Das Hotel am Meer - Morten Vittrup - E-Book
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Das Hotel am Meer E-Book

Morten Vittrup

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Beschreibung

Eine Liebe die über Wasser geht ...

Málaga, 1954: An der südspanischen Küste wird ein Argentinier angespült. Er nennt sich Víctor de la Vega und behauptet, er sei auf einem französischen Walfänger unterwegs gewesen, als ein Sturm ihn über Bord geworfen habe. Über seine Vergangenheit bewahrt er Schweigen.

In einem Ordenkloster wird er gesundgepfelgt. Dort lernt er die kluge Sofía kennen und verliebt sich in sie. Gemeinsam gründen sie eines der ersten Hotels der Stadt. In den kommenden Jahrzehnten werden Schicksalsschläge und Abenteuerlust die Familie auseinandertreiben. Doch im Hotel am Meer kommen sie immer wieder zusammen.

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Seitenzahl: 552

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Das Buch

»Du schuldest mir noch eine Geschichte«, sagte sie. »Die würde ich jetzt gerne hören.«

»Niemand hat sie je gehört. Zumindest nicht die ganze.«

»Dann erzähl sie mir.«

Er legte sich zu ihr. Sie rutschte an die Wand, damit er sich an sie schmiegen konnte. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohrläppchen.

»Eine Geschichte von Walfängern?«, fragte sie leise.

»Ja. Von Pottwalen, Albatrossen und dem Wahnsinn am Ende der Welt«, flüsterte der Mann, dessen Stimme ihr trotz der langen Jahre noch immer zu Herzen ging.

»Aber vor allem ist es die Geschichte, wie ich einen Menschen getötet habe.«

Der Autor

Morten Vittrup, Jahrgang 1983, hat in Spanien und Argentinien gelebt und arbeitet heute als freier Journalist in Dänemark. Inspiriert von den großen nord- und südamerikanischen Erzählern, verfasste er seinen Debütroman »Das Hotel am Meer«.

MORTENVITTRUP

Das Hotel am Meer

ROMAN

Aus dem Dänischen übersetzt von Frank Zuber

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die dänische Originalausgabe Argentineren der kom sejlende på en cedertræsplankeerschien 2018 bei Gyldendal.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2018 by Morten VittrupCopyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenRedaktion: Maike DörriesUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung von Motiven von Getty Images / Simon Watson, Trevillion / Nikaa, FinepicSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-64122911-5V001www.heyne.de

Inhalt

Prolog

Málaga, 1954

Die Entscheidung

Der Mann vom Ende der Welt

Als Sofía Baéz in die Fußspuren der heiligen Elisabeth trat

Poröse Knochen

Als Víctor de la Vega die Zeit stillstehen ließ

Heimkehr

Provinz Buenos Aires, 1926

Übergriff

Untergang

Der Junge, der spät zum Leben erwachte

Die Welt ruft

Die Insel im Delta

Málaga, 1957

Veränderungen

Hotel El Che

Flammen

Der Feigling

Barcelona, 1981

Die neuen Zeiten

Die Entscheidung

Der Duft von Vanille

Fluchtwege

Briefe

Málaga, 1991

Plötzlich so wenig Zeit

Talisman

Wahnsinn

Mörder

Gespenster

Málaga, 2003

Nur alte Männer fürchten die Welt

Der erste Revolutionär des 21. Jahrhunderts

Geheimnisse

Hyperexitation

Málaga, 2004

Lügen

Ist das heute noch wichtig?

Fluchtwege

Der Anfang

Kommentar des Autors und Danksagung

Für die wirkliche Sofía,die viel zu diesem Roman beigetragen hat.

Prolog

Sie saßen eng umschlungen im Dunkeln, und sie fühlte sich vierzig Jahre jünger. Die Haut seines Handrückens war glatt und jugendlich, als sie mit dem Finger darüber strich. Die Illusion der Erinnerung, die Macht der Erzählung. In Wirklichkeit waren beide alt und ihre Haut schlaff und rau. Bald würden sie sterben. Jedenfalls einer von ihnen.

Sie küsste ihn auf die Wange, kroch zurück ins Bett und zog die Decke über die Schultern.

»Du schuldest mir noch eine Geschichte«, sagte sie. »Die würde ich jetzt gerne hören.«

»Niemand hat sie je gehört. Zumindest nicht die ganze.«

»Dann erzähl sie mir.«

Er legte sich zu ihr. Sie rutschte an die Wand, damit er sich an sie schmiegen konnte. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohrläppchen.

»Eine Geschichte von Walfängern?«, fragte sie leise.

»Ja. Von Pottwalen, Albatrossen und dem Wahnsinn am Ende der Welt«, flüsterte der Mann, dessen Stimme ihr trotz der langen Jahre noch immer zu Herzen ging.

»Aber vor allem ist es die Geschichte, wie ich einen Menschen getötet habe.«

Málaga, 1954

Die Entscheidung

In dem Augenblick, als die Eier ins kochende Wasser plumpsten, begann Sofía mit dem Glaubensbekenntnis.

»Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.«

Sie nahm eine Keramikschüssel aus dem riesigen Küchenregal, wischte sie sauber und stellte sie auf die Ablage neben dem Herd. Dabei warf sie einen Blick aus dem Fenster. Ein sanfter Frühjahrsregen fiel auf die Lavendelbüsche im Klostergarten, leichter Morgennebel umhüllte die Stämme der Obstbäume.

Als sie mit dem Glaubensbekenntnis fertig war, kamen die Vaterunser an die Reihe. Mitten im zweiten Vaterunser betrat Schwester María Ángeles die Küche und begrüßte Sofía mit einem Nicken. Sie störte ihr Gebet nicht, sondern öffnete wortlos die Ofenklappe und warf ein paar Holzscheite in das flammende Inferno. Wollten die guten Schwestern von San Luis eine Ermahnung, was sie in der Hölle erwartete, mussten sie bloß in den Küchenherd schauen.

In der Küche war es unerträglich heiß, besonders an warmen Tagen wie diesem. Ostern war spät dieses Jahr, es war schon April.

Nachdem Sofía fünf Vaterunser aufgesagt hatte, fischte sie ein Ei nach dem anderen mit einem Holzlöffel aus dem Topf und legte sie vorsichtig in die Schüssel. Ein Glaubensbekenntnis und fünf Vaterunser machten perfekte Eier und sorgten nebenbei für Seelenfrieden, hatte ihre Mutter ihr eingeprägt.

Sie trug die Schüssel durch den Speisesaal in den Ostflügel. Dort lagen die Sterbenden, die unheilbar Kranken und die Dementen. Die anderen Patienten, mit Typhus, leichter Bronchitis, Polio oder Lungenentzündung, lagen im ersten Stock. Sie konnten noch selbst Treppen steigen.

Die Decke im Schlafsaal war niedrig mit dicken Balken. Bis auf die bronzenen Kreuze, die über jedem Bett wachten, waren die Wände nackt und voller Stockflecken. Das einzige Licht kam von einer nackten Glühbirne und der großen, halbrunden Sprossentür am Ende des Saales. Die kleinen Fenster an den Seitenwänden waren meist verriegelt, um die schlimmste Hitze draußen zu halten.

Die Äbtissin hatte einen Handwerker mit langem Sündenregister überredet, ein einfaches Waschbecken neben der Tür zu installieren, damit man wenigstens Wunden und Verbände vor Ort auswaschen konnte. Sofía stellte die Schüssel mit den Eiern auf die Ablage, wo die Schwestern Bettpfannen, Baumwollwindeln und Nachttöpfe aufbewahrten. Opiate und andere Medikamente waren in einer Kammer im Erdgeschoss weggeschlossen.

Es war keineswegs üblich, die Patienten in San Luis mit Frühstückseiern zu verwöhnen, aber die Äbtissin hatte es Sofía erlaubt. Schließlich war Ostern, und auch ein Sterbender hatte ein Recht auf ein einfaches Osterei, hatte Sofía argumentiert.

Der erste Patient, der eines bekam, war Pablo Herrera, ein frommer, alter Gießereiarbeiter, dessen Körper sich nicht entscheiden konnte, was ihm den Garaus machen sollte, die Demenz oder die Bronchitis. Sofía tupfte ihm den Schweiß von der Stirn, nahm das Tuch mit dem ausgehusteten Schleim von seiner Brust, wischte ihm das Kinn ab und legte ein frisches Tuch auf den Nachttisch. Dann half sie ihm in einen Rollstuhl und schob ihn vor die Sprossentür. Sie führte zur Loggia des Klostergartens, aber wegen des Regens ließ Sofía sie geschlossen.

»Möchten Sie ein Osterei?« Ohne auf Antwort zu warten, öffnete Sofía die geballte Hand des alten Mannes und legte das Ei hinein, als wäre es ein Rosenkranz.

Sofía machte eine schnelle Runde. Die Betten, neun Stück auf jeder Seite, waren von unterschiedlichster Herkunft. Manche waren hoch, andere niedrig. Manche waren aus Holz, andere aus rostigem Metall. Manche waren am Boden verschraubt, andere ließen sich nach Belieben umstellen. Nur das vergilbte Leinen und die Nachttische waren bei allen gleich.

