Das Herz einer Frau - Barbara Cartland - E-Book

Das Herz einer Frau E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

Die Geschichte spielt im Senegal. Es ist das Jagt 1899. Lord Orsett will seine Nichte Yvette de Villon mit dem Generalgouverneur verheiraten. Doch diese liebt einen französischen Diplomaten namens Remy Mendes. Die beiden haben sich heimlich auf der Seereise nach Dakar verlobt. Orsett droht, Yvette zu enterben, wenn sie nicht den Generalgouverneur heiratet, ihre Freundin Kelda, die sie auf der Reise begleitet hat, ist entschlossen ihr zu helfen.

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Das Herz einer Frau

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2019

Copyright Cartland Promotions 1985

Gestaltung M-Y Books

1

Als Kelda über den Flur ging, hörte sie jemanden weinen. Sie hielt inne, lauschte und stellte fest, daß das Schluchzen aus Yvette de Villons Zimmer kam. Kelda blieb stehen und mußte sich zwingen, nicht an die Tür zu klopfen und nachzusehen, was geschehen war.

Doch sie wußte, daß es nicht ihre Aufgabe war, sich in irgendeiner Weise in die Angelegenheiten der größeren Mädchen einzumischen. Mrs. Gladwin hatte ihr das in aller Deutlichkeit gesagt, als sie sie vom Dienstmädchen für all die Arbeiten, die sonst niemand verrichten wollte, zur Hilfslehrerin beförderte.

»Da du gut Klavier spielst«, hatte sie in jenem kalten Ton gesagt, den sie im Umgang mit Untergebenen immer annahm, »wirst du die Mädchen beim Üben beaufsichtigen, und du wirst auch im Klassenzimmer anwesend sein, wenn sie ihre Hausaufgaben machen. Das wird die Lehrerinnen etwas entlasten.«

Sie schwieg eine Weile, als ob sie nachdenken wollte, welche Last sie Kelda noch aufbürden könnte, dann fuhr sie fort: »Natürlich bleiben deine bisherigen Pflichten wie Waschen, Nähen und Stopfen bestehen. Aber du kannst das als eine Beförderung betrachten, für die du entsprechend dankbar sein solltest.«

»Vielen Dank, Madam«, antwortete Kelda mechanisch.

Ein kritischer Blick von Mrs. Gladwin traf sie. »Ich stelle fest, daß dein Kleid in der Taille zu eng ist«, sagte sie. »Es ist schon fast unanständig.«

»Ich bin leider herausgewachsen«, sagte Kelda.

»Dann mußt du es eben weiter machen.«

»Das habe ich bereits getan, Madam.«

»Ausreden, nichts als Ausreden, um wieder Geld auszugeben«, fuhr Mrs. Gladwin sie an. »Du kannst jetzt gehen.«

Zitternd vor Empörung hatte Kelda das Zimmer der Direktorin verlassen, und sie seufzte vor Erleichterung, als sie endlich im Flur war. Sie wußte, daß Mrs. Gladwin sie nicht mochte, selbst wenn sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, und sie hatte sich immer nach dem Grund für diese Antipathie gefragt, bis eines Tages eines der größeren Mädchen sie aufklärte.

»Halt dich von dem Drachen fern, Kelda«, hatte das Mädchen gewarnt. »Sie wandelt auf dem Kriegspfad, und du weißt, daß sie es auf dich abgesehen hat, weil du so hübsch bist.«

Kelda war zu überrascht gewesen, um etwas zu entgegnen; aber als sie sich an jenem Abend endlich in ihre Dachkammer zurückziehen konnte, wo sie schlief, betrachtete sie sich in dem kleinen blinden Spiegel, der über der Kommode hing.

Bin ich wirklich hübsch? fragte sie sich und stellte überrascht fest, daß das zutraf.

Im Alter von fünfzehn war sie in Mrs. Gladwins Internat für höhere Töchter gekommen, nachdem sie drei Jahre in einem Waisenhaus verbracht hatte. Ihre Eltern waren bei einem Erdbeben in der Türkei ums Leben gekommen.

Philip Lawrence war Archäologe gewesen und hatte im Auftrag der National Geographic Society eine Forschungsreise in die Türkei unternommen. Es war ein großes Zugeständnis, daß man seinem Wunsch, seine Frau mitzunehmen, nachgab. Natürlich war es ausgeschlossen, auch noch die Reisekosten für eine dritte Person zu übernehmen, aber irgendwie hatte Philip Lawrence das Geld aufgebracht, um Kelda, ihr einziges Kind, mitnehmen zu können.

