Das Haus der Schreiberin - Charlotte Zweynert - E-Book

Das Haus der Schreiberin E-Book

Charlotte Zweynert

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Beschreibung

Wie bewältigten Zeitgenoss:innen Krisen und Herausforderungen in der von Umbrüchen geprägten Zeit um 1800? Anhand der Untersuchung von Gebrauchsweisen verschiedener Formen von »Vermögen« in der Familie der Schriftstellerinnen Anna Louisa Karsch (1722–1791), Caroline Luise von Klencke (um 1750–1802) und Helmina von Chézy (1783–1856) erarbeitet Charlotte Zweynert »Vermögen« als Analysekonzept. So eröffnen sich, ausgehend vom Haus und über die Schreib- und Lebenspraktiken der Frauen, ökonomisch rückgebundene geschlechtergeschichtliche Perspektiven auf die »Sattelzeit« zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert.

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Charlotte Zweynert

Das Haus der Schreiberin

Geschlechterökonomien und Vermögen um 1800

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Wie bewältigten Zeitgenoss:innen Krisen und Herausforderungen in der von Umbrüchen geprägten Zeit um 1800? Anhand der Untersuchung von Gebrauchsweisen verschiedener Formen von »Vermögen« in der Familie der Schriftstellerinnen Anna Louisa Karsch (1722–1791), Caroline Luise von Klencke (um 1750–1802) und Helmina von Chézy (1783–1856) erarbeitet Charlotte Zweynert »Vermögen« als Analysekonzept. So eröffnen sich, ausgehend vom Haus und über die Schreib- und Lebenspraktiken der Frauen, ökonomisch rückgebundene geschlechtergeschichtliche Perspektiven auf die »Sattelzeit« zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert.

Vita

Charlotte Zweynert, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte.

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Prolog

1.

Einleitung

1.1

Das Haus als Forschungskontext: Perspektiven und Paradigmenwechsel

1.1.1

Verortung der Arbeit

1.2

Ausgangspunkt: Die Schriftsteller*innenfamilie Karsch/von Klencke/von Chézy und ›ihr Haus‹

1.3

Methodik und Forschungsziele

1.3.1

Geschlechterökonomie

1.3.2

Haus

1.3.3

Vermögen

1.4

Quellenlage

1.5

Aufbau der Arbeit

2.

Vermögen – Methodisch-theoretische Annäherungen

2.1

Vermögen – Annäherungen an einen vielschichtigen Begriff

2.2

Kapital und allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft bei Pierre Bourdieu

2.2.1

Rezeption in den Geschichtswissenschaften

2.3

Konzeptioneller Zugang: (Wirksamkeits-)Vermögen – Synthesen und praktische Theoretisierung

2.3.1

(Wirksamkeits-)Vermögen

3.

DiskursPraxis – Geschlecht (und) Schreiben um 1800

3.1

Epochenschwellen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive

3.2

Geschlecht an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert

3.3

Professionell schreibende Frauen im deutschsprachigen Raum um 1800

3.3.1

Quantitative Annäherungen

3.3.2

Qualitative Annäherungen

4.

Diskursives Vermögen

4.1

Unternehmerinnen ihrer Selbst – Karsch, Klencke und Chézy als professionell schreibende Frauen um 1800

4.2

Geschlecht (und) Schreiben als Ressource in Selbstzeugnissen

4.2.1

Selbstzeugnisse – Mehr als Selbstdarstellung und Identitätsaushandlung

4.2.2

Die Selbstzeugnisse von Karsch, Klencke und Chézy

4.2.3

Geschlecht in den autobiographischen Briefen von Karsch

4.2.4

Geschlecht in den autobiographischen Texten von Klencke

4.2.5

Geschlecht in dem Selbstzeugnis »Erinnerungen aus meinem Leben, bis 1811« von Chézy

4.3

Fazit

5.

Narratives Vermögen

5.1

Familiäre Herkunft als Ressource in (auto)biographischen Texten – Divergierende Perspektiven bei Karsch und Klencke

5.1.1

Vermögensverlust und -konflikte – Die erste Ehe von Karsch sowie die zweite und dritte Ehe ihrer Mutter

5.2

»[M]ein bruder glaub ich ist allein vermögend mir Berlin anzüglich zu machen« – Geschwisterbeziehungen in Briefen (1762)

5.2.1

Küssen verboten? Ein geschwisterlicher Haushalt konstituiert sich

5.3

Fazit und Situierung

6.

Materielles Vermögen

6.1

Testamente – Annäherungen an eine Quellengattung mithilfe der Oekonomisch-technologischen Encyklopädie von J. G. Krünitz

6.2

Ein Haus als Verhängnis? Der Tod von Karsch

6.3

Haus und Verwandtschaft als (instabiles) Vermögen – Das Testament von Karsch (1791)

6.3.1

Annäherungen über die im Testament (nicht) benannten und bedachten Personen

6.3.1.1

Die sichtbaren Verwandten – Wer erbte (was)? Wer wurde bedacht?

6.3.1.2

Die testamentarische Fortschreibung einer ambivalenten Beziehung

6.3.1.3

Weder bedacht, noch benannt – Die unsichtbaren Ehemänner und Verwandten

a) Die beiden Ehemänner

b) Die beim Vater verbliebenen Söhne aus erster Ehe

c) Der Halbbruder Ernst Daniel Hempel

6.3.1.4

Sichtbar, aber nicht bedacht – Der Halbbruder Ernst Wilhelm Hempel

6.4

Haus(halt) als Vermögen – (Un-)Vermögen im Haushalt

6.4.1

Ein Haus als ersehntes Vermögen

6.4.2

Ein Haushalt wird transformiert – Vom Schwester-Bruder- zum Mutter-Tochter-Arbeitspaar

6.5

Haus als fragiles Vermögen

6.5.1

Gescheiterter Vermögenstransfer im Kontext von Ehegüterrecht und Scheidung – Ein Haus geht verloren

6.5.2

Der letzte Wille von Klencke (September 1802)

7.

Wirksamkeitsvermögen

7.1

Ökonomien des Transfers und der (Neu-)Aneignung von Handlungsvermögen

7.1.1

Symbolischer und sozialer Vermögenstransfer in den Testamenten von Karsch und Klencke

7.1.1.1

Annäherungen über die (nicht) vererbten (Im-)Mobilien

7.1.1.2

Vermögenstransfer ohne Vermögen? Der letzte Wille von Klencke

7.1.1.3

Zwischenfazit. Testamente als kommunikative Werkzeuge zur Beziehungsgestaltung und (im)materiellen Selbstplatzierung über den Tod hinaus

7.1.2

Wege der Neuaneignung von Vermögen – Die Schenkungsurkunde von Hastfer an seine Ex-Ehefrau Helmina (Dezember 1802)

7.2

Fragiles soziales Vermögen – Das Ende des Lebens in Paris

7.3

Chézy als Akteurin in den ›Befreiungskriegen‹ und die Untersuchung wegen Beleidigung der Invalidenprüfungskommission

7.4

»Meine Wirksamkeit«. Wirksamkeitsvermögen stößt auf Grenzen – Grenzen stoßen auf Wirksamkeit

8.

Fazit: Die Wirkmacht von Vermögen – Annäherungen an die Transformationsphase um 1800 aus geschlechterökonomischer Perspektive

Quellen- und Literatur

Quellen

Archivbestände

Gedruckte Quellen

Literatur

Internetseiten

Stammbaum

Tabelle

Dank

Prolog

Es ist das Anliegen dieses Buches, Vermögen praktisch zu theoretisieren und als Analysewerkzeug für weitere Forschungen zu entwickeln. Den Ausgangspunkt hierfür bilden die zahlreichen schreibenden oder künstlerisch tätigen Frauen, die in der unruhigen Umbruchszeit um 1800 europaweit mit neuen Lebens-, Liebes- und Arbeitsmodellen experimentierten. So träumte etwa im März 1789 die 25-jährige Göttinger Professorentochter Caroline Michaelis-Böhmer (später Schlegel-Schelling, 1763–1809) ganz im Sinne der revolutionären Ereignisse in Frankreich davon, zusammen mit Gleichgesinnten eine »Bande« zu gründen, die die »Ordnung der Dinge umkehrt, […] so möchten denn die Reichen abtreten und die Armen die Welt regieren«1. Wenige Jahre später erlebte sie als Zeitzeugin in freundschaftlicher Verbindung mit Georg Forster (1754–1794) die kurze Phase der Mainzer Republik und damit einen konkreten Versuch, eine Umkehrung der Ordnung historisch zu praktizieren. Fasziniert davon und in Erwartung kriegerischer Auseinandersetzungen schrieb sie aus Mainz:

[I]ch ginge ums Leben nicht von hier – denk nur, wenn ich meinen Enkeln erzähle, wie ich eine Belagerung erlebt habe, wie man einen alten geistlichen Herrn die lange Nase abgeschnitten und die Demokraten sie auf öffentlichen Markt gebraten haben – wir sind doch in einem höchst interreßanten politischen Zeitpunkt […].2

Die Möglichkeit, die Ordnung der Dinge umzukehren – dies erschien um 1800 zahlreichen Akteur*innen als eine Perspektive auf ihre Gegenwart und Zukunft: Keineswegs musste dies aber – wie von Caroline Michaelis-Böhmer – als verheißungsvolle Chance gedeutet werden, an etwas Neuem, Großem teilzuhaben. Es spricht einiges dafür, dass viele Zeitgenoss*innen die fundamentalen Transformationen ihrer Zeit als existenzielle Bedrohung, als massive Verunsicherung wahrnahmen. Man denke an Heinrich von Kleist (1777–1811) und dessen langjährige, schwierige Bemühungen, sich zu versorgen, an seinen Selbstmord, oder an Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der den revolutionären Ereignissen in Frankreich ablehnend gegenüberstand.