Sie legte den Patienten die Hand auf die Stirn, um ihre Temperatur zu prüfen, und hob kurz die Decken an, um zu riechen, ob Windeln oder Hosen gewechselt werden mussten. Alle wachen Patienten bekamen ein Lächeln und ein »Guten Morgen«, begleitet von einem Osterei. Viel mehr konnte sie nicht tun. Nicht dass die Schwestern ihre Patienten nicht retten wollten – die Dementen, die Verdammten, die Ausgestoßenen, die Unglücklichen – , aber die von der Kirche bewilligten Mittel deckten kaum den Bedarf. Penizillin, Antibiotika, Morphin und Kodein waren seltene Luxusgüter. Außerdem fehlte den Schwestern die grundlegende medizinische Kenntnis. Sie waren Kinder des Glaubens, nicht der Wissenschaft.

Sofía und die acht Nonnen konnten in der Regel nicht mehr tun, als für die Patienten zu beten und ihnen Rosenkränze in die Hand zu drücken. Sie rieben ihnen selbst gemachte Mentholsalbe unter die Nase oder betupften ihre Gesichter mit Rosenwasser, damit der Gestank ungepflegter Bettnachbarn oder der Latrinen im hinteren Klostergarten ihren Todeskampf nicht allzu sehr störte.

Dort lagen sie im Halbdunkel und warteten, bis Alter, Typhus, Tuberkulose, Scharlachfieber, Polio, Unterernährung, Schwermut und andere in Spanien verbreitete Plagen sie von ihrem Elend erlösten und ins Reich des Himmlischen Vaters erhoben.

Die medizinische Expertise von San Luis lag in der Hand eines einzigen Arztes, eines älteren Mannes, der Gerüchten zufolge einmal ein vielversprechender Chirurg gewesen war, bis ein früher Anfall von Tremor seine Karriere beendete. Alle wussten, dass er dem Alkohol zusprach, um seine Hände zu beruhigen; mehr als einmal hatten die Schwestern ihn am frühen Morgen bewusstlos in den Lavendelbeeten des Klostergartens gefunden, aber sie sahen darüber hinweg. Keine Gewohnheit war so sündig, dass sie nicht mit einem oder zwei Ave Maria gesühnt werden konnte, und wo ließ sich eine verlorene Seele besser an der kurzen Leine halten als in einem Kloster?

Als Sofía zu Pablo Herrera zurückkam, war sein Kinn auf die Brust gesunken. Er schlief. Sofía schob den Rollstuhl wieder ans Bett und half ihm hinein. Sie schloss mit einem Gebet für seine Seele ab.

Sofía verließ die Unheilbaren im Ostflügel und ging zurück in die Küche. Im Speisesaal begrüßte sie die Äbtissin und Schwester Agneta, die den Tisch für das Mittagessen deckten. Die Übertragung der Morgenmesse aus Madrid war vorbei, und das Radio spielte spanische Volksmusik.

»Guten Morgen, Fräulein Baéz«, grüßte die Äbtissin, ohne mit der Arbeit innezuhalten. Sie lächelte Sofía an. »Wie haben die Patienten ihre Geste aufgenommen?«

»Manche besser als andere. Ich hätte ihnen ebenso gut einen Edelstein geben können, sie hätten es kaum bemerkt.«

Die Äbtissin und Schwester Agneta tauschten vielsagende Blicke aus. »Ihre Aufopferung für die Patienten ist einmalig. Mein Respekt«, sagte die Äbtissin zwischen scheppernden Blechtellern und den munteren Tönen einer andalusischen Copla.

»Danke, Schwester Maribel.«

Das Lob der Äbtissin klang einsilbig wie ein Telegramm, und doch fühlte sich Sofía, der es momentan an Anerkennung fehlte, geschmeichelt.

»Haben Sie schon näher über unser Angebot nachgedacht?«

Sofía schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch nicht genug Zeit. Ich hoffe, Sie verstehen.«

»Natürlich. Am wichtigsten ist, dass Sie sich selbst fragen, ob Ihre Hingabe zu unserem Herrn ebenso groß ist wie die zu den Patienten.« Sie richtete eine Gabel. »Wir alle schätzen Ihr Engagement sehr, Fräulein Baéz, aber dem Herrn zu dienen ist nicht dasselbe, wie den Patienten zu dienen. Und selbst, wenn Sie jetzt den Ruf verspüren, ist es noch ein weiter Weg bis zum ewigen Gelübde.«

»Würden Sie mich einen Moment entschuldigen? Ich komme gleich zurück.«

Sofía ging rückwärts aus dem Speisesaal hinaus. Sie wollte noch rasch in die Kapelle und rannte am Operationszimmer vorbei durch die Loggia, die am Rand des Klostergartens verlief. Hier lagen die Zellen der Schwestern, die mit einem Kreuz über jeder Tür markiert waren. Früher hatte es einen großen Schlafsaal über der Kapelle gegeben, um das Stundengebet zu erleichtern, aber die Äbtissin hatte es für vernünftig befunden, die Schwestern näher zu den Patienten im Ostflügel unterzubringen.

Sofía Baéz war keine Nonne. Sie überlegte, das Gelübde abzulegen, konnte sich aber nicht entscheiden, weshalb sie bis auf Weiteres nur freiwillige Helferin im Kloster war. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie die Jüngste unter den neun Schwestern von San Luis. Und die Einzige, die nicht permanent im Kloster wohnte.

San Luis war viele Jahre lang ein Kloster des St. Elisabeth-Ordens gewesen, bis die Äbtissin eines Tages im Frühjahr 1944 einen Spaziergang durch die Wirklichkeit machte, wie die Schwestern erzählten. Als sie zurückkam, war sie völlig überrumpelt von der Einsicht, in welch trauriger Verfassung ihr Land war. Unzählige amputierte Veteranen, gefolterte Partisanen, unterernährte Kinder, exkommunizierte Intellektuelle und Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, brauchten ein Krankenbett und warme Mahlzeiten.

Schwester Maribel bat den Orden und den zuständigen Bischof um Mittel, und seitdem diente San Luis als Hospital und geistiges Refugium für die Bedürftigen. Jede Schwester, die ins Kloster eintreten wollte, musste auch als Krankenpflegerin und Seelsorgerin arbeiten. Alle bekamen das Recht, im Notfall das Sakrament der Buße zu spenden und die letzte Ölung durchzuführen.

Im Klostergarten regnete es noch immer, aber in den Säulengängen der Loggia war es trocken. Auf drei Seiten rahmten sie den Innenhof ein, in dessen Mitte ein Marmorbrunnen thronte, der seit der Zeit Alfons’ VIII. keinen Tropfen Wasser mehr abgegeben hatte. Daneben reckte sich eine steinerne Statue der heiligen Elisabeth gen Himmel und konkurrierte mit den kleinen Obstbäumen darum, wer dem Herren näher kam. Rund um den Brunnen waren geflieste Gehwege angelegt, gesäumt von Haselbüschen, Stockrosen, Oleander und dem Lavendel, dessen Duft Sofía immer intensiver verabscheute.

Der Klostergarten, die sonnengelbe Fassade und der Vorgarten, wo Bougainvilleen am schmiedeeisernen Zaun rankten, rückten San Luis in ein besseres Licht, als es verdiente. Denn hinter dem Weinlaub blätterte die Farbe großflächig ab, und je näher man der Kapelle und der hinteren Mauer kam, desto beißender wurde der Gestank der Latrinen, besonders an warmen Sommertagen.

Sofía betrat die Kapelle. Sie lag wie üblich im Halbdunkel, beleuchtet nur vom ewigen Schein der Kerzen und dem spärlichen Sonnenlicht, das die Mosaikfenster durchließen. Sie kniete vor der Jungfrau Maria am Altar nieder, faltete die Hände und überlegte kurz, für wen sie alles beten sollte.

Es war die übliche Reihe. Sebastián. Ihn durfte sie auf keinen Fall vergessen, sein Name kam immer zuerst. Und immer, wenn sie ihn flüsterte, wurde sie von Sinneseindrücken überwältigt. Sein weicher, pubertärer Bart, der sie an der Wange kitzelte und nach frischem Schweiß roch. Sie malte sich aus, wie er als Erwachsener mit Vollbart aussah. In einem grünen Pyrenäental saß er an einen Baumstumpf gelehnt, kaute ein Stück Käse und hütete seine Schafe.

Auch für das Wohl ihrer Eltern betete sie. Ihre Mutter würde zweifelsohne ins Himmelreich eingehen, aber Sofía wünschte von ganzem Herzen, dass ihr Weg dorthin mit mehr Lebensfreude gesegnet wäre. Ihr Vater legte deutlich weniger Leidenschaft für sein Seelenheil an den Tag. Roberto Baéz hatte seinen Glauben vor langer Zeit verloren, weshalb sie umso mehr für ihn betete.

Schließlich betete Sofía noch für sich selbst. Dabei warf sie einen Blick nach links, wo St. Elisabeth sie aus einem Fresko heraus ansah. Die Heilige stand vor einem Rosengarten und zog einen Strauß Rosen aus ihrem Mantel. Im Hintergrund stand eine Kirche, in himmlisches Licht getaucht.

Die Legende besagte, dass Elisabeth von Thüringen Brot für die armen Bewohner Eisenachs aus der Burg geschmuggelt hatte, was der Hof missbilligte. Als man sie anhielt und fragte, was sie unter ihrem Mantel verberge, hatte sich das Brot in Rosen verwandelt. Eine Heilige war geboren.

»Bitte, gib mir ein Zeichen!«, flüsterte Sofía, aber die Antwort blieb aus.

