Das Hundeohr - Herbert Otto - E-Book

Das Hundeohr E-Book

Herbert Otto

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Beschreibung

In diesem Roman erzählt Herbert Otto die ziemlich ungewöhnliche Geschichte des weitgereisten Artisten Edgar Deutschmann: Vor gut drei Jahren, an einem Januartag, hatte der Umsturz in seinem Dasein begonnen: Im Zirkus in Montevideo stürzte er vom Pferd in die Manege, leichte Lähmung stellte sich ein, später eine Taubheit, die rasch zunahm. Und Karli, sein Freund, hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Ohr einzusetzen; was er schon längst einmal habe versuchen wollen: Das Ohr eines Hundes. Minisender und -empfänger dazu und ein Steuergerät, das die hohen Frequenzen, die das neue Ohr empfing, stufenlos reduzieren konnte bis auf das normale menschliche Maß. Und jetzt, vor zwei Tagen, war sein Freund Karli gestorben, der Gefährte aus Kindertagen und Schulzeit, später Arzt für Nase, Hals und Ohren. Man fand ihn im Auto, im Wasser, an der Badestelle einer früheren Kiesgrube, kurz vor dem Dorf, wo sein Bruder wohnt. Tod am Steuer. Herzversagen. Bei einem Mann von Mitte Vierzig? Selbstmord? Edgar kam darauf, dass gewaltsamer Tod in Betracht gezogen wurde, denn man hatte die Leiche als ein Mittel zur Beweisführung festgenommen. Aber nein. In Verwahrung. Tote kann man nicht verhaften. Viel tiefer als Edgars Schmerz und Trauer gingen, griff die Erschütterung. Er fand kaum noch Schlaf, ging im Garten hinterm Haus ziellos umher und versäumte es zu essen. Die Gespräche, die er gedanklich mit Toten und Lebenden führte oder mit sich selbst, wurden häufiger. Auch verworrener. Der Tiefpunkt seiner Krise schien erreicht. Was steckt wirklich hinter allen diesen merkwürdigen Begebenheit? Deutschmann stellt sich viele Fragen. Herbert Otto hat einen ebenso spannend zu lesenden wie merkwürdigen Roman geschrieben, der ebenfalls viele Fragen stellt – darunter die gerade wieder ziemlich aktuell werdende nach der Verantwortung von Wissenschaft und Medizin sowie nach Macht und Gewinn. Und was wollte eigentlich Doktor Bickel von ihm, auch ein Ohrenarzt, der ihn vorgestern anrief und der von Karlis Tod wusste?

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Impressum

Herbert Otto

Das Hundeohr

Roman

ISBN 978-3-95655-313-4 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1997 im Verlag Faber & Faber, Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

ERSTES KAPITEL

In der Küche stehend, dachte Edgar: Ich bin zur Konserve verurteilt. Mexikanische Bohnen aus dem Beutel. Er hatte eine Zwiebel geschält, ohne sich noch zu erinnern, weshalb. Er überlegte, welcher Wochentag denn sei, und obwohl er sich liederlich vorkam, gab er es auf.

Die geschälte Zwiebel war mittelgroß. Er nahm sie, zeigte sie wie einen seiner Spielbälle vor, zwischen Daumen und Zeigefinger rollend, ließ sie verschwinden und wieder erscheinen. Dabei entglitt sie ihm fast. Er verbeugte sich knapp Richtung Fenster. Auch zur Tür hin. Und Edgar sagte jetzt: »Ich wollte nie aufs Pferd.« Und lauter: »Vom Rücken der Pferde erholt man sich nie.«

Er sah sich um und erschrak darüber, weil er doch wissen musste, dass er allein im Hause war und niemand ihn hören konnte, und er fragte sich, was zu tun sei, um die Sinne wieder zu ordnen.

Vor zwei Tagen war sein Freund Karli gestorben, der Gefährte aus Kindertagen und Schulzeit, später Arzt für Nase, Hals und Ohren. Man fand ihn im Auto, im Wasser, an der Badestelle einer früheren Kiesgrube, kurz vor dem Dorf, wo sein Bruder wohnt. Tod am Steuer. Herzversagen. Bei einem Mann von Mitte Vierzig? Selbstmord? Edgar kam darauf, dass gewaltsamer Tod in Betracht gezogen wurde, denn man hatte die Leiche als ein Mittel zur Beweisführung festgenommen. Aber nein. In Verwahrung. Tote kann man nicht verhaften.

Viel tiefer als Edgars Schmerz und Trauer gingen, griff die Erschütterung. Er fand kaum noch Schlaf, ging im Garten hinterm Haus ziellos umher und versäumte es zu essen. Die Gespräche, die er gedanklich mit Toten und Lebenden führte oder mit sich selbst, wurden häufiger. Auch verworrener. Der Tiefpunkt seiner Krise schien erreicht.

Vor gut drei Jahren, an einem Januartag, hatte der Umsturz in seinem Dasein begonnen: Im Zirkus in Montevideo stürzte er vom Pferd in die Manege, leichte Lähmung stellte sich ein, später eine Taubheit, die rasch zunahm. Und Karli, sein Freund, hatte vorgeschlagen, ihm ein neues Ohr einzusetzen; was er schon längst einmal habe versuchen wollen: Das Ohr eines Hundes. Minisender und -empfänger dazu und ein Steuergerät, das die hohen Frequenzen, die das neue Ohr empfing, stufenlos reduzieren konnte bis auf das normale menschliche Maß.

Die Operation fand unter rätselhaften Umständen statt, die Edgar bis heute nicht entziffern konnte. Aber sie gelang, die Elektronik leistete ihren Dienst, und er hörte, wenn er den Regelknopfhöher stellte, mehr und mehr Signale, auch allerfeinste akustische Äußerungen von Ameisen, Käfern oder Motten. Oder Laute unbekannter Herkunft. Oft genug und bei günstigen Bedingungen gelang es ihm sogar, gedachte Wörter oder Sätze eines Menschen zu empfangen, wenn der andere sich nahe genug neben ihm befand.

Niemand, der ihn dazu zwang, den Knopf zu betätigen. Doch die Versuchung, es zu tun, war immer gegenwärtig. Sie war eingepflanzt und mitgeliefert.

Wo läuft die Grenze zwischen Zwang und Versuchung? Sieh zu, wie du zurechtkommst. Und schließlich gab es Karli als Berater und seelischen Beistand, zu jeder Stunde, Tag und Nacht zur Hilfe bereit.

