer Wind aus den Bergen und halfen. Bei den wichtigen zeremoniellen Anlässen – Hochzeiten und Totenwachen, Festen und Übergangsriten – wurden sie speziell für die Beerdigungen gebraucht.

Wenn ein junger Mensch durch einen Unfall starb, verbrannten die Dorfbewohner ein Büschel ganz bestimmter Gräser und ließen dadurch purpurfarbenen Rauch aufsteigen. In der nächsten Nacht erschienen dann die Ausländer und bereiteten alles für die Bestattung vor. Sie schlugen Holz, um eine Kiste zu bauen, und bei Morgengrauen brachen sie der steifen Leiche die Oberschenkel- und Schienbeinknochen und zwängten sie in die würfelförmige Kiste. Danach nahmen sie die Kiste immer mit und warfen sie in eine tiefe Bergschlucht, während sie eine Beschwörungsformel sangen. Wenn die Ausländer kamen, warteten die Dorfbewohner einfach, bis sie mit dem jungen Toten wieder in den Bergen verschwanden. Nicht einmal der oberste Geistliche im Tempel konnte eingreifen.

Daher muss an diesem Morgen vor etwa fünfundsechzig Jahren, als Manyo zurückgelassen wurde, ein Mensch jung gestorben sein. Selbst heute weiß ich noch nicht genau, ob das Brechen der Beine und Verstauen in der Kiste verhindern sollte, dass die Leiche sich verwandelt und entflieht, oder ob die würfelförmige Kiste eine geheimnisvolle Bedeutung hatte. Aber diese Frage können wir den Volkskundlern überlassen. »Sie« jedenfalls verschwanden mit dem Toten in der Kiste und ließen ein kleines Mädchen zurück – Großmutter, dunkel, kräftig, lange schwarze Haare, typisch Ausländer –, pflanzten es einfach wie eine Puppe vor einem Haus auf den Boden und lehnten es an den Brunnen, dessen Eimer von den rosa Ranken einer Prachtwinde geschmückt war.

»Man hat mich wohl vergessen«, seufzte Großmutter etwa fünfundsechzig Jahre später, kurz vor ihrem Tod.

»Aber sie können dich doch nicht einfach vergessen und zurückgelassen haben.«

»Dann frage ich mich, wieso sie es trotzdem getan haben.«

Darauf weiß niemand die Antwort, bis heute nicht. Doch genau so geschah es, dass die kleine Manyo zwischen den Kindern des Ortes Benimidori aufwuchs.

Das junge Pärchen, das drei Häuser entfernt von dem blumengeschmückten Brunnen wohnte, nahm Manyo bei sich auf. Zwar war das Mädchen etwas seltsam und sah ein kleines bisschen anders aus als wir, aber das junge Pärchen achtete darauf, es genauso aufzuziehen wie alle anderen.

Wir Einwohner der Region San’in sahen von Benimidori bis nach Izumo alle gleich aus: hellhäutig, zartknochig, dünn. Unser ovales Gesicht mit den schmalen Augen wirkte, freundlich ausgedrückt, kaiserlich oder, unfreundlich ausgedrückt, wie ein verkümmerter, unreifer Flaschenkürbis. Es gibt eine Theorie, nach der die Einwohner dieser Gegend in der Yayoi-Zeit von der Koreanischen Halbinsel kamen und den Japanern die Kunst der Tatara-Eisengewinnung beibrachten, daher sehen wir so aus.

Im Gegensatz dazu waren die Ausländer, die Manyo zurückgelassen hatten und wieder in den Bergen verschwunden waren, dunkelhäutig und starkknochig. Manyo wirkte im Ort und in der nächsten Stadt fehl am Platz, doch das junge Pärchen kümmerte sich manchmal liebevoll, manchmal streng um das fremde Kind. Sie wurde auch zur Schule geschickt, kam aber aus irgendeinem Grund nicht mit Buchstaben und Zahlen zurecht. »Ich kann nicht lesen«, »Ich kann nicht schreiben«, sagte sie; all ihre Bemühungen waren vergeblich.

Stattdessen äußerte sie hin und wieder seltsame Voraussagen. Zu der Zeit war die Nationale Polizeireserve (die später als Nationale Sicherheitskräfte bekannt und nach dem Krieg von MacArthur ins Leben gerufen wurden) in Izumo stationiert, in der Präfektur Shimane, und jedes Mitglied trug dank des amerikanischen Militärs einen Karabiner bei sich. Die Streitkräfte bestanden im Wesentlichen aus den jungen Männern dieser Generation, die in der Gegend und auch weiter weg geboren und nicht in den Krieg eingezogen worden waren. Natürlich fanden die Dorfbewohner den Karabiner, eine merkwürdige Waffe, aus der Feuer schoss, furchterregend. Selbst heute noch hat die ländliche Kultur aus der Edo-Zeit im Ort Bestand. Wenn jemand eine Straftat begeht, versammeln sich alle am Haus des Dorfvorstehers, fangen den Straftäter mit Speeren und Netzen und übergeben ihn den Behörden.

Als damals die jungen Männer in ihren kakifarbenen Uniformen mit den Karabinern in der Hand ins Dorf stolziert kamen, zeigte die kleine, dunkelhäutige Analphabetin namens Manyo auf einen von ihnen und sagte: »Feuerblitz, Platzen.«

Das junge Pärchen dachte sich erst mal nichts dabei, doch als sie hörten, dass in derselben Nacht einem Soldaten der Nationalen Sicherheitskräfte das Gewehr explodiert war und ihn getötet hatte, wiegten sie nachdenklich den Kopf. Aber auf ihre Nachfrage antwortete Manyo nur: »Feuerblitz, Platzen. Ich hab’s gesehen.« Das war Kindergeplapper, daher taten die beiden es einfach ab, ohne zu merken, dass Manyo manchmal unerklärlicherweise die Zukunft vorhersehen konnte. Vielleicht war das der wahre Grund, warum die Ausländer sie an jenem Morgen am Brunnen zurückgelassen hatten.

Hin und wieder sah Manyo also die Zukunft. Offenbar geschah dies vor allem, wenn sie sich in einer gewissen Höhe befand. Sie hatte die Explosion des Gewehrs gesehen, als der Mann des jungen Pärchens sie auf seinen Schultern hatte reiten lassen. Und wann immer sie den Berg hinaufgingen oder auf die Anhöhe einer wohlhabenden Gegend namens Takami kamen, erschien die Zukunft wie aus dem Nichts vor ihren Augen. Menschen starben, wurden geboren und hatten schlimme Unfälle. Die kleine Manyo sah einfach zu, was geschah. Schließlich war sie noch ein Kind, und wegen der Reaktion des jungen Pärchens auf ihre besondere Gabe spürte sie, dass es besser war, nicht zu viele Worte über diese Visionen zu verlieren. Also hielt Manyo in den meisten Fällen den Mund. Auch weil ihr das, was sie sah, häufig nicht verständlich war; sie wusste oft nicht einmal genau, was da wirklich geschah.

In dem Sommer, als sie zehn Jahre alt war, sah sie zum ersten Mal den Mann hoch am Himmel fliegen.

Dieser Mann war nicht jung. Genauer gesagt wirkte er zwar jung, aber Manyo dachte später, dass er wahrscheinlich mittleren Alters war. Für ein zehnjähriges Mädchen allerdings ist es kein großer Unterschied, ob jemand zwanzig oder vierzig Jahre alt ist. Er war ein erwachsener Mann, der irgendwie traurig wirkte. Mehr dachte Manyo damals nicht. Er trug Kleider, die die Farbe von getrockneten Blättern hatten. Er war klein und hatte nur ein mandelförmiges Auge in dem flachen, blassen Gesicht, das für diese Region typisch war. Genauer gesagt war nur sein linkes Auge weit geöffnet; das rechte war geschlossen und sah aus, als wäre es mit der glatten Haut darum verschmolzen.

Der Mann schwebte mühelos in der pfirsichfarbenen Abenddämmerung.

Seine dünnen Lippen waren geöffnet, und er flüsterte etwas.

»Em.Punkt!«

Ein Geist, dachte Manyo. Obwohl sie zur Schule ging, konnte sie weder lesen noch schreiben. Sie fand auch keine Freunde, weil sie so seltsam aussah und in der Schule praktisch gar nichts zustande brachte. Der Wind ließ ihre taillenlangen schwarzen Haare wie eine Fahne hinter ihr herwehen, als sie eilig die Dorfstraße entlangging. Da sie eine Abkürzung nahm, war sie schon halb die Anhöhe nach Takami hinaufgestiegen, als plötzlich der Mann vor ihren Augen erschien.