Für Kelda war es nichts Neues, die Eltern auf Reisen zu begleiten, und sie genoß jeden Augenblick. Doch dann kamen ihre Eltern bei einer Katastrophe ums Leben, und Kelda bereute es bitter, an jenem schrecklichen Tag nicht bei ihnen gewesen zu sein. Sie waren gerade von einer längeren Expedition zu dritt zurückgekommen, die Kelda so sehr erschöpft hatte, daß ihre Eltern sie am nächsten Tag in der billigen Pension zurückließen, wo sie die Nacht verbracht hatten. Als sie aufbrachen, schlief Kelda noch, und so weckten sie sie nicht.

Oft hatte Kelda heiße Tränen vergossen, nicht nur, weil sie ihre Eltern verloren hatte, sondern auch, weil sie nicht hatte Abschied nehmen können von den beiden Menschen, die sie am meisten liebte, die alles für sie bedeuteten.

Sie hatte nie herausgefunden, wer bestimmt hatte, sie in ein Waisenhaus in einem Londoner Vorort zu schicken. Sie vermutete, daß es einer der Missionare war, die sich ihrer angenommen hatten. Aber sie wußte es nicht genau, denn sie hatte unter einem schweren Schock gestanden, und alles war ihr so unwirklich erschienen, bis sie sich plötzlich als Fürsorgekind unter fünfzig anderen Waisen verschiedener Altersgruppen wiederfand, von denen die meisten seit ihrer Geburt im Heim waren.

Diese Kinder akzeptierten ihr Los in stoischer Gelassenheit, weil sie nie etwas anderes gekannt hatten. Aber für Kelda, die in Liebe und Geborgenheit aufgewachsen war, die die Kameradschaft ihres Vaters und das sanfte Wesen ihrer Mutter erfahren hatte, war es wie der Sturz in eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gab.

Drei Jahre lang hatte sie erleben müssen, wie fast unerträglich entwürdigend es war, als Nichts angesehen und herumkommandiert zu werden, als ob man keine Gefühle hätte, schlechte und zudem unzureichende Nahrung zu bekommen und mit einem Dutzend anderer Kinder in einem Raum schlafen zu müssen, wo man im Winter vor Kälte zitterte und im Sommer vor Hitze fast nicht atmen konnte.

Kelda empfand es als unsägliche Erleichterung, als man sie mit fünfzehn aufforderte, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und sie zu diesem Zweck in Mrs. Gladwins Internat schickte.

Hier spürte sie zumindest einen Hauch von Kultur und bekam für ihre Begriffe gutes Essen, auch wenn die Schülerinnen sich ständig darüber beklagten. Am wichtigsten war es für Kelda jedoch, daß sie jetzt in ihrer Schulbildung dort fortfahren konnte, wo sie beim Eintritt ins Waisenhaus stehengeblieben war. Die meisten Kinder im Waisenhaus konnten weder lesen noch schreiben. Zwar kam ein Lehrer, der sie täglich mehr oder weniger gut zwei Stunden lang unterrichtete, aber für fortgeschrittene Schüler oder solche, die wie Kelda außergewöhnlich intelligent waren, gab es keine Möglichkeit der Fortbildung.

Im Internat war es dagegen ein leichtes für sie, abends ein Schulbuch mit in ihr Zimmer zu nehmen. Wenn sie auch oft zu müde war, um alles, was ihr wissenswert erschien, aufzunehmen, so hatte sie sich im Lauf der Zeit doch so viel Wissen angeeignet, wie es den Vorstellungen ihres Vaters entsprochen hätte.

Die Lehrerinnen wechselten ständig, aber es gab doch immer eine oder zwei unter ihnen, die Kelda ihre eigenen Bücher zur Verfügung stellten oder sich die Zeit nahmen, um ihr Dinge zu erklären, die sie nicht verstanden hatte. Einer ältlichen Französin brachte sie heimlich nach dem Schlafengehen noch Kaffee ans Bett, und diese revanchierte sich, indem sie Französisch mit ihr sprach.

»Du hast von Natur aus einen Pariser Akzent, Kind«, sagte sie, »aber du mußt die Verben üben. Die Engländer sind immer so schlampig mit den Verben.«

Damals konnte Kelda schon recht gut Französisch, aber sie war entschlossen, es eines Tages so fließend zu beherrschen wie ihre Muttersprache. Deshalb war sie weiterhin Mademoiselle eifrig zu Diensten und wurde schließlich mit der Bemerkung belohnt: »Jeder, der dich nicht anschaut, könnte dich für eine Französin halten; wenn man dich im Dunkeln sprechen hörte, könnte man glatt darauf hereinfallen.«

Ein solches Kompliment hatte Kelda noch nie in ihrem Leben gehört, und sie bewahrte es wie einen Schatz in ihrem Herzen.