Nach Mutters Tod vor einem Jahr fehlte nun auch er. Kaum etwas schien noch fest und am gewohnten Platz zu stehen. Wie wünschte Edgar sich, gesammelt dazusitzen, die Beine kreuzweise untergeschlagen, und einfach ein- und auszuatmen, frei von Verwirrung. Stattdessen tat er nichts. Oder absonderliche Dinge: Er ging nachts, einen der Clownshüte auf dem Kopf, mit der Harmonika in den Garten und spielte ein kunstvolles Ineinander von Let it be, der Internationale und Love was an easy Game to play. Er beschnitt Rosenstöcke, jetzt im Juni, auch Triebe mit Knospen. Kurz halten alles, desto üppiger wird es ausschlagen. Er kramte das alte Diktiergerät hervor, das er Anfang der Siebziger in Los Angeles gekauft und als gesprochenes Tagebuch verwendet hatte, und er wollte damit beginnen, die Mitteilungen, die er Toten und Lebenden zu machen hatte, auf die kleinen Tonbänder zu sprechen.

Noch schien er in der Lage, sein Treiben zu beobachten und kritisch zu bewerten, doch bisweilen kam ihm der Verdacht, er sei nahe daran, den Verstand zu verlieren.

An diesem Nachmittag fuhr er zu einem vereinbarten Auftritt - seit dem Unfall zeigte er nur noch Clownerie, Pantomime und Zaubernummern -, und auf dem Wege dorthin hielt er am Friedhof an, nahm den Koffer mit den Utensilien und setzte sich an das Grab der Mutter. Es redet sich gut mit Toten. Sie erteilen keinen Rat mehr, der zu falschen Entschlüssen führen könnte.

Du siehst, sagte er zu ihr, ich bin ohne Blumen. Seit der Sache mit Rosemarie - er sagte nicht Rose, wenn er im Zorn an seine frühere Frau dachte - war ich nicht in diesem Zustand. Und ich kann nicht mehr leben mit dem Ohr. Ich habe es seit drei Monaten kaum noch benutzt. Seit ich Sabine kenne. Ich will nicht wissen, ob sie lügt.

Das Gold auf dem Stein, sah er, begann sich bereits zu lösen. An der Sieben.

Ich habe nie aufs Pferd gewollt. Du weißt, wie ich gezaubert habe, da war ich fünf. Reprisenclown war ich mit acht. Deine Entschiedenheit, auch wenn sie sanft kam, war von preußischer Strenge.

Er sprach vom Rhododendron, der sich um Kopf und Kragen blühte in diesem Jahr. Er werde morgen ein Glas voller Blüten mitbringen. Nein. Übermorgen. Er müsse erst zu einem Freund von Karli, einem gewissen Doktor Bickel. Auch ein Ohrenarzt. Du kennst ihn nicht, sagte er. In letzter Zeit kam Karli selten auf ihn zu sprechen und, so schien es, mit unguten Gefühlen. Sogar mit Groll. Jedenfalls rief dieser Doktor Bickel gestern an. Es läge ihm daran, mich zu sehen. Der Kuckuck weiß, warum. Ich kenne ihn kaum. Und plötzlich nach Karlis Tod dieser Anruf. Ungenaues macht Missvergnügen. Hat meine Gründlichkeit. gelitten? Wie kommt er zu meiner Nummer?

Ob er überhaupt hinfahren sollte, wusste er noch nicht. Er zupfte, auf dem Koffer sitzend, etwas Unkraut vom Hügel, holte in der Blechbüchse Wasser, um die kleinen Stauden zu gießen. Dieser Frühsommer war zu trocken.

Er sollte hier eine Sitzbank bauen, zwei Rundhölzer, ein kurzes Brett. Für eine Person.

Es hörte sich besonders im Spanischen gut an, groß auf Plakaten gedruckt in Havanna, in Buenos Aires: Edi y Rosa. Sie waren nicht nur dem Klang nach eine gute Nummer. Sie galten etwas, seit er den doppelten Salto vom galoppierenden Pferd zeigte. Er könnte ja auch, fiel ihm ein, an einer Ecke der Bourbon Street stehen, bunte Kleidung, Vaters Geige im Arm, reglos wie eine Statue, und wenn einer der Passanten den Dollar in die Büchse steckt, beginnt er zu spielen. Natürlich etwas von Benny Goodman. Oder an Wochenenden jonglieren unweit von Jackson Place. Wenn er sich recht erinnerte, war es 1803, als Napoleon die Stadt New Orleans an die Vereinigten Staaten verkaufte. Und ganz Louisiana dazu. Er brauchte das Geld für den Krieg.

Zu Mutter sagte er: In zwölf Tagen werde ich fünfundvierzig. Und musste den Kopf schütteln. Wem sagte er das. Du siehst, wie ich beschaffen bin. Ich biete alles auf, um grobe Fehler zu vermeiden.

Das Klubhaus, wo er den Auftritt haben sollte, fand er verschlossen. In einem Kasten hing das Plakat. Er war zwei Tage zu früh gekommen.

Am nächsten Vormittag fuhr er mit der Stadtbahn zur Friedrichstraße. In verkehrsdichten Zeiten benutzt er das Auto nie, denn nach dem Sturz ist auch der rechte Arm nicht ganz tüchtig. Er hörte die Bahn nach Wannsee abfahren, als er noch auf der Rolltreppe stand, und obwohl er ausreichend Zeit hatte, nahm er das als ein schlechtes Zeichen. Der nächste Zug fuhr in zehn Minuten.

Auf dem Bahnsteig lief er unangemessen schnell hin und her, blieb stehen, sah Aufschriften und Hinweise an, ohne sie zu lesen. Ja, Herr Doktor Bickel.

Einmal hatte er ihn bei Karli getroffen und die Visitenkarte am nächsten Tag in seiner Jacke gefunden. Aber hat er ihm auch seine Nummer gegeben? Der Abend wurde lang, wie fast immer bei Karli, und Edgar konnte nicht mehr sagen, ob sie später das Du verwendet hatten. Als der Mann vorgestern anrief, wusste er von Karlis Tod.

Und ich würde Sie gern sehen, wenn Sie Zeit haben. Sie kennen die Verbindung. Linie zwei. In Dahlemdorf aussteigen.

Edgar erinnert sich, dass er den Mann an jenem Abend über eine der Frauen in der Runde denken hörte: Sie hat zu feuchte Hände. Und er hatte mit Inge, Karlis Frau, übertrieben ausgelassen getanzt.

Soll er von sich erzählen? Die Sache ist heikel, Herr Doktor. Es kann sogar sein, Sie wissen davon längst, und Karli hat alles gesagt. Es war während einer Probe in der Manege. In Montevideo. Artistik und Jonglieren auf galoppierenden Pferden, meine Frau und ich. In den Staaten, bei Barnum und Bailey, hießen wir Edi and Rose. Ein drückend heißer Januar also und um die Mittagszeit. Waren Sie mal südlich des Äquators, Doktor? Vielleicht ist es für Sie neu zu wissen, dass die Sonne dort mittags im Norden steht. Sie geht zwar im Osten auf und im Westen unter, aber tagsüber und mittags hält sie sich nördlich auf. Sehr vieles ist vollkommen anders dort. Der Sommer findet im Winter statt. Aber das weiß man. Natürlich fehlen der Große Wagen und der Polarstern ebenso.