Er schwebte mit dem Gesicht nach unten in der Luft, fast so, als wäre er vom Himmel gefallen, mit weit ausgebreiteten Armen, und starrte Manyo durchdringend an. Eine ganze Weile flog er direkt über ihr, deutlich sichtbar in der pfirsichfarbenen Dämmerung, doch irgendwann wich er zurück und verschwand, als würde er vom dunkler werdenden Himmel eingesogen. Manyo wollte schon rufen, dass er warten sollte, aber dann presste sie die Lippen fest zusammen. Sie wusste, dass dies die Zukunft war. Zwar wusste sie nicht, was es bedeutete, aber der einäugige Mann flog. Sie begriff, dass das eines Tages passieren würde. An dem Abend, als sie den einäugigen Mann fliegen sah, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie Manyo, die Hellseherin, war, die Wahrsagerin, die Verrückte. Und dass sie eines Tages diesem seltsamen Mann mit dem einen Auge wahrhaftig begegnen würde, der als Geist vor ihr erschienen war.

Dies war Manyos erste große, wenn auch bizarre Liebe. Der Herbst kam, danach der Winter und der Frühling, und dennoch dachte Manyo immer noch an diesen geisterhaften Mann. Sie nannte ihn »Einauge«. Wenn es Abend wurde, stieg sie den Hügel nach Takami hinauf, um zu schauen, ob sie nicht wieder in die Zukunft blicken würde, und dann richtete sie ihren Blick in die Ferne. Aber dieser Geist zeigte sich Manyo nie wieder. Erst zehn Jahre später tauchte Einauge, der friedlich in Manyos Herzen lebte, in der Wirklichkeit, als Mann mit einem echten Körper vor ihr auf.

Und dann sollte noch eine lange Zeit vergehen, bis der Mann tatsächlich so »flog«, wie Manyo ihn hatte fliegen sehen.

Damals gab es zwei große Häuser in Benimidori in der Präfektur Tottori. Die Menschen in der Gegend nannten sie »das Rote oben« und »das Schwarze unten«. Und das »Rote oben« – in dem die altehrwürdige Familie Akakuchiba wohnte – ist der Schauplatz dieser Geschichte, wo meine Mutter einheiratete und ich geboren und aufgezogen wurde.

Seit ewigen Zeiten hatte die Familie Akakuchiba hier am Fuß der Chugoku-Berge gelebt. Das Dorf Benimidori entstand nur, weil ein Vorfahre der Familie eine Schneise in den Berg geschlagen hatte, um eine Tatara-Eisenhütte zu errichten. Die Siedlung hatte sich um diese Eisenhütte herum ausgebreitet. Zumindest wurde es so erzählt. Die Urahnen der Akakuchibas waren von der Koreanischen Halbinsel übers Meer auf diesen kleinen Inselstaat gekommen. Sie entdeckten am Oberlauf des Flusses Hino einen Landstrich, wo es Sand mit hohem Eisengehalt gab, ließen sich dort nieder und hatten Erfolg mit ihrer Methode der Eisengewinnung.

Tatara heißt in der alten koreanischen Sprache »weiter erhitzen«, aber offenbar bedeutet es auf Sanskrit ebenfalls »Hitze«. In einer Zeit, die unvorstellbar lange zurückliegt, wurde diese Methode der Eisengewinnung nach und nach erst von Indien über Jiangnan in China bis zum Süden der Koreanischen Halbinsel und dann auf das japanische Archipel gebracht. Noch bis vor Kurzem nutzte die Familie Akakuchiba diese alte Technik mit primitiven Lehmöfen und Blasebalgen, doch dann kamen die westlichen Herstellungstechniken zusammen mit den schwarzen Schiffen ins Land. Die Produktion von Eisen und Stahl war untrennbar mit Krieg verbunden. Als Japan ein Militärregime wurde, verbesserten sich die Techniken, und man sah überall im Land mehr und mehr große Hüttenwerke mit ihren pechschwarzen deutschen Hochöfen entstehen, aus denen graue Rauchsäulen in die Luft drangen. Ähnlich wie das Stahlwerk in Yawata auf der Insel Kyushu, das eine große, modernisierte Eisenhütte aus der Meiji-Zeit war, oder das neuere, halb private, halb staatliche Kawasaki-Unternehmen in Kobe. Die Eisenhütte der Akakuchibas war ein groß angelegtes Werk, von dem der gesamte Ort profitierte.

Laut einiger, die sich noch an diese Zeit erinnern, hatte das Stahlwerk der Akakuchibas nach dem Krieg seine Blütezeit. Der Hochofen, ein schwarzer Wolkenkratzer, symbolisierte das moderne Zeitalter; der Fluss des geschmolzenen Eisens wirkte wie die Flammen, die ein Drache ausstößt; die schwarzen Rauchsäulen stiegen aus zahllosen, wie verfärbte Eisenzähne aussehenden Schornsteinen empor, um den hellgrauen Himmel mit den dicken, trägen Wolken zu überziehen, der für die Region San’in so typisch ist. Die grellroten Flammen, die aus dem Hochofen schossen; das laute Dröhnen der Maschinen, das wie das Gebrüll eines Untiers klang; das scharlachrote Feuer, das sich auf den öl- und schweißbedeckten Gesichtern der Arbeiter widerspiegelte. All dies ist heute lediglich ein Schatten dessen, was es einst war. Ich, die ich in der Gegenwart lebe, kenne nur noch das dürre, schwarze Gerippe einer Werksanlage, in der die Feuer durch den Wandel der Zeit verloschen sind; eine mit rotem Rost überzogene Geisterstadt, die zu einer riesigen Ruine zerfällt.

Aber für die jungen Männer der Region San’in war nach dem Krieg die Eisenhütte der Akakuchibas mit ihrem himmelhohen Hochofen, der auf den Ruinen der alten Tatara-Öfen errichtet wurde, einer der begehrtesten Arbeitsplätze.

Damals bekamen die Arbeiter im Stahlwerk einen anständigen Lohn gezahlt, arbeiteten hart und genossen in ihrer Freizeit ihre Jugend. Viele junge Menschen kamen jedes Frühjahr, wenn es Zeit war, neue Arbeiter einzustellen, und kauten unablässig klebrige Mochi-Reiskuchen. Der Grund hierfür war, dass es eine Gewichtsobergrenze gab. »Frühling ist Mochi-Zeit«, hieß es immer. Die Arbeiter, die Uniformen in der Farbe frischer Blätter trugen, bekamen Zweizimmerwohnungen in Wohnhäusern mit Gärten zugewiesen. Der Mann eines jeden jungen Pärchens arbeitete im Werk, während die Frau sich um die Wohnung kümmerte, und an freien Tagen gingen sie zum Essen aus oder ins Kino. Das war für einen Durchschnittsmenschen im Nachkriegsjapan offenbar ein ziemlich befriedigendes Leben.

Genau ein solches junges Pärchen nahm die kleine Manyo auf und zog sie groß.

Das Haus, in dem sie wohnten, stand in einer ordentlichen Reihe identischer Wohnhäuser auf der festgetrampelten Erde einer Terrasse mit unzähligen Stufen, die in den Sockel des Berges getrieben worden war. In der Mitte dieser Terrasse befand sich die steil ansteigende Hauptstraße, die die Spitze mit dem Fuß des Berges verband und die rechts von fünfzehn und links von fünfundzwanzig Wohnblöcken gesäumt wurde. Diese Häuser waren nach Rangordnung gebaut: Die Bewohner der unteren Wohnblöcke befanden sich auf einer niedrigeren gesellschaftlichen Stufe. Obwohl alle in derselben Fabrik arbeiteten, bekamen die Arbeiter aus der Region Wohnungen weiter oben und die aus anderen Regionen Wohnungen weiter unten zugewiesen. Noch weiter oben befanden sich mehrere große Einzelhäuser für die höheren Angestellten, die das Stahlwerk leiteten. Und an der Spitze der Hauptstraße stand das große, leuchtend rote Anwesen der Familie Akakuchiba, wie schon seit Urzeiten.

Dieses Anwesen war gigantisch und hatte eine leichte Rückwärtsneigung, so als wollte es sich zwischen den Wäldern und Vorsprüngen des Berges verstecken. Fast wirkte es so, als schöbe ein Riese das Anwesen mit seiner Hand nach hinten, um es in das weiche Gestein des Gebirges zu drücken. Hinter den rostfarbenen Toren leuchteten rote Ziegel auf dem Dach. Im Sommer konnte Manyo mit ihren scharfen Augen von der Spitze der Hauptstraße aus ziemlich deutlich das Gemälde mit dem Japanischen Meer und dem täuschend echt wirkenden Schwarm Nördlicher Schnapper sehen, das die Schiebetüren der großen Empfangshalle zierte. Genau wie der erste Buchstabe der Akakuchibas war auch ihr Haus vollkommen rot. Dunkelrot, fast in der Farbe von Ahornblättern kurz vor dem Verrotten, stand es mit natürlicher Anmut, stolz, majestätisch und imposant auf der Spitze des Berges und lehnte sich leicht zurück.