*

Nach getaner Arbeit ging Sofía heim. Ihr Zuhause lag nur wenige Blocks entfernt. Die Sonne hatte die Schauer des Vormittags verjagt, und der geschäftige Lärm des späten Nachmittags erfüllte die Stadt.

Es war mitten in der Osterwoche. Von fern schallten die Trompeten und Trommeln eines der vielen Umzüge. Der Duft von brennenden Kerzen und Weihrauch hing in der Luft, am Straßenrand lagen Blumen.

Sie ging an der Bäckerei des Viertels vorbei und unterdrückte das Verlangen nach einer süßen Napolitana mit Schokoladenfüllung.

Die Familie Baéz aß früh zu Abend. Sofías Vater besaß eine Bar, El Zepelín, die im Erdgeschoss unter der Familienwohnung lag, weshalb sie aßen, ehe die Siesta vorbei war und Roberto oder Sofías Bruder Tristán wieder hinunter in die Bar musste.

Das Haus lag zwischen Málagas Hafen und der Altstadt im Viertel Ensanche Centro. Das Erdgeschoss und der erste Stock gehörten der Familie Baéz, während die Wohnung im zweiten Stock einer alten Dame, Esperanza Vargas, gehörte. Im Hinterhof gab es eine gemeinsame Toilette für alle Bewohner. Sofía hatte gehört, dass immer mehr Wohnungen in Spaniens Großstädten eine eigene Toilette hatten, aber nicht ihre in der Calle Tomás Heredia in Málaga.

Das Heim ihrer Kindheit war eine Eckwohnung, die sich wie ein Trichter zum Rest der Welt hin öffnete. Der Eingang und die lange, fensterlose Diele lagen im Dunkeln, nur vom Wohnzimmer am hinteren Ende schien etwas Tageslicht herein. Sofía wohnte am dunklen Ende. Als jüngste der Geschwister war es ihr Los, im Zimmer neben ihren Eltern zu wohnen, das über dem Eingang zur Bar lag. Wenn sie aus dem Fenster sah, schaute sie direkt auf die rote Markise.

Ihre zwei älteren Brüder, Jaime und Tristán, bewohnten weiter hinten im Gang jeder ein Zimmer. Früher hatten sie ein Zimmer teilen müssen, aber bald würde es noch mehr Platz geben. Jaime war sechsundzwanzig, gelernter Schneider und auf dem Weg ins eigene Leben. Er traf sich heimlich mit einer Kollegin und hatte Sofía verraten, dass er sie heiraten wollte, aber bis auf Weiteres war dies noch ein Geheimnis.

Sie aßen wie immer schweigend, Sofía, Beatriz, Roberto, und Tristán. Jaime war noch auf der Arbeit. Beatriz hatte die Läden geschlossen, um die Hitze draußen zu halten, nur ein paar Lichtstreifen drangen durch die Ritzen.

Sofía versuchte, das Thema San Luis zu vermeiden. Seit sie vor drei Monaten offenbart hatte, dass sie von nun an Schwester auf Probe im Kloster sei, war dies ein Streitpunkt gewesen, sowohl in der Familie als auch in ihrem Gemüt. Das Angebot der Äbtissin hatte die Sache nicht leichter gemacht. Es gab zu viele ungeduldige Seelen, die Sofías Entscheidung erwarteten. Schwester Maribel. Die heilige Elisabeth. Ihre Eltern.

»Und, weißt du schon, ob du es annimmst?«, fragte Beatriz, als Sofía schon gehofft hatte, ein Abendessen ohne Diskussionen zu erleben.

Ihre Mutter hatte die Kichererbsensuppe schon ausgelöffelt. Es war beinahe unnatürlich, wie rasch ihr kleiner Mund mit den schmalen Lippen einen Teller Suppe leeren konnte. Ihre Mutter hatte sich schon immer hauptsächlich durch geistige Nahrung am Leben erhalten.

Im Augenwinkel beobachtete Sofía ihren Vater. Er sah nicht einmal auf, saß im Halbdunkel und wischte den Teller mit einem Stück Brot sauber. Tristán schwieg.

»Was?«, fragte Sofía.

»Das Angebot der Äbtissin. Ich finde, es klingt wunderbar. Wenn du in deinem Glauben sicher bist, solltest du in Erwägung ziehen, es anzunehmen.«

Roberto machte sich bemerkbar. Ein Schnalzen mit der Zunge und ein tiefes Brummen. Langsam legte er den Löffel von sich.

»Beatriz, du weißt genau, dass wir in dieser Sache nicht einer Meinung sind.« Er richtete den Zeigefinger auf Sofía. »Sag der Äbtissin, sie kann sich ihr Angebot sonst wohin stecken, wo Gott es nicht sieht. Das ist das Beste, was du tun kannst. Wenn du dich nicht traust, tue ich es liebend gern für dich.«

Sofía seufzte. »Ich habe noch nichts entschieden. Und ihr macht es mir auch nicht leichter.«

»Deutlicher kann ich wohl kaum werden«, sagte ihr Vater.

»Vielleicht braucht sie keine Meinungen, sondern Ratschläge«, warf Beatriz ein.

Roberto rollte mit den Augen und stand hastig auf. »Ich gehe runter.« Er verließ das Zimmer. »Weiber«, hörte Sofía ihn in der Diele brummeln, ehe die Tür zufiel.

Tristán hatte offenbar nicht vor, sich in das Gespräch einzumischen. Sein Löffel klirrte auf das Porzellan, als er ihn ablegte. »Danke fürs Essen«, murmelte er, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und verließ ebenfalls das Zimmer.

*

Die Bar El Zepelín hatte Robertos Vater gehört. Sie war auf den Ruinen des Lebenswerkes eines anderen Mannes errichtet, ein bisexueller Friseur, dessen Salon kurz nach der Jahrhundertwende Konkurs gegangen war, nachdem seine sexuellen Neigungen an die Öffentlichkeit geraten waren. Gerüchten zufolge hatte er einen Ozeandampfer nach Südamerika bestiegen. Robertos Vater hatte das Lokal für einen Apfel und ein Ei erworben und es in eine Bar verwandelt, die Barbierstühle und Spiegel mit Goldrahmen verkauft, die geschmacklosen Fresken an der Wand übermalt, Wein- und Schnapsfässer an den Wänden aufgereiht und mit roter Kreide gekennzeichnet.

1934 kippte er im Lagerraum tot um, und die Bar ging an seinen ältesten Sohn Roberto. Er führte das Etablissement im Geiste seines Vaters weiter, wozu auch gehörte, dass die Familie mithalf. Tristán war Barkeeper und Kellner, Beatriz bereitete die Tapas zu, und Sofía scheuerte den Boden und half ihrer Mutter beim Kartoffelschälen am Morgen. Roberto hatte sie nie dazu gezwungen, aber ihrerseits hatte sie nicht das Gefühl, je eine Wahl gehabt zu haben.

Dennoch hatte er ihr nicht verboten, sich freiwillig im Kloster zu melden. Obwohl es für einen Mann wie ihn eine schwere Niederlage sein musste, dass seine einzige Tochter dem Familienbetrieb den Rücken kehrte, noch dazu, um Nonne zu werden.

Aber konnte ihr Vater es sich überhaupt leisten, ihr Vorwürfe zu machen, dachte Sofía, als sie am Abend vorm Spiegel saß und sich zum Schlafen fertig machte. In Gedanken zählte sie nach. Inzwischen dürften es fünf sein. Fünf von zweiundzwanzig Mädchen aus der Mittelschule, die das ewige Gelübde abgelegt hatten.

Guadalupe de la Fuente und Marisol Duarte, beide Benediktinerinnen in Madrid. Piedad Andreu, ihre gute Freundin, die von ihren Eltern in ein Bergkloster nördlich von Barcelona geschickt worden war, weil nur dort die katalanische Sprache am Leben gehalten wurde. Und die Schwestern Milagro, deren Suche nach einem Wunder sie bis in ein italienisches Benediktinerkloster an der Amalfiküste geführt hatte.

Alle fünf, nahm Sofía an, lebten ein genügsames Klosterleben, aber wenigstens kein Leben in Armut, wie so viele andere.

Waren sie nicht alle hungrig in die Schule gegangen? Und wenn ihre Mägen noch so laut unter der Schuluniform knurrten, die Nonnen zwangen sie, Arriba España zu singen, dass es von den Wänden widerhallte. Sie hatten einander insgeheim in die Augen geschaut, um die darin verborgenen Tragödien zu lesen – ein vermisster Vater, Bruder, Onkel, Cousin oder Gemeindepriester. Gemeuchelt, in den Tod getrieben, lebendig verbrannt, gehängt, kastriert oder spurlos im Bürgerkrieg verschwunden.

Ebenso gut konnten sie ihr Leben mit halbwegs vollem Magen hinter den Mauern der Kirche verbringen. Dort hatten sie wenigstens Zeit zum Trauern.

Was hatte ihr Vater ihr schon zu bieten, einer unverheirateten Frau in ihrem Alter? Er konnte es sich nicht leisten, sie nach La Granja in der Sierra Guadarrama bei Madrid zu schicken, wo die königliche Familie ihre Sommerresidenz hatte und die Oberklasse ihre ledigen Töchter hinschickte, um Ehemänner zu finden. Auch Sommerferien im teuren San Sebastián an der Biskaya, wo man Diplomatensöhne und reiche Franzosen traf, waren ausgeschlossen.