Streit gäbe es über das Kreuz des Südens. Man glaube, zwei zu sehen in guten Nächten, eines ziemlich oben, ein anderes dicht am Horizont.

Vom einfahrenden Zug ließ er sich ablenken, und bei dem schrillen Bremston schrak er zusammen, als wäre der Regler für das Ohr hochgestellt. Er sah nach. Natürlich nicht. Wie seit Langem schon stand die Scheibe auf Eins.

Das Gerät hatte er nur bei sich, um es dem Herrn Bickel vielleicht zu zeigen. Dem Format nach schien es ein handlicher Taschenrechner zu sein. Er konnte es in jeder Hemdtasche unterbringen. Möglichst auf der rechten Seite. Es gab Druckschalter für Ein und Aus, ein Fach für die Batterie, die den Minisender speiste, und jenes Rädchen mit geriffeltem Rand, wie man sie an kleinen Radios findet, um die Frequenzstärken zu regulieren. Jenseits der Eins, die der Leistung des menschlichen Ohres entsprach, begann sich das akustische Universum zu öffnen. Die entfernte Nachtigall saß über ihm, der Kutter weit hinten auf der Spree schien durch den Garten zu fahren. Und selbst das Denken eines Menschen war zu hören, falls er nicht zu denen zählte, die gedanklich nuscheln. Das sind mehr, als man vermuten möchte. Schließlich besaß das Gerät eine winzige Skala, die den Ladezustand der Batterie anzeigen konnte. Denkbar, dass dieser Herr Bickel das Gerät längst kannte. Fest stand ja, er und Karli hatten zusammen studiert und waren danach enge Freunde geblieben. Oder sollten sie den Plan mit dem Ohr eines Hundes gar gemeinsam durchdacht, entworfen und ausgeführt haben? Und es war nicht der erste, nicht der einzige Versuch, den sie mit ihm unternommen hatten?

Edgar ging zu einem Platz im Abteil, wo er im Schatten saß. Kann auch sein, Doktor, Sie verstellen sich und geben nichts von alledem zu.

Wir wollten also einen ganzen Durchlauf in der Probe machen. Ich springe ab zum ersten einfachen Salto, den ich seit Kindertagen beherrsche, verfehle das Pferd, und der Mann, der am Rande der Manege das Fangseil hält, reagiert Sekunden zu spät. Wie viel ist im Spiele beim Salto von einem Pferd im Galopp und zurück auf den Rücken des Pferdes? Equilibristik der höchsten Feinheit, Dutzende Korrekturen am Gleichgewicht in zwei drei Augenblicken. Und wenn nur eine einzige fehlerhaft war.

Wie lange ich auf dem Boden lag, kann ich nicht sagen. Äußere Verletzungen gab es keine, nur scharfe Schmerzen im Kopf und ein seltsames Ziehen in der rechten Körperseite. Der Arzt kann nichts feststellen, gibt mir Mittel gegen den Schmerz, und ich arbeite weiter bis zum Ende des Gastspiels. Das war eine schlechte Entscheidung, mein Zustand verschlimmerte sich schleichend. Ich habe den doppelten Salto seitdem nie wieder versucht, ebenso den Salto in den einarmigen Handstand nicht. Die Verpflichtung in Brasilien sagten wir ab, und auf dem Rückflug von Rio ...

Neben Edgar stand plötzlich ein Mann, wies eine blinkende Marke vor und behauptete, Zollkontrolle zu sein.

»Führen Sie Waren aus dem Intershop mit sich?«

»Welche Waren?«, fragte Edgar zerstreut.

»Zigaretten, Alkohol, Kaffee.«

»Nichts davon. Ich rauche nicht und trinke nicht Kaffee kaum. Weil ich nicht darf.« Er wusste, dass er unangebrachte Bemerkungen machte, aber der Mann bedankte sich.

Ja, sind Sie mal von Rio nach Rom geflogen, Doktor? Mehr als elf Stunden ohne Unterbrechung, fast vierhundertfünfzig Menschen an Bord. Unterm Sitz des Vordermanns Gepäck, klappt man die Lehne zurück, klagt der Hintermann, beugt man den Kopf zu weit nach rechts, beschwert er sich wieder, er möchte den Film sehen vorn auf der Leinwand. Die meisten fliegen wohl zum Papst. Zweimal sackt die Maschine in ein Luftloch und bebt lange nach in allen Fugen, man schreit und betet, Kästen, Taschen, Kartons fallen herab, Geschirr und Gläser splittern.

Tienen miedo, sagt mein Nachbar mit Nachsicht im Ton.

Man kann die Angst hören. Die Gauchos mit den breiten Hüten trinken sich mehr Mut an. Schwestern und Nonnen halten, jede für sich, ein stilles Gespräch ab. Einem Herrn tropft dunkler Saft aus dem Gepäckfach auf den Anzug. So fein sollte man sich nie anziehen auf einer solchen Reise. Er wird sehr laut. Die Kinder essen nichts vor Furcht und schreien, jedes anders als die anderen. Ein vibrierender brummender Käfig. Fliegt er schon zehn Jahre oder fünfzehn? Und wohin die Beine, wohin mit dem Körper und dem Kopf?

Irgendwann im Gang bin ich umgefallen und oben im Abteil für die Mannschaft aufgewacht. Eine Stewardess mit hellen, aber warmen Augen. Der Kapitän kommt. Sie geben mir einen Whisky, und für lange Zeit war es der letzte, den ich getrunken habe.

Aber ich konnte weiterfliegen von Rom aus am frühen Abend. Als meine Frau mich im Krankenhaus besuchte, hatten die meisten Kontrollen und Messungen stattgefunden. Sie war bei den Pferden und der Ausrüstung geblieben und mit dem Schiff gekommen. Nicht nur bei den Sachen und den Pferden war sie geblieben, wie ich später wusste. Und meine Taubheit nahm weiter zu, trotz der Operation. Fragen Sie nicht, welche Art von Eingriff. Natürlich am Kopf.

Am Zoologischen Garten ist Edgar mit Aus- und Umsteigen beschäftigt. Er wartet, bis die Menschen sich verlaufen haben, jede Enge bereitet ihm Angst. Hinunter zur Linie neun. Besonders auf Treppen bewegt er sich ungelenk, wie tastend. Ein noch junger schlanker Mann, das Gesicht straff, gut gebräunt, in den dunkelblonden Haaren keine Spur von Grau, und sein Gang ist so kränklich. Unterirdische Bahnhöfe, Stollen und Gänge riechen in aller Welt gleich.

Plötzlich dachte er: Die Menschen lieben Achterbahnen sehr. Große Karussells, wo man weit hinausschwingt. Sie geraten außer sich. Sie lieben den Rausch. Stimmen Sie mir zu, Doktor? Und eines Tages sagt Karli, mein guter, alter Freund: Wir versuchen es. Ich setz dir ein Hundeohr ein. Du kannst wieder hören. Und wie du hörst! Bei seinem Bruder auf dem Lande betrieb er eine Rottweilerzucht, die Sie vielleicht kennen.