Aber selbst für jene, die die Dynamiken ihrer Zeit positiv deuteten, war es oftmals ein schmaler, nicht ungefährlicher Grat zwischen neuen Perspektiven und Praktiken einerseits und sozio-ökonomischem Abstieg, Grenzerfahrungen oder Scheitern andererseits. So gelang es Caroline Michaelis-Böhmer nach ihrer Zeit in Mainz und einer sich anschließenden Haft in Königstein nur mithilfe von Freunden und ihrem Bruder, aus der Inhaftierung entlassen zu werden, im Anschluss ein uneheliches Kind im Verborgenen auszutragen und damit sowie durch eine neue Eheschließung ihre soziale Existenz zu retten.3

Schillernde, »wilde[] Lebensläufe«4 treten uns entgegen, wenn wir die Lebensstationen, die Lebensläufe solcher Figuren wie Caroline Michaelis-Böhmer und Heinrich von Kleist, aber auch der hier zu untersuchenden Schriftstellerinnen und Dichterinnen Anna Louisa Karsch (1722–1791), Caroline Luise von Klencke (um 1750–1802) und Helmina von Chézy (1783–1856) betrachten.5 In ihnen scheint sich die Zeit um 1800 zu verdichten, widerzuspiegeln, auszudrücken. Die kulturgeschichtlichen Akteur*innen werden so zu Metaphern, zu Verkörperungen, zu Kaleidoskopen ihrer Epoche. Sie verweisen auf die Vielfalt der Möglichkeiten, zu handeln und zu scheitern, sowie auf die Dynamik der Übergangsphase vom 18. zum 19. Jahrhundert. Mit der Frage, wie sich intellektuell und künstlerisch tätige Frauen in der unruhigen, transitorischen Sattelzeit handelnd verorteten, wie sie die historischen Umbrüche um 1800 und die damit verbundenen Unsicherheiten bewältigten und gestalteten, tut sich ein historisches Problem auf, das sich nicht allein mit der Auflösung der Ständegesellschaft oder einer zunehmenden Individualisierung erklären lässt, sondern sich als vielschichtig erweist.

In dem vorliegenden Buch werden diese komplexen Vorgänge anhand der Schreiberinnen Karsch, Klencke und Chézy untersucht. Schreiberin ist ein aus den genutzten Quellen entlehnter zeitgenössischer Terminus, den die Dichterin Karsch in einem Brief als Selbstbeschreibung nutzte. Er wird im Sinne eines Verfremdungseffekts gegenüber gängigeren Bezeichnungen für professionell schreibende Frauen eingeführt, um zu berücksichtigen, dass moderne, auf Schriftsteller*innen Bezug nehmende Vorstellungen nicht einfach in vormoderne Epochen übertragen werden können, sondern historisiert und kontextualisiert werden müssen.6 Was ein(e) Schriftsteller*in, was ein Vermögen, was ein Haus(halt), was Ökonomie, was eine Familie und was Geschlecht um 1800 sein konnten, wird dementsprechend als offene Frage verhandelt und nicht als etwas Feststehendes vorausgesetzt. So macht der Text den Leser*innen das Angebot, die soziale Praxis von Frauen in der Umbruchszeit um 1800 über (Wirksamkeits-)Vermögen und Geschlechterökonomien analytisch und historiographisch zu fassen. Dabei wird die ›schillernde‹ Sichtweise auf diese Umbruchszeit aufgegriffen, gleichzeitig aber auch infrage gestellt, ergänzt und modifiziert sowie ökonomisch rückgebunden, indem die Frage nach »Handlungsrepertoires«7, Handlungsmöglichkeiten und -grenzen von Frauen mit den Konzepten Haus und Vermögen verflochten wird. Karsch, Klencke und Chézy werden sich im Verlauf der Untersuchung schließlich als Exemplifikation von (Wirksamkeits-)Vermögen erweisen und bieten zugleich das historische Material, an dem dieses als geschlechter- und geschichtswissenschaftliches Konzept entwickelt wird.

1.Einleitung

1.1Das Haus als Forschungskontext: Perspektiven und Paradigmenwechsel

Das Haus als ein maßgebliches Forschungskonzept zum Verständnis frühneuzeitlicher Gesellschaften beschäftigt die Geschichtswissenschaften seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert. Dabei dominierte lange die als Verlustgeschichte konzipierte Erzählung eines wirtschaftlich autarken, sozial geschlossenen frühneuzeitlichen Hauses mit dem Hausvater als Vorsteher einer Großfamilie, das um 1800 mit dem Übergang von der ständischen zur modernen Gesellschaft und der zunehmenden Auslagerung von Erwerbsarbeit zugunsten einer fortschreitenden Individualisierung, Säkularisierung und Modernisierung an Bedeutung verloren habe.8

In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Narrativ aus Richtung der Historischen Anthropologie, der Familien- und Verwandtschaftsforschung sowie der Mikro- und Geschlechtergeschichte umfassend kritisiert. Statt die normative frühneuzeitliche Hausväterliteratur mit sozialer Praxis gleichzusetzen, wurden in mikrohistorischen Studien soziale Praktiken untersucht.9 So zeigte sich, dass sich das frühneuzeitliche Haus nicht durch einen verengten Blick auf eine vermeintlich geschlossene Kernfamilie erfassen lässt.10 Vielmehr gerieten soziale Verflechtungen zwischen Haushalten, Nachbarn und Verwandten sowie außerhäusliches Wirtschaften in den Blick. Zunehmend wurde das Haus in verschiedener Hinsicht als »offenes« Konzept verstanden.11 Durch die geschlechtergeschichtliche Kritik an Otto Brunners Konzept des »ganzen Hauses« konnte die vermeintlich uneingeschränkte Autorität des Hausvaters als moderne Projektionsfläche entlarvt und hinterfragt werden.12 Zugleich rückten Frauen als Akteurinnen in den Fokus13 und es wurde untersucht, wie im Haus binnen- und zwischengeschlechtlich Hierarchie, Differenz und Verpflichtungen hergestellt wurden.14 Gegenwärtig werden zudem kulturwissenschaftlich ausgerichtete (historische) Forschungen verstärkt mit ökonomischen Fragen verknüpft und zusammengedacht.15 Innovative Ansätze untersuchen die häusliche Sphäre »as a field of social practice and interaction«16 und das Haus als Vermögen17 und Ressource18. Sie zeigen durch die Analyse von »Erben und Vererben als Vermögenshandeln«19 Zugänge zum Haus jenseits der Dichotomie von privat und öffentlich auf,20 sie hinterfragen die »Verortung des Hauses allein in der Vormoderne«21 und plädieren stattdessen dafür, Bedeutungsverschiebungen des Konzepts in der Sattelzeit22 zu untersuchen.23

1.1.1Verortung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit knüpft an den Ansatz an, das Haus nicht allein in der Vormoderne zu verorten und stattdessen dessen Bedeutungsverschiebungen um 1800 zu untersuchen. Sie bettet sich dabei in die Frauen- und Geschlechtergeschichte zur Sattelzeit ein. Die Folie hierfür bildet die These zur Veränderung der Geschlechterrollen um 1800.24 Die einflussreiche Annahme, dass in dieser Zeit mit der Entstehung der Vorstellung »polarer Geschlechtscharaktere«25 geschlechtlich markierte, voneinander getrennte öffentliche männliche und private weibliche Sphären entstanden seien, wurde in den letzten Jahren relativiert. Mikrogeschichtliche Studien zeigten, dass eine umfassende Durchsetzung dieser Idee in der sozialen Praxis um 1800 nicht festzustellen ist.26

Eher kann von sich verändernden Handlungsspielräumen ausgegangen werden, die ebenso neue Chancen wie Beschränkungen implizierten. In diesem Kontext wurden durch die Ereignisse in und nach der Französischen Revolution Lebensläufe von Frauen möglich, denen es gelang, sich abseits der gesellschaftlich gestellten Rahmen zu bewegen, die Neues probierten und dabei nicht selten scheiterten. Lange wurden diese Frauen nur als Freundinnen oder Musen noch heute bekannter männlicher Zeitgenossen betrachtet; ihre ökonomischen Verbindungen und Bedingungen gerieten hingegen erst in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus von Forschungen. Immer wieder wurden jene – oftmals schreibend oder künstlerisch tätigen – Frauen27 zudem in wissenschaftlichen Arbeiten explizit oder implizit als Ausnahmen behandelt, die ihre Handlungsspielräume zumeist ihren Vätern oder Ehemännern verdankten. In der vorliegenden Arbeit werden nun jenseits der Vorstellung von »insulated Heroines«28 in einer Fallstudie die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Vermögenspraktiken von professionell schreibenden Frauen untersucht. Das Haus ist das hierfür gewählte Medium.29 In ihm kreuzen sich soziale, kulturelle, emotionale30 sowie ökonomische Aspekte und vermengen sich im Kontext von Ehe, Familie und Verwandtschaft zu dem, was hier als Geschlechterökonomie konzeptualisiert werden soll.31

Indem gefragt wird, inwieweit Frauen unter den Bedingungen der Umbruchszeit ihnen zugewiesene Geschlechtscharaktere und -räume überschritten haben und wie sie dabei immer wieder auf Grenzen ihres Geschlechts verwiesen und zurückgeworfen wurden, sollen changierende Settings zwischen Potenzial und Scheitern in Verbindung mit der Frage untersucht werden, wie das Haus mit seinen mehrschichtigen Bedeutungsebenen in diesem Gefüge zu positionieren ist. Damit leistet das Buch einen Beitrag zu der Debatte um Epochengrenzen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive32 sowie der Frage nach Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten von Frauen in der politisch und wirtschaftlich unruhigen Sattelzeit, in der Geschlechterverhältnisse destabilisiert, herausgefordert und neu zur Debatte gestellt wurden.

1.2Ausgangspunkt: Die Schriftsteller*innenfamilie Karsch/von Klencke/von Chézy und ›ihr Haus‹

Der Gegenstand der Studie ist der Kasus der Schriftsteller*innenfamilie Karsch/von Klencke/von Chézy, der mikroanalytisch untersucht werden soll. Die Konzeptualisierung als Kasus bedeutet, dass es hier nicht darum geht, die genannte Familienkonstellation als Beispiel für etwas zu analysieren bzw. nach ihrer zeitgenössischen Repräsentativität zu fragen. Vielmehr ist es der Ansatz, diese Konstellation in ihrer Eigenlogik und Spezifizität zu untersuchen und daraus Fragen und Zugänge zu zeitgenössischen Themen, Verschiebungen, Grenzziehungen und Ressourcen abzuleiten.33

Im Zentrum der Studie stehen die Literatin und Librettistin Wilhelmine Christiane, genannt Helmina, von Chézy (geb. von Klencke, geschiedene von Hastfer, 1783–1856), deren Mutter, die Schriftstellerin Caroline Luise von Klencke (geb. Karsch, geschiedene Hempel, um 1750–1802), sowie deren Mutter, die Dichterin Anna Louisa Karsch (geb. Dürbach, geschiedene Hiersekorn, 1722–1791). Wichtige Bedeutung kommt dabei einem Haus in Berlin zu, das die Großmutter Karsch 1787 wenige Jahre vor ihrem Tod vom preußischen König Friedrich Wilhelm II. als Geschenk erhielt und das die Familie 1801 wieder verlor.