Es war eine besondere Freude für sie gewesen, als Yvette de Villon vor zwei Jahren ins Internat gekommen war. Sie war Französin und entstammte, wie Kelda später herausfand, einer sehr angesehenen Familie.

Es wurde zwar nicht gern gesehen, daß Kelda sich mit den Schülerinnen anfreundet - sie sollte sie lediglich bedienen, ihre Kleider bügeln und ausbessern, falls sie nicht damit zurechtkamen -, aber mit Zähigkeit und Ausdauer gelang es ihr doch, die Gunst der hübschen Französin zu erringen und schließlich ihre Vertraute zu werden.

Dennoch fürchtete Kelda jetzt sich aufgrund dieses Vertrauensverhältnisses zu viel herauszunehmen, und dachte daran, daß die oft unberechenbare Yvette in ihrem Kummer es ihr durchaus übelnehmen könnte, wenn sie sich ihr aufdrängte.

Was war wohl der Grund dafür, daß Yvette so weinte? Sie war anders als die anderen Mädchen, die oft weinten, wenn eine der Lehrerinnen verärgert reagierte, oder wenn sie anfangs vor Heimweh verzweifelt waren. Yvette war sehr stolz und hatte folglich auch keine Busenfreundin, an die sie sich in ihren Nöten, seien sie nun wirklich oder nur eingebildet, hätte wenden können.

Aber ihr Weinen klang jetzt so verzweifelt, daß Kelda es nicht länger ertragen konnte. Leise klopfte sie an die Tür, und nach einem Augenblick der Stille fragte Yvette mit zögernder und zitternder Stimme: »Wer - wer ist da?«

»Ich bin’s, Kelda.«

»Komm rein!«

Kelda schlüpfte ins Zimmer. Der Raum war klein, wie alle Zimmer in dem Internat; aber hier herrschte eine sehr persönliche Atmosphäre, weil Yvette ihre vielen eigenen Dinge darin auf gestellt hatte. Auf dem schmalen Bett lag eine teure Spitzendecke, und den einzigen Stuhl im Zimmer schmückte ein hübsches Zierkissen. Die Schranktür stand offen und ermöglichte Kelda den Blick auf eine Fülle von Kleidern in leuchtenden Farben, die alle von teuren Pariser Modeschöpfern stammten.

Aber das Gesicht, das sich Kelda zuwandte, hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit dem der sonst so attraktiven Yvette. Die Augen waren verquollen, die Nase war rot, Tränen liefen über ihre Wangen.

»Was ist passiert?«

Während Yvette sprach, sah Kelda, daß sie einen zerknitterten Brief in der einen Hand hielt und die andere ein tränendurchnäßtes Taschentuch zerknüllte.

»Ist jemandem, den du liebhast, etwas zugestoßen?« fragte Kelda.

Das war immer ihr erster Gedanke, wenn irgend jemand zutiefst unglücklich war; denn dann mußte sie jedes Mal daran denken, wie ihr Vater und ihre Mutter starben und sie niemanden hatte, an den sie sich hätte hilfesuchend wenden können.

»Nein das nicht«, antwortete Yvette.

Kelda kniete sich neben sie.

»Sag mir, was du hast«, sagte sie beruhigend. »Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Niemand kann - niemand kann helfen«, brachte Yvette mit schwacher Stimme hervor.

»Sag es mir doch«, bettelte Kelda leise.

»Ich - ich hab’ einen Brief von - von meinem Onkel.«

»Und der hat dich so aus der Fassung gebracht?«

»Ich hasse ihn. Ich habe ihn immer gehaßt, und jetzt - jetzt soll ich bei ihm wohnen!«

Kelda erinnerte sich, daß Yvette wie sie selbst ein Waisenkind war. Aber sie hatte wenigstens zahlreiche Verwandte in Frankreich. Jedes Mal, wenn sie in den Ferien nach Paris fuhr, wohnte sie bei Onkeln und Tanten, die, wie Kelda wußte, alle sehr beeindruckende Titel hatten und romantische Schlösser an der Loire und Villen im Süden besaßen.

Wenn Yvette ins Internat zurückkehrte, erzählte sie von der aufregenden Zeit, die sie verbracht hatte, von den vielen Bällen, auf denen sie gewesen war, und es war sehr merkwürdig, daß sie jetzt so verzweifelt schien.