Der Sockel der Terrasse war die irdische Welt; je höher man Richtung Takami auf dem Gipfel stieg, desto näher kam man dem Himmel. Schwarzer Rauch und Öl bedeckte die Welt da unten, und die Luft war so schlecht, dass die Menschen dort ihre Wäsche nicht draußen trocknen konnten, doch der Himmel in Takami war immer klar. Die himmlische Welt, die roten Pforten des Himmels. So wirkten die großen Tore des Akakuchiba-Hauses in den Augen der Dorfbewohner unten.

Die Angehörigen mehrerer Familienzweige der Akakuchibas hatten sich auf halber Strecke nach Takami kleinere, aber natürlich rote Häuser gebaut, in denen sie wohnten. Sie waren mit der Leitung des Werks betraut, bekamen aber nicht oft die Möglichkeit, die Angehörigen der Hauptfamilie zu sehen. Hin und wieder raste jemand vom großen Haus unglaublich schnell mit einem großen, schwarzen, ausländischen Wagen die Hauptstraße hinunter. Das Innere des Wagens war dunkel, sodass man kaum jemanden erkennen konnte. Selbst Manyo mit ihren scharfen Augen konnte die im Wagen sitzenden Mitglieder der Hauptfamilie nicht sehen, sodass sie umso geheimnisvoller wirkten.

Dies war alles, was Manyo damals über »das Rote oben« wusste. Wenn sie die Stufen zwischen den Wohnhäusern bis nach Takami hinaufblickte, dachte sie, die Welt wäre wie eine Terrasse geformt.

Und da sie in dieser Zeit in einem rauchgeschwärzten Wohnhaus ganz am unteren Ende dieser Terrasse lebte, war ihr »das Schwarze unten«, das für die Familie Kurobishi stand, viel vertrauter als die Familie Akakuchiba oben.

Die Familie Kurobishi war weder alt noch sonst irgendwas. Eigentlich waren sie nur arme Schiffsbauer, die im Nishiki- Hafenviertel der Region San’in, diesem schmalen Streifen zwischen den Chugoku-Bergen und dem Japanischen Meer, hoch geschätzt waren. Offenbar hatten sich die Kinder der Kurobishis vor dem Krieg noch in demselben erbarmungswürdigen Zustand befunden wie die anderen Dorfbewohner und waren Tag für Tag in denselben Kleidern und barfuß herumgelaufen. Aber durch Japans Umwandlung in einen Militärstaat wurden Schiffsbauer immer gefragter, und irgendwann gehörten die Kurobishis nach dem Krieg zu den Neureichen. Sie errichteten auf einer Landzunge am Meer ein Herrenhaus, das wie ein riesiger buddhistischer Altar wirkte und passend zum ersten Buchstaben ihres Namens in Gold und Schwarz gehalten war. Ihr Kind kleideten sie in prächtige Kimonos. Dieses Kind war ein Mädchen etwa im Alter von Manyo und hieß Midori.

Midori war kein besonders ansehnliches Mädchen, sie hatte ein Mondgesicht, aus dem große, runde Augen hervorquollen. Außerdem war sie ziemlich missgünstig. Wenn sie in ihrem neuen Sonntagskimono in Schwarz und Gold durch das rauchgeschwängerte Benimidori stolzierte, flatterten ihre langen Ärmel im Wind.

Die Familien der Männer, die für die Familie vom »Schwarzen unten« arbeiteten, vertrugen sich nicht mit den Familien der Arbeiter vom »Roten oben«. Die Roten betrachteten die Schwarzen als ungebildete Neureiche, und die Schwarzen beklagten sich, dass der dunkle Rauch der Eisenhütte nur Schmutz und Gestank brachte. Da diese Familien trotz ihres ähnlichen Lebensstils sich gegenseitig verachteten und bei jeder Gelegenheit in Streit gerieten, war es, als würden sie in vollkommen verschiedenen Welten leben, nachdem es mehr als einmal fast zu Blutvergießen gekommen war, als sie in einer Bar etwas trinken oder mit ihren Kindern in den Park gingen. In der Nachkriegszeit gab es in der Region San’in eine unsichtbare Grenze zwischen Rot und Schwarz, zwischen Berg und Hafen.

Natürlich erbten die Kinder die Streitsucht von den Erwachsenen. Die roten Kinder ärgerten die schwarzen Kinder. Die schwarzen Kinder stellten die glupschäugige Midori Kurobishi mit ihrem schwarz-goldenen Kimono und den golden glitzernden, kugelrunden Haarnadeln wie eine Prinzessin auf ein Podest und versuchten, sie vor den roten Kindern zu schützen. Die roten Kinder nannten Midori »den Goldfisch«. Das war verständlich, denn durch grausame Kinderaugen gesehen, wirkte sie mit ihrem Gesicht, den wehenden langen Ärmeln und den luftblasenähnlichen Schmucknadeln auf dem Kopf wie ein Goldfisch.

Da Manyo trotz ihres Schulbesuchs nicht lesen konnte, verstand sie kaum etwas von dem, was im Unterricht vorkam. Was nicht heißen soll, dass meine Großmutter dumm war: Im Gegenteil, sie war ziemlich schlau, hatte aber vor allem Probleme mit Mathematik. Ihr Gehirn war wahrscheinlich ganz anders geformt als das aller anderen – in der Hinsicht unterschied sie sich von beiden Kindergruppen. Und wie es bei Kindern häufiger vorkommt, hielt der Goldfisch diese Manyo für minderwertig und lauerte ihr nach der Schule mit ihrer Gefolgschaft auf, um sie mit Steinen zu bewerfen oder ihr an den Haaren zu ziehen.

»Du bist eine Streunerin!«, rief der Goldfisch immer wieder, während sie Manyo von der Schule bis nach Hause verfolgte. Sie war überraschend hartnäckig. »Streunerin! Streunerin! Deine Haut ist ja viel zu dunkel! Ekelhaft! Und deine Haare sind viel zu schwarz! Oder?« Wenn der Goldfisch fragend den Kopf zur Seite neigte, nickte ihr Gefolge einstimmig und echote ihre Beschimpfungen.

Der Goldfisch triumphierte: »Du bist arm!«

Wenn Manyo darauf nicht reagierte, stampfte sie sichtlich verärgert mit dem Fuß auf und beschimpfte sie weiter.

Schon bald erreichten sie die unsichtbare Grenze zwischen Rot und Schwarz. Manyo wusste, dass sie ihr über diese Grenze hinaus nicht folgen konnten, daher redete sie sich täglich gut zu, bis dorthin einfach durchzuhalten und ohne jede Reaktion nach Hause zu gehen.

Aber jetzt begann Manyos zehntes Lebensjahr. Der Beginn der letzten Ära der Legenden in Benimidori. Drei Vorfälle müssen erwähnt werden.

Der erste war der, als Manyo Einauge sah, den fliegenden Mann.

Der zweite betrifft den Goldfisch Midori Kurobishi.

Der Heimweg von der Grundschule war weiterhin eine Qual, und mittlerweile hasste Manyo den Goldfisch so gründlich, dass sie die große Straße zum Nishiki-Hafen mied, wenn sie irgendwas im Ort besorgen musste, um nicht der herumstolzierenden Midori mit ihrem Gefolge zu begegnen. Sie schlüpfte lieber durch die schmalen, nach Seeluft riechenden Gassen und schlängelte sich zwischen den Vorhängen aus Kombualgen hindurch.

In jenem Winter, als der feuchte Wind vom Japanischen Meer in den Ort drang, begegnete Manyo, die drei Sardinen und ein paar Wakamealgen für die morgige Misosuppe besorgen sollte, Goldfisch, die in einem kleinen Park am Anleger stand und hinaus auf das graue Meer blickte. Der Goldfisch trug eine wattierte Chankankojacke über dem schwarzen Kimono, starrte stumpf aufs Meer und war ausnahmsweise mal nicht von ihren schmutzigen Straßenjungen umgeben. Manyo versuchte zwar, ungesehen vorbeizukommen, stolperte aber und fiel mit dem Gesicht voran in den Sandkasten des Parks, sodass sie über und über mit Sand bedeckt war. Als der Goldfisch das hörte, war sie zuerst verblüfft über Manyos Anblick, öffnete aber reflexartig den Mund, um sie zu verhöhnen. Doch dann klappte sie den Mund wieder zu und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Denn der Goldfisch weinte. Ihre Miene, die so untypisch war für das böse Mädchen in dem schönen Kimono, erschreckte Manyo derart, dass sie, noch auf dem Bauch liegend, mit offenem Mund zu ihr hochstarrte. Aus den Glupschaugen des Goldfischs quollen dicke Tränen. Manyo fand, dass sie salzig aussahen. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, die Tränen und der Schweiß eines Mädchens vom Meer wären besonders salzig.