Oder? Sie waren sicher dort.

Der Welpe hieß Dagobert, war der schwächste aus dem Wurf und blind geboren. Er starb dann bald. Und ich habe sein kleines Ohr. Na, Doktor? Alles neu für Sie? Also höre ich das Fünfzehn- bis Sechzehnfache, wie Sie ja wissen. Das Geringste dabei: Ich erschrecke zu Tode, wenn ein Herrchen im Park, um seinen Liebling zu rufen, die Hundepfeife bläst.

Muss ich andeuten, was ich gehört habe oder hören musste während dieser Jahre, und ich bin an einem Punkt, schon längere Zeit übrigens, dass mir ... Und dazu nun Karlis Tod. Die Frage ist, ob ich Sie um etwas bitten könnte oder sollte als Freund von Karli und Mann vom Fach. Es kommt vor, als wüsste ich nicht weiter.

Auf der Bank gegenüber im Abteil saß eine junge Dame, Ende Zwanzig, wahrscheinlich südlicher Herkunft. Sie trug keine Ringe oder Ketten. Ihr Schmuck waren Augen, Grübchen und Haar. Sie vermied streng, ihn anzusehen, und er hatte plötzlich den Wunsch zu hören, worüber sie nachdenkt, griff zum Gerät und stellte den Regler auf die Vier. Längst hatte er gelernt, das Gerät auch zu bedienen, wenn es in der Hemdtasche steckte. Das Fahrgeräusch des Zuges in der Röhre schwoll sofort an, es war nichts als Krachen und Bersten um ihn her, als ob Flüsse, Brücken und Stadtteile ineinander stürzten. Auf der nächsten Station versuchte er es wieder, und er konnte sehr feine Wörter und Sätze in einer unbekannten Sprache hören. Vielleicht Griechisch. Am Breitenbachplatz stieg sie aus.

Auf dem letzten Stück der Strecke nahm er den kleinen Ball aus der Tasche und übte damit. Fast alles, was die rechte Hand früher konnte, hatte die linke hinzulernen müssen in diesen Jahren; die Kartentricks, den Umgang mit Münzen oder Kugeln, die verschwinden oder sich vervielfachen, das eben, was er gewöhnlich zeigt, wenn er an einem Tisch in kleinem Kreis zaubern soll. Täglich übte er mehrere Stunden und hat die Linke schon ziemlich gut erzogen. Passanten erklärten ihm den Weg. Eine stille grüne Gegend. Die gepflegten Villen spielten Verstecken hinter Sträuchern und Bäumen. Geißbart und Goldregen blühten und Mairosen. Wussten Sie, Doktor Bickel, dass man jetzt Gartenzwerge als Rohlinge bekommt, einfach weiß? Ihrer Fantasie wären keine Grenzen mehr gezogen. Da war das Haus. Es gab sich kaum zu erkennen. Ein greller Sonnenschirm im Garten. Auf dem Messingschild am Tor Name, Facharzt, Sprechzeiten. Mittwoch und Freitag nach Vereinbarung. Der makellos polierten Platte widerstand er nicht, sah hinein und fand sich schief und grinsend. Grinste aber nicht. Ja, was gibt es zu besprechen? Was will der Mann von ihm? Er ging ein Stück weiter in der Straße.

Inzwischen schien er entschlossen, sich nicht bei dem Manne zu melden. Er lief zurück zu einer halbrunden Anlage, die er gesehen hatte, und setzte sich auf eine Bank. Ich bin nicht in der Lage, Doktor. Er genoss die Stille und den Duft von Flieder. Ein Auto kam nur selten. Er fühlte sich schwach und mobil zugleich.

Da gibt es noch manch andere Merkwürdigkeit südlich des Äquators. Neu in Buenos Aires war - wenn ich das einfügen darf - die Schokoladenbande, bestehend immer aus vier fünf Burschen und einer Frau. An einer belebten Ecke der Innenstadt steht einer mit einem Becher voll Kakao. Ist das Opfer ausgespäht - möglichst Ausländer mit heller Kleidung und einer Tasche -, stößt ein zweiter ihn geschickt an. Die Schokolade ergießt sich auf den Anzug des Opfers. Zwei weitere greifen hilfreich zu, großer Gott gütiger, wischen und säubern, während der fünfte die Tasche an sich reißt und im Augenblick verschwunden ist.

Eine eigenwillig neue Art von Straßentheater. Gehe ich zu weit, wenn ich sage, Armut macht produktiv? Die soziale Not breiter Schichten nimmt dort schnell zu. Das beginnt auch hier, nicht entfernt vergleichbar freilich, und zuerst fängt es im neuen Armenhaus der Deutschen an. Halten Sie mich nicht für sehr politisch, Doktor. Eher sind es Gefühle, erzeugt von Eindruck, Erfahrung und Vergleich. Die Eintrittspreise für den Zirkus in Buenos Aires hatten sich in den vier Wochen unseres Gastspiels fast verdoppelt, wie die Preise für Milch und Fleisch. Aber es muss viele andere Ursachen geben für kriminelle Energie. Denn haben wir hier massenhaften Hunger? Also.

Sie sehen, Herr Bickel, ich bin nicht ausgeruht.

Wie häufig in letzter Zeit kam unvermittelt Müdigkeit auf. Er hatte flach und stark gestört geschlafen in der Nacht. Für meinen Sturz könnte es noch eine andere, sehr unbewiesene Erklärung geben. Jeder kennt den Strudel, der entsteht, wenn Wasser aus einem Becken abläuft, und er geht hierzulande immer rechtsherum, im Sinne des Uhrzeigers. Dort unten geht er anders. Linksherum. Also sind die wirkenden Kräfte andere, und denkbar, dass ich deshalb den Rücken des Pferdes verfehlte beim ordinären einfachen Salto, den ich dreißig Jahre springe. Ach, länger.

Die Gesetze und Kräfte, die das Universum beherrschen, sind noch weitgehend unbekannt. Keiner weiß das besser als einer meiner Freunde und Nachbarn. Friedrich, der Professor. Er war ganz sicher dabei an jenem Abend bei Karl. Sie werden sich kaum erinnern. Viel sagt er nie. denkt lieber nach. Er betreibt die Physik der kleinsten elementaren Teilchen und weiß, dass wir nicht wissen, was die Welt zusammen hält.

Ähnlich wie der Hirtenhund gleich nebenan, der an den Zaun kommt, wenn er mich sieht oder hört. Oft reden wir lange miteinander. Er heißt Fratz. Bitte denken Sie nicht, Doktor, ich hätte die Übersicht verloren oder die Kontrolle. Meine Beziehung zu Fratz ist ungetrübt.

Er war wohl nicht eingeschlafen auf der Bank. Eine Art Halbschlaf höchstens, der ja belebend sein kann. Klarheit musste er vor allem darüber erlangen, ob er Karlis und sein Geheimnis - immer vorausgesetzt, der Herr Bickel weiß davon nichts - ob er es überhaupt preisgeben darf.