Insbesondere Helmina von Chézy stand lange nicht im Zentrum wissenschaftlicher Forschungen,34 sei es wegen des teilweise schon zu Lebzeiten erhobenen Vorwurfs mangelnder literarischer Qualität ihrer Texte oder weil sie sich mit Werk und Vita eindeutigen Kategorisierungen entzieht. Selma Jahnke, die Chézys Texte aus verschiedenen Perspektiven und mit innovativen Ergebnissen erforscht hat, hebt hervor: »In die Kritik an Chézys Werken – wie bei vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen – spielt häufig eine mehr oder weniger subtile Diffamierung der Autorin als Person mit hinein, sei es über Verhalten, Aussehen, Lebenswandel oder Charakter.«35 In den letzten Jahren hat nun aber eine produktive Beschäftigung mit Chézy eingesetzt, mit der auch – entsprechend der Vielfalt ihres Œuvres – eine interdisziplinäre Würdigung der Autorin und ihres Lebenswerks einhergeht.36 Im März 2023 haben Frederike Middelhoff und Martina Wernli einen Workshop zu Chézy organisiert, dessen Beiträge »(Re-)Lektüren der literarischen, translatorischen, kunst- und kulturkritischen sowie der musikkompositorischen Schriften«37 vornahmen. Zudem sind mittlerweile einige ihrer Texte (kritisch) ediert worden. So sind etwa Chézys Werk »Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I.« 2009 von Bénédicte Savoy,38 ihr Briefwechsel mit Therese Huber 2004 von Jessica Kewitz,39 die Zweitfassung ihres lange in Vergessenheit geratenen Schauspiels zu Franz Schuberts Rosamunde-Musik 1996 von Till Gerrit Waidelich40 und ihr unveröffentlichtes Manuskript »Die Günderode an Bettina« von Selma Jahnke (in digitaler Form) sowie von Lorely French und Irina Hundt ediert worden.41 In Aufsätzen wurde sie als Vermittlerin französischer Kultur vorgestellt; Geschlechterkonzepte und Wissenspraktiken in ihren Werken gerieten ebenso in den Blick wie ihre Beziehungen und die Verbindungen zwischen den (Auto-)Biographien von Karsch, Klencke und Chézy sowie die Frage, inwiefern Klencke und Chézy literarische Nachfolgerinnen Karschs waren.42

Zu Karsch und Klencke sind die Quelleneditionen43 von Ute Pott, Regina Nörtemann und Claudia Brandt von zentraler Bedeutung.44 Anlässlich von Karschs 300. Geburtstag fand von Dezember 2022 bis April 2023 im Gleimhaus Halberstadt unter der Leitung von Ute Pott die Ausstellung »Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk« statt.45 Forschungen zu Karsch, Klencke46 und Chézy fokussieren diverse kultur- und literaturwissenschaftliche Fragen. Auch ökonomische Perspektiven47 und das Haus,48 das Karsch vom König als Geschenk erhielt, geraten in den Blick. Die männlichen Mitglieder der Familie standen bisher tendenziell weniger im Fokus. Die Ergebnisse der neueren Verwandtschaftsforschung, die vermeintlich private verwandtschaftliche Beziehungen nicht jenseits von Politik und Öffentlichkeit anordnet, sondern davon ausgeht, dass diese Bereiche sich maßgeblich auch durch Verwandtschaft konstituieren, zeigen aber, dass es zur Nutzung von Verwandtschaft als Analysekategorie weiterführend sein kann, ein offenes Setting von Beziehungskonstellationen zu untersuchen.49 Nicht zuletzt durch die Umsetzung dieser Prämisse wurde deutlich, dass die Bedeutung von Verwandtschaft als gesellschaftsstrukturierender Faktor seit 1800 nicht verloren ging. Im Gegenteil gilt das 19. Jahrhundert heute als eine »kinship-hot society« mit einer hohen Zahl endogamer Eheschließungen und sich verändernden rechtlichen Normierungen von Verwandtenehen.50

Warum wurde nun aber die Schriftsteller*innenfamilie Karsch/von Klencke/von Chézy für diese Untersuchung ausgewählt? Eine kurze Antwort lautet: Weil sich ihre Mitglieder schreibend über vier Generationen ziemlich genau innerhalb der Sattelzeit bewegten und sie sich deswegen besonders gut zur Analyse der hier aufgeworfenen Fragen eignet. Ebenso ist zu ihr ein dichter Bestand an Quellen überliefert. Um diese Frage aber ausführlicher zu beantworten, sollen schlaglichtartig einige Perspektiven von Zeitgenoss*innen auf ein für die Untersuchung zentrales Mitglied der Familie eingeworfen werden, nämlich auf Helmina von Chézy:

Frau v. Chezy ist in ganz Deutschland als anmuthige Erzählerinn und liebreiche Liederdichterin bekannt, und in diesen Fächern der Poesie ihr Ruf begründet […].51

[S]ie ist eine »geschätzte Dichterin«.52

Frau von Chezy hat sich höflichst gegen die Anonymität erklärt.53

Sie erhielt in mehreren Cirkeln als geschätzte Dichterin Eintritt, aber viele Frauen gestanden ein, daß sie in ihrer Gesellschaft oft erröthen mußten. Frau Helmina von Chezy war ein Mannweib und meine Freunde, welche sie durch mich kennen lernten, nannten sie dann immer das Chezy […].54

[D]as Weib ist wirklich ein Scheusal; […] ich höre von anderen Leuten, daß sie einen Prozess mit mir anfangen will; sie ist wirklich wahnsinnig! […] sie will […] nur immer Geld, Geld, Geld […].55

Mindestens drei Aspekte haben diese Sichtweisen auf Helmina von Chézy gemeinsam: Erstens deuten sie auf ein facettenreiches Leben, das sich in mancherlei Hinsicht nicht in stereotype, binär-schematisierte Annahmen über Frauen- und Geschlechterrollen im scheidenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert fügt und deshalb geeignet ist, diese zu hinterfragen. Und zweitens verweisen sie – unabhängig von der jeweiligen Wertung – auf das Vermögen einer Frau um 1800, zumindest in mancherlei Hinsicht ein Leben jenseits gewisser Normen zu führen, die dadurch sicht- und lesbar werden, dass offenbar an ihnen gerüttelt und gekratzt wurde (und die dabei womöglich gleichzeitig auch verformt wurden). Drittens nehmen sie Bezug auf das Vermögen, sich selbst sozial und künstlerisch zu verorten sowie finanziell eigenständig und geschäftstüchtig zu agieren.

Die sich daraus ergebende zentrale Fragestellung der Arbeit lautet daran anschließend: Wie wurden welche Aspekte von Vermögen in dem hier zu untersuchenden Fall wirksam, wie wurde Vermögen hergestellt, intergenerationell transferiert, angeeignet und transformiert? Es geht explizit nicht darum, alle Lebensstationen der untersuchten Personen zu benennen und auszuleuchten oder eine (geschlossene) Familienbiographie56 zu schreiben. Vielmehr soll die Familie als ein Fall konzeptualisiert werden, anhand dessen zum einen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive und über die Untersuchung von ›vermögenswirksamen‹ Praktiken das fluide Spannungsfeld von Möglichkeitsräumen und Grenzen um 1800 erforscht und dabei zum anderen gleichzeitig (Wirksamkeits-)Vermögen als Forschungskonzept praktisch theoretisiert werden soll.

Dies zentriert nur auf den ersten Blick ausschließlich eine in Berlin, über mehrere Generationen wirkende Schriftstellerinnenfamilie. Durch die Analyse von sozialen Beziehungen, Arbeit, räumlicher Mobilität und der innerhalb ihrer Verwandtschaft transferierten Vermögenswerte und -gegenstände geraten erstens Angehörige verschiedener sozialer Gruppen, zweitens städtische und ländliche sowie translokale, -regionale und -nationale Räume und drittens verwandtschaftliche Konstellationen und Figuren in den Fokus, die immer wieder über die Trias der drei schreibenden Frauen (Karsch, Klencke, Chézy) der Familie hinausgehen. Hierzu zählen u. a. die Mutter (Dürbach, geb. Kuchel) und die Söhne von Karsch (Michael und Johann Christian Hiersekorn), die Halbrüder von Karsch (Ernst Daniel und Ernst Wilhelm Hempel, letzterer war gleichzeitig Halbonkel und erster Ehemann von Klencke) sowie ein Sohn (Wilhelm Theodor von Chézy), der Halbbruder (Heinrich Wilhelm Hempel) und der erste Ehemann (Baron Carl Gustav von Hastfer) von Helmina von Chézy.

1.3Methodik und Forschungsziele

1.3.1Geschlechterökonomie

Das zu entwickelnde methodisch-theoretische Konzept der Geschlechterökonomie ermöglicht dabei eine besondere Interpretation: Hiermit können drei Bereiche in ihrer gegenseitigen Verflechtung untersucht werden, die für die Verschiebungen der Zeit um 1800 zentral waren: Geschlecht, Verwandtschaft und Ökonomie. Geschlecht wird in dem Begriff der Geschlechterökonomie dabei in seiner doppelten Bedeutung erstens als Verwandtschaftsfiguration und zweitens als auf geschlechtlichen Zuschreibungen basierende, Hierarchien und Ordnungen erzeugende Differenzkategorie analysiert.57 Ökonomie wird so konzeptualisiert, dass von sozialen Beziehungen ausgegangen wird, »statt diese nur zu traditionell definierten ökonomischen Feldern hinzuzufügen«.58

1.3.2Haus

Die Untersuchung von Geschlechterökonomien soll im Buch gemäß dem eingangs dargelegten Forschungskontext über den Rahmen des (verlorenen) Hauses in einem weiten Verständnis des Begriffes erfolgen und aufgebaut werden, da dies eine Mehrfachbezüglichkeit ermöglicht und das Haus als ein gesellschaftlicher Mikrokosmos verstanden werden kann. Analysiert werden sollen gleichzeitig das Haus als physisches Gebäude in seiner Materialität, das die Familie besitzen wollte, besaß und dann wieder verlor, daran geknüpfte soziale Beziehungen bzw. Haushalte als Beziehungsräume, Eheschließungs- sowie Vererbungspraktiken und (im)materielle Vermögenstransfers, Haushaltsgegenstände (mit hohem Symbolwert) als Vermögen zur Beziehungsgestaltung – hier bezieht sich die Studie auf den material turn59 – , das Haus als Bestandteil einer verwandtschaftlichen Memorialkultur und das Haus im Anschluss an Nacim Ghanbari als »eine spezifische Art und Weise, sich verwandtschaftlich zu positionieren«.60 Dieses polysemantisch konzipierte Haus soll dabei insbesondere in seiner Fragilität untersucht werden.

