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Eigentlich heißt er Markus, aber Anna nennt ihn »den Elch«, weil er seine Freiheit so sehr liebt und weil man ihm selten begegnet. Zweimal im Jahr, im Mai und im November, kommt er nur wenige Tage und füllt doch Annas Leben aus. An ihm misst sie ihre Ansprüche, vor allem gegenüber anderen Männern, gegenüber den Pflichtmenschen und Leichtfüßen, deren Verführungen sie manchmal unterliegt. Nichts wiegt aber das Glück auf, das der »Traum vom Elch« in ihr auslöst. Herbert Ottos turbulenter Roman, der auch von der DEFA verfilmt wurde, gilt als der erotische Gesellschaftsroman der DDR. Darin stehen Fernweh gegen Provinzialität, Eros gegen Prüderie und Ehrlichkeit gegen das kalkulierte Spiel der Macht.
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Seitenzahl: 385
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Herbert Otto
Der Traum vom Elch
Roman
ISBN 978-3-95655-309-7 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1983 im Aufbau-Verlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Fast den ganzen November hatte sie gewartet.
Sie war auch diesmal ohne eine Nachricht von ihm, aber sie wusste, dass er kommt. Er kam immer im Mai und im November, nun schon im dritten Jahr. Kometenähnlich sein Verhalten: Auf einer lang gedehnten Bahn durchstreift er die Teile des Himmels, am äußersten Punkte kehrt er um, seine Helligkeit nimmt wieder zu, er nähert sich schnell, und fast so pünktlich wie ein Himmelskörper trifft er ein. Er bleibt nur wenige Tage jedes Mal. Und doch, erklärbar oder nicht, füllt er Annas Leben ganz aus. Alles misst sie an ihm. Das Alleinsein, Erlebnis und Besorgnis, eine Verliebtheit zwischendurch, Überlegtes oder Leichtfertiges: sie teilt es ihm mit in Briefen, die er nie gesehen hat. Sie liegen geordnet bei der Wäsche im Schrank. Es ist wenig, was sie über ihn weiß. Auch wenn sie wollte, sie wüsste nicht, wie sie ihn erreichen könnte. Er scheint alles zu sehen und zu bewerten, aus der Ferne besonders. Geist über allen Wassern.
Sie nennt ihn Elch.
Auch diesmal tat sie, was sie immer tut, wenn sie ihn erwartet: vom Krankenhaus ohne Umweg oder Aufenthalt nach Hause, einen Dienst übernehmen, wann es ging, um viel freie Tage anzusammeln für ihn, eine Nachricht hinterlassen da oder dort. Und wieder die Länge und Langsamkeit und die wechselnde Gestalt eines langen Wartens. Die Linden waren fast kahl, Buchen, Flieder und Haselnuss nicht, es war für sie voll von Erlebnis, wenn sie eines der letzten großen Lindenblätter sich lösen und langsam fallen sah.
Es kann ja sein, schrieb sie an Elch, Du hast doch eine Frau. Sie hat ein Bein gebrochen oder das Schultereckgelenk, und Du musst sie pflegen. Splitterbrüche sind die schwierigsten. Oder sie erwartet ein Kind, sodass Du eine Zeit lang verschollen bist. Oder Du bist abgekommen von Deiner Bahn und ganz verschollen. Ein Gedanke, den ich schnell vergessen will. Aufschreiben, heißt es, hilft beim Vergessen.
Warum sie ihn Elch nennt: weil er so schön anzusehen ist und seine Freiheit so sehr liebt und sich lange in den Weidegründen aufhält, wo wohl in feuchten Niederungen das Gras steht, das er braucht für sein kräftiges Geweih. Und weil er jemand ist, dem man nur selten und nie wieder begegnet hierzulande. Er ist scheu. Selbst ihre Freundin kennt ihn nicht. Und es gibt kein Foto. Geht ein Elch zum Fotografen? Na also.
Gegen Ende des Monats hatte ihr Warten, ohne dass sie es aufgab, an Kraft verloren, allmählich kehrte sie ins Alltägliche zurück, nahm endlich freie Tage, schlafen, schlafen, Frühstück im Bett, lesen, durch Geschäfte bummeln im Zentrum, Christel besuchen, die das Schuhgeschäft leitet, und auch wieder ausgehen mit Freundin Annette. Karten für Theater und Konzert besorgt Christel. Der Emmes, Annettes Junge, geht nun schon zur Schule. Sobald Schnee liegt, hat Anna ihm versprochen, wollen sie mit dem Schlitten auf den Töpferberg, und sie fahren vielleicht von ganz oben hinunter. Der Hang hat starkes Gefalle, und bald ist die Bahn vereist. Man kann auch aus halber Höhe abfahren; das ist harmlos und braucht gar keinen Mut.
An Elch schrieb sie: Es ist auch das Gefühl, dass Du mich brauchst, wenn Du kommst. Ich gehe wie ein Kind, das sich im Wald verlaufen hat. Nur dass ich nicht rufe. Weinen kommt vor. Die Station, das langsame Sterben und die Mühsal der Kranken, was ich ja doch teile, sind weit entfernt. Annette hilft mir. Sie nimmt alles leichter und wie im Vorübergehen. So sieht es jedenfalls aus. Auf diese Anzeige, von der ich schrieb, haben sich allerhand Freier gemeldet. Gut sortiert liegen sie da. Ein unreifes Unternehmen. Ich weiß. Wie sagst Du? Die Torheiten zeigen, wie erwachsen du bist. Aber wir wollen anfangen, die Herren vorzuladen und zu besichtigen.
Auf den Gedanken waren sie schon im Spätsommer gekommen, abends bei Annette das Geplauder über das Seelchen und die andere Hälfte der Welt, Kerzenlicht und Rachmaninow. Oder war es Brahms, Konzert in D-Dur, schön drogenhaltig, die allerliebste Wegwerfmusik, die sie kennen. Also die junge Frau, die schön am Leben ist, aber allein lebt, so gut wie allein. Am Ende von zu viel Freiheit hast du keine mehr. Nur Wechselbäder von Verstrickung und Alleinsein, wieder hintergangen, wieder Anträge. Man hat dich ausgespäht als ungebunden. Freu dich und sei folgsam.
Seine schlechte Lage ändert nur, wer sie durchdacht hat und verstanden. Was, wenn man die gültigen Regeln umkehrte? Statt ausgewählt zu werden, wählt man selber.
Wenn das ginge.
Es geht. Eine Anzeige müssten wir aufgeben. Die Bewerber melden sich massenhaft, wir laden sie vor. Es war der Entschluss, ein Spiel zu versuchen, Mischung aus etwas Rache, Spaß und Zeitvertreib, gütige Rache, am Boden ein Satz Bitternis. Für Annette lag vielleicht mehr darin, winzige Hoffnung, die sie nie zugibt.
Schon mit dem Anzeigentext hatten sie viel Vergnügen gehabt. Die meisten Wendungen, aus gedruckten Anzeigen, schieden natürlich aus.
Bin fürs Alleinsein nicht geschaffen. Oder: Wo bist du, liebevoller, helläugiger Hüne? Zärtliches Femininum sucht passendes Maskulinum. Schönheit kein Hindernis.
Oder der: Bin ein Engel mit nur einem Flügel, muss meinen zweiten Engel finden, mit m.-l. WA, was wohl marxistisch-leninistische Weltanschauung hieß. Wie mochten sie aussehen, die Engel mit m.-l. WA?
Das Angebot, das sie aufgaben, war voller Gegensätze.
Pechvogel, weder e. Schönheit noch vermög., sportl.-eleg., temperamentv.-romant., ernst-humorv., 29/167, reisel., m. Int. f. Kunst, Natur u. Autosport, sucht stimmungsv. Partner, zielstreb., spars., aber n. geiz., m. viel Selbstvertr., geist. und körperl, anspruchsv., mögl. Akad., aber n. Beding.