Von der Zelle am Bahnhof aus rief er an.

»Edgar Deutschmann hier. Wir hatten vereinbart, dass ich Sie besuche. Leider bin ich verhindert, Herr Doktor. Und ich melde mich bei Gelegenheit.«

»Ja, gut«, sagte der Mann. »Was weiß man eigentlich über den Unfall. Ingeborg wollte ich nicht danach fragen.« Seine Stimme, die Art, etwas vorzubringen, klangen geschäftsmäßig, so wie er den ganzen Mann in Erinnerung hatte.

»Man weiß wenig«, sagte Edgar. »Das heißt, man rätselt, wie der Wagen über die Böschung geriet und in den See. Karli wollte vielleicht schwimmen gehen, es war ja heiß, und sein Herz hat versagt. Er konnte nicht mehr bremsen. Wer weiß.«

»Und Anzeichen äußerer Gewalt gibt es keine?«

»Bisher wohl keine. Man hat den Leichnam aber noch nicht freigegeben «

»Und der Termin für die Beisetzung ist noch offen?«, fragte der Mann.

»Ja«, sagte Edgar. »Wenn nicht früher, sehen wir uns wohl zur Trauerfeier.«

»Ja, bestimmt«, sagte der Mann. »Oder, wenn Sie wollen, früher.« Also bis dahin. Alles Gute, ja. Was man so sagt. Nun könnte er, hätte er die Nummer bei sich und ausreichend geeignete Münzen, bei Carlos anrufen, dem Impresario in Montevideo. So einfach geht das von hier und mit diesen Apparaten. Es ist jetzt zehn Uhr früh dort.

Edgar nahm den Zug kurz nach vierzehn Uhr. Und er dachte an Carlos. Sie waren fast Freunde geworden in diesen wenigen Wochen, und einmal gab es eine knappe, ganz zurückhaltende Andeutung von Carlos, Rose und diesen Muskelmann, Herrn Pietsch, betreffend. Sie wären ihm begegnet in der Stadt, ohne ihn jedoch zu bemerken. Und kurze Zeit später dann seine eigene Beobachtung.

Seit dem Sturz spürte er plötzlich das Verlangen, sich mittags nach der Probe hinzulegen. An diesem Tag schlief er kaum eine Stunde und stand hellwach auf. Rose war schon vorher in die Stadt gegangen und noch nicht wieder zurück, auch bei den Tieren oder zwischen den Wohnwagen fand er sie nicht. An einer Ecke des weitläufigen Platzes, auf dem der Zirkus aufgeschlagen war, entdeckte er dann, reiner Zufall, das Auto des Herrn Pietsch, der sich Córdoba nannte, und sah Rosemarie eilig aussteigen. Er ging in den Wagen, legte sich hin und tat, als schliefe er. Sie kam leise herein, er sah sie das Badetrikot aus einem Beutel nehmen und auf einen Bügel in den Schrank hängen. Mit dem großen Handtuch in der Hand ging sie wieder hinaus.

Kurz danach stand er auf. Die Badesachen hingen feucht im Schrank. Ja. Lange saß er auf dem Bett. Behausungen dieser Art kannte er sein Leben lang, aber er konnte sich nicht erinnern dass ihm Enge und Muffigkeit je den Hals verschnürt hätten wie jetzt. Es wäre töricht gewesen, während der Mittagsglut ein Fenster zu öffnen.

Er fand sie draußen im Schatten neben dem Wagen, beschäftigt mit den Fingernägeln.

»Liebling. Bist du schon ausgeruht?«

In ihren Augen war nichts, was er nicht kannte. Der tiefe braune Blick voll von Leben wie fast immer. »Hast du ruhig geschlafen?«

»Ja, tief«, sagte er. »Und du warst in der Stadt.«

»Ein bisschen unter den Palmen gesessen am Platz. Und eine Bluse hab ich gesehen. Ecke Andes und San José. Sie heißt, glaube ich, Andes. Vielleicht kauf ich sie doch.«

»Es muss heißen San Chosé. Das J ist immer ein Ch, wie Don Chuan«, sagte er ruhig. »Warum hast du sie nicht genommen?« Sie war schlau, ja. Denn sie hätte sie zeigen müssen. »Du weißt, Schatz, dass ich lieber etwas zweimal sehe. Wie geht es mit den Schmerzen?«

»Erträglich«, sagte er.

Also waren sie am Rio. An den Atlantik fährt man viel zu lange. Es gibt immer wieder Badende am Rio de la Plata, obwohl er eine riechende Flüssigkeit ist. Dabei hätte sie sagen können: Mir war nach etwas Abkühlung. Und? Aber sie log. Denn es hatte begonnen. Und wielange war es schon her, dass sie ihm manchmal ein zweites Frühstück ans Pferd brachte, einen Topf Kaffee mit Milch, café con leche und einen Happen dazu, und von Pferd zu Pferd springend, während sie trabten immer im Kreis eine knappe Stunde bei einfachsten Übungen, trank er den heißen Kaffee. Die Tasse dann. Hopp. Ja, keine Liebe mehr, kein Frühstück mehr ans Pferd.

Von der Friedrichstraße fuhr er fast vierzig Minuten. Der Ort, in dem er wohnte, gehörte schon nicht mehr zu Berlin, doch die Stadt hatte längst angefangen, ihre Finger auszustrecken ins grüne Umland. Die Abendzeitung hielt er noch so in der Hand, wie er sie am Bahnhof gefaltet hatte.

Vielleicht helfen Sie mir doch aus der Patsche, Doktor. Ich traue mich kaum, den Verdacht zu äußern. Sagen wir die Vermutung. Sie und Karli haben das alles seit Jahren durchdacht und dann ausgeführt. Und ich bin weder der erste noch der einzige Patient gewesen. Wenn das so sein sollte, gibt es andere, die ein solches Ohr haben und also dieselben Sorgen. Und wenn es nur einer wäre außer mir. Sie müssen es mir sagen, Doktor Bickel. Ich war nie so ratlos und allein.

Er würde es heute Abend doch mit einem Mittel für den Schlaf versuchen.

Er fährt mit dem Bus noch eine Haltestelle und bis zur Endstation an der Spree. Zu Hause warten nur weitere Gedanken und Gespräche. Eine Weile sitzt er am Wasser; bunte Segler und ein Lastkahn.

Es war an dieser Stelle, Udo natürlich dabei, Karli und Friedrich auch, der Professor, und hinter den Sträuchern kauernd, sahen sie den Mädchen beim Baden zu. Ein später warmer Abend, aber man konnte alles sehr schön sehen. Damals war das außerordentlich. Und für Männer zwischen sechzehn und siebzehn zumal.

Friedrich, der Älteste, sagte; »Es ist nicht anständig, hier zu lauern wie Diebe. Wir gehen rein.«

Udo schämte sich, musste jedoch mit.