1.3.3Vermögen

Der für diese Arbeit zentrale Zugang, mit dem die generationenübergreifenden und vom Haus ausgehenden Geschlechterökonomien untersucht werden sollen, ist der Begriff des Vermögens. Dieser erscheint in fast allen Bedeutungen von Haus zentral. In der ihm eigenen – auf die Verflechtung von Handeln und materiellen Vermögenswerten abzielenden – Vielschichtigkeit und Mehrfachbezüglichkeit soll der Begriff hier konzeptuell aus dem historischen Material praktisch theoretisiert werden. Theorie wird dabei, wie Michaela Hohkamp, Annekathrin Helbig, Sebastian Kühn, Claudia Jarzebowski und Andrea Griesebner es in Bezug auf die Arbeiten von Claudia Ulbrich formuliert haben, »nicht als Selbstzweck verstanden […], sondern als Teil eines Argumentationszusammenhangs, der von der Empirie ausgeht und diese zu durchdringen versucht«.61

Vermieden werden soll dabei die Entwicklung und Anwendung eines umfassenden und monolithischen Vermögensbegriffs, der dazu verleitet, monokausale Erklärungen zu geben und die bestehenden ›großen Erzählungen‹ zum Wandel um 1800 als Erklärungsmodelle lediglich zu bestätigen oder abzulehnen. Hierin liegt die Begründung für die gewählte mikroanalytische Herangehensweise: Der mikroskopische Blick ermöglicht, Nuancen und Logiken zu erkennen. Dass sich diese nicht zwangsläufig oder nicht in jeder Hinsicht in bestehende Modelle einordnen müssen, zeigt zum Beispiel Hans Medick in seiner Studie über den Dreißigjährigen Krieg.62 Die von ihm untersuchten Selbstzeugnisse fügen sich nicht einfach in historische und historiographische Diskurse ein, sondern stehen bis zu einem gewissen Grad für sich selbst und ermöglichen so neue und andere Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand.

Ziel der Beschäftigung mit der Transformation um 1800 kann es also nicht sein, ein neues Narrativ hinzuzufügen. Dies betonen auch Gabriella Hauch, Monika Mommertz und Claudia Opitz-Belakhal im Anschluss an Karin Hausens »Plädoyer für die Nicht-Einheit der Geschichte«63 in ihrer Auseinandersetzung mit Zeitenschwellen: »Eine geschlechtergeschichtliche Auflösung der ›Epochenfrage‹ lediglich in andere Relevanzbündel mit umfassendem Erklärungsanspruch ist weder zu erwarten noch scheint sie wünschenswert.«64 Vielmehr ist es das Anliegen dieser Arbeit, den Ansatz ernst zu nehmen, dass historiographische Erkenntnisse maßgeblich erstens durch die ausgewählten Quellen(gattungen), zweitens durch die Perspektiven der historischen und historiographischen Akteur*innen und drittens durch die in den Blick genommenen spezifischen Kontexte (und die Frage, welche Bedeutung man ihnen jeweils zumisst) hergestellt werden. Geschlossene Geschichtserzählungen sind demzufolge nicht möglich (und trotzdem – ein Paradox – vermutlich nie ganz zu umgehen, wenn eine Frage oder ein Gegenstand textuell fixiert werden).

Der hier gewählte Weg, mit diesen grundlegenden Fragen umzugehen, ist es – zusammen mit der mikroanalytischen –, eine multiperspektivische Herangehensweise zu wählen, in der sich Zeit und Gegenstand verdichten, so wie es zum Beispiel Natalie Zemon Davis in ihren Arbeiten immer wieder aufgezeigt hat.65 Das bedeutet bei der zu untersuchenden Frage, welche Formen von Vermögen vom Haus ausgehend im Handeln der zu untersuchenden Familie wirksam wurden, wie diese hergestellt, intergenerationell transferiert und angeeignet wurden, von vorneherein verschiedene Perspektiven und Sehweisen auf die Thematik erst einmal für sich, in ihrer jeweiligen Logik gebunden an spezifische Quellengattungen zu untersuchen. Mit dieser Vorgehensweise wird keine umfassende Fallgeschichte geschrieben, sondern mit dem Vermögensbegriff als Analysewerkzeug ausgewählte Perspektiven auf den Fall untersucht. Diese stehen zwar jeweils miteinander in Bezug und konstituieren sich möglicherweise auch gegenseitig – insofern ist die separate Untersuchung ein analytisches Konstrukt –, dennoch ergeben sie deswegen zusammengenommen nicht zwangsläufig ein einheitliches Ganzes.

Das Anliegen der Arbeit ist es somit, die Angehörigen der Familie um 1800 weder individuell noch in einem Zusammenhang von Freundschaften und Netzwerken zu untersuchen, sondern geschlechterökonomisch insbesondere in ihrem Verwandtschaftszusammenhang und zwar nicht nur horizontal, sondern auch generationenübergreifend. So soll die Transformationsphase um 1800 über verwandtschaftliche und geschlechtergeschichtliche Gebrauchsweisen von Vermögen betrachtet sowie über die Frage analysiert werden, wie sich die Akteur*innen darin mit welchen Vermögensformen bewegten und positionierten. Zusammengefasst hat das Buch damit drei Ziele: Erstens gilt es, einen mehrschichtigen Vermögensansatz als Analysekonzept zu erarbeiten. Auf dieser Grundlage sollen zweitens mögliche Sichtweisen auf den Fall der Literat*innenfamilie Karsch/Hempel/von Klencke/von Chézy und ihre Gebrauchsweisen von Vermögen untersucht werden, wodurch das Vermögenskonzept der Arbeit weiter praktisch theoretisiert und dabei gleichzeitig multiperspektivisch als forschungsleitendes Analyseinstrument angewendet wird. So kann drittens ein Beitrag dazu geleistet werden, neue Perspektiven auf die Transformationsphase um 1800 ausgehend vom Haus und daran gebundenen Geschlechterökonomien über die Ausarbeitung und Anwendung von Vermögen als Analysekonzept zu erforschen.

1.4Quellenlage

Für die Briefe von Anna Louisa Karsch sei auf das Gleimhaus in Halberstadt hingewiesen, das »mit ca. 10.000 Briefen von etwa 400 Korrespondenten eine der größten deutschsprachigen Briefsammlungen des 18. Jahrhunderts«66 birgt. In der umfassenden, faszinierenden und (nicht nur) für diese Arbeit zentralen kritischen Edition des Briefwechsels von Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) haben die Herausgeberinnen Regina Nörtemann und Ute Pott 427 von 1265 Briefen veröffentlicht, umfänglich erforscht und kommentiert.67 Insgesamt sind im Gleimhaus Halberstadt 1035 Briefe von Karsch an Gleim und 227 von Gleim an Karsch erhalten.68 Neben den Briefen Karschs befinden sich dort aber auch 257 Briefe von Caroline Luise von Klencke an Gleim.69 Die (ungedruckten) im Gleimhaus archivierten Briefe von Karsch und Klencke (sowie von Heinrich Wilhelm Hempel und Helmina von Chézy) an Gleim liegen zudem in digitalisierter Form vor.70

Der Großteil des Nachlasses Helmina von Chézys ist in zwei Teile geteilt: Ein Teil befindet sich in der Sammlung Varnhagen von Ense der Staatsbibliothek zu Berlin, die heute aufgrund von Auslagerungen während des Zweiten Weltkriegs in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau liegt.71 Er enthält vor allem von Chézy verfasste bzw. an sie gerichtete Briefe von Adligen und kulturgeschichtlich ›bedeutenden‹ Akteur*innen.72 Der andere Teil des Nachlasses von Chézy, jener umfangreiche ›Rest‹, den Karl August Varnhagen von Ense nicht für seine Sammlung ausgewählt hat, befindet sich im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (folgend: ABBAW) und umfasst insgesamt 1204 Verzeichnungseinheiten, aus denen gemäß der Konzeption des Buches eine aussagekräftige Auswahl für die Analyse getroffen werden kann. Hier finden sich auch Briefe von Klencke an Chézy sowie die letztwillige Verfügung von Klencke.

Angesichts des umfangreichen Quellenbestands sind zur Untersuchung von Geschlechterökonomien vier zentrale Quellengruppen eingrenzbar: Erstens in Bezug zu Vermögen stehende Quellen wie Testamente und eine Schenkungsurkunde im Nachlass Chézys (im ABBAW), Grundbuchakten im Zentralen Grundbucharchiv Berlin, Petitionen und Aufzeichnungen über Gnadengeschenke und Zahlungen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (mit denen sich die Verbindungen zum preußischen Hof untersuchen lassen), die Allgemeine Hypotheken-Ordnung für die gesamten Königlichen Staaten, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten sowie Berliner Adressbücher, in denen Hausbesitzer*innen verzeichnet sind. Diese Quellen sollen genutzt werden, um verwandtschaftliche Beziehungen zu rekonstruieren und (im)materiellen Vermögenstransfer, -aufbau und -verlust zu untersuchen.

Mit den von Karsch, Klencke, Helmina von Chézy und ihrem Sohn Wilhelm von Chézy verfassten Selbstzeugnissen und Biographien sollen zweitens die Nutzung von Geschlecht als Ressource und das Vermögen zur Selbstpositionierung in der Transformationsphase um 1800 untersucht werden. Drittens sollen Korrespondenzen genutzt werden, um Kommunikationskanäle sowie das Herstellen und Aushandeln von Konflikten, (divergierenden) Interessen, Konkurrenz und Gewalt zu analysieren. Zu den heranzuziehenden Briefen zählen dabei u. a. die Briefe von Klencke an ihre Tochter Helmina und die Briefe des Halbbruders Heinrich Wilhelm Hempel (1770–nach dem 9.6.1855)73 an Chézy im Nachlass derselben (im ABBAW), ebenso die Korrespondenzen zwischen Karsch und Gleim sowie Klencke und Gleim. Eine weitere zentrale Quelle für diese Arbeit ist schließlich viertens die Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. Dies ist der sich im Laufe der Erscheinungsjahre ändernde Titel (u. a. ab Bd. 33: Oekonomisch-technologische Encyklopädie) »einer der umfangreichsten Enzyklopädien des deutschen Sprachraums. Das von J. G. Krünitz begründete Werk erschien 1773 bis 1858 in 242 Bänden«.74 Die Oekonomische Encyklopädie wird hier neben anderen zeitgenössischen Enzyklopädien herangezogen, weil sie in der Sattelzeit verfasst wurde und durch ihr – ganz im Sinne dieser Arbeit – weit gefächertes Verständnis von Ökonomie als ergiebige Quelle zu ›Verstehensweisen‹ von Welt im deutschsprachigen Raum im späten 18. und im 19. Jahrhundert gelten kann. Zudem stand Anna Louisa Karsch in Bekanntschaft zu Krünitz.75 Es gab also eine Nähe nicht nur hinsichtlich der in der Arbeit und der in der Encyklopädie untersuchten Themen, sondern teilweise auch persönliche Verflechtungen zwischen den hier behandelten Personen und dem Verfasser der Enzyklopädie.