Laut sagte Kelda: »Ich wußte gar nicht, daß du gegen irgend jemanden aus deiner Verwandtschaft Haß empfindest. Bei welchem Onkel sollst du denn wohnen?«

»Bei meinem englischen Onkel«, antwortete Yvette. »Er ist schrecklich, und wenn ich bei ihm wohne, werde ich Frankreich und alle - alle meine Freunde nie wiedersehen.«

Sie brach erneut in Tränen aus, und Kelda erhob sich, um ihr ein frisches Taschentuch aus der Kommode zu holen. Sie reichte es Yvette und sagte, während diese sich die Tränen trocknete: »Ich wußte gar nicht, daß du einen Onkel hast, der Engländer ist. Du hast ihn nie erwähnt.«

»Warum sollte ich auch? Ich sag’ dir ja ich hasse ihn. Aber meine Tante hat ihn nun mal geheiratet.«

»Und er lebt in England?« fragte Kelda weiter. »Das ist doch gar nicht so schlimm. Schließlich hast du ja genug Freundinnen hier in der Schule, die Engländerinnen sind.«

»Er lebt aber nicht in England«, erwiderte Yvette, »sondern in Senegal.«

Kelda brauchte ein paar Sekunden, um sich die Lage von Senegal in Erinnerung zu rufen.

»Du meinst doch nicht Senegal in Westafrika?«

Yvette nickte.

»Mein Onkel lebt dort, weil er, weil er die Gesellschaft verabscheut. Er ist ein Einsiedler, ein Exzentriker. Warum soll ich nur mit so einem - mit so einem Menschen leben?«

Ihre Stimme klang verzweifelt.

»Gibt es irgendwelche Gründe, warum du ihm gehorchen mußt?« fragte Kelda zögernd.

»Lange vor ihrem Tod haben Mama und Papa ihn zu meinem Vormund erklärt«, antwortete Yvette. Sie tupfte sich die Augen trocken, bevor sie fortfuhr: »Damals lebte Tante Ginette noch. Da sie Mamas jüngere Schwester war, dachten sie wahrscheinlich, daß sie Mamas Platz einnehmen würde, falls ihnen etwas zustieß. Aber jetzt ist sie tot, und es bleibt nur Onkel Maximus, den ich immer gehaßt habe und der mich bestimmt auch haßt.«

»Wenn das stimmte, warum sollte er dann wollen, daß du bei ihm wohnst?« fragte Kelda in ihrer praktisch denkenden Art.

»Wahrscheinlich will er mich in Afrika einsperren, wo ich keinen von meinen Freunden sehen, wo ich auf keinen Ball gehen kann und nichts habe, nichts, was mir Spaß macht, wo ich nur alt und so verbittert werde wie er.«

»Woher weißt du, daß er das ist?« fragte Kelda.

»Ich bin ihm vor fünf Jahren einmal begegnet«, erklärte Yvette, »und einige meiner Verwandten haben ihn in letzter Zeit gesehen und sagen, er sei noch schlimmer geworden.«

Kelda wußte darauf keine Antwort, und Yvette fuhr fort: »Irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Wenn man sich über ihn unterhält, verstummen plötzlich alle, sobald ich ins Zimmer komme. Aber ich habe schon oft meine Cousins lachend sagen hören, ich hätte zu viel Geld und würde vielleicht einmal ebenso zynisch werden wie Onkel Maximus.«

»Reich ist er also«, bemerkte Kelda. »Vielleicht möchte er dir sein ganzes Geld hinterlassen.«

»Ich will sein Geld nicht«, gab Yvette zurück. »Ich habe selbst genug. Mama und Papa haben mir alles vermacht, was sie besaßen. Ich darf nur noch nicht darüber verfügen, erst wenn ich einundzwanzig bin, und das dauert noch mehr als drei Jahre. Drei Jahre lang muß ich noch mit Onkel Maximus leben und ihn um jeden Pfennig bitten, den ich ausgebe.«

Es folgte eine solche Flut von Tränen, daß Kelda Yvette nur noch in den Arm nehmen und sie an sich drücken konnte.

»Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm«, beruhigte sie die Freundin, »vielleicht ist es sogar ganz interessant, Senegal kennenzulernen.«

Sie erinnerte sich jetzt, daß ihr Vater ihr von Westafrika erzählt und gesagt hatte, er würde gern dorthin reisen. Einmal war Kelda mit den Eltern in Algerien gewesen, aber das war zu lange her, als daß sie sich genau hätte erinnern können. Sie wußte nur noch, daß es ein Land voller Sonne war und daß sie, ihr Vater und ihre Mutter vieles gesehen hatten, was ihnen Freude machte. Obwohl sie nur kurze Zeit in Algier verbrachten, hatte die Stadt sie fasziniert.