Die Mädchen kreischten, tauchten unter. Lena blieb aber stehen, rote Schleifen an den Zöpfen, und sie sah ihn ohne Umschweife oder Scheu einfach an. Die feinen Härchen, die bis zum Nabel gehen, entdeckte er viel später erst.

Ein bisschen bespritzte sie ihn und berührte ihn dabei flüchtig. Ein Versehen war es nicht, denn als sie untergetaucht waren, tat sie es wieder und ließ den Handrücken dort.

Der Blick ihrer beinahe schwarzen Augen kommt noch heute aus einer rätselvollen Tiefe. Wenn sie dich wirklich ansieht.

Alles wäre wohl früher geschehen, hätte er dort nahe am Ufer im Wasser den erforderlichen Mut aufgebracht. An der starken schönen Absicht fehlte es nicht, und er hätte da schon erfahren, dass sie die begabtesten Hände hat, die ihm je begegnen sollten, wie ein Kissen schmiegsam, wie geschaffen, dich um jeden Verstand zu bringen. Möglich sogar, es wäre alles anders weitergegangen.

Erst im späten Herbst, als er von Gastspielreisen zurückkam, trafen sie sich, und dann im Wald kam ein Gewitter auf. Sie zitterte und war in seinen Armen klein und ganz dünn vor Furcht. »Ich möchte mit dir sterben«, sagte sie. »Und du?«

Ein gutes Jahr danach heiratete sie einen Fleischergesellen, der den Schleusenkrug irgendwann weiterführen sollte. August, ihr Vater, lebt noch. Die Wirtin aber ist sie.

Am Stammtisch im Krug saß nur Udo, der Binnenschiffer. Es war ja früh am Abend. Natürlich begrüßte Edgar die Wirtin zuerst, küsste sie an der Schläfe, wie immer, und küsste ihre linke Hand. Und er zauberte eine seiner Spielkugeln aus ihrem Haar. Es mal wieder berühren.

Wie hauchdünn war es damals zugegangen, wie wenig hatte gefehlt, ein Schmetterlingsschlag nur: Heute stünde er hier, Edgar hinter der Theke in lederner Schürze, Bier zapfend in schräg gestellte Gläser, nur Gäste und den Zahlungsverkehr mit Brauerei und Handel, nicht die Last des Erlebten in aller Herren Länder, nicht die Ängste vor dem Pferd, die Pflicht zum Absprung. Nur Zapfen, Spülen, Fässer, Bockwurst mit Salat. Die Uhr am Tresen geht vor wie immer und überall. Feierabend.

»Und August?«, fragte er. »Gesund?«

Hundertdrei Jahre will er werden, sitzt abends auf seinem Stuhl zwischen Theke und Ofen, und wenn die Laune ihn überkommt, serviert er balancierend auf seiner Glatze, ein volles Glas Bier, geht schwebend, die Arme zum Fluge ausgebreitet, wie einer auf dem Hochseil. Manchmal, wenn er wach wird auf seinem Stuhl, gegen halb zehn, schreit er aus dem Halbschlaf in den Gastraum: »Schluss jetzt. Aus, Feierabend. Bezahlt eure Scheiße und raus!« Und nickt sofort wieder ein.

»Er schläft noch«, sagte Lena.

»Ein Bier?«

Es war das Einzige, was Edgar durfte. »Und eins für Udo.« Der trug den Verband noch, vom Ohr aus schräg über den halben Kopf, wie ein Helm, der schief sitzt. Woran er wirklich litt, war die junge Frau, bei der er ein gutes Jahr gewohnt hat und die ihn nicht mehr mochte. Plötzlich. Nun haust er wieder in seinem Keller.

Vor etwa einer Woche, beim Skatspiel, war ihm seine Mütze unter den Tisch gefallen, wo der Hund des Hauses gewöhnlich liegt. Er will die Mütze nicht wieder hergeben und wird sehr böse zu Udo unterm Tisch.

Zunächst lachen alle.

Und von dort unten immer wieder: »Gib die Mütze her, Hoheit!« Das Knurren wird bedrohlicher. Als Edgar unter den Tisch kriecht, kommt er Sekunden zu spät: Der Hund hat zugeschnappt und Udo ein Stück Ohr abgebissen. Der Notarztwagen kam nach zehn Minuten.

Seitdem darf Hoheit nicht mehr in den Gastraum.

Lena brachte das Bier und legte schon die Karten auf den Tisch. Udo führte den Trick vor, den Edgar ihm kürzlich gezeigt hatte. Es ist der, wo die vier Damen doch wieder hintereinander im Spiele liegen.

»Na, siehst du. Schon sehr gut«, sagte Edgar.

Ihn ablenken vom Kummer. Bisschen Mut machen. Denn du sollst den Menschen nicht erniedrigen durch Mitleid. Wo steht das wieder.

»Gestern war Entenkrüger hier«, sagte Udo. So nennen sie Richard Krüger, den Kriminalhauptmann, der hier in der Siedlung wohnt.

»Er sagt, etwas gefällt ihm nicht an der Sache mit Karli.«

»Sagt er, was?«

»Mit dem Auto eben.«

»Ich weiß. Aber was?«

»Na, knurrt so vor sich hin. Kennst das ja.«

Edgar wählte den Heimweg so, dass er bei Entenkrüger vorbeikam. Der war auch zu Hause und natürlich hinten beim Gewächshaus und beim Schuppen, wo er Hühner hielt. Enten hatte er nie gehabt. Er flickte ein Stück Zaun aus, trug Gummistiefel, eine alte Schirmmütze tief in der Stirn, und das Hemd hing über der Hose. Sein Gesicht kannte man nicht anders als gesund, freundlich, offen gegen jedermann. Doch weit hinten im Blick lauerte stets eine Winzigkeit Verdacht. Niemand, der nicht auch Täter sein könnte.

»Was hast du angestellt«, sagte er zur Begrüßung. »Trinkst du ein Bier?«

Seine Flasche stand im Werkzeugkasten.

»Eine kleine, wenn du hast.«

»Kleine hat Krüger nicht«, sagte Richard.

Sie saßen auf der Bank am Schuppen, und Edgar stellte bald seine Frage.

»Was mich beunruhigt«, sagte Richard. »Das Auto hat gestanden. Vor der Böschung. Wir haben Abdrücke von den Reifen. Ziemlich tiefe. So. Wenn er da schon tot war, wie kommt er geradeaus die drei Meter und über die Böschung. Wie macht das ein Toter? Das gefällt mir nicht.«

»Und wenn er noch gelebt hat«, sagte Edgar. »Er will zurück, legt den falschen Gang ein. Über die Böschung in den See. Erschrickt und ist tot.«

»Karli und der falsche Gang. Na, wunderbar. Jemand muss den Wagen angeschoben haben. Vorwärts, rückwärts. Wie man so anschiebt. Davon der tiefe Abdruck.«

»Du meinst, er war nicht allein.«

»Wenn Krüger das wüsste«, sagte Richard.