Ihre Mutter hatte Sofía zu etlichen Treffen mit potenziellen Freiern aus der Nachbarschaft geschleppt, aber keiner von ihnen hatte sie beeindruckt. Egal, wie präsentabel sie in ihren Anzügen mit Nelke im Knopfloch und Manschettenknöpfen aussahen, sobald sie den Mund öffneten, rochen sie nach Knoblauch und gaben nichts als Banalitäten von sich. Das einzige Gefühl, das sie in Sofía auslösten, war die Angst, fünfzig Jahre mit einem Mann zu verbringen, den sie im Laufe der Zeit vielleicht zu schätzen lernte, aber niemals lieben würde. Fünfzig Jahre in einer Wohnung wie dieser, wo man nur auf den Tag wartete, an dem man nicht mehr im Hof zur Toilette gehen musste. Ein halbes Jahrhundert Ehe, die keinen Deut besser als die ihrer Eltern wäre.

Ihre Dickköpfigkeit bedeutete jedoch auch, dass ihre Chancen schrumpften. Wenn sie ihrer Familie nicht zur Last fallen wollte, war das Kloster bald die einzige Möglichkeit.

Sofía musterte sich im Spiegel. Die kastanienbraunen Locken, ihre jüdische Hakennase, die sie nie gemocht hatte, die glatte Haut und das spitze Kinn.

Ein Barkeeper ihres Vaters, in den sie kurze Zeit verschossen war, hatte gesagt, sie sehe wie Antoñita Moreno aus, die berühmte Copla-Sängerin aus Sevilla. Sofía habe die gleichen Augen und sogar die gleiche Nase, und es fehlten nur Rosen im Haar und große Ohrringe, um die Illusion perfekt zu machen.

Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sah sie zwar keine Antoñita Moreno, aber sie war mehr oder weniger zufrieden. Alles, was sie vermisste, war der unerschütterliche Blick einer Gläubigen, der Blick einer zukünftigen Nonne, die mit ihrem Schicksal im Reinen war. Doch aus dem Spiegel blickte sie nur die übliche, unsichere Sofía an, und die hatte viele Gesichter – eines für jede ihrer vielen Persönlichkeiten. Es war wie ein Foto, das sich ständig veränderte.

Eines der Bilder stellte ein junges Mädchen dar, eine Ballerina in New York. New York, weil es Amerika war und ganz anders als die Calle Tomás Heredia in Málaga; Ballerina, weil das in ihrer Vorstellung war, was junge Mädchen in dieser Stadt machten. Die Ballerina war berühmt und hatte einen berühmten Mann an ihrer Seite. Das Traumpaar der Illustrierten, die neuen Manolo Caracol und Lola Flores.

Das Foto verblich, die Ballerina wurde zur Oberklassefrau in Madrid, die Ehefrau eines Konzertpianisten oder Stierkämpfers, eine gebildete Frau mit breiten Hüften, die den Teint der Mittelklasse unter teuren Kleidern und echten Perlenketten versteckte.

Das Motiv hielt nicht lange und wich einer älteren Version, der selbstaufopfernden Sofía, die mit leerem Blick auf der Bettkante ihres sterbenden Vaters saß und dessen Nachttopf leerte. Das Foto wurde zum Schmalfilm, und sie sah sich in die Küche gehen, um das Frühstück für den Rest der Familie zu bereiten; die gewissenhafte jüngste Tochter, das Glanzbild aller anderen Versionen, die anstelle des Klosters ein anderes Gefängnis gefunden hatte, um ihre besten Jahre zu vergeuden.

Plötzlich blieb der Zelluloidstreifen hängen, und sie sah nichts als die verwirrte Sofía der Gegenwart.

Der Mann vom Ende der Welt

Er kam am ersten Freitag nach Ostern, das würde Sofía nie vergessen.

Zwei Fischer schleppten ihn am Vormittag an. Er hing an ihren Schultern wie Christus am Kreuz, mit tangverfilzten Haaren, Vollbart und hängendem Kopf.

Die Fischer brachten ihn herein und erzählten, dass sie ihn nach ihrer Morgentour an der Küste südlich der Stadt entdeckt hatten. Er hatte auf einem Stück Treibholz gesessen, erzählte der eine. Sie hatten gesehen, wie er an den Strand gespült wurde und ihn in der Brandung aufgelesen, fügte der andere hinzu.

Sofía schob die Nase dicht an den Körper des Mannes. Er roch nach Salz und Meer. Was einmal eine dunkle Hose und ein roter Pullover gewesen sein mochten, war von Sonne und Salzwasser ausgebleicht und zerschlissen. Seine Haut hatte die Farbe heller Bronze, aber das Gesicht sah aus, als hätte er lange Zeit in Ammoniak gelegen. Die Haut schälte sich, nur sein Vollbart hatte ihm einen gewissen Schutz geboten.

Er war bei Bewusstsein, wie die Nonnen bemerkten.

»Wer sind Sie? Woher kommen Sie?«, fragte eine der älteren Schwestern, als ihnen peinlich bewusst wurde, dass alle im Kreis um den Mann herumstanden und ihn anstarrten.

»Víctor de la Vega«, antwortete er mit schwacher Stimme. »Ich komme vom Ende der Welt.«

Die Äbtissin brachte den Patienten ohne Papiere im Erdgeschoss des Ostflügels unter, im Bett neben Pablo Herrera, der im Sterben lag, aber glaubte, er befände sich mit seiner verstorbenen Frau auf Hochzeitsreise in Portugal. Es war das einzige freie Bett.

Sofía bekam die Aufgabe, sich um den Mann zu kümmern. Mit Schwester María Ángeles’ Hilfe zog sie ihm die zerfetzten Kleider aus, wusch ihn mit Lavendelseife, schmierte Salbe auf die Verbrennungen im Gesicht und legte ihm ein sauberes Gewand an. Dann schnitten sie ihm die Haare und den Bart und gaben ihm eine Bettpfanne.

Sofía schätzte ihn auf Mitte zwanzig, doch sein Zustand ließ kein genaueres Urteil zu. Vielleicht war er älter, vielleicht jünger.

In den ersten Stunden sagte er nicht besonders viel. Eine Schwester weckte den Arzt aus dem Mittagsschlaf; er war großzügig gestimmt und verordnete sogleich eine Dosis Morphin, was die Äbtissin nicht guthieß, wie Sofía bemerkte. Die Droge versetzte den Patienten in einen Zustand zwischen Schlaf und Bewusstlosigkeit, und als der Arzt ausgeschlafen hatte, verordnete er eine weitere Dosis.

»Seltsam«, sagte er, als er sich über das Bett beugte und den Mann ungeniert in mehrere Körperteile kniff. »Da studiert man Fachliteratur und medizinisches Wissen vieler Jahrhunderte, das Tausende von Krankheiten beschreibt, und doch kommen einem immer wieder Patienten unter, auf die keine Diagnose zutrifft. Möchte mal wissen, was dem hier zugestoßen ist.« Er sah Sofía an, die einen Hocker ans Krankenbett gebracht hatte. »Passen Sie gut auf ihn auf, Schwester. Oder muss ich noch Fräulein sagen? Egal«, sagte der Arzt und hob den Zeigefinger. »Hauptsache, Sie tun Ihre Arbeit. Der Herrgott wird sich schon um die richtige Anrede kümmern.« Mit diesen Worten verließ er den Saal.

Sofía blieb eine Weile sitzen und betrachtete den Patienten. Die Sonne hatte sein Haar gebleicht, das sicher einmal kaffeebraun gewesen war. Er hatte schmale Augen und hohe Wangen, was man mit gestutztem Bart viel besser erkannte. Und eine ungewöhnlich breite, platte Nase, die wie eine Sphinx aus seinem Gesicht ragte und mindestens so auffällig wie Sofías Judennase war.

Als sie später erneut in den Saal kam, hatte María Ángeles den Hocker am Krankenbett eingenommen.

»Er sieht so friedlich aus«, flüsterte sie. »Wie ein kleiner Junge, der tief schläft.«

Sofía holte einen zweiten Hocker und setzte sich an die andere Seite. Sie beteten ein Vaterunser und ein Ave Maria und rieben ihm etwas Mentholsalbe unter die Nase. Einer der anderen Patienten stank fürchterlich. Eine von ihnen musste aufstehen und seine Windel wechseln, dachte Sofía, aber die Schwester machte keinerlei Anstalten.

Wie gut, dass María Ángeles und ich keine Gedanken lesen können, dachte Sofía, als sie schweigend sitzen blieben. Ein einziges Mal schauten sie einander verlegen über das Bett an und senkten sofort wieder den Blick.

Da setzte der schlafende Mann sich ganz plötzlich auf und schrie. Sofía sah in ein Paar weit aufgerissene, völlig unzugängliche Augen, die sich sofort wieder schlossen, ehe der schlaffe Kopf ohne ein Wort wieder aufs Kissen plumpste.

»Meine Güte«, murmelte María Ángeles und schlug ein Kreuz.

Sofía faltete die Hände und nahm den Mann vom Ende der Welt in die Liste der Personen auf, die einen festen Platz in ihren Gebeten hatten.

*

Mit fünf Jahren hatte Sofía die Kraft des Gebetes entdeckt. Natürlich hatte Beatriz ihrer Tochter längst beigebracht, wie man die Hände faltete, aber bis zu jenem Sommertag im Jahr 1937, an dem Sebastián aus ihrem Leben verschwand, hatte sie sich nie sonderlich angestrengt.