»Ich werde einmal in den Geographiebüchern nachsehen, was dort über Senegal steht«, sagte sie, »und dann werde ich es dir sagen. Wo genau lebt dein Onkel?«

»Es ist mir egal, wo er lebt«, antwortete Yvette gereizt. »Es wird genauso schrecklich sein wie er selbst, und ich werde jede Minute dort hassen!«

»Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie du denkst«, versuchte Kelda sie zu beruhigen, »sag mir, wo er lebt.«

»Du kannst die Adresse selbst nachlesen«, antwortete Yvette und ließ den Brief, den sie in der Hand hielt, zu Boden fallen.

Kelda bückte sich und hob ihn auf. Dabei stellte sie fest, daß es sehr feines Briefpapier war mit einem beeindruckenden Wappen.

Sie wollte nicht neugierig erscheinen, aber als sie den Absender entzifferte und feststellte, daß der Brief aus Dakar kam, fiel ihr Blick auf die erste Zeile, die in einer sehr entschiedenen steilen Handschrift geschrieben war: »Meine Liebe Nichte...«

Die förmliche Anrede befremdete Kelda zwar, doch sie sagte nur: »Ich bin sicher, in den Büchern viel über Dakar zu finden, und ich bin auch fast sicher, daß es in französischer Verwaltung ist. Also werden dort Franzosen leben, und du wirst nicht so einsam sein, wie du jetzt glaubst.«

»Ich will aber in Frankreich leben«, beharrte Yvette. »Ich will nach Paris, wo ich tanzen und auf all die herrlichen Bälle gehen kann, die mir zu Ehren gegeben werden, wenn ich Weihnachten aus der Schule komme.«

Kelda hatte schon öfter daran gedacht, daß Yvette, da sie Anfang des Jahres achtzehn wurde, entweder Weihnachten oder Ostern das Internat verlassen würde. Und da sie Yvette mochte, wußte sie, daß sie sie vermissen würde, zumal es sonst keine Schülerin gab, der sie ihre Zuneigung hätte schenken können.

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll«, seufzte sie.

»Glaubst du, sie erlauben mir, noch sechs Monate länger hierzubleiben, wenn ich darum bitte?« fragte Yvette plötzlich.

Kelda schaute auf den Brief, den sie noch immer in der Hand hielt. Irgendwie spürte sie, ohne zu wissen, warum, daß eine geheimnisvolle Kraft von ihm ausging. Er strahlte unmißverständlich Autorität aus.

»Ich denke, wenn dir dein Vormund befiehlt, die Schule zu verlassen, mußt du ihm gehorchen«, sagte sie ruhig.

Yvette sprang auf.

»Warum sollte ich bei jemandem wohnen, den ich hasse?« fragte sie. »Warum kann er mich herumkommandieren, ohne mich überhaupt nach meinen Wünschen zu fragen?«

Sie hielt einen Moment inne, bevor sie fortfuhr: »Wahrscheinlich kennst du meine Antwort. Ich würde lieber in einer Dachkammer in Paris wohnen als in einem Palast in Dakar.«

»Hat er denn einen Palast?« fragte Kelda neugierig.

»Ich vermute es. Da er so reich und prunksüchtig ist, wird er sich gegenüber den armen Eingeborenen als Herrscher aufspielen.«

Kelda legte den Brief wieder auf den Tisch und widerstand der Versuchung, Yvette zu fragen, ob sie ihn lesen dürfe. Ich kann ihr nicht helfen, dachte sie traurig.

Sie wollte gerade versichern, wie leid ihr das alles tat, als ein Klopfen an der Tür die Mädchen hochschrecken ließ.

»Wer ist da?« fragte Yvette.

»Die Direktorin erwartet Sie in ihrem Büro, Fräulein de Villon«, antwortete eines der Dienstmädchen und ging weg, ohne eine Antwort abzuwarten. Die beiden hörten nur noch ihre schweren Schritte im Flur.

Yvette sah Kelda an.