Als Edgar zurückkam, stand die Abendsonne noch auf dem Haus. Es ist ein Flachbau, aus Holz, von den ursprünglichen Besitzern wohl für den Aufenthalt an Wochenenden gedacht. Den Schornstein an der Südseite hat Vater angebaut, hat Heizkörper in Bad und Küche und den Zimmern installiert. Von den Reisen ins Ausland brachte er gute Dämmstoffe mit und isolierte den flachen Boden unterm Dach. Er konnte alles.

Vor einer Woche hatte Edgar begonnen, die Westseite des Hauses neu zu streichen, wieder weiß. Fensterrahmen und Türen smaragdfarben: ein helles bläuliches Grün, wie man es in griechischen Dörfern sieht. Seit Karlis Tod stand alles unberührt, die Leiter an der Hauswand, Farbtopf und Pinsel neben der Treppe.

Die geräumige Küche ist sein Hauptsitz. Die Möbel stammen von den Eltern. Auch der Herd mit der Feuerstelle und den eisernen Ringen, die Mutter flink mit dem Haken herausnahm über der Flamme. Immer fasste sie den Haken mit dem Zipfel der Küchenschürze an.

Der große Tisch war überhäuft mit Mappen und Papieren. Beschriebene Zeitungsränder. Zwischen Tee und Knäckebrot das Telefon. Sogar Genies, las er auf einem Zettel, hatten gegen den Wahnsinn anzugehen. Siehe Rimbaud. Er legte die Notiz irgendwohin obenauf. Ebenso das Blatt, wo stand: Klarheit über Herrn Bickel finden. In den Kalender schrieb er: Entenkrügers Theorie! Wagen angeschoben. Von wem? Mit grünem Stift war unter vorgestern eingetragen: Evamaria. Er wird sie anrufen. Ein wenig besser ging es ihm als die Tage zuvor, und er fühlte sich ihr fast gewachsen, wenngleich er bezweifelte, ob er als Liebhaber schon wieder taugte. Und gerade bei ihr. Es ist der Preis dafür, dass unsere Gattung so unnatürlich hoch entwickelt ist: Auch diese Sachen und Impulse müssen durch den Kopf.

Er hatte nie eine Frau getroffen, die ihren Launen so vollkommen unterliegt. Nein. Sie füttert sie sorgsam, ihre Launen.

Seit dem Auftritt in einem Künstlerklub vor gut einem Jahr, kannte er sie. Architekten waren dort, Leute, die schreiben oder die Brunnen und Monumente entwerfen für Fußgängerzonen. Oder für Kindergärten. Neue Mäzene müssen her und stehen wohl schon bereit. Gönnerhafte Fürsten gab es immer, und wie immer wird getan werden, was ihnen gefällt.

Wie häufig, zeigte er später im kleinen Kreis weitere Zaubereien, die allgemeines Staunen machen. Und ihm gegenüber sie. Grünliche, nicht sehr große, ruhelose Augen, das rote Haar offenbar echt, Ihr Entzücken trug allzu kindliche Züge.

»Ach, zeigen Sie das bitte noch mal. Bitte.«

Ihr Erregtsein galt deutlich ihm, den Tricks nur nebenher. Wenn sie sich später sahen, trug sie stets ein Köfferchen bei sich: Gewänder für die Nacht, eine Plastikschachtel für das Waschzeug, natürlich Duftwässer, Schleifchen für das Haar und immer Kerzen, rosa oder blau. Aber ja, um sie anzuzünden. Oder?

Einmal, nachdem sie ausgezogen lagen, musste er nur ihre Zehen kreisend bewegen, nicht zu heftig, wie ein Hauch über Füße und Beine streichen, die Oberarme innen und die Gegend um den Nabel. Das rote weiche Haar nur berühren. Wie es ihm erging, schien ihr lange Zeit gleichgültig. Ganz zuletzt weniger. Nie ist sie durchschaubar.

Mehr als die Hälfte des Lebens, hat jemand behauptet - aber wer ist mit der Vorbereitung des Wohlbefindens ausgefüllt. Er rief also an, und sie war zu Hause. Ihre Stimme war dünner als ein Faden und kam wie stets aus dem halben Schlaf.

»Bis auf eine Kleinigkeit geht es mir gut. Wenn du weißt«, sagte sie. »Du hättest nicht viel Freude an mir. Ich kann dich anrufen nächste Woche.«

Oder war auch das einer ihrer launenhaften Auftritte? Aber davon mag ein Teil dieser seltsamen Bindung an sie herrühren. Ein anderer aus dem Spieltrieb, dem beide unterliegen. Sie stellt Keramik her, Schmuck und Gebilde aus Glas. Die Lust am Entdecken, Stutzen- und Staunenmachen.

Nach Mann und Kind fragte er heute nicht. So war es ihm auch recht; er konnte die Zeit nutzen zur Stabilisierung.

Auf einem Zettel stand eine Notiz für Mutter. Ihr sagen, wie intensiv er an dem neuen Trick arbeitet, an dem mit der Krawatte. die er von einem Zuschauer erbittet und die sich dann zu winden und aufzubäumen anfängt, wie eine richtige kleine Schlange. Mutter hört gern, dass er rührig ist und entschlossen, nicht aufzugeben. Und neulich nachmittags hatte er den einarmigen Handstand wieder geschafft, nur kurz. Natürlich links. Er war einige Male vor dem Haus auf einem Arm gehüpft und fiel hin. Das wird er ihr verschweigen.

Weil noch immer kein Regen zu erwarten war, ging er in den Garten, um den Nussbaum zu gießen. Den hatte ein kurzer nächtlicher Sturm, eine Windhose, vor wenigen Tagen umgeworfen - wieder ein Verlust, eine Wunde -, er war sechzig Jahre oder älter, das Wurzelwerk überraschend klein, und ein Teil steckte noch im Boden. Wie viel Schatten, Nüsse und Freude er sein Leben lang gegeben hat, und es war der Versuch von Dankbarkeit, die Edgar ihm erwies. Die herausstehenden Wurzelteile hatte er mit Tüchern sorgfältig umwickelt, blaue und rote verwaschene Lappen. Die letzten Segel vor dem Untergang. Edgar legte den Schlauch in die aufgebrochene Erde zu den Wurzeln. Mehr Nüsse, Karli, und du könntest womöglich noch leben. Sie sollen, schreibt man, Substanzen enthalten für das Herz. Das Wesentliche das im Wechsel Beharrende.

Hinter den Pappeln an der Straße kam der Mond hervor, er nahm zu und ging nach Westen, über Süd hinaus.

Längst gibt es Interessenten für das Nussbaumholz, um daraus etwas zu drechseln und schöne Kleinmöbel zu fertigen. Nein. Was man tun könnte: Ihn wieder aufrichten. Platz genug wäre da, und die Maschine mit der Winde oder der Traktor könnten vorn am Tor stehen.