Sie erinnerte sich mehr an die bittere Stimmung als an die vielen Worte, die Sebastián und ihr Vater sich an den Kopf warfen. Am Anfang waren es kurze Salven mit Versöhnungspausen, später wütende Bombardements. Die kleine Sofía wurde im Schlafzimmer ihrer Eltern eingesperrt, und als die Tür wieder aufging, war es an der Zeit, ihrem großen Bruder Lebewohl zu sagen. In olivgrüner Uniform und blitzblanken Stiefeln stand er da und sah aus wie ein erwachsener Mann.

Sofía wusste, dass es etwas gab, das Krieg hieß, und dass Spanien sich in einem solchen befand, aber sie wusste nicht, warum, und verstand nicht, warum ausgerechnet ihr großer Bruder daran teilnehmen musste. Er küsste sie auf die Wange, seine Bartstoppeln kratzten auf ihrer Haut, und dann war er weg.

Jeden Abend stellte die Familie Baéz eine Kerze ans Fenster und betete für Sebastiáns Leben. Als der Krieg vorbei war und das frohe Lachen heimkehrender Söhne und Väter viele andere Häuser im Viertel erfüllte, beteten sie zweimal am Tag, extra lang.

»Wir müssen an ein Wunder glauben«, schärfte ihr Beatriz im flackernden Kerzenlicht ein und umklammerte den Rosenkranz so fest, dass ihre Adern wie Schlangen unter der dünnen Haut hervorquollen. Mit jedem Tag, an dem Sebastián nicht heimkam, fühlte Sofía, dass sie noch fester in ihrem Glauben werden musste. Nicht zuletzt, um den Glauben zu kompensieren, der von Tag zu Tag aus den Stimmen ihres Vaters und ihrer Brüder schwand.

Die Wartezeit zehrte an allen, besonders an ihren Eltern. Im Grunde waren sie wie Tag und Nacht, Roberto war rund und kräftig, Beatriz klein und schmächtig wie ein Afghanischer Windhund, aber irgendwie hatten sie trotz aller charakterlicher Unterschiede einander gefunden. Roberto war besonders in jungen Jahren viel extrovertierter als seine Frau, die trocken wie das verschlissene Leder eines Bibeleinbandes sein konnte. Trotzdem wusste Sofía, dass sie einmal glücklich miteinander gewesen waren. Sie hatten sich angelächelt und liebkost, daran erinnerte sie sich deutlich.

Aber dann verschwand Sebastián, und seitdem war nichts mehr wie vorher. Zwar waren ihre Eltern in Trauer vereint, wie man sagte, aber die Trauer hatte sie auch voneinander entfernt. Die Traurigkeit klebte an ihnen. In Beatriz’ schwarzen Kleidern, im ewigen, stillen Halbdunkel der Wohnung, in Robertos Blick, wenn er die Hosenträger spannte und sich hinunter in die Bar schleppte, in eine andere Welt, die ihm nichts mehr bedeutete.

Mit den Jahren musste Sofía sich eingestehen, dass die Kraft auch aus ihrer Stimme schwand. Obwohl sie nie mit Gewissheit erfahren hatten, ob Sebastián gefallen oder noch am Leben war. Roberto hatte Sofía erzählt, dass ihr Bruder vielleicht nach Norden geflüchtet war und sich in irgendeinem grünen Tal der Pyrenäen versteckte. Aber sie wussten es nicht.

*

Der Mann war Argentinier, wie sich am Samstag herausstellte, als er zu Bewusstsein kam.

Er hatte zwei Wochen auf dem Meer überlebt, berichtete er in einem merkwürdigen, melodiösen Dialekt, der in Sofías Ohren wie Italienisch klang. Er war auf einem französischen Frachtschiff aus Südgeorgien gekommen, einer Insel im Südlichen Eismeer, von der Sofía nie gehört hatte. Kurz hinter der Straße von Gibraltar war er bei einem Sturm über Bord gegangen. Durch einen glücklichen Zufall hatte er ein Stück Treibholz gefunden, an dem er sich festklammern konnte. Er war sich sicher, dass es argentinisches Zedernholz war, auf dem er sich zwei Wochen lang am Leben hielt, bis er an Land gespült wurde.

Die Äbtissin war in Gesellschaft mehrerer älterer Schwestern in den Saal gekommen, um den Bericht des Mannes niederzuschreiben. Hinterher schauten sie sich fragend an. Sofía sah, dass sie nicht recht wussten, was sie von der Geschichte halten sollten. Ein schiffbrüchiger Seemann? Der auf einem Stück Treibholz in der Morgensonne angespült wurde?

»Es klingt wie ein Wunder«, sagte María Ángeles schließlich. Die Äbtissin warf ihr einen skeptischen Blick zu, aber die anderen Nonnen nickten stumm.

»Ein Wunder ist, was man daraus macht«, sagte der Mann nur.

Er war anders als die anderen Patienten. Nicht dement, nicht schwächlich, nicht sterbend, nicht fromm. Sofía sah ihn nie die Hände falten, und der Rosenkranz fand nie den Weg vom Nachttisch in seine Hand, obwohl es nicht an Ermunterungen fehlte.

Wenn er von den fliegenden Fischen berichtete, die ihn am Leben gehalten hatten, oder den Strichen, die er in das alte Holz geritzt hatte, um die Tage zu zählen, erwies er sich als fantastischer Erzähler. An anderen Tagen lag er nur stumm und verschlossen im Bett. Wenn Sofía am Morgen zur Arbeit kam, berichtete María Ángeles oft, wie der Argentinier den ganzen Ostflügel mit seinen Schreien geweckt hatte.

»Ich träume vom Meer. Dass es mich auf den tiefschwarzen Grund zieht«, antwortete er, als Sofía fragte, ob er sich an seine Albträume erinnere. Er faltete die Hände über der Brust und schaute an die Decke, während Sofía seinen Verband wechselte.

»Wussten Sie, dass Ihre Landsleute droben an der Biskaya die Ersten waren, die Walfang betrieben haben? Schon vor fünfhundert Jahren.«

»Über Walfang weiß ich nicht viel. Wie kommen Sie denn da drauf?«, fragte sie.

»Weil ich selbst Walfänger war. In einem anderen Leben.« Sofía bemerkte ein Lächeln in seinen Mundwinkeln. »Im Südlichen Eismeer, am Ende der Welt. Ich habe Blauwale, Finnwale und Pottwale gejagt. Die größten Geschöpfe unserer Erde.«

»Das müssen sie mir eines Tages ausführlich erzählen.«

Sofía befestigte den Verband und wollte gerade gehen, als er ihren Arm ergriff.

»Sind Sie überhaupt eine fromme Schwester wie die anderen?«

Sie zögerte kurz. »Nein. Noch nicht. Vielleicht irgendwann.«

Sofía nahm an, dass ihre Kleidung sie verraten hatte. Sie war die Einzige, die nicht in dem wollenen Habit und der grauen Haube herumlief. Sie hatte sich geweigert. Stattdessen trug sie ihre Alltagskleidung mit einer Schürze. Schließlich war sie noch keine Nonne. Aber hatte der Mann vielleicht noch mehr bemerkt?

Er lehnte sich zu ihr, ohne ihren Arm loszulassen. »In dem Fall …«, flüsterte er. »Wenn ich Ihnen verspreche, eine wahre Geschichte vom Ende der Welt zu erzählen, würden Sie mir dafür vielleicht ein frisches Buttercroissant mitbringen? Oder etwas Ähnliches? Ich bin sicher, dass es Wunder zu meiner Heilung täte. Das Essen hier bringt die Leute eher ins Grab als aus dem Bett.«

Nach wenigen Tagen in San Luis hatte sich Víctor de la Vega so weit erholt, dass er mit einem Stock im Klostergarten spazieren gehen konnte.

Sofía beschloss, das Wunder zu feiern. Am folgenden Freitag, genau eine Woche nach seiner Ankunft, machte sie auf dem Weg zur Arbeit einen Umweg und ging zum Bäcker. Mit ernster Miene fragte sie die Verkäuferin, ob sie vielleicht eine Napolitana für einen sterbenden Patienten im Kloster entbehren könnte, dessen letzter Wunsch es sei, ein solches Backwerk zu genießen. Der Orden sei arm, fügte sie hinzu, aber die Schwestern würden für ihr Seelenheil beten. Sie verließ den Laden mit einem knusprigen, in Papier gewickelten Schokoladencroissant und nahm sich fest vor, bei nächster Gelegenheit zu beichten.

Sie fand ihn im Klostergarten. Er saß auf dem trockenen Brunnen und las ein Buch, das dicker als die Bibel war. Eine der Schwestern hatte ihn bei seinem Raubzug in der Klosterbibliothek im ersten Stock des Westflügels ertappt.

»Was haben Sie gefunden?«, fragte sie und setzte sich neben ihn.

Er schaute auf und zeigte ihr das Buch. »Cervantes’ Don Quijote, haben Sie den gelesen?«

Sofía hatte in ihrem Leben nur wenige Bücher gelesen, die meisten davon in der Schule. Don Quijote mit seinen Hunderten, dicht beschriebenen Seiten gehörte nicht dazu. Sie schüttelte den Kopf.

»Dann sind Sie kein Bücherwurm? Daran ist nichts verkehrt«, fügte er rasch hinzu. Er legte das Buch auf den Marmor, der Stock lag quer über seinen Beinen. Sofía wusste nicht, ob er ihn überhaupt noch brauchte.