Von den Bewerbern wollten allzu viele auf satte Häuslichkeit hinaus. In die engere Wahl kamen ein Hausmeister, ein Lehrer, ein Anlagenfahrer, ein Psychologe und jemand von der Reichsbahn. Die Auskünfte zur Person verschleierten mehr, als sie deutlich machten. Beiwerk, das schmücken sollte: bin übrigens tierlieb; schätze hoch die Toleranz; körperlich bin ich durchtrainiert und stark ausdauernd; Wassergrundstück mit Bungalow vorhanden.
Nur einer, Hartmut Hahn, gab unumwunden zu, in einem Pflegeheim Hausmeister zu sein, hätte früher leitend im Lichtspielwesen gewirkt, sei lebenslustig und besitze einen Dacia mit vielen Extras. Ihn luden sie vor, auch weil Annette, die gern grafologische Betrachtungen anstellte, sein Schriftbild gefiel. Als zweiten Kandidaten bestimmten sie den Eisenbahner, der wohl kein Fahrzeug besaß, denn in seinem Brief hatte er Wert und Annehmlichkeit jener Freifahrscheine beschrieben, über die er verfüge, wohin auch immer zwischen Warnemünde und Wladiwostok, Peking nicht ausgeschlossen.
Und so hatten sie am ersten Mittwoch im Dezember den Bestelltag, das Besichtigen der Freier, denen aufgetragen war, sich im Stadtkrug am Markt um achtzehn Uhr einzufinden, jeder versehen mit einem Kennzeichen. Sie selbst trafen sich früher. Sie bekamen den Ecktisch am Fenster und bestellten beide ein Glas Sekt. Jede hatte der anderen versichert, dass sie gut aussehe und ihr gefiele. Das stimmte auch; weibliche Missgunst gab es zwischen ihnen kaum. Festlich waren sie nicht gekleidet, aber vorteilhaft.
Anna trug ihre Lieblingsbluse, die pflaumenblaue, dazu den grauen Hosenanzug, der ihre Schlankheit sehen ließ. Das Haar fiel weich und fein und schimmerte in zahllosen Tönen zwischen Rosenholz und Kastanie. Annette, wie sie es gern hatte, sah fraulich und streng zugleich aus: das Kleid, ein dunkles Grün, lag eng an, war aber hochgeschlossen, die züchtige Stiftsfrisur aufgehoben dadurch, dass an Stirn und Schläfen, wie unabsichtlich, feine Haarsträhnen hervorkamen.
Anna hatte den Sekt rasch ausgetrunken; sie wollten wach und beschwingt sein und bestellten ein zweites Glas. Hinweise auf das Aussehen jener Dame hatten sie nicht gegeben, saßen also sichtbar und doch wie im Hinterhalt.
Der Eisenbahner, wie sie vermutet hatten, kam zuerst. Ihm war ein schwarzer Stockschirm verordnet, den er senkrecht hinterm Rücken in einer Hand trug, so als müsste er ihn verbergen. Seit Tagen herrschte trockenes Hochdruckwetter.
Er nahm einen der freien Tische, nestelte am Schlips. Was macht er mit dem Schirm? Etwas Kurzweil hatten sie doch. Er hängte ihn zunächst an die Kante des Tisches, nahm ihn wieder ab, um ihn auf den Stuhlsitz neben sich zu legen, blickte zur Uhr und dann, wie ohne alle Absicht, von Tisch zu Tisch. Sinn für Gleichmaß und Ordnung schien der Mann zu besitzen: um gut so liegen zu können, war der Schirm nicht kurz genug, sodass er ihn an die Stuhllehne hängte.
„Scheußlicher Schlips, den er hat“, sagte Annette.
„Und was er dauernd mit dem Kopf macht“, sagte Anna. „Hühner machen das. Sieh mal. Und kann die Karte kaum lesen. Nimmt keine Brille aus Eitelkeit. Seine Chancen stehen nicht gut. Oder?“
Die beginnende Glatze wollten sie ihm nicht anlasten. Wenig Haare sind schließlich kein Makel, gelten eher als Hinweis auf sehr bestimmte Qualitäten. Und dann bekam er, was er bestellt hatte: eine Fruchtmilch. Ob nun geizig oder magenkrank — der Fall war entschieden.
„Trotz der Freifahrten“, sagte Anna. „Wir sollten ihn sitzen lassen.“
„Warten wir den anderen erst ab“, sagte Annette.
Und einmal, nur flüchtig, Annas Gedanke: Die Tür geht auf, und herein kommst du. Nirgends hab ich etwas hinterlassen, und siehe, du findest mich doch. Psychische Phänomene, sagt Annette dazu. Und sie hält davon viel. Ich bringe selbst das Einfachste nicht fertig: Ich wünsche mir einen Traum über dich und mit dir und träume dann prompt den gewöhnlichen Blödsinn.
Kurz vor sechs kam ein Mann Anfang Dreißig, rundes Gesicht, rötliche Locken. Die Jacke von feiner Qualität, schottischer Tweed, groß kariert. Wie ein Hausmeister wirkte er nicht. Er setzte sich zu einem Ehepaar an den Tisch. Zum Zwecke des Erkennens sollte er mit einem Papierschiffchen spielen. Tatsächlich zog er bald ein Blatt aus der Tasche und begann zu knicken und zu falten. Das fertige Schiffchen zeigte er vor, sah die beiden am Ecktisch lachen und nickte, auf das Schiffchen deutend, hinüber. Anna nickte zurück. Er kam, nannte seinen Namen und wollte wissen, welche der beiden reizenden Damen es denn sei.
„Das sagen wir später“, erwiderte Anna. „Nehmen Sie nur Platz.“
„Es ist wohl noch unentschieden?“, fragte Herr Hahn und bestellte zwei Glas Sekt — oder drei, falls wir noch ein Stündchen hier sitzen. Sie verstehen, der Alkohol. Also drei.
„Ach, der Dacia mit den Extras“, sagte Annette.
„Sie fanden das affig, ja? Obwohl er mir viel bedeutet. Sind es nicht immer die Extras, die einer Sache erst Bedeutung geben?“
„Nicht immer“, sagte Anna sofort, „umgekehrt ist es ebenso richtig. Wenn etwas stimmt oder gut ist, kann es verdorben werden durch die Extras. Sogar entstellt.“ Sie hatte den Arm aufgestützt, das Kinn in der Handfläche und an der Nasenspitze den Mittelfinger oder den kleinen, so saß sie gern beim Zuhören und Nachdenken.
Sie würden die Begriffe heute nicht klären. Wie ein Hausmeister so gepflegte Hände haben kann? Jetzt im Winter, wenn mehr geheizt werden muss, fällt es schwerer. Er habe auch den Garten zu versorgen, Einkäufe zu erledigen. Ein Heim für Alte. Hatte ein Kinngrübchen und einen starken Adamsapfel. Der war beiden sofort aufgefallen. Natürlich.
Als er sich entschuldigte, um hinauszugehen, sahen sie den Mann von der Reichsbahn, halbhoch hielt er jetzt den Schirm wie ein Fähnchen. Aber Mitleid hatten sie nicht. Und Herr Hahn? Kleine Flamme, ab und an eine Ausfahrt. Ihm gestatten, sich manchmal zu schmücken mit zwei Weibern wie uns. Verspricht er sich mehr, ist es sein Pech.
Auch das gehört zu unserem Plan: vergnügt dem Eifer zusehen, mit dem ein Mann die Partie gewinnen will, die er nicht gewinnen kann, denn er spielt sie allein.
Eine Stunde saßen sie noch mit ihm. Den Eisenbahner hatten sie nicht gehen sehen. Der Sekt hob und beschwingte sie. Herr Hahn wollte wieder wissen, wer nun die Dame sei, der Pechvogel, keine Schönheit, nicht vermögend.
„Wir sind es beide“, sagte schließlich Anna. „Weil wir fast alles gemeinsam tun. Sehr schwer, uns zu trennen.“
Also beide. Wie wäre es Freitag. Gegen Abend bei einem guten Freund, der das Kunsthandwerk betreibt. Immer eine lustige Gesellschaft.