Mit Max von nebenan, dem Direktor für Technik, wird Edgar sprechen, sobald der zurück ist. Besorgt und kauft immer noch irgendwo Teile ein, die sich drehen, die was heben und fortbewegen. Und fragt sich längst: Wozu denn noch? Nebenbei Apotheker sein, pflegte er früher oft zu sagen, und eine sichere Pille entwickeln gegen Faulheit, Besserwisserei und Selbstgefälligkeit. Und gegen die Ursachen derselben. Aber niemand hat diese Pille erfunden. Den Kollaps hätte sie nicht verhindert. Die Idee mit dem Baum wird ihn begeistern. Er braucht die Herausforderung. Wer zur Quelle wollte, musste schon immer stromauf.

Sehr schön, aber Unsinn: Guter Mond, du gehst so stille. Wie jedes Schulkind weiß, geht er rasend. Dem Dichter wird fast alles erlaubt. Dem Clown auch.

Ein Mann bei Betrachtung des Mondes. Sie kennen das Bild gewiss. Er wird auch der Mystiker des Pinsels genannt. Bei ihm sind es zwei Männer. Gut. Ich weiß nicht mehr, ob ich es erwähnt habe, Doktor. Dort unten im Süden steht selbst der Mond kopf. Seine Sichel hängt jetzt genau andersherum und bildet mit dem vollen Rand den Bogen für das kleine a, sodass man glauben muss, er nähme ab. Er nimmt jedoch zu wie bei uns. Und da kommt nun das Spanische zu Hilfe, die Sichel hat ein c anzudeuten, für creciente, was zunehmend heißt und ja eng verwandt ist mit dem Crescendo, der anschwellenden musikalischen Tonstärke. Und so hat alles wieder seine Ordnung. Dass Sie ein Freund der Musik sind, Doktor, hat Karli irgendwann erwähnt.

Edgar drehte den Wasserhahn ab. Bei den Rosen lag ein Stein, unter dem Vaters Asche bestattet war. Seit mehr als fünfzehn Jahren. Den Papieren nach liegt sein Grab in Kopenhagen, wo sie ein Gastspiel hatten. Und jemand auf einem Motorrad fährt nachts den Vater um und fährt weiter. Aber sie spielten bis zum Ende. Was heißt denn Trauer. The show must go on. Auf Mutters Wunsch gaben sie die Urne heraus, und sie lag während der Heimfahrt hinten beim Gepäck.

Am Tisch in der Küche sitzend legte er eine weitere Notiz an: Der Mutter sagen, wie oft sie ihn verletzt hat mit Rechthaberei. Er will es so schonend wie möglich tun und hinzufügen, dass sie wohl gerade damit seinen eigenen Sinn für tolerantes Verhalten kräftigen half, sich also bedanken.

Das Schweigen der Toten, sagte er zu Herrn Bickel, kann kränkend sein. Ja, die Einfachheit ist das Geheimnis. Immer. Was sagen Sie zu Entenkrügers Theorie: Jemand muss Karlis Wagen vor der Böschung angeschoben haben. Könnte es sein, dass Sie etwas darüber wissen? Die Frage nach fremder Gewalteinwirkung schien Sie zu beunruhigen. Der Zustand übrigens, in dem ich mich befinde, macht einen Fremden aus mir. Und wir hatten einen Spazierstock aus Texas mitgebracht. Es war ein Bullenpenis, gestreckt natürlich, behandelt und getrocknet. Man bekommt die dort überall. Meine Frau hat ihn selbstverständlich mitgenommen, als sie wegging. Wussten Sie, dass Karli mein erster Freund war? Mein einziger überhaupt. Sie sollten das aber wissen.

Er fragte noch: Sind Sie mal nachts über Island geflogen, Doktor?

Es war Zeit, die Pillen für den Schlaf zu nehmen.

ZWEITES KAPITEL

Er hatte vergessen, das Kaninchen einzupacken. Frieda, die Frau von Max, sie wohnen gleich nebenan, betreibt eine kleine Zucht, und Edgar nimmt bei Bedarf ein junges Tierchen mit. Über die Kriterien seiner Auswahl hat er nie nachgedacht. Still und friedfertig sind sie alle.

Wie üblich war er früher als notwendig abgefahren, und als es ihm unterwegs einfiel, blieb genügend Zeit umzukehren. Er holte den Koffer, den er fein mit Löchern und kleinen Fensterchen für etwas Licht versehen hatte. Eine Art Hebammenkoffer, mehr hoch als lang, und der Boden sogar grün ausgelegt. Bei Jäckels war niemand zu Hause, sodass er selbst über den kleinen Zaun ins Gehege steigen, den dunklen Anzug trug er schon, und eines der Tierchen fangen musste.

Die versammelte hilflose Angst der Kreatur, auch wenn er den Tieren leise und verschwörerisch beruhigende Mitteilungen machte. Nur nicht ausrutschen jetzt. Ihrer Natur folgend, hatten sie längst begonnen, auch einen Bau und Gänge im Freien anzulegen, und dort bekam er ein kleines, das ihm gefiel. Er dachte auch an Grünzeug. Die Schuhe würde er später säubern.

Das Klubhaus gehörte zu einem großen Reifenwerk, und sie waren wohl noch in der Lage, ein Programm dieser Art zu finanzieren: Nummernauftritte von der Akrobatik über Musik und Tanz bis zu einem Bauchredner, der mit einem Fuchs und einer Henne auftrat. Edi bot Zauberei und Hellsehen.

Im Garderobenraum, der ein Versammlungszimmer war, nun provisorisch mit Stoffbahnen unterteilt, traf er die Brüder Beck, die sich die Carlottas nannten, von Karl und Otto, und die Edgar kannte von Auftritten in Budapest, Mittelamerika und im Kaukasus. Sotschi hat einen schönen Zirkus.

Als er im Krankenhaus lag, kamen sie und saßen an seinem Bett, versuchten rührend, ihm neuen Mut zu geben, und mochten das Betroffensein nicht verbergen So kann jeder Artist daliegen, von einer Minute zur nächsten ein anderer als zuvor Beide waren klein und stabil mit guten Gesichtern. Nach dem Scheitern seiner Ehe verhielten sie sich seltsam unsicher, abwartend, als müssten sie erst herausfinden, wessen Partei sie ergreifen sollten. Kann sein, sie waren Rosemaries Klageliedern auf den Leim gegangen. Was immer sie vorgebracht haben mag, die Wahrheit war es nicht. Edgar kennt sie schmerzhaft gut, denn oft hörte er mit an, wie Rose an ihren Muskelmann dachte.

Der geht in der Manege mit drei Mann auf der Schulter in die Kniebeuge und wieder hoch in den Stand, fängt Eisenkugeln mit dem Nacken auf. Entsprechend ausgebildet muss sein Sinneswerkzeug sein, sein zentrales, außerordentlich entwickelt, stabil und hart wie sein Nacken.