1.5Aufbau der Arbeit

Eine methodisch-theoretische Auseinandersetzung mit den Begriffen Vermögen und dem ihm verwandten Kapitalbegriff leitet den Hauptteil der Studie ein: das Kapitel Vermögen – Methodisch-theoretische Annäherungen. Hierbei geht es nicht darum, umfassend sämtliche Ansätze zur Thematik aufzulisten, sondern jene auszuwählen, die für diese Arbeit zentral erscheinen. In einer kreisförmigen Bewegung, die das Ziel verfolgt, Vermögen aus dem Kontext des Falls praktisch zu theoretisieren, werden dafür zunächst frühneuzeitliche Perspektiven aus zeitgenössischen Konversationslexika hergeleitet und in einen kritischen Dialog mit modernen Zugängen gesetzt. Basierend auf Synthesen, die sich daraus ergeben, werden im zweiten Teil des Buches in historisch-empirischer Arbeit verschiedene Aspekte von Vermögen aus den Schreib- und Lebenspraktiken der Angehörigen der Schriftsteller*innenfamilie herausgearbeitet.

Im Kapitel DiskursPraxis – Geschlecht (und) Schreiben um 1800 werden zunächst Epochenbrüche aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive sowie Geschlechterdebatten und professionell schreibende Frauen um 1800 vorgestellt, um dann im Kapitel Diskursives Vermögen zu untersuchen, wie sich Karsch, Klencke und Chézy mit ihren Selbstzeugnissen – die am Anfang des Kapitels ausführlich vorgestellt werden – innerhalb dieser Diskurse positionierten, ob Geschlecht dabei als Ressource genutzt wurde und inwieweit so diskursives Vermögen hergestellt und genutzt wurde. Unter Diskursen werden im Anschluss an Michel Foucault »Praktiken verstanden, welche die Aussagen zu einem bestimmten Thema systematisch organisieren und regulieren«76 und somit bestimmen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort als wahr und infolgedessen als sagbar gilt. Dabei ist das Sagbare – oftmals dasjenige, was den historischen Akteurinnen als selbstverständlich, natürlich oder normal erscheint – diskursanalytischen Ansätzen zufolge sprachlich konstruiert und diskursiv hergestellt. Laut Foucault kann man die vorherrschenden Normen und Denkmuster einer Epoche aus den erhaltenen Texten ›herausschälen‹,77 wenn man fragt, wie es dazu kam, »dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle«.78 Mit diesem Ansatz sollen im vierten Kapitel die Selbstzeugnisse analysiert werden.

Im fünften Kapitel Narratives Vermögen wird dann erneut mit der Quellengattung Selbstzeugnis sowie zusätzlich mit einer Biographie gearbeitet: Auf Basis der autobiographischen Briefe von Karsch sowie der von Klencke verfassten Biographie ihrer Mutter Karsch wird ausgehend von dem Befund, dass ein erheblicher Teil von professionell schreibenden Frauen um 1800 entweder aus niederadeligen oder vor allem aus bildungsbürgerlichen und im finanziellen Sinne vermögenden Familien kam, untersucht, wie narrativ damit umgegangen wurde, wenn genau dies nicht zutraf, wenn also die familiäre Herkunft im klassischen Sinne (eher) keine Vermögensquelle darstellte. Die Leitfrage dieses Kapitels ist somit, welche narrativen Praktiken Karsch und Klencke jeweils nutzten, um ihre Herkunft ›vermögenswirksam‹ zu deuten und zu nutzen.

Im darauffolgenden sechsten Kapitel Materielles Vermögen ändert sich dann der Schwerpunkt der Untersuchung von dem eher sprachlich gefassten Vermögensaspekten des vierten und fünften Kapitels, in denen das Haus als Verwandtschaftsverbund in Erscheinung tritt, zu materiellen und geldwerten Formen von Vermögen, in denen das Haus nicht nur als Verwandtschaftsverbund und damit als Sozialform, sondern in Verflechtung damit auch als physischer Gegenstand in den Analysefokus rückt. Anhand der Testamente von Karsch und Klencke sowie von weiteren in Bezug zu Vermögen stehenden Quellen soll dort untersucht werden, wie materielles und finanzielles Vermögen innerhalb der Schriftstellerinnenfamilie weitergegeben wurde und auch wieder verloren ging.

Das siebte Kapitel Wirksamkeitsvermögen geht der Frage nach, wie symbolisches und soziales Vermögen in den Testamenten von Karsch und Klencke transferiert und dann von Klencke und Chézy in verschiedener Weise als Vermögen gebraucht werden konnten bzw. wo dies scheiterte. Die Leitfrage des Kapitels ist, wie Wirksamkeitsvermögen übertragen und angeeignet wurde und inwiefern es im Kontext des Verlusts des Hauses anstelle von materiellem Vermögen zur sozialen Positionierung genutzt werden konnte. Zur Analyse dieser (versuchten) Aneignungen werden als Quellen neben den Testamenten von Karsch und Klencke eine Schenkungsurkunde sowie von Chézy publizierte Texte genutzt. Im achten Kapitel, dem Fazit, sollen die Ergebnisse der Untersuchung – wenn auch nicht in einer zusammengefassten Erzählung – als Annäherungen an die Transformationsphase um 1800 aus geschlechterökonomischer Perspektive befragt werden.

2.Vermögen – Methodisch-theoretische Annäherungen

Was kann ein Vermögen sein? Wem ist wann in welcher Hinsicht ein Vermögen zu eigen? Eine mögliche Antwort könnte lauten: Personen, Gruppen, Familien, Institutionen, Firmen oder politischen Gebilden, die über ein hohes Maß an materiellen und finanziellen Gütern verfügen. Wo aber setzt man dabei die Grenze? Wann wäre etwa in einem spezifischen historischen Zeitraum und Kontext ein Vermögen kein Vermögen mehr? Hier würde sich aus historiographischer Perspektive möglicherweise eine Sackgasse auftun, weil diese Frage insbesondere für vormoderne Gesellschaften kaum umfassend beantwortbar erscheint.

Wie kann man aber vorgehen, wenn man sich diesen Fragen nicht darüber nähern möchte, zu klassifizieren und einzugrenzen, ab welchem Umfang von Eigentum jemand als (un)vermögend galt? Wie kann stattdessen ein Zugang zu Vermögen entwickelt werden, mit dem sich nicht nur das Handeln und die Transaktionen von Akteur*innen mit umfangreichem Eigentum untersuchen lassen, sondern auch von solchen, die über kein erhebliches monetäres und materielles Vermögen verfügten? Und warum kann dies historiographisch weiterführend – insbesondere für die hier zu untersuchende Sattelzeit – sein? In Annäherungen an diese Fragen werden im Folgenden zunächst aus Forschungsliteratur und enzyklopädischen Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zweckdienliche Ausführungen herausgearbeitet, um schließlich einen konzeptionellen Zugriff auf Vermögen zu entwickeln.

2.1Vermögen – Annäherungen an einen vielschichtigen Begriff

Vermögen wird heute in aller Regel in Bezug zu Geld und Eigentum gesetzt. Das Lexikon der ökonomischen Bildung versteht darunter: »1. im Sinne des Bürgerlichen Rechts: die Gesamtheit der einer Person zustehenden geldwerten Güter. 2. Im wirtschaftlichen Sinne (1) die Aktivseite der Bilanz mit Anlagevermögen und Umlaufvermögen. (2) Erwerbsvermögen und Gebrauchsvermögen.«79 Ursprünglich wurde der Begriff in der deutschen Sprache aber anders gebraucht, wohl zunächst als Verb (und erst im Laufe der Zeit daraus abgeleitet als Substantiv), das eine Möglichkeit und Fähigkeit ausdrückt, über die jemand oder etwas verfügt. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert finden sich dann Nachweise für die substantivische Verwendung von Vermögen als etwas, über das auch im ökonomischen und finanziellen Sinne Verfügungsgewalt besteht und an das Rechte geknüpft sind.80 Die mehrfach bezügliche Verwendung hat sich im Verlauf der Frühen Neuzeit offenbar etabliert. Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 und anderen Rechtstexten der Zeit wird der Begriff in der vielfältigeren Bedeutung genutzt,81 ebenso im Zedler Universal-Lexicon, das folgend noch genauer untersucht wird. In den für diese Arbeit genutzten Selbstzeugnissen und Briefen aus dem späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich beide Gebrauchsweisen. Es überwog, wie die Quellenanalysen der folgenden Kapitel zeigen werden, quantitativ aber weiterhin die Benutzung als Verb im Sinne einer Fähigkeit.