 »Der Drachen wird wohl auch einen Brief erhalten haben, und ich wette, daß sie ihn ganz gierig verschlungen hat. Schließlich ist Onkel Maximus wer!«

Mrs. Gladwin war ein Snob. Ihr Bemühen, sich bei den Eltern einzuschmeicheln, deren Namen im Debrett auftauchten, war für ihre Schülerinnen eine ständige Quelle der Erheiterung. Aber Yvette schien jetzt gar nicht belustigt, sondern sagte ernst: »Du kannst sicher sein, daß der Drachen genau das von mir verlangt, was Onkel Maximus befiehlt.«

»Du gehst jetzt besser hinunter und hörst, was sie sagt«, riet Kelda. »Aber du solltest dir zuerst das Gesicht waschen.«

»Sie soll ruhig sehen, wie ich aussehe«, erwiderte Yvette. »Ich werde versuchen, sie zu überreden, daß sie an meine Verwandten in Frankreich schreibt und davon abrät, mich ans Ende der Welt zu schicken; doch ich bezweifle, daß sie das tun wird.«

»Ich halte das auch für sehr unwahrscheinlich«, stimmte Kelda zu. »Und selbst wenn deine Verwandten Einspruch erheben, haben sie doch vor dem Gesetz keinerlei Rechte.«

»Bisher hat sich Onkel Maximus nicht im geringsten für mich interessiert«, beschwerte sich Yvette. »Er hat mir nie zu Weihnachten geschrieben, nicht einmal eine Karte. Warum will er jetzt auf einmal, daß ich bei ihm wohne? Woher dieses plötzliche Interesse?«

»Ja, das ist wirklich seltsam. Vielleicht fühlt er sich einsam?«

»Einsam? Onkel Maximus? Mein Cousin Jacques hat angedeutet, daß er trotz seines Einsiedlerdaseins immer eine Geliebte hat.«

Keldas Blick verriet, daß sie schockiert war.

»Ich kann nicht glauben, daß dein Cousin dir so etwas erzählt hat!«

»Nun ja, er hat es nicht wörtlich gesagt«, gab Yvette zu. »Er hat Onkel Maximus einmal besucht, als er auf dem Weg nach Kapstadt war, und seinem Bruder erzählt, er habe bei diesem Besuch eine sehr schöne Frau gesehen. Und da er nicht wußte, daß ich zuhörte, fügte er hinzu: ‘Ich habe den Verdacht, daß sie eine metisse ist’.«

Yvette runzelte die Stirn. »Weißt du, was eine metisse ist? Ich habe Tante Jeanne-Marie gefragt, aber sie wollte es mir nicht sagen.«

Kelda wußte, daß dies die Bezeichnung der Nachkommen von weißen Männern und eingeborenen Frauen war, aber das verschwieg sie Yvette. Statt dessen antwortete sie: »Ich werde es im Wörterbuch nachschlagen und dir dann sagen.«

»Das habe ich schon getan«, erwiderte Yvette, »aber es steht nicht drin. Es sei denn, ich habe es falsch buchstabiert.«

»Du mußt jetzt endlich zur Direktorin gehen«, drängte Kelda. »Du weißt, wie ärgerlich sie wird, wenn man sie warten läßt.«

»Was geht mich das an, wenn ich doch von hier fort muß ?«

Kelda brachte Yvettes Haar in Ordnung und holte ihr ein frisches Taschentuch.

»Ich werde diese hier waschen«, sagte sie und nahm die beiden tränendurchnäßten Taschentücher. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Nichts«, antwortete Yvette, »es sei denn, du kannst Onkel Maximus verhexen, so daß er auf der Stelle tot umfällt.«

Sie ging durch das Zimmer und blieb an der Tür stehen.

 »Das ist überhaupt eine Idee!« rief sie aus. »Ich glaube, in Afrika ist die Schwarze Magie sehr verbreitet. Sobald ich dort bin, werde ich einen Zaubermann aufsuchen und ihn fragen, ob er meinen Onkel aus dem Weg räumen kann.«

Kelda stieß einen leisen Schrei des Entsetzens aus.

»So etwas darfst du nicht sagen! Ich weiß, daß du das nie tun würdest.«

»Sei dir da nicht so sicher«, erwiderte Yvette scharf und stürmte aus dem Zimmer den Gang hinunter.

Kelda seufzte und begann mechanisch, das Zimmer aufzuräumen. Yvette tat ihr leid. Sie selbst hatte allerdings keinen größeren Wunsch, als nach Senegal oder sonst irgendwohin zu reisen. Sie wußte jetzt, daß schwerer als alles andere das Gefühl zu ertragen war, im Gefängnis zu sein, eingesperrt, zunächst hinter den dunklen, graubraunen Mauern des Waisenhauses und nun im Internat.