»Was hast du denn?«

»Ich warte auf meinen Bruder«, erwiderte der Goldfisch leise. Immer wieder wischte sie sich die Tränen weg, aber es kamen unaufhörlich neue. Schluchzend fügte sie hinzu: »Er ist immer noch nicht aus Sibirien zurück.«

»Sibirien?«

»Er ist dort in einem Gefangenenlager. Und weil er so hübsch ist wie ein Mädchen, habe ich Angst. Jungen, die so hübsch sind wie Mädchen sind auch so schwach wie Mädchen, das weiß man. Aber sie dürfen keine Kimonos tragen, also sind sie zu nichts nutze. Mein Bruder ist schwach, der konnte nicht mal aufs Meer rausfahren, um Thunfisch zu fangen. Ihm wurde übel, und er hat alles vollgekotzt. Nur auf kleineren Booten hat er es ausgehalten, aber dann hat er ständig so komische Sachen gesagt wie ›armer Tintenfisch‹, obwohl er selbst so gut wie nie was gefangen hat. Ein mädchenhafter Junge wie er wird es nicht in Sibirien schaffen, oder?«, fragte der Goldfisch unvermittelt und wischte sich erneut die Tränen weg.

1953 waren schon acht Jahre seit dem Krieg vergangen, und diejenigen, die es nach Hause schafften, hatten Glück und die anderen eben nicht. Und die, die überlebt hatten, fingen ein neues Leben an. Sowohl Soldaten als auch Zivilisten, über sechs Millionen Menschen, waren in den letzten Jahren zurückgekehrt: aus China, von den südlichen Inseln und aus Sibirien. Die schwarzen Schiffsbauer und die roten Stahlwerker hatten ebenfalls etliche Heimkehrer und entlassene Soldaten unter sich.

Manyo näherte sich vorsichtig dem schluchzenden Goldfisch. »Erinnerst du dich denn an deinen Bruder? Ich meine, du warst doch noch klein, als er in den Krieg ging, oder nicht?«

»Ich habe ihn auf einem Foto gesehen. Und meine Mutter und mein Vater reden von ihm. Und wenn mein Bruder nicht zurückkommt, bin ich die Erbin.«

»Das ist doch gut, oder nicht?«

»Nein.« Der Goldfisch wischte sich die Tränen weg. »Ich hab meinen Bruder auf einem Foto gesehen. Ich will, dass der hübsche Bruder zurückkommt. Mehr nicht.«

Erneut wehte ein feuchter Windstoß vom Japanischen Meer. Der unaufhörlich fallende Schnee wurde in die graue Wasserfläche eingesogen und verschwand. Die Wellen wogten und tosten auf und ab.

Moment Mal, dachte Manyo. Kommen entlassene Soldaten denn übers Meer zurück? Doch eher über Land, oder? Von weit, weit hinter den Chugoku-Bergen kommen sie in Zügen über all die Stahlbrücken durch die Täler täglich am Bahnhof von Daibenimidori an. Manchmal tauchte ein entlassener Soldat plötzlich am Bahnhof auf, wenn alle ihn fast schon vergessen hatten.

Aber da der Goldfisch weiterhin aufs Meer starrte, stellte Manyo sich schweigend neben sie und blickte hinaus auf die wogenden Wellen. Sie hatte solche Angst vor dem Goldfisch, dass sie darauf achtete, dem Wassersaum nicht zu nahe zu kommen, aber den Ausblick fand sie gar nicht so schlecht. Und was noch wichtiger war, hier unten am Kai hatte Manyo niemals Visionen. Hier konnte sie sich entspannen. Sie vergaß den Goldfisch vollkommen, als sie hinaus aufs Meer blickte, aber dann starrte der Goldfisch sie finster an. Ihre Tränen waren jetzt getrocknet.

»Hast du keine Angst?« Sie riss Manyo an den welligen, taillenlangen Haaren.

»Au! Nein, ich habe keine Angst. Du bist fies!«

»Streunerin!«

»Ich sagte ›Au‹!«

»Du hast ja nicht mal einen Bruder. Wahrscheinlich bist du bloß neidisch!«

»Ich bin gar nicht neidisch. Ich habe alles, was ich brauche.«

Zu dem Zeitpunkt hatte Manyo selbst keine Ahnung, wovon sie genug hatte, aber so etwas wie Wünsche hatte sie nur selten. Das junge Pärchen achtete darauf, dass sie alles bekam, was sie brauchte, und sie hatte viel zu viele Visionen gesehen, um sich Luxus oder irgendwelche weltlichen Dinge zu wünschen. Sie war von ihrer echten Familie, den Ausländern, im Stich gelassen worden, und obwohl sie sich mit ihrer neuen Familie arm fühlen könnte, hatte sie genug.

»Du hast von gar nichts genug. Und deine Haare sind zu schwarz. Wieso steckst du sie nicht hoch und machst dich hübscher? Schließlich bist du keine natürliche Schönheit.«

»Ich will gar nicht hübsch sein und so.«

»Da lügst du doch. Mädchen wollen hübsch sein. Sie wollen Kimonos tragen.«

»Aber … ich bin lieber so, wie ich bin«, antwortete Manyo leise, worauf der Goldfisch vor Verblüffung den Mund aufriss. Sie warf so heftig den Kopf zurück, dass die zahlreichen golden glitzernden Schmucknadeln in ihren Haaren hin und her schaukelten. Sie biss sich auf die Lippen. Und dann streckte der Goldfisch die Hand aus und riss Manyo wieder kräftig an den schwarzen, glänzenden Haaren.

Mit einem lauten Ratsch riss der Goldfisch Manyo fünfzig oder mehr Haare vom Kopf. Als sie sich entsetzt zum Goldfisch umdrehte, sah sie, dass sie grinste. Da einer ihrer Schneidezähne fehlte, konnte Manyo in die pechschwarze Mundhöhle dahinter blicken. Sie drückte beide Hände auf ihre schmerzende Kopfhaut, rannte davon und stolperte fast über ihre eigenen Füße.

»Du bist arm!«, kreischte der Goldfisch und wedelte heftig mit ihren schwarzen Kimonoärmeln. »Streunerin! Wilde! Du sollst tot umfallen!«

Dieser schreckliche Fluch jagte endlos hinter Manyo her und wickelte sich wie eine Schlange um sie.

Und dies war der zweite Vorfall, den Manyo vom Winter ihres zehnten Lebensjahres in Erinnerung behielt.

Der dritte war der Vorfall mit Ebisu. Es war immer noch Winter, aber der Schnee fing schon an zu schmelzen.

Wegen der Frühlingsferien fand keine Schule statt, und die Kinder waren damit beschäftigt, entweder zu Hause ihren Pflichten nachzukommen oder im Ort zusammen zu spielen. Das junge Pärchen, das Manyo aufzog, hatte wie immer viel zu tun. Der Mann kam abends vollkommen schwarz von der Eisenhütte nach Hause. Die Frau kümmerte sich um die Wäsche, holte Wasser aus dem Gemeinschaftsbrunnen und säte Gemüsesamen im Garten. Manyo liebte das Pärchen, daher setzte sie sich an freien Tagen auf die Veranda, schaukelte mit den Beinen und beobachtete ihre Mutter bei der Arbeit oder kümmerte sich um ihre kleinen Brüder und Schwestern, die eigenen Kinder des Pärchens.

Ihre Mutter hatte so viel zu tun, dass sie kaum auf die Kinder achtete, aber hin und wieder, wenn sie an Manyo vorbeikam, schob sie doch eine Hand in ihre Schürzentasche und holte eine geröstete Bohne hervor, die sie Manyo in den Mund steckte. »Lecker?«, fragte sie lächelnd, während das Mädchen knirschend darauf kaute und nickte. Und dann wurde ihre Mutter wieder geschäftig und verschwand irgendwohin.

Es war an einem solchen, ganz normalen Tag.