In dieser ursprünglichen Bedeutung des Begriffs schwingt ein aktiver Moment des Überführens mit. Er enthält eine Option, deren Ausführungsweisen vorher nicht eindeutig festlegbar sind und deren Auswirkungen durch das (Beziehungs-)Handeln der Akteur*innen (um)gestaltet werden können. Margareth Lanzinger und Simone Derix betonen in ihren Forschungen zu Haus und Vermögen, dass »[t]he German term Vermögen, in contrast to the English term ›capital‹, implies precisely this linkage of material resource and latitude for action. For Vermögen can denote not only assets, but also the opportunity and/or ability to do something.«82 In dem von Lanzinger an der Universität Wien geleiteten Projekt Vermögen als Medium der Herstellung von Verwandtschaftsräumen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wird die These vertreten, »dass Vermögen als wesentliches Medium der Konstruktion von Verwandtschaftsräumen fungiert hat. Verwandtschaftsräume sind […] als soziale Räume definiert, die über Kommunikation und Interaktion, über Prozesse des Aushandelns, über Erinnerung, aber auch über Konkurrenz und Konflikte hergestellt wurden. Auf welche Art und Weise dies erfolgte, ist die Kernfrage des Projekts.«83 Zentral ist dabei, dass mit einem breiten Vermögensbegriff gearbeitet wird. Dieser umfasst »nicht nur Liegenschaften und Geld, sondern auch davon abgeleitete Rechte und Ansprüche sowie Dinge, die als Wertspeicher wirken konnten, symbolisch bedeutsam waren oder im täglichen Gebrauch standen«.84

Simone Derix begründet in ihrer Studie über die Industriellenfamilie Thyssen85 ihre Wahl, methodisch mit dem Vermögensbegriff zu arbeiten, mit dem Hinweis, dass Vermögen eine etymologische Verwandtschaft zu »machen« und »Macht« aufweist: »Begriffsgeschichtlich verknüpft Vermögen damit materielle Ressourcen mit Handlungsmöglichkeit oder Handlungsmacht. Oder anders: Vermögen verweist darauf, dass die Möglichkeit zu handeln eine materielle Dimension hat.«86 Das Anliegen von Derix ist es dabei, die »Verknüpfungen« von Handlungsmacht und insbesondere materiellem Vermögen zu untersuchen, das sie nicht als etwas Statisches und Gesetztes begreift. Mit ihrem Ansatz, nicht das Zusammenspiel »von Familie und Unternehmen«, sondern Familie und Vermögen bei den Thyssens zu untersuchen, zielt Derix deswegen »genau auf jenen blinden Fleck des Materiellen und seine Differenzierung einerseits und die damit verbundenen Handlungspotenziale und -zwänge, also die Macht zu wirken, andererseits.«87 Dabei betont sie, dass »sich auch materielles Vermögen nicht allein auf einen materiellen Wert reduzieren«88 lässt. Derix negiert zudem in Abgrenzung zu älteren soziologischen und ökonomischen Arbeiten die Vorstellung, »Geld/Ökonomie als Gegensatz zu zwischenmenschlichen Beziehungen und Gefühlen«89 zu konzeptualisieren: »Grundsätzlich gilt, dass Vermögen, indem es Macht verleihen kann, per se über eine soziale Dimension verfügt, sofern man Macht als eine relationale Kategorie, als Beziehung denkt.«90 Martin Dinges behandelt Ehre in seinen Forschungen als symbolisches Vermögen und hat dafür den Begriff des »Ehrvermögen[s]«91 geprägt.92

In der Philosophie ist Vermögen seit der Antike ein wichtiger, wenn auch in seiner Nützlichkeit umstrittener Terminus und meint keinen finanziellen Besitz, sondern »die als Eigenschaft eines Dinges betrachtete Möglichkeit des Eintretens einer Veränderung am selben oder einem anderen Ding.«93 Der Begriff steht »im Zentrum der aristotelischen Metaphysik«.94 Dort wird mit ihm »das Verhältnis zwischen Stoff (hyle) und Form (eidos) und somit die Idee der Substanz (ousia) [festgelegt]. Des Weiteren definierte […] [Aristoteles] die Seele (psyche) als erste Vollendung (entelecheia) eines Körpers, welcher dem V[ermögen] nach lebendig ist«.95 Dieses Modell der Seele prägte philosophische Debatten bis ins 18. Jahrhundert maßgeblich, sowohl im zustimmenden (z. B. bei Thomas von Aquin) als auch im kritischen Sinne (etwa bei Augustinus und René Descartes). In der »deutschen Schulmetaphysik« findet sich bei Christian Wolff eine »Ablehnung der Annahme real unterschiedener Vermögen der Seele«.96 Im gleichen Jahrhundert argumentierte hingegen Immanuel Kant im Sinne von Wolffs Kontrahent Christian August Crusius, Vermögen seien »tatsächlich existierende mentale Fähigkeiten« und »keine bloß modellhaften Konstrukte«.97

Im 20. Jahrhundert verlor der Begriff im philosophischen Diskurs gegenüber der »Disposition« an Bedeutung, dennoch hat sich aus gegenwärtiger Perspektive »das systematische Potential des Vermögensbegriff in der philosophischen Auseinandersetzung« nicht erschöpft.98 So betont etwa Geert Keil, die »Erläuterung der Möglichkeit eines alternativen Verlaufs muß am Ende auf ein Vermögen Bezug nehmen etwas zu tun oder es zu unterlassen«.99 Stefan Hessbrüggen-Walter sieht eine Ursache für die Jahrhunderte überdauernde »Beharrungskraft« des Vermögensbegriff in der Philosophie in seiner »lebensweltliche[n] Wurzel«: »Menschliches Handeln unterscheidet sich von bloßem Verhalten u. a. durch das Wissen […], zu einer bestimmten Handlung auch dann befähigt zu sein, wenn diese Handlung gerade nicht vollzogen wird.«100 Durch diesen Bezug setze sich der Terminus aber gleichzeitig »dem Verdacht des Anthropomorphismus aus, weil Ursache-Wirkungsverhältnisse im Bereich der unbelebten Natur nach dem Muster menschlicher Handlungen erklärt zu werden scheinen.«101 Ein aus philosophischer Perspektive zentraler Kritikpunkt am Vermögensbegriff greift somit für die Sozial- und Geschichtswissenschaften nicht, da diese keine Erforschung der unbelebten Natur vornehmen bzw. diese ausschließlich in Relation zur sozialen Welt untersuchen.

Vermögen in zeitgenössischen Lexika

Das im 18. Jahrhundert entstandene Zedler Universal-Lexicon setzt sich in seinem 47. Band aus dem Jahr 1746 ausführlich mit verschiedenen Bedeutungsebenen von Vermögen auseinander. Dies wird dort vom lateinischen »Bona, Opes, Facultates« und vom französischen Wort »Biens« abgeleitet. Das Lexikon setzt bei seiner Definition zunächst und am umfangreichsten mit der materiellen und finanziellen Komponente des Begriffs ein. Vermögen wird zuerst verstanden als »das Haab und Gut, oder der Reichthum einer Privat-Person« oder, »wie es insgemein genennet wird«, als »zeitliche[s] Vermögen«.102 Dieses zeitliche Vermögen ist ein »Vorrath von zeitlichen Gütern, davon der Mensch leben kan, es sey nun Geld, oder was Geldes werth ist, oder ein Vorrath solcher Sachen, die der Mensch zur Nothdurfft, zum Vergnügen und Wohlstande seines Lebens gebrauchen kan; oder Vermögen ist der Vorrath, so der Mensch von äusserlichen Dingen nöthig hat«. Diese Definition verweist deutlich auf Mangel, Subsistenzwirtschaft, Vorrat und Notdurft als Spezifika frühneuzeitlicher Ökonomie. Über diese Kategorien nähert sich der Zedler-Artikel der oben problematisierten Frage, wie zu definieren ist, ob jemand vermögend ist oder nicht: »Man hat Ausgaben der Nothdurfft, der Bequemlichkeit und des Wohlstandes, und muß nicht nur auf die gegenwärtige; sondern auch künfftige Zeit sehen. Wer nun mehr hat, als er zu allen diesen Fällen braucht, von dem saget man, er sey reich; wer aber nur so viel besitzet, als dazu nöthig, u. nichts drüber, der hat sein reichlich Auskommen, da hingegen derjenige nur sein nothdürfftiges Auskommen hat, welcher so viel hat, als die gegenwärtige Nothdurfft erfordert, und wer auch nicht einmal so viel für sich bringen kan, von dem spricht man, daß er arm sey.«103

Armut wurde demzufolge am Maßstab der Notdurft gemessen, wer diese nur knapp oder gar nicht befriedigen konnte, war arm. Bei der weiteren Lektüre wird deutlich, dass sich die zeitgenössischen Bedeutungsebenen von Vermögen als vielschichtig erweisen und dass auch in der Definition von zeitlichem, i. e. finanziellem bzw. geldwertem, Vermögen Argumentationsstränge integriert waren, die über monetäre und materielle Aspekte hinauswiesen. Dem Zedler zufolge kann man nämlich zeitliches Vermögen durch »Klugheit« und »Glück«104 erlangen und gegebenenfalls auch vermehren. Vermögend wird, ist und bleibt man demzufolge nur, wenn man über das Vermögen verfügt, etwas zu vermögen: Klugheit. Selbst das führt in keine zwangsläufige Umwandlung eines Vermögens als ›Wissen-wie‹ in ein Vermögen im Sinne eines Hab und Guts, vielmehr kommen hier Unwägbarkeiten hinzu, die außerhalb dessen liegen, was einzelne Personen oder Gruppen beeinflussen können: Glück.105

Nachdem im Zedler noch der Hinweis gegeben wird, Vermögen »heisset auch bißweilen so viel als das Väterliche Erbe«106, wird folgend Vermögen als »Facultas, Potentia«107 vorgestellt und dabei teils implizit, teils explizit Bezug auf die philosophischen Debatten um den Begriff seit der Antike in der mittelalterlichen Scholastik und in der deutschen Schulmetaphysik des 18. Jahrhunderts genommen. In Anlehnung an scholastische Traditionen wird Vermögen dabei in »verneinende« und »würckliche Potentia« bzw. als »uneigentliches« (= »Potentia Negativa«) und »eigentliches Vermögen« (= »Potentia Positiva«) unterteilt. Jene »Potentia Positiva« ist wiederum gegliedert in die »Prädicamentalische« Potentia, und das »natürliche Vermögen«, das »von [der] Natur komme, bedeute, daß man keinen Lehrmeister dabey von nöthen habe, wie beym Essen, Trincken, u.s.w. geschehe«, und die »Transcendentalische [Potentia]«, welche »erstere gleichsam übersteige, und […] zur Metaphysik gehöre, welche […] alles Vermögen in sich schliesse, sowohl das natürliche, als auch das durch allerhand Mühe und Fleiß, auch wohl durch fremde Anleitung erworbene, wenn wir z. E. disputiren, singen und andere künstliche Sachen verfertigen könnten, so bey den Gelehrten auch Habitus genennet wird«.108 Die »Potentia transcendentalis« unterteilt sich in »Potentiam Activam« und »Passivam«109. Erstere ist das »würckende Vermögen, das etwas thun und verrichten können«110 und Letztere das »leidende Vermögen«, das bedeutet »etwas anzunehmen«.111 Übertragen ließe sich dies auf Menschen und Dinge; der Zedler-Artikel führt es anhand eines Schnitzers aus, der, so könnte man hinzufügen, mit seinem wirkendem Vermögen Holz schnitzt, welches somit über die »Geschicklichkeit« verfügt, »etwas vollkommenes anzunehmen.« Das leidende Vermögen tendiert daher zur »Vollkommenheit, auf die Erhaltung und auf die Verderbung«. Man nennt es auch Potentia »SUBJECTIVAM«, »weil man dabey den Veränderungen, Gestalten und Bildungen unterworffen«.