»Ich bin selbst erst spät auf die Literatur gekommen«, fuhr er fort. »Und es war keine Liebe auf den ersten Blick. Aber dann traf ich Borges. Kennen Sie ihn?« Er sah sie fragend an, sie schüttelte wieder den Kopf. Sie war keine Männer gewohnt, die so viele Fragen stellten. »Nein, wohl kaum. Jorge Luis Borges ist einer der wichtigsten Schriftsteller meines Landes. Heute ist er fast blind. Ich traf ihn vor vielen Jahren im Café Tortoni in Buenos Aires. Ich war noch ein kleiner Junge und mit meinem Vater dort. Vater traf sich regelmäßig mit Borges und seinen Freunden. Es war ein geschlossener Club, der jeden Freitagvormittag im Keller des Cafés Kunst, Politik und alles Mögliche andere diskutierte. Ich war ein wahrer Lausejunge und hatte keine Lust auf Bücher. Mein Vater bat Borges, von der fantastischen Bibliothek seines Vaters zu erzählen, in der über tausend Bücher standen. Eines Tages würde die Fantasie mein Leben retten, sagte der Schriftsteller, wie sie sein eigenes gerettet habe.«

»Und, war das so?«

»Sie hat auf jeden Fall mehr für mich getan als die Wirklichkeit.«

»Ich habe etwas für Sie. Aber die Äbtissin darf es nicht sehen. Geben Sie mir das Buch.«

Sofía hielt das Buch, als würde sie es lesen, und zog die Napolitana aus der Schürze. Dann gab sie ihm das Buch zurück und versteckte das Gebäck dahinter. Zusätzlich versicherte sie sich, dass niemand sie ausspionierte.

»Essen Sie sie später. Wenn keiner Sie sieht. Sie schmeckt mindestens so gut wie ein Croissant.«

Ein Krümel war auf ihr Kleid gefallen. Sie befeuchtete den Zeigefinger und entfernte alle Spuren.

Der Argentinier faltete das Papier auf. Er schien beeindruckt.

»Meinen Sie nicht, dass Sie der Welt von größerem Nutzen sein könnten, wenn Sie etwas anderes als Nonne werden?«

*

Sie gewöhnten sich an, mindestens einmal am Tag im Klostergarten spazieren zu gehen.

Er erzählte von seiner Kindheit in Argentinien, von den Jacarandabäumen, die im Frühling die Parks und Straßen von Buenos Aires in violette Blütenpracht tauchen, vom Río de la Plata, der schlammig wie eine Pfütze, aber breit wie ein Meer war, von den Morgenbädern in Belgrano und den Kinos und Theatern der Avenida Corrientes. Und vom berühmten Tango seines Landes, an den er jedes Mal dachte, wenn er eine andalusische Copla hörte.

Er berichtete auch von seinen Erlebnissen als Walfänger am Ende der Welt, wie er zwischen Eisbergen hindurchgefahren war, vom Geruch des ranzigen Walspecks und vom Anblick der Walfangschiffe, die Seite an Seite in Südgeorgiens Cumberland East Bay lagen. An Heiligabend spielten sie füreinander Weihnachtslieder, um das Heimweh der Walfänger zu lindern.

Sofía verschlang seine Geschichten. Sie war nie weiter fort als Granada oder Antequera gewesen. Im Gegenzug erzählte sie ihm von Málaga und Spanien, von El Caudillo Francisco Franco, vom Kloster und der Entscheidung, die vor ihr lag. So ungewöhnlich es war, sich einem Fremden anzuvertrauen, noch dazu einem Mann, es kam ihr völlig natürlich vor.

Auch María Ángeles hatte offenbar Sinn für die positiven Eigenschaften des Argentiniers.

»Er ist ein fantastischer Zuhörer«, bekannte sie an einem warmen Nachmittag, als Sofía und sie mit jeweils einem Patienten im Schatten des Säulengangs saßen. »Mit ihm fühlt man sich, als wäre man der einzige Mensch auf der ganzen Welt.«

Sie betrachteten Víctor de la Vega, der ein paar rührige Patienten für eine improvisierte Partie Pétanque um sich geschart hatte. Das Schweinchen war aus zusammengerollten Binden, die Kugeln waren unreife Zitronen.

Sofía und María Ángeles wetteiferten immer mehr um die Gunst des argentinischen Patienten, jede wollte sich besser um ihn kümmern. Mehr als einmal geschah es, dass María Ángeles schon auf dem Hocker an seinem Bett saß, als Sofía zur Arbeit kam.

Sofía verspürte einen leichten Stich. María Ángeles war rundlich und herzensgut. Sie war einige Jahre älter als Sofía und erst vor Kurzem in den Orden eingetreten. Warum hatte sie dann das Bedürfnis, ihre Gefühle mit einem fremden Mann zu teilen?

»Könnten wir vielleicht einen kleinen Pastis zu unserem Spiel bekommen?«, scherzte Víctor de la Vega.

Er trug eine ausgebeulte Leinenhose und ein viel zu weites Hemd, beide von einem kürzlich verstorbenen Patienten. Schwester Isabel hatte bei der letzten Ölung deutlich gehört, dass er sie Víctor de la Vega vermachen wollte. Auf dem Kopf trug er einen grauen Filzhut, den er von Pablo Herrera ausgeliehen hatte.

Er hob ein imaginäres Glas und prostete den Frauen zu. Sie schüttelten den Kopf, aber Sofía war sich sicher, dass María Ángeles insgeheim ebenso lächelte wie sie.

Der Argentinier war großzügig mit seinen Geschichten, seine Abenteuer aus der Neuen Welt waren nicht allein Sofía vergönnt. An manchen Vormittagen versammelten sich ein Dutzend Zuhörer unter den Apfelsinenbäumen des Klostergartens um den Mann und ließen sich von ihrem Elend unter dem Caudillo ablenken.

Manchmal saß Sofía auf dem Brunnenrand und hörte zu. Er hatte im Pantanal, dem riesigen Feuchtgebiet zwischen Brasilien und Bolivien, Rinder gehütet, erzählte er, wo Würgeschlangen in den Sümpfen lauerten, die dick wie die Wurzeln des Trompetenbaums waren. Die bolivianische Hochebene hatte er auf einem Planwagen durchquert. Nachts hatte er unter einer Ladung Lamafelle gelegen und die Sterne am Himmel geküsst. Er erzählte von Schwadronen von Glühwürmchen, deren grünliches Licht wie Gespenster aussah, von den Regenwäldern im Norden Argentiniens, wo er auf einer Mate-Plantage gearbeitet hatte, und von den Laternen in Lima und La Paz, die wie Lichterschlangen aus den Straßen ragen, den Anden entgegen.

Nicht alle waren von dem argentinischen Patienten und seinen Geschichten begeistert. Eines Morgens hörte Sofía Bruchstücke eines Gesprächs zwischen der Äbtissin und einer älteren Schwester.

»Ich sage nur: Wenn er wirklich zwei Wochen auf dem Meer getrieben wäre, wäre er viel schwächer gewesen. Der Arzt stimmt mir zu. Sein Magen wäre völlig durcheinander und sein Sonnenbrand viel schlimmer gewesen, das hat der Arzt bestätigt«, hörte Sofía durch die halb offene Tür, an die sie erst hinterher klopfte.

Als die Äbtissin das Klopfen hörte, verstummte sie sofort, und die beiden Nonnen sahen Sofía misstrauisch an.

Sofía musste zugeben, dass die Äbtissin recht hatte. Sie wusste selbst nicht, ob sie seine Geschichten glauben sollte oder nicht. Aber das war ihr egal.

Denn wenn sie am Abend vor ihrem Spiegel saß, sah sie ein neues Bild der Sofía Baéz. Noch immer der verunsicherte Blick über der Judennase, eingerahmt von dunklen Locken, aber sie hatte die strenge Tracht der Ordensfrauen durch ein rotes Kleid ausgetauscht, dessen Pailletten die Lichter der Großstadt reflektierten. Diese Version von Sofía Baéz tanzte fröhlich durch die Nacht, von Kontinent zu Kontinent, in Gesellschaft eines heimlichen Liebhabers, dessen Name vielleicht mit V begann und der sie nach Paris, Lima und Buenos Aires mitnahm.

Orte, die sie nie sehen würde, wenn sie das ewige Gelübde ablegte.

Als Sofía Baéz in die Fußspuren der heiligen Elisabeth trat

»Täusche ich mich, oder verbringst du immer mehr Zeit im Kloster?«

Beatriz sprach den Satz so monoton aus, dass Sofía nicht wusste, ob es eine Frage oder eine Feststellung war. Auf dem Heimweg von der Abendmesse hatte sie sich bei Sofía eingehakt.

»Ja, vielleicht«, murmelte Sofía und fragte sich, ob dies ein Versuch war, ihr ein schlechtes Gewissen einzureden. In letzter Zeit hatte sie deutlich weniger im El Zepelín mitgeholfen.