„Für Freitag liegen schon Pläne vor“, sagte Annette.
„Die freilich, meine Liebe, nicht endgültig sind“, fügte Anna hinzu.
„Rufen Sie an“, sagte Herr Hahn und schrieb die Nummer auf. Annette steckte sie ein. Alle Verwaltungsarbeit erledige sie.
Er bot an, sie mitzunehmen, wohin immer sie wollten. Prag, Venedig, Krakau. Nur zu. Sie nannten einen Straßenzug am Stadtrand, wo Anna wohnte. Auf einige Extras wies er hin. Zehnmeterstreckenzähler, Kartenlampe, Heckjalousie.
Er wollte sie bis vor die Tür fahren. Nein, wir laufen ein Stück. Und melden uns. Tschüs. Aber sie lachten so albern, dass er daran zweifeln musste. Wendete, fuhr forsch ab und ließ die Fünfklangfanfare hören.
Arm in Arm standen sie. Das war es also. Erfahrung? Nichts, außer dem Schwips, der sie leicht zu tragen schien. So ladet sie vor, Mädchen und Frauen, prüft sie streng, lasst sie abfahren oder lasst sie einfach sitzen. Handelt ohne Gnade. Die weiße Schulter zeigen, die kühle, Begehrlichkeit wecken und wieder zu Staub machen. So fühlt ihr euch neu und stark, was eure Lage verändern wird von Grund auf. Ach, ihr. Innere Not löst sich. Unerhörte Dinge werdet ihr träumen: große Fische, die durchs Zimmer schwimmen. An einem Drachen hängen und fliegen, seine weiten Schwingen sind aus buntem Stoff. Euer Stirnband frech, orange oder helles Blau. Heut ist Nikolaustag. Zwei Weihnachtsmänner hatten wir schon.
Ihre Stimmung hätten sie dunkelbunt genannt. Oder müssten sie, falls überhaupt, die Herren neu und strenger sortieren. Es war noch früh, und sie konnten den Abend retten mit Vivaldi oder Händel. Ein guter Tee und etwas Kognak.
„Nein, heut brauchten wir einen Corelli“, sagte Anna. „Ach, den hast du. Unser Arcangelo liegt bei dir. Wann kommt dein Mann?“
Er käme in zwei Wochen und war nicht Annettes Mann, sie nannten ihn nur so. Oft musste er für Monate auf Baustellen ins Ausland, aber er wohnte, wenn er in den Stammbetrieb zurückkehrte, die meiste Zeit bei ihr. Annette wurde häuslich und still, nach innen gekehrt. Anna mochte es, wenn der Mann wegfuhr: sie war dann weniger allein. Annette verwandelte sich zurück — ein Elch war der Mann für sie nicht, nie hat sie gefunden, wen sie sucht — und das Verwandte, die Ähnlichkeit ihrer Bedingungen stellten sich wieder her: Sie lebten beide den Spielraum dazwischen.
Auch über den Freitag mussten sie nachdenken, ob Anna mitkäme zu der Party, ob Annette überhaupt hinginge mit Ludwig, ihrem Maler. Und wie der letzte Stand ist mit ihm. Der alte Stand: ganz ungeklärt. Was ziehen wir überhaupt an?
Scharfer Wind ging, und mitunter rannten sie ein Stück.
Seit dem vierten Lebensjahr wohnte Anna hier. Das Haus lag in einer stillen Straße, umgeben von einem Garten, wie alle Häuser in dieser Gegend. Als der Vater wegging, bekam sie das Zimmer unten mit der Veranda; sie wurde ausgebaut, nachdem ihr Mann einzog und sie geheiratet hatten, sodass sie eine kleine Wohnung mit eigenem Eingang besaßen. Sie benützt ihn heute noch, sogar im Winter, wenn manchmal der Ostwind den Schnee durch die Türritzen weht und außen hoch anhäuft. Sie könnte dann die Tür abdichten, es wäre wärmer, und sie könnte den Eingang durchs Haus benutzen. Tut es aber nicht. Eigene Tür ist Goldes wert.
Bei Mutter oben brannte Licht, das gedämpfte. Das Liebeslicht. Diesen Mann sieht Anna seit Monaten. Meist geht er vor Mitternacht.
„Wen hat sie?“, fragte Annette.
„Ich kenn ihn kaum. Er kommt mit dem Fahrrad und bringt Obst. Und macht immer diese Spangen in beide Hosenbeine.“
Unter der Tür lag ein Zettel. Sie erkannte sofort seine Schrift.
Er schrieb: Sei, wenn Du kannst, morgen, Donnerstag, 15 Uhr in Freiberg. In Sachsen das. Bahnhofsgaststätte. Wir könnten ein Wochenende haben. Keine Unterschrift.
Elch war da. Wirklich. Und sie hatte ihn verpasst wegen der albernen Spielerei. Versäumt. Verpasst. Er war noch nie im Dezember gekommen und selten mitten in der Woche. Wenn er schon Nachricht gibt, ist sie spärlich. Erst wenige Stunden zuvor meldet er sich an. Er darf das, darf zwei Tage bleiben oder fünf. Am besten länger. Oder immer. Sagt nie, wann er wiederkommt, gibt kein Zeichen in der Zeit dazwischen. Von einer einzigen Ansichtskarte, die sie hat, abgesehen. Er darf alles.
Anna war stumm und blass. Immer noch stand sie im Mantel da, starrte auf die Schrift, las die Sätze wieder und wieder, als enthielten sie die Botschaft eines Unheils.
Freiberg. In Sachsen das. Wie fährt man da? Jetzt gleich zum Bahnhof. Und für Freitag mittag im Café absagen. Vielleicht geht Bärbel. Den Dienst am Montag auch noch tauschen. Kurze Wochenenden gibt es und ganz lange.
Immerhin war das Unglück nicht vollständig. Verloren nur dieser Abend und die Nacht, falls er überhaupt Zeit gehabt hätte, heute zu bleiben. Einen Abend mit ihm einzubüßen ist Unglück genug.
Annette zog ihr endlich den Mantel aus. „Lass den irren Blick und setz dich.“
Es gab zu viel zu bedenken. Schon das letzte Mal im Mai hing alles am dünnen Faden. Sie hatte gelesen und längst Licht machen und das Radio leiser stellen wollen. Hatte beides nicht getan. Auf dem Herd nebenan kochte etwas Wäsche, die Tropfen zischten auf der Platte. Obwohl trockenes Wetter herrschte, hatte die Klingel wieder ihre Tage. Die Feuchtigkeit der Nachtstunden ist für sie Gift. Nur weil er noch einmal stark geklopft hatte, hörte sie ihn, sah das Auto stehen und rannte hinaus. Dann wollten sie endlich nachsehen und sich etwas Zeit nehmen für das Biest. Eine Zicke von Klingel. Behielten aber wieder nichts übrig. Mit Elch bleibt keine Minute. Ob sie mehr haben oder weniger: zuwenig ist es immer. Und wird so bleiben, wenn kein Wunder geschieht. Aber morgen.
Anna stand plötzlich auf. „Komm, wir gehen.“
„Wohin denn?“
„Telefonieren. Bei Mutter kann ich nicht stören. Es geht sie auch nichts an.“
Und sie bekommt lange Ohren, versucht es hintenherum mit ihren Ermahnungen. Anna hört heute noch den Tonfall der Mutter, wenn sie damals sagte: Und pass auf über die Straße. Nimm die Zöpfe nach vorn. Später schnitt sie ihr grob die Haare kurz, das schöne Haar, zur Strafe für spätes Heimkommen und weil der Vater es angeordnet hatte.
„Zum Bahnhof muss ich auch“, sagte sie.
Die Lähmung war vorüber, sie spürte die Vorfreude und viel Energie. Im Bus stellte sie sich vor, dass es ein stiller Dorfgasthof wäre. Er liebt das Entlegene. Und wie er Leute für sich einnimmt. Sie hatten damals Glück und fanden dieses schöne Quartier und konnten ins Tal sehen. Man hörte den Bach, aber es war zu kalt im Zimmer. Die Wirtsleute spielten Karten. Der Mann sagte, sein Vorrat an Kohle sei knapp. Auch sei es gesünder so. Man müsse es kühl haben in der Nacht. Wusste nichts von Nächten oder nicht mehr.