Als Manyo aus dem Haus trat, sah sie einen schwarzen Wagen die Hauptstraße hinunterfahren. Sie wusste, dass in diesem Wagen die wichtigen Leute aus Takami saßen. Gerade hatte sie sich auf den Weg zur Straße gemacht, als sie ein lautes Geräusch hörte, das fast wie ein Knall klang.

Als sie um die Ecke ihres Hauses spähte, sah sie, dass der Wagen angehalten hatte und aus der geöffneten Motorhaube Rauch quoll. Der uniformierte Fahrer sprang rasch aus dem Auto und fing an, nach der Ursache zu suchen.

Manyo legte den Kopf zur Seite und sah sich das Ganze an. Am frühen Nachmittag wimmelte es normalerweise auf der Straße von den Familien der Arbeiter, aber in diesem Augenblick befand sich niemand dort, so als hätte jemand einen Bann darüber verhängt. Während sie zum Wagen schaute, sprang plötzlich die hintere Tür auf. Und dann stieg ein Geist aus, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Eine kleine, sehr dicke Frau. Ihre Haut war schneeweiß, ihr Gesicht verblüffend rund, und Augen und Nase steckten tief in weichen Fettfalten. Die Augen, die ohnehin schon wie Striche aussahen, wurden vom Fleisch ihrer Wangen noch enger zusammengedrückt. Manyo fand, dass sie aussah wie der Gott Ebisu. Die Frau trug einen feinen, aber schlichten Kimono und an den Füßen winzige Zorisandalen mit rotschwarzem Karomuster. Ihre schwarzen Haare waren mit einem einzelnen Perlmuttkamm hochgesteckt. Sie war vielleicht vierzig Jahre alt.

Eine Vision vom Gott des Reichtums, dachte Manyo. Ein weiblicher Ebisu. Ihr kam nicht mal die Idee, eine so komisch aussehende Frau könnte ein echter Mensch sein. Die Ebisudame kletterte, nein, fiel fast aus dem ausländischen Wagen und wogte direkt und ohne zu zögern auf Manyo in ihrem Versteck zu.

Instinktiv ergriff Manyo die Flucht.

Keine Frau mittleren Alters, und schon gar nicht eine, die so rund war wie ein Ball, konnte ein flinkes, zehnjähriges Mädchen einholen. Bei jedem Schritt keuchend eilte die Ebisudame hinter der leichtfüßigen Manyo her, musste jedoch bald schon aufgeben. Dann rief sie mit einer Stimme, die so weich war wie Zuckerwatte:

»Huhu! Kleines Bergmädchen, das gerade noch hier war! Komm raus, komm her.«

Manyo hatte sich wie eine Wildkatze unter einem Busch fünf Häuser weiter versteckt. Die Ebisudame setzte sich wieder in Bewegung, und die Ärmel ihres Kimonos wehten, während sie immer weiter rief: »Kleines Mädchen! Kleines Mädchen!«

Manyo hielt den Atem an.

Schließlich rollte der weibliche Ebisu direkt an dem Busch vorbei, unter dem sie sich versteckte. Die wunderschönen rot-schwarz karierten Zorisandalen blitzten vor ihr auf.

»Kleines Mädchen! Kleines Mädchen!«

Die Stimme entfernte sich, kam kurz darauf aber wieder näher. Leise Schritte. Wie konnte jemand, der so fett war, leicht wie der Wind gehen? Die schönen Zorisandalen kamen erneut in Sicht, und dann schob sich ein fleischig rundes Gesicht vor das sonnenbestrahlte Fleckchen Erde, das Manyo von ihrem Versteck aus sehen konnte.

Erschrocken keuchte sie auf.

»Na so was!« Die Ebisudame lachte glücklich. »Also hier versteckst du dich.«

»Geh weg, Vision!«

»Vision? Ist das dein Name?« Die Ebisudame zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Kimonos und wischte sich die Schweißperlen, die aussahen wie weiße Sesamkörner, von der breiten Stirn mit dem spitzen Haaransatz.

»Ich bin Tatsu.«

»Tatsu?«

Das ist keine Vision, sondern vielleicht ein echter Mensch?, dachte Manyo plötzlich. Schwer zu glauben, dass jemand in diesen Zeiten, in denen alles knapp war, so fett sein konnte, aber von dieser runden Ebisudame ging nicht die Begleiterscheinung ihrer Visionen aus, der kühle Schauer wie von einem Toten, wie von einem eisigen Windhauch. Wieder wischte sich die bleiche, fette Frau, die sich Tatsu nannte, den Schweiß von der Stirn. Sie wischte und wischte, und doch kamen ständig weiße Sesamkörnchen nach. Schließlich kroch Manyo aus ihrem Versteck.

Als sie auftauchte, fegte ihr Tatsu den Staub und ein paar tote Insekten von den Kleidern. Dann beugte sie sich herunter, um Manyo direkt in die Augen blicken zu können. »Kleines Mädchen. Ich bin Tatsu Akakuchiba«, sagte sie leise.

»A-ka-ku-tschiba?«, wiederholte Manyo fragend. In diesem Augenblick hatte sie keine Ahnung, wovon sie eigentlich redeten. Und dann klappte ihr der Mund auf, und sie starrte nach oben.

Sie blickte auf die Reihe der Arbeiterhäuser, die sich die Terrasse hinaufzogen und dann darüber hinaus nach ganz oben. Jenseits der tiefschwarzen, öligen Rauchwolke, die sich an diesem Tag wieder auf alles gesetzt hatte, ragte das große Anwesen empor, in einem dunklen Rot wie Herbstblätter kurz vor dem Verrotten. Rote Tore, die Pforten des Himmels.

Wesen aus einer anderen Welt.

Das war einleuchtend. Wenn sie vom Himmel kam, war es überhaupt nicht komisch, dass es sogar in diesen Zeiten so viel zu essen gab, dass eine Frau rund werden konnte wie ein Ball.

»Rot oben.«

»Wie bitte?«

Bei dieser Frage wusste Manyo zuerst nicht, was sie sagen sollte. Aber dann erklärte sie die Situation so, wie sie sie als Kind wahrnahm: dass für die Dorfbewohner das Stahlwerk der Akakuchibas oben und die Schiffswerft der Kurobishis unten war und dass die Kinder, dessen Eltern für Rot arbeiteten, sich nicht mit den schwarzen Kindern vertrugen.

»Du meine Güte, dann schikaniert dich wohl das kleine Kurobishi-Mädchen, nicht wahr?«

»M-mhm. Sie ist ein Dämon.«

»Ach je. Ja, dieses Mädchen ist recht ungezogen.«

Selbst die Wörter, die dieses Wesen von oben, diese Tatsu Akakuchiba, verwandte, waren anders als die Wörter, die man hier unten benutzte. Sie wirkten geheimnisvoll und elegant. Manyo wurde nervös. Da der Wagen immer noch Rauch auf die Hauptstraße spuckte, fing Tatsu an, mit Manyo im Schlepptau die Anhöhe hinunterzuwanken, und im Café etwas weiter unten spendierte sie Manyo einen schaumigen Bukupuku-Tee und Maronenyokan.

»Schmeckt dir der Bukupuku-Tee?«

»M-mhm.«

Dieser Tee war etwas ganz Besonderes in der Region San’in. Man gab geröstete, mit Zucker überzogene Bohnen in fünf verschiedenen Farben in eine Teetasse, goss den Tee darüber und rührte das Ganze gut durch, um Schaum zu erzeugen. Dann trank man den Tee und pickte die Bohnen mit einem Zahnstocher heraus.

Manyo griff abwechselnd zu Tee und Yokan. Tatsu Akakuchiba sah ihr lächelnd zu.

»Eben, als Rauch aus der Motorhaube des Wagens drang, dachte ich, das wäre ein Zeichen. Schließlich ist der Wagen noch nie mitten auf der Anhöhe liegen geblieben.«

»Ein Zeichen?«

»Genau. Und dann standest du vor dem Wagen. Ich hatte schon davon gehört, dass die Bergmenschen ein Kind in Benimidori gelassen hatten, und nahm an, das seiest wohl du. Schließlich ist dein Gesicht so dunkel wie das der Bergmenschen. Eigentlich wusste ich es sofort.«

»…«

»Ich stamme aus einem Nebenzweig der Familie Akakuchiba und habe Yasuyuki, den ältesten Sohn der Hauptfamilie, geheiratet. Ich wohne in dem großen Haus, auf das du eben gezeigt hast.«

»…«

Die Frau von den Akakuchibas, den Wesen des Himmels, die Manyo selbst mit ihren scharfen Augen nicht hatte sehen können, neigte ihr rundes, fleischiges Gesicht zur Seite und starrte das kleine Mädchen an. »Kennst du Yamata no Orochi?«

Manyo nickte wortlos.