Die »Potentia Activa« unterteilt der Zedler-Artikel in »unendliche« (»INFINITA«), die Gott allein zukommt, und »endliche« (»FINITA«), die den Menschen zu eigen ist. Die »göttliche Gewalt« sei entweder »ORDINATA«, wenn Gott nach seinen eigenen Gesetzen wirkt, oder »ABSOLUTA«, wenn Gott Wunder tut. »Die Gewalt, welche den Geschöpffen zukomme, sey erstlich entweder NATURALIS, natürlich, wenn etwas seine Würckung nach dem Vermögen thue, wie es von Natur eingepflanzt sei, wenn z.E. ein Hund belle«, »oder OBEDIENTIALIS«, wenn »eine andere Krafft dazu komme, und da sich das Geschöpffe nur als ein Werckzeug gebrauchen liesse«. Die »potentia naturalis« selbst teile sich dabei »in das Vermögen der Geister, (in POTENTIAM INCORPOREAM) und der Cörper (CORPOREAM) […], jenes bestehe in Ansehung des Verstandes in der Krafft zu gedencken, und in Ansehung des Willens in dem Wollen und Nichtwollen; diese aber könnte auf unterschiedliche Weise betrachtet werden«. Diese »endliche Kraft« sei entweder notwendig, »NECESSARIA«, oder »LIBERA«, frei, »da man, wenn alles nöthige zur Würckung vorhanden«, etwas »vornehmen oder unterlassen könne«. »Ferner sey die endliche Kraft entweder NATURALIS, natürlich, wenn nach den Kräfften, so man entweder von Natur habe, oder durch eigenen Fleiß erworben, etwas gewürcket werde, oder SUPERNATURALIS«, übernatürlich, »aus einer besondern Göttlichen Gnade«, wie zum Beispiel bei den Propheten.

Schließlich weist der Zedler-Artikel noch daraufhin, der Philosoph Wolff mache einen Unterschied zwischen »Krafft und dem Vermögen«: »Das Vermögen ist nur eine Möglichkeit etwas zu thun, hingegen da die Krafft eine Quelle der Veränderungen ist, muß bey ihr eine Bemühung etwas zu thun anzutreffen seyn.« Hier schließt der Text mit einem Querverweis zu dem Artikel Macht in Band 19. Dort wird Macht als Vermögen verstanden, genauer als »eine Krafft oder Vermögen das mögliche würcklich zu machen. Oder Macht ist nichts anders, als die Möglichkeit auszurichten oder zu vollführen, was man beschlossen.«112

Hier wird deutlich, dass auf Handlung bezogene Machtbegriffe bereits Bestandteil des politischen Denkens der Vormoderne sind und nicht erst bei Max Webers wegweisender Definition angesetzt werden können, der zufolge »Macht […] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«,113 bedeutet. In ähnlicher Weise versteht Norbert Elias »nicht den bloßen Besitz von Ressourcen, sondern die Fähigkeit, soziale Beziehungen nach seinen eigenen Zwecken ausrichten und kontrollieren zu können«, als Macht in sozialen Beziehungen.114 Auch Hannah Arendt betont: »Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.«115 Insofern ist Arendt zufolge, die »einzig rein materielle, unerläßliche Vorbedingung der Machterzeugung […] das menschliche Zusammen selbst. Nur in einem Miteinander, das nahe genug ist, um die Möglichkeit des Handelns ständig offen zu halten, kann Macht entstehen.«116 Da man Macht eben nicht »wie Stärke besitzen oder wie Kraft anwenden kann«, ist sie »ihrem Wesen nach so schrankenlos wie das Handeln […]. Die Grenze der Macht liegt nicht in ihr selbst, sondern in der gleichzeitigen Existenz anderer Machtgruppen.«117 Macht kann insofern in verschiedensten sozialen Kontexten erzeugt, ausgeübt und angegriffen werden. Je nach Geschlecht und der Wirkung weiterer Differenzkategorien bzw. »Achsen der Ungleichheit«118 existieren dabei »unterschiedliche Chancen zur Realisierung […] [von] Machtmittel[n]«.119 Macht lasse sich dabei aber »nie jenseits der sozialen Beziehung […] begreifen«120, wie Martina Löw hervorhebt.

Als ubiquitär anzutreffendes Phänomen ist Macht nicht auf staatliche sowie politische Räume und Bezüglichkeiten begrenzt. Michel Foucault, der sich in seinen Werken dem Phänomen der Macht auf unterschiedliche Weise näherte,121 hat in Überwachen und Strafen den modernen Menschen als Effekt und Objekt von Macht und Wissen entworfen.122 Die körperliche Disziplinierung an der Schwelle zur Moderne habe im Gegensatz zur demonstrativen und aus heutiger Perspektive oftmals drastisch wie grausam anmutenden Strafpraxis der Vormoderne nicht am äußeren Körper Halt gemacht, sondern Zugriff auf die Seele genommen, die durch körperliche Disziplinierung, Normierung und Zwangsausübung (als »Gefängnis des Körpers«123) erst entstanden sei.

Damit erzählt Foucault nicht die Geschichte eines Wandels im Strafsystem weg vom Körper hin zu mehr Humanität, sondern er untersucht, wie dieser Körper in einer »Mikrophysik der Macht« in Disziplinarinstitutionen minutiös in Beschlag genommen wurde, um ihn zu normieren, zu »dressieren« und produktiv bzw. ökonomisch nutzbar zu machen,124 und wie schließlich auf Basis solcher Machttechnologien bzw. einer derartigen »Mikrophysik der Macht«125 der »Mensch des modernen Humanismus geboren«126 wurde. Die Kernzone dieses Formatierungsprozess ortet Foucault im Strafsystem, aber auch in anderen Institutionen wie u. a. Kasernen, Spitälern und Fabriken.127 Damit untergräbt er die strahlende Vorstellung von der Zunahme der bürgerlichen Freiheit im 19. Jahrhundert bzw. erzählt sie aus einer ganz anderen Perspektive. Die Aufklärung habe Freiheit und Disziplin erfunden, wobei die körperliche auf die Seele zielende Disziplinierung den Unterbau zu den rechtlichen Freiheiten bilde (die Foucault allerdings dezidiert nicht negiert) bzw. die »dunkle Kehrseite« des Demokratisierungsprozesses dieser Zeit darstelle.128 In diesem Verständnis ist Macht allgegenwärtig. Sie wirkt in jedem Menschen bzw. konstituiert ihn. Ihr kann man nicht entkommen.129 Dementsprechend kritisiert Foucault die »Staatsfixierung« klassischer Machttheorien.130

Andreas Anter hält dem entgegen, dass bereits im 19. Jahrhundert mit Nietzsche, der Macht im eigenen Willen und mit Marx, der sie beim Kapital verortet, eine Abkehr von der ausgeprägten theoretischen Bezogenheit auf die Verbindung von Staatlichkeit und Macht einsetzte, die im 20. Jahrhundert aufgegriffen und fortgeführt wurde.131 So übernahm etwa Bourdieu Marx’ Verknüpfung von Macht und Kapital, ohne Letzteres dabei ökonomistisch eng zu verstehen, indem er davon ausging, dass verschiedene Kapitalarten gleichbedeutend mit verschiedenen Arten von Macht sind.132 Unabhängig davon, ob man Macht eher als etwas Repressives oder – wie etwa Foucault in seinem Spätwerk – als etwas Produktives versteht,133 ob man den Fokus wie Niklas Luhmann und Foucault auch auf die von Machtausübung Betroffenen legt134 oder auf Personen und Institutionen, die Macht ausüben, wie es etwa besonders prominent Niccolò Machiavelli in Der Fürst getan hat, ist es – nicht zuletzt aufgrund der Zentralität des Machtbegriffs für die Gesellschaftswissenschaften einerseits und seines (Max Weber zufolge) »amorph[en]«135 Charakters andererseits – methodisch sinnvoll, Macht relational und »in einer handlungsbezogenen Perspektive zu begreifen. Macht hat stets mit Handeln zu tun und bleibt an Handeln gebunden.«136

Dass sich bereits der Zedler-Artikel des 18. Jahrhunderts auf diese Weise der Macht nähert, ist einer Bemerkung wert. Gleichzeitig gilt es, verschiedene Machtkonzepte zu kontextualisieren und zu historisieren.137 Die theoretische Auseinandersetzung mit Macht ist im Entstehungszeitraum des Zedler-Artikels freilich eine andere als im 20. Jahrhundert. Eine Spezifik des 18. Jahrhunderts gegenüber modernen Konzepten ist die starke Kopplung des Macht- an den Vermögensbegriff. Dies verweist auf Vermögen/vermögen als zentral gebrauchten zeitgenössischen Terminus und die in der Frühen Neuzeit weiterhin stark ausgeprägte Benutzung des Begriffs als Verb und Substantiv im Sinne von Gestaltungskraft, Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit. Aufgrund dessen gibt es im Verständnis des 18. Jahrhundert eine enge Verbindung von Macht, machen, vermögen, wirken und Wirklichkeit. Um es in den Worten des Philosophen Wilhelm Traugott Krug zu formulieren: »Wirklichkeit kündigt sich nur durch Wirksamkeit an.«138 Für den Zedler bedeutet »Würcklichkeit« »das Daseyn eines Dinges, Lat. Actualitas, […] die Erfüllung seiner Möglichkeit«.139 Für diese Transformation vom Möglichen zum Wirklichen bedarf es des Vermögens und der Kraft, das Mögliche wirklich zu machen.140 Uneingeschränkt, d. h. als »Allmacht«, »alles mögliche wircklich«141 zu machen, kommt dies im frühneuzeitlichen Verständnis nur Gott zu. Die Macht der »Creaturen« hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass »dem Vermögen zu wircken gewisse Grentzen gesetzet sind«.142 Diese enge Verbindung zwischen Wirksamkeit und Macht findet sich in den Begriffen Wirkmacht und wirkmächtig noch im heutigen Sprachgebrauch.