Aber Elch begann vorsichtig seine Späße zu machen, lud sie zu einem Gläschen ein und zeigte Kunststücke mit Karten, die den Mann aus der Fassung brachten. Kam zwischendurch auf das Holz am Schuppen zu sprechen.
Ob er ihm einen dieser Tricks vielleicht zeigen könnte.
Gern. Wie gern, wenn er es nur dürfte. Eine Art Schweigepflicht, sehen Sie. Der ja auch Ärzte unterliegen. Es sind die strengen Satzungen der Gesellschaft für Zauberei, deren langjähriges Mitglied er sei. Vor Kurzem sogar in den Vorstand berufen. Ins Präsidium des Vorstands. Aber wo kein Kläger. Einmal ist keinmal. Doch nur diesen einen und nur dann, wenn er dem Manne fest vertrauen könne.
Später sägten die Männer. Elch, wie ein Arbeiter des Waldes, hackte die Kloben und brachte einen großen Korb voller Scheite. Wie das duftete.
Einen simplen Trick eingetauscht für die behagliche Wärme einer ganzen langen Nacht. Immer draußen unterm Fenster der Bach.
Zuerst rief Anna im Krankenhaus an. Schwester Brunhilde sagte, dass jemand nach ihr verlangt habe. Hinterlassen hat er nichts. Und den Dienst am Montag wollte sie für Anna übernehmen. Jetzt noch der Freitag bei Karlchen. Manchmal an freien Tagen half Anna im Café am Turm als Kellnerin aus. Für vier Stunden oder acht. Es kam vor, dass sie an vier, fünf Tagen so viel verdiente wie in einem halben Monat im Krankenhaus. Sie sparte nicht, kaufte Kleider und Schuhe, weil es ihr Spaß machte, sich nach Stimmung und Laune anzuziehen. Wenn ihr danach war, unscheinbar grau oder jedenfalls dunkel, oder bunt und auffällig, wenn sie wollte, dass man sie anstarrte und ihr nachsah.
Karlchen, der Gaststättenleiter, war am Apparat.
„Vor einer Stunde hat einer nach dir gefragt“, sagte er. „Junger Mann, groß, dicker Bart und teure Pelzmütze.“
„Ich weiß“, sagte Anna. „Deshalb ruf ich an. Ich muss dir absagen für Freitag. Du hast ihn ja gesehen, also weißt du, dass es wirklich sein muss. Soll ich eine Freundin schicken, oder besorgst du dir jemand?“
Er werde das erledigen. Ob er sie verstünde? Ja, ja. Schon okaih. Karlchen sagte zu fast allem okaih, und nie wusste man, ob eine Sache ihm wirklich recht war. Aber zu wenig Personal hat er immer.
Elch mit einem Bart. Sah er nicht so schon gut genug aus. Wozu braucht er ihn? Wenn er jetzt noch besser aussieht, wird es kaum zu ertragen sein. Schnurr- oder Backenbart? Gut, dass sie nicht danach gefragt hatte. Ob sie ihn erkannte, wenn er einen hatte wie Marx? An den Augen immer. Nein, Trauer ist es nicht, es ist wie das Echo, wie Überreste einer starken Traurigkeit. Oder etwa Bartspitzen, die gedreht werden und herunterhängen.
Sie verzieh ihm wohl auch das, und es gelang ihr nicht, sich ihn vorzustellen. Manches wird anders, vielleicht schöner sein. Sie konnte ihn am Bart ziehen. Ob er vielleicht Schauspieler ist und braucht ihn für eine Rolle?
Natürlich hatte sie wissen wollen, was er tut, und hatte manchmal gefragt. Etwas mit Sport? Aber er sagte nur: Auch. Wissenschaft? Ja und nein. Vielleicht Zirkus? Und er sagte: Etwas davon.
Für den Abend am Freitag mit Ludwig wünschte sie Annette Vergnügen. Genauso viel, wie sie sich selbst wünschte. Auf dieses Fest zu verzichten fiel ihr sehr leicht.
Am Bahnhof schrieb sie die Anschlüsse auf. Vor vierzehn Uhr in Freiberg, eine Stunde Aufenthalt in Dresden. Halb sieben müsste sie aufstehen.
Die Luft roch nach Schnee. Das letzte Stück zur Haltestelle rannte sie. Der Bus war hell erleuchtet und nicht voll. Was sie gern gewusst hätte: Ob man ihr etwas ansah.
Rannte auch von der Haltestelle nach Hause, als könnte sie schon hier Zeit verlieren und zu spät kommen, schrieb einen Zettel für Mutter, damit sie die Heizung versorgte, suchte Sachen zusammen. Das Nachthemd war ein Geschenk von ihm und hatte oben das Blümchen. Sie zog es sonst nie an, und es lag nicht bei den anderen.
Vor dem Spiegel prüfte sie, ob sie schön genug sei für den Elch. Immer zog er sie feierlich aus, die Reihenfolge unvorhersehbar und so, als suchte er geduldig eine noch ganz unbekannte Eröffnung des Spiels. Sie hielt die Brüste leicht in den Händen. Klein sind sie. Nicht zu klein natürlich und ganz so, wie er sie mag. Das sagt er nicht nur. Unter dem Nabel beginnen kleine Fältchen. Aber er hat auch welche, wenige und weniger gut zu erkennen und ohne Bedeutung.
Sie versuchte, ihn sich vorzustellen. Sie hatten lustige Namen gefunden und nannten ihn Durchlaucht oder Zumt. Murmeltier. Alles deutet darauf hin, dass er es mag, wenn sie ihn lange ansieht. Zum Glück ging es ihr gut, denn es ist die beste Zeit in diesen drei Wochen, und sie weiß genau, dass sie sich entspannt fühlen und ihm Freude machen wird. Und er ihr.
Weit nach Mitternacht schlief sie erst ein. Beide Wecker klingelten kurz hintereinander. Draußen war es windstill und schneite. Dick und fein auf den Ästen der Schnee. Auch auf Drähten. Die Zaunpfahle hatten steile Hauben, die ließen sich leicht wegpusten. Anna hüpfte vor Vergnügen. Schneebälle konnte man nicht machen.
Noch in der Nacht war ihr eingefallen, den Pelzmantel anzuziehen, Stiefel und die Fellmütze. Sie würden wohl durch verschneite Wälder laufen und dort, wo noch niemand gegangen war. Elch kannte viele Tierspuren und folgte ihnen selbstvergessen und mit Ausdauer. Oder bist du ein Förster?
Der Zug fuhr pünktlich ab. Sie hatte einen Wagen gefunden, der sauber war. Und einen Fensterplatz. In der Tasche steckte etwas zu lesen. Sie sah jedoch hinaus in das Schneetreiben. Es war dichter geworden. Oder wirkte es nur so durch die schnelle Fortbewegung, weil man mehr Raum durchmisst in derselben Zeit? Also auch mehr Schneeflocken. An die zwanzigmal mehr, als ginge man zu Fuß. Sie betrachtete die schöne Täuschung heiter, noch ohne Argwohn.
Der Zug fuhr langsamer und blieb stehen. Im Abteil ein Ehepaar mit einer halbwüchsigen Tochter; die kaute fanatisch einen Kaugummi. Der Mann öffnete das Fenster und glaubte ein Signal zu erkennen, ein rotes Licht jedenfalls. Das finge ja gut an, meinte er. Die Frau, die mit einem Rätsel beschäftigt war, suchte eine Gestalt bei Puschkin. Fünf Buchstaben, vorne ein O. Das Mädchen sagte sofort: Othello. Die Mutter gab ihr einen Klaps und lachte.