Yamata no Orochi war ein in der Region San’in bekanntes Wesen aus der japanischen Mythologie: ein Lindwurm, so riesig, dass er acht Hügel umspannte und acht Köpfe sowie acht Schwänze hatte. Seine Augen waren so rot wie Blasenkirschen, aus seinem Rücken wuchsen Zypressen, und er wurde vom Gott Susano’o erschlagen. Aber wieso fing die Akakuchibadame jetzt davon an?

Die Dame sah Manyo nur weiter beim Teetrinken zu und sagte nichts mehr zu diesem Thema. Dann fragte sie mit noch leiserer Stimme: »Wie ist dein Name?«

»Manyo.«

»Und dein Nachname?«

Manyo selbst hatte keinen Nachnamen, aber der Nachname des jungen Pärchens, das sie aufgenommen hatte, lautete Tada, also nannte sie ihr diesen. Die Dame nickte. Und dann, nachdem Manyo ihren schaumigen Tee ausgetrunken hatte, ging Ebisu mit ihr wieder den Hügel hinauf. Offenbar waren die Reparaturen an dem schwarzen Auto ohne Probleme durchgeführt worden.

Gerade als die Dame wieder in den Wagen steigen wollte, sagte sie aus irgendeinem Grund: »Manyo Tada, wenn du groß bist, wirst du meinen Sohn heiraten. Klingt das gut?«

»M-mhm …«

Manyo starrte sie wie betäubt an, während die Wagentür zuschlug. Durch das schwarz getönte Fenster konnte sie nichts im Inneren sehen. Als der Wagen davonfuhr, füllte sich die Hauptstraße, die vorher vollkommen leer gewesen war, wieder wie üblich mit Menschen, als wäre der Bann aufgehoben worden.

Kurz darauf neigte sich die Ära der Legenden selbst in diesem Bergdorf dem Ende zu, sie war in der modernen Zeit nur noch ein Relikt, und die geheimnisvolle Aura, die dem Ort bislang ganz natürlich zu eigen gewesen war, verschwand langsam. Genau wie einst, als die riesigen Hochöfen aus dem Westen und die großen Fabriken die Tatara-Öfen ersetzten, die in alter Zeit das Flussufer gesäumt hatten, drang die heilige Dreifaltigkeit der Elektrogeräte – Fernseher, Waschmaschine und Kühlschrank – nach und nach in die Haushalte dieser Gegend. Wegen der modernen Kultur, die das Fernsehen erschuf, schrumpften die weit auseinandergezogenen japanischen Inseln rapide zusammen. Diesem kleinen Ort im Westen der Präfektur Tottori erging das am Ende nicht anders.

Bislang war diese Region eine winzige Insel gewesen, die von der sich neu ausbreitenden Kultur isoliert war, ein Ort, wo von der Ära der Legenden noch bis etwa zehn Jahre nach Kriegsende letzte Spuren zu finden waren. Aber nach weiteren zehn Jahren sollten die Ausländer tief in den Bergen verschwinden.

Dank ihrer geheimnisvollen Gabe erinnerte sich Manyo immer ziemlich deutlich an den Tag, an dem sie Tatsu begegnete. Und ganz oben, an der Spitze von Benimidori in der Präfektur Tottori, einem im Wandel begriffenen Ort, stand das Haus der Akakuchiba, das Symbol einer legendären Welt. Es stand dort unberührt von der Zeit, leicht zurückgelehnt, dunkelrot, und proklamierte seine Herrschaft.

ZWEI Dein Kopf fliegt ab, und du stirbst

Nun macht unsere Geschichte vom Jahr 1953 einen Zeitsprung von sieben Jahren, weil Manyo sich an diese Phase nicht besonders gut erinnerte. Zwar schaffte sie den Übergang auf die Mittelschule, konnte aber immer noch nicht lesen oder die einfachsten Rechnungen durchführen. Da die Bande des Goldfischs sie noch schlimmer schikanierte, war ihr dieses irdische Leben zutiefst zuwider. Manyo sagte, dass sie sich aus dieser Zeitspanne nur an zwei Dinge gut erinnerte: Erstens, dass sie – nur einmal – wieder eine Vision von Einauge hatte, ihr nachjagte, praktisch die steile Straße hinunterstolperte und fast von einem dreirädrigen Kleintransporter überfahren worden wäre; und zweitens, dass der Yamaoroshi im Frühjahr 1955 so stark war wie nie zuvor.

Der Yamaoroshi ist ein heftiger, feuchter Wind, der von den Bergen kommt. Dieser Wind weht aus dem fernen China ungehindert über das Japanische Meer, bis er von der riesigen Gebirgskette, die unter dem Namen Chugoku-Berge bekannt ist, aufgehalten wird; sobald er auf die Berge trifft, entlädt er seine Feuchtigkeit auf die Region. Daher wird diese Seite der Berge, wo die Luft sich klamm anfühlt und der Himmel immer fahlgrau ist, San’in oder »Bergschatten« genannt. Die andere Seite der Berge, ein helles, sonniges Gebiet, heißt dementsprechend Sanyo oder »Bergsonne«. Der Yamaoroshi, der von den Chugoku-Bergen herunterweht und sich vom Meer an Land flüchtet, wird im Frühling besonders stark; allerdings weht der Wind auf diesem Landstrich das ganze Jahr über ziemlich kräftig. Die meisten Bauernhäuser, die in inmitten von Reisfeldern standen, waren von dicken, hohen Buchen umringt, die das Haus und den Speicher vor dem Wind schützen sollten. Und all diese Schutzwäldchen wuchsen zu einer Seite geneigt, vom Berg zum Meer, wie unzählige schiefe Wegweiser. So stark war der Wind.

Aber im Frühling dieses Jahres wehte der Wind noch kräftiger als je zuvor, und Manyo riss es beinahe von ihren Füßen, sodass sie abgehoben wäre, als sie auf der Hauptstraße den Hügel hinunterging. Das Hündchen, das das Kind fünf Häuser weiter bekommen hatte, kam tatsächlich winselnd angeflogen, und Manyo streckte die Hände aus und schnappte es sich. Das Bild des Hündchens wurde von einem echten Körper begleitet, und dieser bellte in Manyos Armen und leckte ihr dann träge mit seiner heißen Zunge über die Haut. Als sie dieses warme, feuchte und schwere Wesen festhielt und sich gegen den Wind stemmte, erfassten ihre scharfen Augen eine merkwürdige Szene.

Ganz am Rande ihres Sichtfelds, auf der Spitze der Anhöhe, stand das leuchtend rote Akakuchiba-Haus, leicht zurückgelehnt. In der weit offenen Empfangshalle wütete der Sturm und hob zwei der Tatamimatten vom Boden in die Luft. Eine Weile blieben sie in der Schwebe und schlugen gegeneinander, als befänden sie sich in einem Kampf, aber als der Wind erstarb und ihnen die Energie entzog, fielen sie zurück auf den Boden. Manyo war verblüfft und staunte, wie stark der Yamaoroshi dieses Jahr war. Die Blütenblätter der unzähligen Blumen aus den Gärten von Takami flogen mit dem Wind zu Manyo und dem Welpen am Fuße des Hügels und wirbelten in bunten Mustern um sie herum.

»Wie hübsch«, murmelte sie, da kam schon der Besitzer des Hündchens angerannt und schrie: »Das ist meiner!«, und entriss ihn ihr.

Das war’s, an mehr kann ich mich nicht erinnern, sagte Großmutter. Und wenn sie das sagt, muss das wohl so sein. Nach Beendigung der Mittelschule kümmerte sie sich um ihre jüngeren Geschwister, die das junge Pärchen nach ihr bekommen hatte – natürlich war es jetzt nicht mehr besonders jung, aber da sie Menschen waren, deren Herz groß genug war, um ein verwaistes Kind aufzunehmen, blieb ihr Geist immer jung. Wenn sie nicht gerade babysittete, half sie hin und wieder bei einem Bauern in der Nähe und kam mit etwas eigenem Geld nach Hause. Da Manyo das Pärchen liebte, hoffte sie mit der Inbrunst junger Mädchen, dass sie für immer bei ihnen in dem kleinen Wohnhaus leben durfte.