Als ihre Eltern noch lebten, waren sie nie lange an einem Ort geblieben. Wenn Philip Lawrence einmal nicht auf einer wichtigen Expedition unterwegs war, unternahm er Vortragsreisen durch Englands Universitätsstädte, und Kelda konnte sich daran erinnern, sogar zweimal in Edinburgh gewesen zu sein. Ihre Reisen waren zwar selten bequem gewesen, aber es war immer spannend, unterwegs zu sein.

Am meisten hatte es Kelda begeistert, in fremde Länder zu reisen, auf dem Rücken eines Kamels oder eines störrischen Maultiers zu reiten oder in einem kleinen Boot mit einem großen Segel zu einer Stadt zu segeln, die anders nicht zu erreichen war.

»O Papa, ich vermisse dich«, flüsterte Kelda.

Die acht Jahre seit dem Tod ihrer Eltern waren wie ein Alptraum, und sie glaubte oft, jeden Augenblick erwachen zu müssen. Sie dachte daran, daß Yvette, noch nicht ganz achtzehn, ihren Weg in die Welt hinaus antreten würde, während sie selbst im Juli einundzwanzig würde und sich an ihrem Leben, so wie es jetzt war, vermutlich nie etwas änderte.

Ob sie wohl, wenn sie das Internat verließe, eine Stelle finden würde, die ihr mehr lag? Sie hatte oft darüber nachgedacht und war zu dem Resultat gekommen, daß dies höchst unwahrscheinlich war. In gewisser Weise klammerte sie sich auch an Mrs. Gladwin, weil sie hier wenigstens Kontakt zu Mädchen hatte, die aus gebildeten Familien stammten.

Nicht, daß die anderen oder Mrs. Gladwin sie als Gleichgestellte angesehen hätten. Letztere erinnerte sie immer wieder daran, daß sie aus einem Waisenhaus kam und nur ein Fürsorgekind war.

Zuerst hatte Kelda sich innerlich dagegen aufgelehnt, denn sie spürte, daß es ihre Pflicht wäre zu erwidern, ihr Vater sei ein Gentleman und ihre Mutter eine Lady gewesen, auch ohne Geld. Doch dann entschloß sie sich zu schweigen, denn solche Widerreden verschlimmerten nur ihre Lage, die ohnehin schon hart genug war.

Mrs. Gladwin hatte ein besonderes Vergnügen daran, sie zu demütigen, weil sie im Gegensatz zu den anderen Dienstmädchen nicht einfach gehen konnte und im Gegensatz zu den Lehrerinnen nie widersprach.

Deshalb erzog Kelda sich zur Selbstbeherrschung, versuchte wegzuhören, wenn Mrs. Gladwin an ihr herumnörgelte, und bemühte sich zu übersehen, daß ständig Dankbarkeit von ihr erwartet wurde dafür, daß sie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatte.

Sicher, sie wurde schlecht bezahlt für ihre Dienste - sie erhielt etwa ein Viertel des Lohns der anderen Dienstmädchen -, aber sie wußte, daß sie daran nichts ändern konnte. Und selbst dieser geringe Lohn war längst überfällig. Da Kelda es haßte, zu fordern, was ihr zustand, weil das unweigerlich zu einer Predigt führte, wie dankbar sie für alles zu sein habe, hatte sie kein Wort darüber verloren.

Sie ging zu Yvettes Schrank, um die Tür zu schließen. Dabei fiel ihr Blick auf die Fülle von Kleidern, von denen Yvette viele erst zwei- oder dreimal getragen hatte.

Kelda dachte daran, wie hübsch ihre Mutter immer ausgesehen hatte, obwohl sie sich nie etwas Teures hatte leisten können.

 »Es ist nicht nur eine Frage des Geldes«, hatte sie ihr einmal erklärt. »Man muß Geschmack haben und wissen, was man tragen kann.«

Vielleicht hätte ich auch einen guten Geschmack, wenn ich einmal die Gelegenheit hätte, es auszuprobieren, dachte Kelda sehnsüchtig.

Ein Blick in den Spiegel genügte, um festzustellen, daß ihr graues Kleid aus grober Baumwolle sehr unvorteilhaft aussah und ärmlich wirkte. Und arm war sie ja wirklich! Natürlich hatte es Mrs. Gladwin ausgesucht, die von Anfang an darauf bestand, daß Kelda auch im Internat die gleichen grauen Kleider trug, die sie im Waisenhaus getragen hatte, anstatt ihr Kleider in helleren, freundlicheren Farben zu kaufen.