Über den Feldern, am Horizont, hing ein Streifen Wald, schwebte dort. Die Gespräche auf dem Gang wurden lauter, Abteiltüren schlugen häufiger. Wie hellhörig ein stehender Zug ist. Die Nervosität eines Zuges, der unterwegs steht. Man wünscht sich nur das Fahrgeräusch zurück. Für viele mochte es bedeutungslos sein, ob sie früher oder später ankamen.
Semmelbrei für Bratstücke, fragte jetzt die Frau. Sechs Buchstaben. Der Mann zog seine Uhr. Ich kann dir jetzt schon sagen: Den Anschluss bekommen wir nie. Hast du Anschlusszüge schon mal warten sehen?
Anna ging hinaus auf den Gang.
Sie wollte nicht über Anschlusszüge nachdenken. Aber das sind Züge immer nur für die Reisenden, die umsteigen wollen, für alle, die ihre Fahrt antreten, sind sie nichts weiter als ein Reisezug. Das stimmt doch wohl. Diese wollen, dass er pünktlich abfährt, jene verlangen, dass er wartet, bis sie da sind.
Der Himmel sah aus, als herrschte immer noch Morgendämmerung. Es wollte nicht Tag werden. Im Gang besprachen junge Burschen, wer in den Speisewagen gehen und noch Bier holen sollte.
Was meinst du denn, was ich in dem Koffer dort habe.
Trotzdem. Wenn wir hier erst eingeschneit sind.
Sie schicken auf dem Luftwege Decken und Verpflegung.
Bockwürste abwerfen aus dem Hubschrauber. Aber heiße.
Alles fanden sie zum Lachen. Über die Aussicht, hier zu stehen und einzuschneien, lachten sie. Ein Ereignis hat genau die Bedeutung, die jeder ihm zumisst. Und sie würde sich in der Gaststätte so setzen, dass sie die Tür sah. Auf die Minute pünktlich würde er kommen. Seine Uhr war ein Wunder an Präzision, mit einer Weckanlage ausgerüstet. Kein Klingeln, ein Schnurren. Zu keiner anderen seiner Eigenschaften schien ihr dieses Pünktlichsein zu passen: er musste es eigens erlernt haben.
Der Zug fuhr langsam weiter, mit Widerwillen, und beim nächsten Signal hielt er an. Ein Gegenzug kam vorüber. Die Familie im Abteil aß Brote, der Vater verstummt, der Anschluss unerreichbar. Natürlich wartet er nicht. Was, wenn jeder Zug auf andere Züge wartet. Und wie viele soll er abwarten? Ein Zug ist einfach ein Zug, frisch gereinigt oder vor langer Zeit, verspätet oder nicht, langsam oder etwas schneller. Es gibt solche, die im Schnee stehen. In Elsterwerda betrug die Verspätung über eine Stunde.
Der Mann im Dienstraum auf dem Bahnsteig war gereizt. Bin ich Hellseher. Machen Sie meine Arbeit oder wer. Auskunft am Schalter zwei im Bahnhof.
Anna stimmte ihn um, ihr tiefer grünblauer Blick, dunkel und taghell, die Lider für Sekunden gesenkt, dann aufgeblickt, wieder verlangend, bittend, verzweifelt, bis zur Müdigkeit. Je nachdem. Auf ihren Blick war Verlass. Wie viel er schon bewegt hat, absichtslos oder eben nicht. Zauberschlüssel, Wunderhebel. Heut genügte es, den Mann so anzusehen, wie ihr zumute war. Nach Zutat war ihr nicht zumute.
Er vergaß die strenge Vorschrift oder erinnerte sich ihrer — wer will das prüfen —, langte das Kursbuch freundlich herunter, schlug Dresden — Freiberg auf. Das ist dieser. Den bekommen Sie nicht. Sie hätten dann vierzehn dreiundfünfzig. Und wieder sechzehn Uhr zwei. Aber bitte. Wann es hier weitergeht, weiß er nicht, wüsste es gern, um es ihr zu sagen. Bitte schön.
Ihr eigener Entschluss schien es nicht zu sein, dass sie die Tasche aus dem Abteil holte. Nun käme sie mehr als eine Stunde zu spät an. Oder später. Der Elch wartet nie eine Stunde. Nun war es einerlei, ob sie weiterfuhr, ausstieg oder umkehrte.
Vor dem Bahnhof fragte sie nach der Post. Aber was den Leuten in der Gaststätte sagen? Punkt drei wird ein junger Mann kommen, hochgewachsen und mit einem Blick, wie man sich finnisches Gewässer im Spätsommer denkt. Ja, und mit Bart. Wird Kakao bestellen, und weil sie keinen haben, verlangt er Tee. Gießt vorsichtig Sahne hinein. Und sagen Sie bitte, er möchte nicht gehen. Ich rufe wieder an. Wenn Sie das für mich tun. Hier liegt hoher Schnee auf dem Platz. Fahrzeuge und Menschen bewegen sich ungelenk.
Vielleicht schneit es dort nicht. Er wartet immer nur fünfzehn Minuten. Oder sieht dann doch auf den Fahrplan und wartet den nächsten Zug ab. Wie gut es wäre, ihn genauer zu kennen und zu wissen, wie er sich verhalten wird. Sie werden dort alle Hände voll zu tun haben. Im Hintergrund Lärm, die Verständigung schwer. Da hätten wir viel zu tun, wissen Sie.
Auf einem Schlitten zog ein junger Mann zwei Kinder und lief schnell. Im Lachen der Kinder hörte man Furcht. Aus einem Taxi stiegen umständlich Leute, das Auto fuhr nicht ab. Anna hatte einen Scheck bei sich und fragte den Mann. Der war nicht abgeneigt und sah auf die Karte. Zweihundert Mark etwa müsste sie rechnen. Drei, vier Tage Arbeit bei Karlchen. Und bis fünfzehn Uhr dort sein. Aber, mein Fräulein. Sie kennen Nicki Lauda. Der den Unfall hatte und sieht aus wie eine Schnecke. Fährt aber noch. Das schafft nicht mal der.
Das Gespräch musste sie ohne Nummer anmelden, man rief sie auf, und die Stimme vom Amt sagte: Teilnehmer gibt keine Antwort. Also streichen. Das war nicht klug von dir, Elch. Hast du kein Hotel dort? Übermütig bist du gern. Aber unbesonnen? Ein halbes Jahrhundert bist du voraus mit deiner festen Zuversicht in alles Vernünftige. Etwas musst du doch haben, wo eine Nachricht ankommt. Ein Telegramm. Und du hättest mich stärker suchen sollen und diese psychischen Phänomene verwenden. Ich war doch leicht zu finden.
Das Taxi stand nicht mehr am Bahnhof.
Irgendwann kam ein Zug, mit dem sie zurückfuhr. Sie musste im Gang stehen. Oder hatte sie selbst schuld und hätte früher fahren müssen. Wenn Karlchen niemand gefunden hat, geht sie morgen Mittag ins Café. Abends vielleicht doch mit Annette zu der Party bei diesem Doktor. Ja, doch, es geht weiter. Der Trauer keine Nahrung, nicht die Hände im Schoß. Alles Sachen, die du nicht magst. Im Mai kommst du ja schon und hast die Abstände immer eingehalten. Nun schneite es nicht mehr. Die Dunkelheit kam schnell. Endlos lange noch bis Mai. Und sie hatte sich später, hinter Dresden, bisschen zurechtmachen wollen. Wenig von dem Lidblau und etwas Wangenrot.
Endlich weinte sie.
Wenn sie aus dem Fenster zum Brunnen hinüberschaute, sah sie ihn. Es herrschte wenig Betrieb um die Mittagsstunde. Anna konnte stehen und hinaussehen, und aus der Entfernung kam er ihr vor wie ein alter Mann. Der er keineswegs war.
Er saß halb liegend auf der Bank und war dabei, an nichts mehr zu denken. Der Schatten, den er warf, war unnatürlich lang. Ein viel zu dünner Schatten im Schnee.