Die Modernisierung dieser Ära kam immer schneller zu ihnen, getrieben von einem starken Rückenwind. Das wurde schon deutlich, wenn man sich nur das Stahlwerk der Akakuchibas ansah. Die älteren Männer, die vor dem Krieg stolze Arbeiter der Tatara-Eisenhütten gewesen waren, hatten nun nichts mehr zu tun, wirkten wie geschrumpft und verbrachten ihre Tage müßig ganz unten am Hügel in kleinen Schuppen. Eine Einrichtung namens »Gesellschaft zur Erhaltung des traditionellen Handwerks« wurde ins Leben gerufen, und man baute einen Ausstellungsraum, in dem alte Holzöfen und Blasebälge der Edo-Zeit gezeigt wurden und Schaubilder darüber unterrichteten, wie der eisenhaltige Sand gesammelt worden war. Die Gesellschaft stellte die alten Arbeiter ein, und die erzählten den Dorfkindern, die auf Sozialkunde-Exkursionen bei ihnen vorbeikamen, wie man früher Eisen produziert hatte, und sangen ihnen das Tatara-Lied vor. Die kleinen Jungen waren entzückt. Dennoch war das Kunsthandwerk, das sie aus alten Zeiten wieder zum Leben erweckten – ein Handwerk, das man über Dutzende von Jahren von einem Meister lernen und üben musste –, längst Vergangenheit.

Es waren die Arbeiter, die im modernen Stahlwerk mit den riesigen deutschen, wie Eisentürme aussehenden Hochöfen schufteten, die nun im Ort herumstolzierten. Die Bezahlung war gut, daher wurde ihnen jeden Abend im Ort ein herzlicher Empfang bereitet. Die Barbesitzerinnen wetteiferten miteinander um die größte Anzahl an Stammgästen unter den Arbeitern, und bei den jungen Frauen galten die Arbeiter als gute Partie. Im Gegensatz zu den einstigen Handwerkern arbeiteten sie in einem Werk voller Maschinen, in denen sie selbst zum Rädchen im Getriebe wurden und mit den Maschinen verschmolzen. Sie waren jung, gut ausgebildet und stolz, da sie sich im Einklang mit den neuen Werten der Nachkriegszeit befanden. Sie standen für das Industriezeitalter, waren die Ikonen des modernen Rationalismus. Das Vorankommen in ihrem eigenen Leben konnte als Sinnbild dafür gesehen werden, dass diese geschlagene Nation ebenfalls einer strahlenden Zukunft entgegensah.

Es war der Frühling ihres siebzehnten Lebensjahres, als Manyo in den Ort ging, um Reis, Miso und Kimonos für ihre Geschwister zu kaufen. Als es Abend wurde, strömten die Arbeiter in ihren Uniformen mit der Farbe frischer Blätter und die uniformierten Männer der Selbstverteidigungsstreitkräfte in den Ort, um zu trinken, zu spielen, aus dem Westen importierte Kleider und Schuhe im Kaufhaus zu ergattern und sich Frauen im Rotlichtviertel der Yoimachi-Straße zu kaufen. Während die Sonne sank, wurden die Männer unruhiger, doch obwohl sie auch Manyo anstarrten, fanden sie sie doch derart fremdartig, dass sie sie nicht ansprachen und Manyo keine Bedenken hatte, so spät noch allein unterwegs zu sein. Sie eilte durch die Straßen und drückte Reis und Miso an sich, als plötzlich der Abendhimmel schwarz wurde. Als sie merkte, dass nicht die Sonne untergegangen war, sondern pechschwarze Regenwolken den Himmel verdunkelten, hatte es schon angefangen zu regnen. Besorgt sprang Manyo in den nächsten Laden, um die Misopaste, die nur in Ölpapier eingeschlagen war, vor dem Schmelzen und Auslaufen zu bewahren,.

Es war das Café mit dem Bukupuku-Tee. Manyo und ein Marderhund mit Welpen, die von den Bergen gekommen waren, standen dort und starrten hinaus in den dunklen Himmel. Dann kam der Cafébesitzer, trat nach den Marderhunden und jagte sie wieder hinaus. Er wandte sich zu Manyo, die ungeschminkt und mit tropfnassen Haaren vor ihm stand, und erklärte, wenn sie nichts verzehren würde, müsste auch sie wieder gehen. Da sie ohne eigenes Geld einkaufen gegangen war und nichts mehr für einen Tee übrig hatte, blieb ihr keine andere Wahl, wieder hinaus in den Regen zu rennen, als wollte sie den Marderhunden nachjagen.

In diesem Augenblick hörte sie die Stimme eines jungen Mannes aus dem Inneren des Cafés.

»Du da, komm rein. Hey, du!«

Manyo drehte sich um.

In einer Ecke saß ein überaus großer Mann mit langen Haaren. Sein flaches Gesicht war charakteristisch für die Region, aber seine mandelförmigen Augen waren scharf und seine Lippen seltsam rot. Er war zwar nicht hässlich, aber auch nicht gerade gut aussehend. Er war zu groß, seine Haare waren zu lang und seine Arme spindeldürr. Dies alles sorgte für ein leicht verstörendes, gespensterartiges Erscheinungsbild.

Vor ihm auf dem Tisch befanden sich eine Tasse Bukupuku-Tee und ein dickes Buch. Er hatte gerade mit dem Tee und dem Buch angefangen und beide in Händen gehalten, als sein Blick wie magisch angezogen auf sie fiel.

»Oh, äh …«

»Setz dich. Onkel, noch eine Tasse Bukupuku-Tee für diese Frau.«

»Sie sagt, sie will nicht nach draußen, weil ihr Miso schmelzen könnte.«

»Tja, ist doch nur natürlich. Setz dich. Hey, du siehst wirklich seltsam aus.«

Der junge Mann musterte die schüchtern zum Tisch kommende Manyo und lachte laut. So unschuldig wie ein Kind zog er an Manyos langen, drahtigen Haaren. Dann näherte er sein bleiches Gesicht ihrem und starrte konzentriert auf ihre fremdartigen, markanten Züge, die so ganz anders waren als die der Menschen dieser Region.

»Tja, du bist ein Bergmensch.«

»M-mhm.«

»Wenn du was essen möchtest, musst du’s nur sagen. Ich mag Ungewöhnliches. Wie dieses Buch oder dein Gesicht. Hier hast du die Speisekarte.«

Er gab ihr die Karte, warf sie ihr fast zu, sodass sie sie rasch ergriff. Darauf standen die Buchstaben, die sie nicht lesen konnte, ganz gleich, wie verzweifelt sie sich bemühte. Sie wurde rot und sagte zu dem seltsamen jungen Mann: »Eigentlich kann ich nicht lesen.«

Der Mann wurde ebenfalls rot. »Bist du nicht zur Schule gegangen?«

»Doch, schon, trotzdem kann ich nicht lesen, und mit Zahlen komme ich auch nicht zurecht. Die wollen irgendwie nicht in meinen Kopf.«

»Ach …«

Daraufhin schwieg der junge Mann, aber als der alte Mann Manyos Bukupuku-Tee brachte, sagte er sanft: »Na los, keine Angst, trink ihn.« Und dann fing er an, die Speisekarte laut vorzulesen, als hielte er ein Selbstgespräch. »Bukupuku-Tee. Kombu-Tee. Gerösteter Grüntee. Schwarzer Tee. Maronenyokan. Süßkartoffelyokan. Bohnenyokan. Daifuku-Reiskuchen …«

Manyo lachte, woraufhin der Mann erleichtert die ganze Karte noch mal von vorne vorlas. Er strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und sagte, wobei seine dünnen, scharlachroten Lippen zitterten: »Bleib hier, bis der Regen aufhört, Manyo Tada.«

»Ist … ist gut, danke.« Manyo neigte den Kopf.

Der Mann, dessen Name sie immer noch nicht wusste, nahm das Buch, das er gerade zu lesen angefangen hatte, wieder zur Hand und senkte den Blick auf die Seiten. Es war mit Buchstaben bedeckt, die sie noch nie gesehen hatte, sie gingen von links nach rechts, und sie vermutete, es könnte ein englischer Roman sein. Eine Weile beschäftigte sie sich damit, die Bohnen aus ihrem schaumigen Tee zu fischen, und fragte ihn: »Woher kennst du meinen Namen?«

»Von Mama.«

Der Mann hob kurz sein Gesicht und sah Manyo an. Als er einen Schluck Tee trank, wurden seine lang gezogenen, schmalen Augen noch schlitziger. »Mama hat mir erzählt, dass unten ein Bergmädchen namens Manyo Tada lebt. Sie sagte, es sei ihr egal, wie viele Mädchen ich vorher hätte, aber dieses Bergmädchen müsste ich heiraten.«

»Was heißt ›Mama‹?«

»Oh, das heißt ›Mutter‹«, erklärte er und tippte mit dem Zeigefinger auf den Einband des westlichen Buchs. Manyo nickte und fand, dass dies wirklich ein ausgefallenes Wort von der anderen Seite des Meeres war.