»Ach bitte, Mrs. Gladwin«, hatte sie vor einem Jahr gefragt, »könnte ich nicht, da ich sowieso ein neues Kleid brauche, ein blaues oder grünes bekommen?«

»Ich halte beide Farben bei deiner Stellung für unangebracht«, hatte die Direktorin bissig geantwortet. »Außerdem würde es schneller schmutzen.«

»Ich wasche meine Kleider jede Woche«, hatte Kelda schnell eingeworfen.

»Das halte ich für übertrieben«, widersprach Mrs. Gladwin entschlossen, Kritik zu üben. »Die Kleidung, die ich aussuche, ist die, die ich dir erlaube zu tragen. Keine Diskussion!«

Damit war Kelda entlassen. Als sie sich aus dem Büro schlich, wußte sie, daß ihre Hoffnung, man würde ihr erlauben, attraktiver auszusehen, eben immer nur eine Hoffnung bleiben würde.

Als sie nun die Schranktür schloß, malte sie sich aus, was sie kaufen würde, wenn sie es sich leisten könnte. Sicher würden Blau und ein zartes Grün ihr ebenso gut stehen wie ihrer Mutter. Denn Kelda hatte das gleiche hellblonde Haar, die gleichen großen, blaugrauen Augen, die die Farbe des Morgennebels hatten, und ihre Haut war rein und schimmernd, auch wenn sie von der schweren Arbeit blaß und abgemagert war.

Kelda betrachtete sich noch einmal kurz im Spiegel und wandte sich dann ab. Warum sollte sie etwas vortäuschen? Sie würde Grau tragen - grau wie die Jahre, die vor ihr lagen. Wenn Yvette doch nur wüßte, was für ein Glückskind sie war, von hier wegzukommen, gleich ob nach Senegal oder sonst irgendwohin.

Bis zum Abendessen gab es für Kelda noch eine Unmenge von Pflichten zu erfüllen. Eine der Aufgaben, die Mrs. Gladwin sich für sie ausgedacht hatte, war es, den Lehrerinnen das Abendessen zu servieren, das diese gemeinsam einnahmen.

Die Lehrerinnen hatten darauf bestanden, daß ihnen das Essen abends in einem eigenen Raum serviert wurde, denn dort konnten sie die Schulkost durch Delikatessen ergänzen, die sie sich selbst gekauft hatten oder die ihnen von Verwandten geschickt wurden.

Anfangs hatte sich Mrs. Gladwin einer solchen Neuerung widersetzt. Doch als sie schließlich einsehen mußte, daß sie keine vernünftigen Gegenargumente vorbringen konnte, rettete sie ihr Ansehen, indem sie anordnete, daß Kelda die Lehrerinnen bediente, ihnen das Essen aus der Küche brachte und hinterher abspülte, da alle Dienstmädchen angeblich zu viel zu tun hatten.

Kelda machte das nichts aus, denn auf diese Weise kam sie hin und wieder in den Genuß eines Leckerbissens, den ihr eine Lehrerin übrigließ - eine willkommene Abwechslung von der Schulkost, die immer gleich schmeckte.

Als Kelda an diesem Abend in das Eßzimmer der Lehrerinnen trat, war dort eine angeregte Unterhaltung im Gang.

»Ich hab’ zu ihr gesagt«, ereiferte sich gerade Miss Dawson, eine etwas ältere Lehrerin, »ich habe nicht die geringste Absicht, Mrs. Gladwin, während meiner Ferien zu irgendeinem entlegenen Fleckchen Erde zu reisen. Ich hasse das Meer, ich habe es immer gehaßt, und ich denke gar nicht daran, diese Insel jemals zu verlassen.«

Es folgte lautes Gelächter, während Kelda das schwere Tablett auf einem Beistelltisch absetzte.

»Und was hat sie da gesagt?«

»Sie hat mich kommentarlos gehen lassen und nach Miss Jenkins geschickt.«

»Haben Sie den Vorschlag angenommen, Jenky?« fragte jemand. »Erzählen Sie doch, wir sind ganz Ohr!«

»Natürlich nicht«, antwortete Miss Jenkins, die Sportlehrerin. »Ich verbringe meine Ferien mit meinem Verlobten zu Hause, und dafür würde ich sogar auf eine Fahrt zum Mond und zurück verzichten.«

Wieder folgte Gelächter. Kelda gab indessen die Suppe auf, stellte auf jeden Platz einen Teller.

»Bei wem hat sie es denn dann versucht?« wollte jemand wissen.

»Ich denke, sie ist uns der Reihe nach durchgegangen«, antwortete Miss Dawson. »Die Ashton hat mir, bevor sie heute abend ausging, gesagt, sie habe abgelehnt, und ich glaube, auch Miss Hart hat nein gesagt.«