Ob es ihm gut ging. Konnte einer so sitzen, allein, in der Kälte auf einer harten Bank, und sich wohlfühlen. Auch ein Sonnenbad nahm er nicht, denn er hatte tief im Gesicht eine Mütze. Sie fühlte sich zum ersten Mal von ihm beunruhigt, noch ehe sie wusste, wer er war und dass er sie für lange Zeit und auf immer neue Art beunruhigen würde.
Er saß, ohne sich zu rühren, die Beine ausgestreckt, Kopf und Arme hingen schlaff herab. Man konnte den Eindruck haben, er sei tief eingeschlafen oder sogar tot.
Eben noch hatte er an Schneider gedacht und an die zähen Gespräche vom Vormittag. Schneider hat viel zu kleine Augen. Dachte, weil es ihn erleichterte, an Ludwig, den er am Morgen in der Wohnung kurz besucht hatte, der zerstreut und noch im Halbschlaf sein schlampiges Frühstück zusammentrug und wieder gesund schien. Kramte auf dem Tisch zwischen Blättern, Farbstiften, Leberwurst und Butter. Hatte abwesend gefragt: Isst du was mit?
Dachte noch an Tochter Gisela. So was schreibt man nicht. Man nimmt sich Zeit und kommt für eine Mitteilung dieser Größe. Opa Stefan. Irgendwann im Mai. Und es gibt jüngere Großväter. Ja.
Dann entschloss er sich, nichts mehr zu denken, zog die Mütze gut über die Augen — überhaupt nur zu diesem Zwecke besaß er die Mütze —, schob noch die Handschuhe in den Nacken. Die Lehne der Bank drückte bereits. Und erteilte die ersten Befehle, sank hinab, fiel tiefer und tiefer in den Schacht, wo er sich nun schwebend aufhielt.
Die Kommandos galten den vegetativen Systemen, auf die wir gemeinhin ohne Einfluss sind, und einem Zuschauer gleich begann er darauf zu achten, wie Herz und Kreislauf sich verhielten. Die Glieder wurden schwer und schwerelos zugleich, von einer festen fließenden Wärme umgeben. Das Herz schlug langsam wie befohlen. Jeden Gedanken, der aufkam, jede Zahl, jeden Namen löschte er sofort.
Die Sonne wärmte kaum noch. Im Sommer hörte man hier nur das starke Rauschen der Wasserspiele, und die Bänke waren dicht besetzt. Junge Mütter sahen zu den Kindern hinüber, die am Brunnen spielten. Fast immer, wenn er in der Stadt war — und er kam gern, nahe bei Berlin und weltenweit entlegen —, konnte er es einrichten hierherzugehen; ließ sich um die Mittagszeit in der Nähe des Hotels absetzen, schlenderte am Stadtwall entlang bis zum dicken Turm im Zentrum und suchte sich einen Platz am Brunnen. Nahm dann bald diese Haltung ein, fast liegend und locker in sich zusammengesunken wie ein Zecher, der endlich ausruht. Was die Leute denken mochten, störte ihn nicht.
Seit dem leichten Herzversagen, das nun zwei Jahre zurücklag, hatte er den Umgang mit seinen Kräften neu regeln müssen. Noch in der Klinik erlernte er diese Übungen und beherrscht sie bis heute. Sogar aufrecht sitzend ist er fähig, nur nach innen zu horchen und den körperlichen Abläufen mit einer mild gedämpften Aufmerksamkeit zu folgen. Der Redner vorn verblasst und tritt zurück in dem Maße, in dem der Raum, ob Zimmer oder Saal, sich überallhin ausdehnt, bis die Stimme, nur noch Geräusch, aus weiter Ferne kommt. Die Preisverleihung, der er beiwohnt, könnte ein beliebiges Ritual sein, Jugendweihe oder etwa Gottesdienst. Was in der Wirklichkeit nicht vorkommt: jedes Geschehen büßt seinen Inhalt ein, in seiner Erinnerung bleibt eine Lücke. Und den Wachschlaf sieht man ihm nicht einmal an; mit geschlossenen Augen sitzt auch einer, der ganz bei der Sache ist. Er jedoch sammelt neue Kräfte an für die nächste Aufgabe.
Eine sonderbar hilfreiche Fähigkeit, die er da erworben hatte; denn aus dem Vollen schöpfen, wie noch vor Kurzem, konnte er nun nicht mehr; da war schon das Kratzen der Kelle auf dem Topfboden.
Stefan nahm die Befehle jetzt zurück, der Folge nach umgekehrt, wie er sie erteilt hatte, brachte Spannung in Arme und Beine, atmete tief und öffnete die Augen. Er steckte die Baskenmütze in die Manteltasche. Plötzlich, wie eingeschaltet, waren die Geräusche der Stadt wieder da. Schräger Schatten fiel auf die alten Gemäuer, wovon ihre Narben tiefer schienen als sonst. Der Brunnen war still. Wie kann ein Brunnen so trocken sein. Er stand auf, streckte sich und ging zum Café hinüber, das man geschickt in einer Lücke des Stadtwalls errichtet hatte.
Denn er war ein Eisesser. Kaum jemand außer der Familie und einigen Mitarbeitern wusste das. Er verbarg die Leidenschaft — ganz im Gegenteil zum Fischessen — wie ein Laster und ging ihr, ohne sich nach Beweggründen zu fragen, mit unnützer Vorsicht nach. Am liebsten allein.
Sie brachte ihm das Eis und den Kognak, ohne dass er Notiz von ihr nahm. Er sah sie zwar an, bemerkte aber nicht einmal ihre Augen. Am Abend und in der Nacht wird ihm das zu denken geben, denn ihre Augen sind helldunkel und von ungenauem Grün, also durchaus auffällig. Sie jedoch wird sich erinnern und im Morgengrauen sagen: Da sitzen Sie, Stefan, wie? Sitzen also, Stefan Schallhammer, wie ein Oberlehrer und essen gierig das Himbeereis. Statt die großen Entscheidungen reif zu machen. Sie wird noch wissen, dass er etwas notiert und die Zettel sorgfältig weggesteckt hatte, um sie bald danach wieder hervorzuholen. Er bestellte doch Zigaretten und steckte die Packung ungeöffnet ein. Die Minuten auf der Bank waren ein Aufschwung; etwas besser ging es ihm, aber unter der Bräune war immer noch Blässe. Er brauchte keinen Spiegel, er spürte das Grau. Den Kognak hatte er feierlich über das Eis gegossen. Er dachte an den Abend und fühlte sich gut.
Die Kellnerin kam, und er bezahlte. Wieder sah er sie an und wieder nur flüchtig. Mit der Straßenbahn fuhr er ins Werk, wo das Auto stand. Am Nachmittag das gewohnte Taktieren, Versteckspiel mit Mengen, Daten und Projekten, obwohl unumstritten ist, was man erreichen will. Das Vernünftige bedarf der List. Daran wird sich wohl nichts ändern. Und du musst sicher sein, dass du das jeweils Vernünftige betreibst. Um nicht zu unterliegen, gewöhnst du dir Sicherheit an. Du übst sie wie Rad fahren oder Ringe blasen aus Rauch. Dein Partner hat das auch getan. Beide seid ihr gewohnheitsmäßig sicher, gleichgültig, wer gerade recht hat. Egal, wer unterliegt, gleichsam ungeschlagen wird er den Kampfplatz verlassen, wenn er ihn nur selbstsicher genug verlässt. So kann er sein Fehlverhalten abtrennen von sich selbst, ablegen wie ein Sakko, objektivieren und endlich einordnen in die größeren Zusammenhänge.
So gibt es kaum noch Verlierer, dachte er. Der Niederlage sind Stachel und Bitterstoff entzogen. Die Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen aus Fehlern, ist geschrumpft.
Als er abends ins Hotel zurückkehrte, blieb ihm eine gute Stunde Zeit. Gegen acht würde Ludwig kommen; sie wollten zur Kolchose. So nannte er das Stückchen Land am Rande der Stadt mit dem Hügel, auf dem die Mühle stand. Eher der Stumpf einer Mühle, vorerst zweistöckig. Aber er baute und verglaste und stockte auf, allerdings ohne die erkennbare Absicht, je damit fertig zu werden. Fünf Minuten Fußweg entfernt lag ein Wasser.