Draußen schüttete es mittlerweile. Die Regentropfen prasselten so laut auf die Erde, dass Manyo Mühe hatte, den Mann zu verstehen. Der Cafébesitzer schloss die Eingangstür und machte Licht. Zwei orangefarbene Papierlaternen in und vor dem Café fingen an zu leuchten.

»Ich bin Yoji Akakuchiba«, sagte der Mann lässig und blätterte durch das Buch in seiner Hand. »Wahrscheinlich hast du den Namen schon mal gehört.«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Manyo und schüttelte den Kopf, worauf Yoji, verwöhnter Sohn und Erbe des Hauses Akakuchiba, sie enttäuscht ansah.

»Ach, wirklich? Und ich dachte, ich wäre bei den Dorfmädchen begehrt.«

»Das mag sein, aber ich rede kaum mit anderen.«

»Warum nicht?«

»Das heißt also, du bist Tatsus Sohn?«

»M-mhm. Wahrscheinlich sehen wir uns ziemlich ähnlich, oder?«

Manyo schwieg. Sie betrachtete Yojis schmale, hochgewachsene Gestalt, seine langen, schlitzigen Augen und seinen lippenstiftroten Mund. Dann versuchte sie sich vorzustellen, ob Tatsu wohl so aussehen würde, wenn sie an Gewicht verlöre. Als sie immer noch nichts sagte, neigte er den Kopf zur Seite und bemerkte: »Ich tue eigentlich immer, was sie mir sagt.«

»M-mhm.«

»Und deshalb, Manyo Tado, werde ich dich heiraten.«

»Aber jemand aus der Familie Akakuchiba kann doch kein Waisenkind heiraten. Selbst wenn Tatsu dir das gesagt hat, werden doch die anderen aus deinem Haus das nicht erlauben –«

»Es gibt nicht einen Mann in der Haupt- oder Nebenfamilie, der sich gegen Mama stellen würde. Sie ist furchterregend, weißt du?«

»Was?« Manyo rief sich die dicke Frau mittleren Alters in Erinnerung, die damals auf dem Hügel aus dem liegen gebliebenen Auto gestiegen war. Die winzige Tatsu Akakuchiba, die sich wie Sesamkörnchen aussehende Schweißperlen abgewischt hatte und aussah wie der Gott Ebisu. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass diese Frau so furchterregend war, dass niemand in Takami sich gegen sie stellen konnte.

Draußen hatte der Regenschauer plötzlich aufgehört. Stattdessen kam jetzt Wind auf, drang durch die Ritzen der geschlossenen Türen und löschte die Flamme in der Papierlaterne. Mit einem Mal wurde es im Bukupuku-Teeladen dunkel. Das Mondlicht, das durch das Fenster drang, fiel auf den weißen Hals des großen, jungen Mannes mit dem flaschenkürbisförmigen Gesicht, der Manyo gegenübersaß, und ließ ihn plötzlich aussehen wie eine Albinonatter.

»Ich werde dich heiraten. Wir werden zusammen sein, bis wir sterben, also wäre es gut, wenn wir uns verstehen würden. Aber ich weiß nicht, wie es tatsächlich werden wird.«

Er schluckte, und sein Adamsapfel an dem schmalen, mondbeschienenen Hals wanderte nach oben und dann wieder nach unten. Während sie noch seine Äußerung verarbeiten musste, zündete der Cafébesitzer erneut die Lampe an, und als die Feuerblume erblühte, wurde auch der Laden wieder hell.

Dies ist nicht die Art Liebesgeschichte, für die junge Mädchen schwärmen, aber da mit Manyo noch nie jemand über Heirat geredet hatte, färbten sich ihre Wangen vor lauter Überraschung und Schüchternheit rot. Sie sagte nichts, sondern senkte den Blick auf den Tisch, nahm die Speisekarte, die sie nicht lesen konnte, und spielte damit herum.

Während sie das tat, begannen die Buchstaben auf der Speisekarte sich mit einem merkwürdig schabenden Geräusch umzuformen. Sie zuckten und wanden sich, als wären sie lebendig, und wurden zu acht großen Buchstaben. Manyo starrte so angestrengt darauf, als wollte sie ein Loch dadurch brennen, aber sie konnte eben nicht lesen, was sie nicht lesen konnte. Deshalb borgte sie sich einen Stift von Yoji, leckte die Spitze an und schrieb sie sorgfältig auf die Rückseite der Rechnung.

Yoji betrachtete neugierig die acht unbeholfen aufgeschriebenen Buchstaben. Er nahm die Rechnung in die Hand und las laut vor: »Dein Kopf fliegt ab, und du stirbst.«

Manyo war geschockt, und als Yoji den Kopf hob, war er bleich. In diesem Augenblick sah sie die Zukunft. Was sie für Schnee hielt, war ein Sturm aus hellrosa Kirschblüten, die in den Laden wirbelten und sie beide einhüllten. Manyo sah, wie sein Kopf abgerissen wurde und wie ein Spielzeug durch die Luft flog. Die Haare, die lang herunterhingen, hatten graue Strähnen und gehörten seinem zukünftigen Ich. Der Kopf dieses älteren Yoji flog ab und wurde durch die Luft geschleudert, mit einem Lächeln auf den Lippen, und für einen Moment wirkte er wie eine Flammen ausstoßende Rakete, weil das rote Blut aus dem Schnitt schoss. Aus irgendeinem Grund flatterten die umherwirbelnden Kirschblüten wie ein Kaleidoskop aus Schmetterlingen und bildeten einen sich windenden Tornado, der den kopflosen Mann einhüllte. Und dann, als hätte der Tornado die Zeit umgekehrt, saß der Kopf wieder fest, der Blütensturm zog sich zurück, und der Mann vor ihr wurde wieder zu dem echten, jungen Yoji Akakuchiba.

Manyo drückte eine Hand auf die Brust und sagte nichts. Yoji starrte wie gebannt auf die acht Buchstaben.

»Also … was ist das? Sehr komisch, dass du schreiben, aber nicht lesen kannst.«

»M-mhm.«

»Du redest nicht viel, oder? Obwohl das vielleicht besser ist, als wenn man zu geschwätzig ist. Wie auch immer: Das ist also deine Antwort auf meinen Antrag? Haha! Du bist wirklich lustig.«

Manyo schüttelte den Kopf und erwiderte mit leiser Stimme, das sei überhaupt nicht lustig. Allein bei dem Gedanken, dass dem jungen Herrn des Hauses Akakuchiba eines Tages der Kopf abgerissen würde, fing ihr Herz an zu hämmern. Und dann dachte sie, es würde gut sein, die Braut dieses jungen Herren zu sein und ein gutes Leben mit ihm zu haben, genau wie Tatsu Akakuchiba es wollte, bis ihm der Kopf abgerissen würde.

Als der Regen endlich aufgehört hatte, verließ Manyo das Café, drückte den Reis, das Miso und die neuen Kimonos für ihre Geschwister an die Brust und machte sich auf den Heimweg. Sie stieg über die Hauptstraße die Terrasse hinauf, und die Papierlaternen, die den Eingang jedes Hauses in gedämpftes Licht tauchten, boten einen bezaubernden Anblick.

Da die Arbeiter unabhängig von der Tages- und Nachtzeit in drei Schichten arbeiteten und oft erst spätnachts nach Hause kamen, achteten ihre Frauen darauf, eine große Papierlampe mit ihrem Nachnamen und dem Familienwappen darauf aufzuhängen, damit ihre Männer nicht im Labyrinth der vielen, völlig gleich aussehenden Wohnhäuser verloren gingen. Wenn diese Laternen in den Eingängen hingen und das elektrische Licht aus dem Innern der Häuser leuchtete, wussten die Bewohner aus dem Ort, wenn sie abends die Terrasse hinaufschauten, dass die Geschäfte im Stahlwerk gut liefen.

Ein schwarzer Wagen fuhr auf dieser hell erleuchteten Terrasse an Manyo vorbei und steuerte die roten Tore weiter oben an. Sie fragte sich, ob der junge Mann von eben darin saß. Und plötzlich fand sie es seltsam, dass er abends nicht in Bars ging, um zu trinken und Frauen zu kaufen, sondern in einem Café saß und wie ein Schulmädchen Tee trank und ein dickes Buch las. Und sie dachte daran, wie seine langen, schwarzen Haare glatt und seidenweich seinen Rücken hinuntergeflossen waren, ganz anders als die dicke, stumpfe Matte, die ihr vom Kopf hing.

»Wir sind völlig verschieden …«

Manyo neigte den Kopf zur Seite, eilte die immer noch regennasse Hügelstraße hinauf und kehrte nach Hause zurück.