Die weiteren Artikel zu Vermögen im Zedler definieren dieses als »Vermögen bey den Aerzten, Verschaffen oder Verfügung thun, erkenntliches Vermögen oder das Vermögen zu erkennen, Kirchen-Vermögen, eigenes Vermögen, sittliches Vermögen, Sondervermögen, vermachtes Vermögen, Vermögensanlage, Vermögen zu begehren, Vermögen sich zu besinnen, vermögend, vermögendes Feuer, vermögende Nath, Strafe das Vermögen einzuziehen, Vermögen zu erkennen, Vermögen der Geistlichen, Vermögenspatent, Vermögen zu reden, Abtretung des Vermögens, Confiscirrung des Vermögens, Offenbahrung des Vermögens, Vermächtniß seines ganzen Vermögens, Vermögen der Seele und als Vermögenssteuer«. Zusätzlich wird Vermögen in der Bibelstelle Esa. XLIII, 6 ausgeführt und in diesem Kontext darauf verwiesen, dass »das menschliche Leben, und also sein Vermögen und Krafft im Blute verfasset und begriffen ist«.143 In Bezugnahme auf weitere Bibelstellen wird ausgeführt, »Vermögen heist in Heiliger Schrifft, so viel als Krafft und Stärcke, das Unglück auszustehen«.144 Ohne im Detail auf alle genannten Aspekte des Begriffs eingehen zu können, zeigt sich in dieser Aufzählung eindrucksvoll die Bandbreite und Mehrfachbezüglichkeit des frühneuzeitlichen Vermögensverständnisses. Vermögen, wie es im Zedler verstanden wird, nimmt Bezug auf und konstituiert sich u. a. durch finanzielles Eigentum, durch Ökonomie, Haushalten und (kluge) Beziehungsführung, Heirat und Ehe, Schulden, Armut und Reichtum, Erben und Vererben, Recht und Strafe, Steuern, Kirche, Theologie und die Bibel, Möglichkeiten, Macht, Gewalt, Kraft, Wollen, Können und Fähigkeiten, Handeln, Moral, Selbstbeherrschung und -kontrolle, Blut, Körper, (Un-)Fruchtbarkeit, Leid und die Stärke dieses zu ertragen, Glück, Schicksal und göttlichen Segen, göttliche Gesetze und Begrenzungen, kognitive, körperliche und handwerkliche Fähigkeiten, Natur(gewalt) etc. In diesem Zugriff auf Vermögen wirken in enger Verzahnung zentrale zeitgenössische Konzepte ineinander. Insofern kann Vermögen als vormoderner Schlüsselbegriff bzw. als analytischer Schlüssel zu frühneuzeitlichen Logiken des Denkens und Handelns begriffen werden. Die eingangs im Zedler-Artikel insbesondere auf zeitliches Vermögen bezogene Feststellung lässt sich dabei letztlich auf den gesamten Begriff ausweiten: »Das Vermögen hat seine Grade, die man nicht so genau kann determiniren; überhaupt aber lassen sich einige gemeine Classen davon machen, welche man auf verschiedene Art abmessen muß.«145

Im Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung in der Ausgabe von 1811 wird das Verb vermögen definiert als »Ausrichten, bewerkstelligen können. […] In weiterer Bedeutung, Kraft, Fähigkeit haben, eine gewisse Veränderung hervor zu bringen, für können. […] In einigen engern Bedeutungen. (1) An zeitlichem Vermögen besitzen. […] (2) Jemanden zu etwas vermögen, ihn durch Vorstellung, sie seyn, von welcher Art sie wollen, dazu bewegen.«146 Auch als Substantiv wird es verstanden als »die Fähigkeit oder Möglichkeit, Veränderungen hervor zu bringen«.147

Im zeitlich später entstandenen Artikel Vermögen in der von Krünitz begründeten Oekonomisch-technologischen Encyklopädie wird der Begriff zunächst als Verb definiert, »welches oft an der Stelle des einfacheren Wortes können, im Stande sein, gebraucht wird, ebenso wie die Ausdrücke: die Kraft und Fähigkeit besitzen, um etwas in’s Werk zu setzen«148 – und damit (in ähnlicher Formulierung wie bei Adelung) sein Handlungscharakter hervorgehoben.149 Anschließend folgt der ebenfalls bei Adelung zu findende Hinweis: »[D]as Wort hat seiner Etymologie nach offenbar eine Verwandtschaft mit Macht und Machen, und die Vorsatzsylbe Ver ist nur eine Verstärkung des einfachen Begriffs und giebt ihm eine intensivere Bedeutung.«150 Wer etwas vermag, macht etwas und kann gleichzeitig Macht haben – über sich und/oder über andere(s).

Auch in der Definition als Substantiv, die an zweiter Stelle im Krünitz-Artikel fungiert, wird auf die Handlungsebene des Begriffes verwiesen: »Ein Hauptwort sächlichen Geschlechts, das Vermögen, die Kraft und Fähigkeit, etwas zu thun, etwas zu vermögen. Diese kann eine doppelte sein, eine äußere Kraft, ein äußeres Vermögen […] oder inneres Vermögen.«151 In dieser Textstelle zeigt sich eine deutliche, für das 19. Jahrhundert typische Tendenz, binär zu klassifizieren, was als ein Indiz dafür gewertet werden kann, dass sich die Vorstellungen von Innen und Außen in dieser Zeit in einer Transformation befanden bzw. als Grenzmarkierer an Wirkmacht gewannen. Vermögen wurde im Krünitz-Artikel zunächst als physisches und geistiges Können, als Handlungs-, Fähigkeits- und Wissensvermögen verstanden. Erst daraus wurde es als Analogie abgeleitet auch als materieller Besitz aufgefasst.

Das Verständnis von Vermögen hat somit auf seinen Pfaden in die (Post-)Moderne an semantischem Gewicht verloren und sich insofern verschlankt, als es an Vielfalt und Mehrfachbezüglichkeit eingebüßt hat. Ebenso ist es einen Weg vom Sein ins Haben gegangen. In Zeiten des Kapitalismus bleibt dieses schlankere, materialistische und ökonomistische Verständnis auch für die Gegenwart ein zentraler Forschungsterminus, der etwa Zugriff auf soziale und globale Ungleichheit ermöglicht. Für die Untersuchung vormoderner und möglicherweise auch der folgenden Epochen kann es jedoch sinnvoll sein, die signifikante früh- und vormoderne Verflechtung von Gestaltungs- und materieller Kraft (mit tendenziell stärkerer Betonung auf ersterem Aspekt) im Vermögensbegriff analytisch zu nutzen. Nicht zuletzt deshalb, weil die darin semantisch implizierte Möglichkeit, die Welt aus eigener Fähigkeit heraus zu formen, zu verändern und anzueignen, eine modernisierungstheoretische Gegenüberstellung von statischen vor- und dynamischen modernen Gesellschaften konterkariert.

2.2Kapital und allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft bei Pierre Bourdieu

Um aus einem rein ökonomistischen Verständnis von wirtschaftswissenschaftlichen Konzepten herauszukommen, war und ist dabei Pierre Bourdieus Entwicklung eines dreidimensionalen Kapitalbegriffs als Bestandteil seines »Konzept[s] eines mehrdimensionalen sozialen Raumes«152 zentral. Bourdieu, dessen Lebensweg ausgehend von einem abgelegenen Ort in den Pyrenäen und einer eher bildungsfernen Familie eine »atemberaubende Flugbahn durch alle Etagen der französischen Bildungspyramide«153 in das Collège de France nahm, hat im Rahmen seines Militärdienstes den Algerienkrieg aus eigener Anschauung erlebt. Im Rückblick beschrieb er dies als Schlüsselerlebnis für seine Abkehr von der Philosophie und seine Hinwendung zur Erforschung des Sozialen.154

Der soziale Raum konstituiert sich Bourdieu zufolge erstens durch verschiedene Formen von Kapital, zweitens durch »die sozialen Felder, verstanden als intelligible Orte sozialer Praxisformen«155 und drittens durch das Konzept des Habitus. Hergestellt wird der soziale Raum durch das Handeln, der sich in ihm bewegenden und von ihm gleichzeitig begrenzten Individuen, deren »kulturelle[] und soziale[] Existenzbedingungen« über die »Spielregeln« des Habitus, d. h. durch vermeintlich »selbstverständliche[] Denk- und Vorstellungsvoraussetzungen«,156 begrenzt, orientiert und geprägt sind. Bourdieus Theorieansatz ermöglicht damit einen handlungsorientierten Zugang auf die soziale Welt, in dem das (Inter)Agieren der historischen Akteur*innen weder gänzlich freischwebend noch vollständig strukturell determiniert ist.157

Bereits in seinem Werk Die feinen Unterschiede hat Bourdieu dabei den Ansatz verschiedener Kapitalformen entwickelt158 und darauf verwiesen, dass familiärer Besitz nicht nur materiell verfasst ist, sondern auch »Werte[], Tugenden und Kompetenzen« (als Erbe) weitergegeben werden.159 In dem Aufsatz Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital160 geht er von der These aus, dass Kapital als ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital161 auftreten kann sowie als diesen Kapitalsorten übergeordnetes bzw. diesen zum Teil innewohnendes symbolisches Kapital:

Das ökonomische Kapital ist unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts; das kulturelle Kapital ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln; das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtungen und »Beziehungen«, ist unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von Adelstiteln.162

Bourdieu geht von einer »Konvertibilität«163 der Kapitalsorten aus, verweist aber auf die Unsicherheiten, die dem zugrunde liegen, und ebenso auf die Transformationskosten sowie ein gegebenes »Schwundrisiko«164. »Die anderen Kapitalarten können mit Hilfe von ökonomischen Kapital erworben werden, aber nur um den Preis eines mehr oder weniger großen Aufwandes an Transformationsarbeit, die notwendig ist, um die in dem jeweiligen Bereich wirksame Form der Macht zu produzieren.«165 Ohne dass Bourdieu von einem simplen »Ökonomismus« ausgeht, von dem er sich explizit ebenso abgrenzt wie von einem »Semiologismus«, der »die brutale Tatsache der universellen Reduzierbarkeit auf die Ökonomie«166 ignoriert, nimmt das ökonomische Kapital bei ihm dennoch eine spezifische und zentrale Position ein, die es von den anderen Kapitalarten unterscheidet, denn es liegt ihnen allen zugrunde.167 Andererseits sind aber »die transformierten und travestierten Erscheinungsformen des ökonomischen Kapitals niemals ganz auf dieses zurückzuführen«.168