Ich mach sie vielleicht elfstöckig, hatte er mit Blick und Tonfall des Verschwörers gesagt. Oder höher. Ganz oben dann die Flügelchen. Gezeichnet hatte Ludwig das längst: Fantastischer Turmbau nach Bosch, die verwinkelten Treppen und Plattformen außen sind bevölkert, und jemand startet oben mit einem Ballon. Man kann weit sehen, und du siehst, man kann Flugversuche machen.
Ein zufriedener, nimmermüder Verrückter, Figurenmacher, Maler und bunter Vogel. Stefan sah ihn wie das gelungene Gegenstück seiner selbst, mit Wehmut manchmal oder neidisch. Als Lehrlinge hatten sie in einem Stralsunder Altstadthaus lange ein Zimmer geteilt. Auch damals ähnelten sie einander kaum, aber so verschieden waren sie noch nicht. Ihre Beziehung war durch räumliche Entfernung, durch Differenzen und grobe Offenheit nur noch enger geworden: die gespannte Vertrautheit, die zwischen Gegensätzen herrscht.
Jedem anderen hätte Stefan heute abgesagt. Der Gedanke, den Abend allein zu verbringen, war angenehm. Abschließen, duschen, das Telefon ins Deckbett wickeln und das Bündel in den Schrank. Du bist geborgen. Etwas zu lesen hatte er immer im Gepäck. Diesmal ein sächsisches Wochenblatt, gebunden, Jahrgang achtzehnsechsunddreißig.
Um ein Jahrhundert oder länger lehnst du dich zurück. Da brauchte eine Neuigkeit Monate um den halben Erdball. Man hatte den Sultan schon begraben, als die Sachsen von seiner Unpässlichkeit erfuhren. Und sie lasen, dass ein schneller Kegelaufsetzer Unterkommen fände im Landhaus zu Güntersdorf.
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Oder weiter in der Geschichte vom Briefeschreiber Moses lesen. Auch ein Verrückter. Schon seit Wochen dehnte er das Vergnügen, indem er sie genüsslich in kurze Lesehappen teilte.
Es klopfte, und draußen stand Ludwig; kragenloses Fleischerhemd unter der Jacke, seine Haare standen nach oben und den Seiten widerspenstig ab, ein Strahlenkranz. Wenn er sich malte, dann schon seit Jahren so: ein Struwwelpeter, aber mit viel Glatze und einer fleischigen Bogennase, die er nicht hatte. Ein Porträt von Stefan zeigte einen Mann, der hauptsächlich Stirn trug, einen mit zu viel Vernunft. Die Welt, wie sie ist, malt Ludwig ja nicht ab. Er malt, was er sieht. Das wusste Stefan längst, ganz verstanden hat er es noch nicht.
Er nahm nun das Päckchen aus dem Koffer, eine Folie, die aus England stammte, mit der man feinen Glanz erzeugen konnte auf einem farbigen Entwurf. Er hatte sie von einer Reise nach Rom mitgebracht. Rom ist in der kleinsten Hütte, sagte Ludwig. Er schämte sich, Freude zu zeigen. Und ich könnte es mir selber kaufen. Warum kann ich’s nicht? Dutzende Male schon besprochen zwischen ihnen. Aber Ludwig stocherte gern in einer Wunde. Trotzdem: Ich mach dich unsterblich.
Eines Tages und wenn ich will, pflegte er zu sagen, hau ich deinen Kopf aus einem Stein. Und schon bist du unsterblich.
Von mir, wenn ich will, erwiderte dann Stefan, kannst du eine Menge Ahnung kriegen, was es alles gibt außer deinen Kröten und Köpfen aus Gips.
Ja, wenn ich will, sagte Ludwig, als müsste er noch herausfinden, ob es nicht genug sei mit Farben und Figuren und den wunderlichen Tieren.
Und heute Abend sei alles anders, meinte er nun. Sie gingen zu einer Fete. In die Mühle könnten sie später. Eine Fete zum Nikolaustag. Weiber, Schnaps und lebende Bilder. Krippenspiele für den Mittelstand. Bei Knochenkurt. Der hat einem Kumpel gerade das Bein gerettet. Muss ich dir erzählt haben. Nein? Der bricht sich das Schienbein, mehr nicht, und als der Gips runterkommt, gucken sie sich alles an. Erledigt. Er läuft, hat aber Schmerzen, und das Bein wird kürzer.
Und wird dick. Es war überhaupt nicht zusammengewachsen. Und es gab nur noch eins: abschneiden die Pfote. Aber ich schick ihn zu Knochenkurt. Der versucht es natürlich. Der versucht immer alles, sägt ihm ein Stück Knochen aus dem Arsch, nä gut, bisschen höher, flickt ihn ein, dazu noch Silber oder was, verschraubt alles, und mein Kumpel läuft wie früher.
„Knochenkurt macht uns doch das mit den Ohren“, sagte nun Stefan.
„Ja, ja“, sagte Ludwig knapp. Seine Verlegenheit war kaum zu bemerken.
„Geht es denn besser?“
Jedenfalls nicht schlechter“, sagte Ludwig.
Er hatte Anfang des Jahres plötzlich einen Hörsturz erlitten, aus heiterem Himmel nicht, eher als notwendige Folge von zu viel Spannung und Ärgernis und einer steilen verzehrenden Lebensführung überhaupt. Sein rechtes Ohr war so gut wie taub. Das Erschrecken dauerte nur kurz, und während die Taubheit nachließ, begann er so schonungslos zu leben wie zuvor. Gelegentliches Nachsinnen blieb; Ungemach soll nicht verdrängt, es soll gewendet und behandelt werden. Die allerbeste Art, den Schrecken zu töten, ist, ihn lächerlich zu machen. So fanden sie den Ausweg, der, wie alle großen Lösungen, bestürzend einfach war: ein Hundeohr.
Die erste Bemerkung dieser Art stammte wohl von Knochenkurt. Sein Handwerk verstand er wie kaum einer und würde sie — denn dass auch Stefan, der demselben, wenn nicht härterem Verschleiß unterlag, den fraglichen Sturz bald erleiden würde, galt als ausgemacht — würde sie also mühelos ausstatten mit intakten natürlichen Hörapparaten und zugleich mit allen Vorzügen, die ein Hundeohr bietet. Niemand sah und ahnte etwas, sie jedoch konnten Flugzeuge früher hören, Pottwale, Insekten, Erdbeben und Neuigkeiten. Auch solche womöglich, die nur für wenige bestimmt waren und aus allerlei Gründen weder gemeldet noch verbreitet werden sollten.
Immer, wenn sie sich sahen in dieser Zeit, hatten sie viel Vergnügen damit gehabt, die Vision vom Hundeohr zu beschwören; Ludwig hatte versucht, sie mit dem Zeichenstift zu bewältigen. War auch abgeschweift, malte sich auf einem der Blätter mit einem Schweineohr, dem Backwerk gleichen Namens, bis er plötzlich im Spätsommer den zweiten, schwereren Anfall erlitt. Stefan hatte einen Spezialisten der Charité ausfindig machen lassen. Sogar Termine handelte man aus. Das lag nun zwei Monate zurück. Sie hatten sich, weil Stefan verreist war, nicht gesehen.
„Bist du operiert?“, fragte er.
„Etwas operiert, ja“, sagte Ludwig.
„In Berlin?“
„Nein, nein. Von Kurt. Er war enttäuscht, als er hörte, ich will woanders hin. Er hat etwas versucht. Und es scheint zu gehen.“
„Du hörst besser?“
„Ich glaube.“
Tatsächlich hörte er wesentlich besser. Nein, anders: weiträumiger, heller und mitunter auch schon Dinge, die er nie gehört hatte. Kurts Erklärung war knapp gewesen und womöglich nur ein Teil der Wahrheit. Da gäbe es neben anderen Innereien — dem Amboss, dem Hammer und dem ovalen Fensterchen — auch den Steigbügel. Genau den habe er verändert und verbessert. Man müsse nun abwarten, wie alles sich zueinander verhalte. Ein Prozess sei im Gange.