»Dafür musst du dich nicht schämen. Es ist sehr lobenswert, dass dein Glaube so fest ist.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Sofía hatte Beatriz immer um ihren Glauben beneidet. Jetzt, als Erwachsene, verband sie ihre Mutter eher mit Willensstärke als mit Fürsorge, mit kräftigen Händen anstelle sanfter Worte. Schmale aber kräftige Finger, die alles Unreine aus der dünnen Suppe der Kindheit abschäumten, das Haar ihrer Tochter richteten und sie unter der Wolldecke wärmten, wenn an kalten Winterabenden die Glut der Bettpfanne nicht ausreichte. Verhärtete Haut ohne Duft. Bei ihr hielt das Flakon mit Billigparfüm wesentlich länger, als die bescheidene Menge ätherischer Öle es zuließ, und doch verpassten diese Hände Jaime eine Ohrfeige, als er es zerbrach. Starke Hände, die Sofía ins Schlafzimmer schoben und die Tür hinter ihr schlossen, ehe sie Roberto vom Boden aufhoben, wenn er zu viel Feigenschnaps getrunken hatte. Während Sofía durch den Türschlitz zuschaute. Hände, die vom ständigen Gebrauch des Rosenkranzes trainiert waren. Der alte Rosenkranz mit den patinierten Bronzeperlen, den Beatriz von ihrer Mutter geerbt hatte.

»Dein Glaube kann jederzeit wachsen«, sagte Beatriz und tätschelte Sofías Oberarm.

»Und wenn nicht?«

»Dann findet man sich damit ab. Oder entscheidet sich für einen anderen Lebensweg.«

»Hast du das getan?«

»Wie meinst du das?«

»Als du Vater geheiratet hast.«

»Das ist kein Vergleich, Sofía. Das war keine Frage der Entscheidung. Das waren andere Zeiten, wir hatten nicht die gleichen Möglichkeiten wie ihr heute.«

Diese Antwort half Sofía nicht im Geringsten. Wie konnte ihre Mutter, die anscheinend nichts als Sorgen hatte, sie über freie Entscheidungen belehren?

Sie hatte große Lust, Beatriz zu fragen, ob sie eigentlich glücklich sei, ob ihr Leben so verlaufen war, wie sie erhofft hatte. Aber sie brachte es nicht übers Herz, und so blieb es auf beiden Seiten bei Vermutungen.

Tristán hatte begonnen zu husten. Das war an sich nicht ungewöhnlich, er war immer schwächlich gewesen. Ein chronisch kranker Junge, meist erkältet, oft mit Nebenhöhlenentzündung, Fieber oder irgendwelchen Allergien im Bett. Beatriz meinte, es läge daran, dass Tristán per Steißgeburt zur Welt gekommen war. Roberto meinte, er habe nur mehr Schaden am Bürgerkrieg genommen als seine Geschwister. Aber dieser Husten war hartnäckiger. Länger und rasselnd. Vielleicht hustete Tristán die Gespenster der Vergangenheit aus.

Am nächsten Tag wurde es noch schlimmer. Tristán stand nicht mehr aus dem Bett auf.

»Jetzt hat sie uns wieder eingeholt«, murmelte Roberto, der in der Tür stand, während Sofía ihrem Bruder einen kalten Umschlag auf die Stirn legte und Beatriz am Fenster Kerzen anzündete.

»Sei still!«, zischte Beatriz und warf ihn hinaus.

Sofía bemerkte, dass ihre Mutter um ein Wunder flehte. Nach der Messe waren sie besonders lang in der Kirche geblieben. Sie hatten Kerzen angezündet und mehr Ave Maria gebetet, als Sofía zählen konnte. Beatriz hatte ihren Rosenkranz umklammert und immer wieder Tristáns Namen geflüstert.

Doch Gebete allein konnten nichts ändern.

»Wir haben einen neuen Patienten bekommen«, sagte Sofía beim Mittagessen. Sie war nach Hause gekommen, um mitzuhelfen. Auch Jaime war gekommen, um nach seinem Bruder zu sehen. »Mit einer schier unglaublichen Geschichte.«

Sofía versicherte sich, dass alle zuhörten, bevor sie die Geschichte von Víctor de la Vega aus Buenos Aires erzählte, der auf einer Planke aus argentinischem Zedernholz übers Meer gekommen war, fest entschlossen, ihrer Familie den Glauben an Wunder zurückzugeben.

Den ganzen Tag hatte sie geübt, die gleichen Stilmittel wie Victor einzusetzen: keine unnötigen Füllwörter, kein Ringen nach Worten, nur der wohldosierte Gebrauch des Wortes Wunder.

»Kein Mensch überlebt mehr als ein paar Tage auf einem Stück Treibholz auf offener See«, brummte Roberto mit seiner tiefen Bassstimme. »Ein paar Wellen, und schon ist Schluss mit so einer Planke. Wie ein Stück Furnier, das man übers Knie bricht.«

»Aber trotzdem ist er bei uns an Land gespült worden. Und nun liest er Don Quijote und arrangiert Pétanque-Turniere im Klostergarten.«

Die erwünschte Wirkung ihrer Worte blieb aus. Keiner sagte etwas, alle starrten wortlos in ihre Suppenschalen.

»Er erinnert mich an Onkel Félix«, sagte Sofía schließlich.

Roberto und Jaime hoben den Blick von ihren Tellern und sahen sie an. Sofías Vater zog eine Grimasse. Onkel Félix war das verstorbene Enfant terrible der Familie, der kleine Bruder von Robertos Vater, der Ende des vorigen Jahrhunderts als junger Maurergeselle auf die Walz gegangen war und die entlegensten Länder des europäischen Kontinents besucht hatte.

Als Félix Jahre später nach Málaga zurückkehrte, war er nicht nur mit einem neumodischen Werkzeug namens Wasserwaage vertraut, sondern sprach auch Deutsch und Flämisch. Außerdem hatte er auf der Reise von Hamburg nach Berlin ein Zugabteil mit einem gewissen Wladimir Iljitsch Lenin geteilt und am Bodensee mit Ferdinand Graf von Zeppelin Tee getrunken, der gerade eine Erfindung testete, mit der er später Weltruhm erlangen sollte.

Onkel Félix ließ keine Gelegenheit aus zu betonen, wie dankbar der Ingenieur für seine Konstruktionstipps gewesen sei, und dass er ihn später zum ersten Linienflug eines Zeppelins eingeladen habe. Félix hatte jedoch abgelehnt, offiziell wegen Flugangst, inoffiziell, weil seine eigenen Berechnungen zeigten, dass der Zeppelin zur Passagierluftfahrt völlig ungeeignet war und früher oder später ein Unglück geschehen würde.

Niemand hatte je einen Brief des großen Erfinders gesehen, aber Roberto Baéz senior war so hingerissen von den Geschichten seines Bruders, dass er seine Bar nach dem Luftschiff benannte, das im Ersten Weltkrieg über dem deutschen Luftraum patrouillierte.

Als 1937, wenige Jahre nach Félix allzu zeitigem Tod, die Hindenburg bei der Landung in Amerika explodierte, betrachtete die Familie dies als Beweis dafür, dass Onkel Félix trotz allem recht gehabt hatte. Obwohl er nicht einmal das erste Semester seines Ingenieursstudiums vollendet hatte.

»Klingt unterhaltsam«, sagte Roberto nur.

Sofía sah Jaime an. Sie hatte gehofft, er würde sie unterstützen, aber er schwieg. Sie machte ihm keine Vorwürfe, denn sie wusste, dass er andere Probleme hatte. Jaime wartete sehnsüchtig darauf, um die Hand einer Kollegin anzuhalten. Den Verlobungsring hatte er schon in der Tasche; Sofía hatte geholfen, ihn beim Goldschmied auszusuchen. Aber er konnte sich nicht verloben, bevor es Tristán wieder besser ging.

Im Grunde war es töricht, dass ein Husten eine Verlobung verhinderte, aber alle hatten Angst vor den Zeichen. Die Geschichte war nicht auf ihrer Seite.

*

Am nächsten Morgen erzählte Sofía ihrem argentinischen Patienten vom Fluch der Familie Baéz. Die Tuberkulose.

In jeder Generation suchte sie mindestens ein Familienmitglied heim. Robertos Urgroßmutter war daran gestorben, ebenso seine Großmutter und sein Onkel. Auch seinen Cousin hatte es erwischt, aber er hatte überlebt. Und nun saß der Teufel in Tristáns Lungen. Roberto war sich sicher, obwohl noch kein Arzt die Diagnose gestellt hatte.

»Glauben Sie wirklich an Flüche?«, fragte Víctor de la Vega. Sie saßen auf der Bank unter der Magnolie ganz hinten im Klostergarten.

»Die Wege des Herrn sind unergründlich, daran glaube ich. Er stellt uns immer wieder auf die Probe.«

»Dann glauben Sie auch an das Schicksal? Dass Sie hier in diesem Kloster sitzen, weil es Ihnen vorherbestimmt ist?«

»Auf jeden Fall glaube ich, dass Gott unsere Wege bestimmt. Und wenn er bestimmt, dass dies mein Weg ist, wird er mir ein Zeichen geben.«

Víctor schnaubte. »Lassen Sie mich raten: Er hat noch kein Zeichen geschickt?«

Sofía schüttelte den Kopf.