Wenn er nun doch Ernst gemacht hatte. Das Ohr ist schon immer eines seiner Hobbys. Dazu der Eifer, mit dem Kurt die Rottweilerzucht betreibt. Den Zwinger unterhält er bei seinem Bruder auf dem Lande. Wenn er also nicht anders gekonnt hat und den Versuch endlich machen musste, heimlich, ja — und er, Ludwig, hätte jetzt wahrhaftig ein Hundeohr. Von einem pfiffigen Welpen der Rasse Rottweiler, der vielleicht Dagobert hieß.
„Ich denke, er ist Chirurg“, sagte nun Stefan.
„Beides. Ohrenarzt wollte er zuerst werden, und es ist seine Leidenschaft geblieben. Und wurde Chirurg. Er kann fast alles und tüftelt und probiert die verrücktesten Sachen. Und braucht nur fünf Stunden Schlaf. Den ganzen Rest hat er für die Arbeit und seine Projekte. Oder mal ein Vergnügen wie heute.“ Und er fügte plötzlich hinzu: „Bist du der alte?“
„Was meinst du?“
„Na, ich frag dich, wer du bist. Immer noch das Riesenas. Der große Ochsenfrosch. Oder wer? Bist du noch einer, mit dem man übers Eis geht im April?“
„Schon gut. Was willst du?“
„Nimm mir eine Freundin ab“, sagte Ludwig. „Es ist dringend. Nicht, dass sie mich umbringen. Aber fast. Und sie versuchen es dauernd. Ich zeig sie dir heute Abend. Und du bist in Stimmung“, setzte er beschwörend hinzu. „Du hast sogar die Wahl. Es ist nicht sicher, ob beide kommen. Aber wenn wir Glück haben.“
„Wieso beide?“
„Es handelt sich um zwei. Ich habe zwei zu viel. Verstehst du jetzt meine Lage und wie mir geholfen wäre.“
„Wissen sie voneinander?“
„Nein. Die jüngere heißt Ulrike. Die andere Annette. Kannst du die Namen behalten, oder wollen wir sie aufschreiben? Oder ich mach ein Zeichen, wenn ich sie dir vorstelle. Trete dir auf den Fuß.“
„Besteht denn keine Priorität?“, fragte Stefan. „Es muss doch Unterschiede geben in der Dringlichkeit.“
„Beides gleich dringend“, sagte Ludwig. „In dieser Hinsicht ist kein Unterschied. Sonst natürlich ja. Zum Beispiel, dass Ulrike zu jung ist. Oder ich sage: Und hier Annette. Ist das ein Name? Das sage ich einfach dazu. Kannst du dir das merken? Du wirst sehen, sie sind dein Typ. Beide. Und fliegen auf dich. Und die freie Auswahl hast du außerdem. Sei in Stimmung. Sei ein Ochsenfrosch. Ich mach dich unsterblich.“
Beinahe immer seit seiner Scheidung hatte Ludwig eine Freundin zu viel. Stefan hatte ihm in ähnlicher Lage bereits ausgeholfen, aber das ist Jahre zurück. Auch damals fiel es ihm schwer, die nötige Freizeit zu erübrigen. So lächerlich es klingt, so etwas kostet Zeit. Und gerade daran fehlt es; er hat heut so gut wie keine mehr. Was neben der Arbeit bleibt, gehört ganz der Familie.
„Wie soll ich das machen? Wie stellst du dir das vor?“
„Weißt du nicht mehr, wie man’s macht? Oder darfst du keine Kebse mehr haben in deinem Amt?“
Diesen Verdacht zu äußern, liebte er: Stefan sei nicht mehr Herr seiner selbst, habe das Leben sich abschwatzen lassen gegen Macht oder die Einbildung von Macht und hohem Einfluss.
„Das musst du bestreiten, ich weiß. Schlechten Tausch gibt keiner gern zu. Wie auch immer. Du weißt nicht mehr, wie du’s machen sollst. Du willst deinem Kumpel nicht aus der Klemme helfen. Gut. Er wird sich erschießen.“
„Ich seh sie mir an“, sagte nun Stefan. ,Ja, doch. Versprechen kann ich nichts.“
Von außen wirkte das Haus klobig und ohne Reiz, aber die Räume waren hoch und hell und angenehm sparsam ausgestattet. Kurt, der Hausherr, trug Stiefel, Cordhosen und Kittelhemd, zurechtgemacht schon für seine Rolle; denn er würde an diesem Abend den Nikolaus geben.
„Das ist Knochenkurt als Gutsherr und sein Knecht“, sagte Ludwig. „Und hier endlich mein Freund Stefan.“
„Der auch dieses Ohr braucht irgendwann“, sagte Stefan.
„Ah, ja“, erwiderte der Doktor. „Willkommen.“ Sekundenlang sah er Stefan durchdringend an, musterte dessen kräftige Stirn, das krause Haar, das überall noch dicht war und nur leicht ergraut. Verglich ihn mit der Zeichnung, die er doch wohl kannte? Oder es war einfach Zerstreutheit und fehlender Schlaf.
„Wenn das alles ginge“, sagte er abwesend. „Spaß hatten wir viel damit. Seine Skizzen dazu kennen Sie?“
„Vielleicht nicht alle“, sagte Stefan. „Er zeigt nie alles.“
„Es wäre falsch, keine Geheimnisse zu haben“, -sagte der Hausherr. Sein Blick flackerte noch, die Miene entspannte sich aber. „Geheimnisse sind wie Stimulantia.“ Er lachte überraschend laut. „Willkommen also. Und vergnügen Sie sich.“
Alles an ihm schien zueinander zu passen: das rötliche Gesicht, Stimme und Statur und der Aufzug. Nur die Hände passten nicht; schmal und blass und mit eiligen Fingern, die unnatürlich dünn waren. Hände für einen Geiger oder Taschendieb.
Etwa zwanzig Gäste mochten anwesend sein, vom Tonband lief ein Klavierkonzert. Man saß in Grüppchen, einige auf Kissen oder Polstern auf dem Fußboden. Schauspieler, Handwerker, Tierärzte, ein Architekt. Ein Autor, dessen Stücke, wie Ludwig meinte, niemand so recht sehen wollte, erzählte den Provinzlern das Jüngste von Bühne und Bildschirm. Er kannte den Marktwert seiner Neuigkeiten; man nahm sie ihm ab wie Radieschen im März. Der Mann trug einen dichten, gut geformten Schnurrbart. Ob er Binde oder Brenneisen benutzte?
Stefan erinnerte sich der Bartsalbe „Kyffhäuser“, für die in einer seiner alten Zeitschriften annonciert war. Sie können damit dem Schnurrbarte jede gewünschte Lage geben und dieselbe andauernd erhalten, ohne dabei den Bart klebrig noch fettig zu machen. „Kyffhäuser“ ist kein Klebestoff. Und er dachte etwas, was er nie tat, wenn er Schnurrbärte sah: Warum lebt der Mann nicht mit seiner Oberlippe, wie andere auch.
Es gab viele Räume und noch mehr Türen, die fast alle geöffnet waren. Der Hausherr stand mit Ludwig im Flur und redete, den Gesten nach zu urteilen, mit Nachdruck auf ihn ein. Vielleicht besprachen sie einen der Auftritte, die folgen sollten.
Weitere Gäste erschienen, darunter ein junges Ehepaar mit einem Säugling, vier Wochen alt höchstens. Einen Korb hatten sie mitgebracht und stellten ihn in eines der Nebenzimmer. Nachdem das Kind genügend bewundert war, legten sie es dort in den Korb.
Endlich kam sie. Das feine schwarze Haar, das wohl sehr lang war, streng zurückgekämmt und den Zopf zu einem Knoten gesteckt. Ludwig beeilte sich, Stefan mit ihr bekannt zu machen.
„Das ist Annette.“ Und wie angekündigt, fügte er hinzu: „Ist das ein Name?“