»Ich sage Ihnen, woran die norwegischen Walfänger am Ende der Welt glauben«, sagte er. »Das sind einfache Leute, die ihr Dasein mit zwei simplen Begriffen zusammenfassen: Glück und Unglück. An manchen Tagen fängt man seinen Wal, an anderen nicht. Es hilft nichts, darüber nachzugrübeln oder ein paar Gebete extra in den Himmel zu schicken, denn die Jagd ist letztendlich Glückssache. So ist es auch im Leben, wenn Sie mich fragen. An manchen Tagen hat man Glück, an anderen nicht. Ihr Bruder scheint im Moment kein Glück zu haben. Das kann sich wieder ändern, vielleicht auch nicht. Aber das Schlimmste, was man tun kann, ist sein Schicksal in Gottes Hand zu legen und sich darauf zu verlassen, dass er es schon regeln wird. In meinen Augen ist es die größte Sünde von allen, die Verantwortung von sich zu schieben.«

»Aber liegt das Glück nicht ebenso wenig in unserer Hand wie das Schicksal?« Sofía verstand den Unterschied nicht, oder sie wollte ihn nicht verstehen.

»Nein. Weil man das Glück suchen muss. Oder selbst erschaffen. Nicht das Schicksal hat meine Zedernholzplanke an die Küste gespült, sondern das Glück. Und mein Überlebenswille.« Er stieß Sofía sanft mit dem Ellbogen und zeigte mit dem Kopf nach vorne. Die Äbtissin kam auf sie zu. »Hören Sie auf, Ihre Zeit zu verschwenden und auf ein Zeichen zu warten, das nie kommt. Überlegen Sie lieber, was Sie aus Ihrem Leben machen wollen«, flüsterte er rasch.

Als Sofía aufsah, stand die Äbtissin schon vor ihnen.

»Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Wir betreiben nur etwas Seelsorge«, antwortete er.

»Hat man dafür nicht einen Beichtvater?«

Ob die Äbtissin damit Sofía oder Víctor meinte, war unklar. Sie sah die beiden abwechselnd an.

»Sie können später weitermachen«, sagte sie. »Wie schreitet Ihre Genesung voran?«

»Meinem Kopf geht es gut, der Körper lahmt noch ein wenig.«

»Wie ich höre, machen Sie große Fortschritte. Eine der Schwestern hat Sie sogar bei einem Sprint beobachtet, als Sie Pétanque spielten. Unser Arzt ist tief beeindruckt. Er meint, es trotze sämtlichen Naturgesetzen, dass ein Mensch sich nach zwei Wochen als Schiffbrüchiger auf See so rasch erholt. Sie sagten doch, dass es zwei Wochen waren, nicht wahr?«

»Dreizehn Tage, soweit ich mich erinnere.«

»Hm. Trotzdem beeindruckend, wie sie so lange dort draußen treiben konnten. Die Schiffsrouten liegen ja ziemlich dicht an der Küste.«

»Ich bin wohl im Kreis getrieben. Der Wind dreht dauernd da draußen.«

Die Äbtissin nickte nachdenklich. »Wie auch immer, unsere Wohltätigkeit ist nicht ewig. Kranke und Verletzte sind in San Luis immer willkommen, aber wenn ein Patient sprintet und zwei Portionen Frühstück verspeist, kommt er auch ohne unsere Hilfe zurecht, und wir können ihn der Obhut des Herrn empfehlen.«

Victor senkte den Blick, und die Äbtissin wendete sich Sofía zu.

»Fräulein Baéz, wollen Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«

Sofía nickte, und die Äbtissin entfernte sich. Als sie außer Hörweite war, packte Víctor de la Vega Sofías Arm.

»Darf ich Ihnen einen Rat geben? Stellen Sie sich folgende Frage beim Gespräch mit der Äbtissin: Sind Sie wirklich sicher, dass Sie ein glücklicher Mensch wären, wenn Sie den Rest Ihres Lebens hinter diesen Mauern mit dieser Frau verbringen?«

Sofía hatte keine Chance zu antworten, denn die Äbtissin drehte sich noch einmal um und rief:

»Übrigens. Wie hieß Ihr Schiff eigentlich?«

»Wie bitte?«

»Ihr Schiff. Von dem Sie über Bord gefallen sind. Welchen Namen trug es?«

»María. Wie in María Immaculata.«

Sofía lief der Äbtissin hinterher.

»Ich will Sie nicht unter Druck setzen«, sagte die Äbtissin freundlich. »Aber sind Sie inzwischen zu einer Entscheidung gelangt?«

»Sehr bald, Schwester Maribel. Das verspreche ich Ihnen.«

Die Äbtissin blieb stehen und lächelte.

»Das klingt gut. Und dürfte ich Ihnen vorschlagen, dass Sie Ihre Zeit vernünftig nutzen, anstatt Ihren Kopf mit allen möglichen anderen Dingen zu füllen?« Fast unmerklich warf sie einen Blick in Víctor de la Vegas Richtung. »Sie sollten sich mehr um Pablo Herrera kümmern. Der Arme kann jede Fürsorge gebrauchen.«

Damit traf die Äbtissin Sofías schlechtes Gewissen. Seit Tagen hatte sie sich nicht um Pablo Herrera gekümmert, sondern ihn anderen überlassen. Dabei hatte er nicht mehr lange zu leben. Die Bronchitis schnürte ihm die Luft ab, er röchelte immer mehr, und seine Lippen wurden langsam blau.

Die Äbtissin nickte zum Abschied und verschwand in den Speisesaal. Sofía setzte sich auf die Treppe und schaute in den Klostergarten. Am anderen Ende jagte eine Schwester einen alten Mann, der barfuß im schmutzigen Nachthemd herumlief. Er war dement und versuchte mindestens einmal täglich, über die Mauer zu klettern. Unter den Apfelsinenbäumen saßen drei Patienten und stierten mit leerem Blick vor sich hin. Alle drei hielten einen Rosenkranz in der Hand, es sah aus, als wäre die Zeit beim Beten zum Stillstand gekommen.

*

Am nächsten Morgen waren rote Flecken auf Tristáns Kissen. Beatriz rief sofort den Arzt, aber Sofía sah nur ihren Vater an und wusste, dass sie keinen Fachmann für die Diagnose brauchten.

Sie verließ das Haus, ehe der Arzt kam. Bis dahin hatte sie mit einer Waschschüssel im Schoß auf der Bettkante ihres Bruders gesessen. Die Läden waren noch geschlossen, Tristáns Füße ragten wie tote Steine unter der Bettdecke hervor. Es roch nach Schweiß, Seife und Krankheit. Ihre Mutter hatte auf der anderen Seite gesessen und die Stirn des Sohnes mit kaltem Wasser betupft. Plötzlich hatte Sofía das dringende Bedürfnis verspürt, die Wohnung zu verlassen.

San Luis war der einzige Ort, an den sie sich zurückziehen konnte. Im Schlafsaal des Ostflügels traf sie auf María Ángeles, die Äbtissin und zwei weitere Schwestern, die um Pablo Herreras Bett standen.

»Ich sage euch: Heute Nacht war ein Priester bei mir. Er kam zu mir und setzte sich neben mich, damit ich beichten konnte. Glaubt ihr etwa, ich würde das erfinden?«, sagte Herrera.

»Was ist hier los?«, flüsterte Sofía zu María Ángeles.

»Jemand hat ihm die Beichte abgenommen und die letzte Ölung gegeben«, antwortete María Ángeles mit der Hand vorm Mund. »Wir wissen nicht, wer es war. Er glaubte, er würde sterben. Und er besteht darauf, dass ein Priester bei ihm gewesen sei, aber das kann nicht sein.«

»Noch einmal bitte, Herr Herrera. Erzählen Sie uns, was geschehen ist«, forderte die Äbtissin ihn auf.

Er hustete, und seine blauen Lippen versuchten, die Worte zu artikulieren. Er habe im Dunkeln gelegen und gespürt, dass das Ende nahte. Da habe er nach einer Schwester gerufen, er könne doch nicht diese Welt verlassen, ohne zu beichten und die letzte Ölung zu empfangen, aber keiner habe ihn gehört. Bis plötzlich eine Gestalt am Bett gestanden und sich über ihn gebeugt habe. »Genau wie Sie jetzt, Schwester Maribel«, fügte er hinzu.

Die Gestalt habe seine Hand gehalten und ihn gebeten, seine Sünden zu bekennen. Eine fremde und doch irgendwie vertraute Stimme im Dunkeln. Die Gestalt habe seine Stirn und Hände gesalbt und die Worte gesagt, die er auf dem Weg in den Tod erwartet habe: Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.

»Dann verschwand er wieder, und ich dachte, ich könne in Frieden sterben.«

»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«, fragte die Äbtissin.

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Aber seine Stimme kam Ihnen vertraut vor? Inwiefern?«

»Der Dialekt«, murmelte er nach einer längeren Pause. Sofía wusste nicht, ob es die Lunge oder das Gedächtnis war, das den alten Mann im Stich ließ. »Er klang seltsam. Fast wie ein Italiener. Und dann forderte er mich auf, meine irdischen Güter einem Bedürftigen zu schenken, zum Beispiel meinem Freund neben mir, damit sie nicht auf dem Misthaufen landen«, schloss er ab und drehte den Kopf zu Víctor de la Vegas Bett.

Die Äbtissin nickte zufrieden und drückte seine Hand.

»Ruhen Sie sich aus, Herr Herrera«, sagte sie und drehte sich zu Víctor de la Vegas Bett um. Alle Augen folgten ihr.

»Señor Vega, ich will Ihnen eine Chance geben zu erklären – nicht zu entschuldigen – , warum Sie das getan haben.«

»Aber ich habe doch gar nichts getan.«

»Sie sind nicht bemächtigt, die heiligen Sakramente auszuteilen. Wie konnten Sie es wagen, den Namen des Herrn in diesem Haus zu beschmutzen?«

Er seufzte tief. »Ach, wenn Sie nur …«