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Inselglück & Weihnachtswunder: das perfekte Weihnachtsgeschenk des Spiegel-Bestsellerautors an seine Leserinnen und Leser. Die junge Inselpastorin Carola leitet im Friesendom die Chorprobe für Heiligabend. Alle sind voller Vorfreude aufs Fest, nur sie nicht. Nach der Christmette wird sie wieder alleine in ihrem kleinen Reetdachhaus sitzen. Noch ist aber Vorweihnachtszeit, und es gibt eine Menge zu tun: Als Carola auf der gegenüberliegenden Hallig Langeneß eine Andacht hält, bittet der sympathische Organist Torin sie um einen Gefallen: Seiner Großmutter geht es gesundheitlich so schlecht, dass sie Weihnachten wahrscheinlich nicht erleben wird. Ob Carola mit der Familie den Heiligabend vorziehen könne? Kurz vor Weihnachten überschlagen sich die Ereignisse. Ein Geldkoffer mit mehreren tausend Euro wird an Land gespült, ein anonymer Wohltäter sorgt für ein Weihnachtswunder, und die Möglichkeit eines Single-Heiligabends in der kleinen Inselbuchhandlung zeichnet sich ab. Ob dort vielleicht auch ihr ganz persönliches Weihnachtswunder auf Carola wartet?
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Seitenzahl: 188
Janne Mommsen
Roman
Inselglück & Weihnachtswunder
Die junge Inselpastorin Carola leitet im Friesendom die Chorprobe für Heiligabend. Alle sind voller Vorfreude aufs Fest, nur sie nicht. Nach der Christmette wird sie wieder alleine in ihrem kleinen Reetdachhaus sitzen.
Noch ist aber Vorweihnachtszeit, und es gibt eine Menge zu tun: Als Carola auf der gegenüberliegenden Hallig Langeneß eine Andacht hält, bitte der sympathische Organist Torin sie um einen Gefallen: Seiner Großmutter geht es gesundheitlich so schlecht, dass sie Weihnachten wahrscheinlich nicht erleben wird. Ob Carola mit der Familie den Heiligabend vorziehen könne?
Kurz vor Weihnachten überschlagen sich die Ereignisse. Ein Geldkoffer mit mehreren tausend Euro wird an Land gespült, ein anonymer Wohltäter sorgt für ein Weihnachtswunder, und die Möglichkeit eines Single-Heiligabends in der kleinen Inselbuchhandlung zeichnet sich ab. Ob dort vielleicht auch ihr ganz persönliches Weihnachtswunder auf Carola wartet?
Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Romane und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
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Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-00836-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Wenn du aufhörst zu schenken, hörst du auf zu lieben.
Wenn du aufhörst zu lieben, hörst du auf zu wachsen.
Michel Quoist
Nach seinem langen Weg über das Nordmeer fegte der Sturm mit ungebremster Kraft auf Föhr zu. Die Dachbalken von Carolas Reetdachhäuschen ächzten bei jeder Böe. Die Pfarrerin warf einen letzten Blick in den Spiegel neben der Flurgarderobe und versuchte die bedrohlichen Geräusche von draußen auszublenden. So war es halt in der Adventszeit auf der Insel. Sie würde jetzt trotzdem vor die Tür gehen.
Carola streifte den viel zu großen dunkelblauen Seemannspullover aus irischer Wolle über und schlüpfte in ihre gefütterte Wetterjacke, deren Kapuze man bis zur Nase runterziehen konnte. Bei dem, was sie vorhatte, durfte sie auf keinen Fall erkannt werden.
Behutsam nahm sie den Porzellanteller mit den Antipasti aus dem Kühlschrank und spannte Frischhaltefolie darüber. In die sackartige Seitentasche ihrer Jacke steckte sie eine Flasche Bio-Rhabarbersaft, in die andere Tasche kam ein Trinkglas von IKEA. Den Teller mit der linken Hand balancierend, öffnete sie mit der rechten die Wohnungstür. Eine heftige Windböe riss ihr die Vorspeise fast aus der Hand. Misstrauisch schaute sie die Straße hinunter, bei diesem Sturm war niemand unterwegs. Sie eilte los. Der Wind war schneidend kalt, ließ ihre Finger rot werden und schmerzen. Sie hätte Handschuhe anziehen sollen, aber deswegen wollte sie jetzt nicht noch mal zurück.
Prompt passierte genau das, was sie auf jeden Fall vermeiden wollte: Monika Lange kam mit dem Fahrrad direkt auf sie zugefahren. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Monika war Friseurin in Utersum und eine der größten Klatschtanten der Insel.
«Moin, Frau Pastorin», grüßte sie fröhlich und stieg vom Rad. Ihre Haare trug sie immer in wechselnden Farben von Rot bis Lila, das war ihr Markenzeichen. Jetzt lugten nur ein paar blaue Fransen unter der Pudelmütze hervor.
«Moin», antwortete Carola. Kurz grüßen und weitergehen funktionierte bei allen Insulanern – nur nicht bei Monika.
«Wo geit?».
«Bestens!», sagte Carola. «Und selber?»
«Auch.»
Hoffentlich sagte sie nichts zu dem Teller. Doch das war ein vergeblicher Wunsch:
«Oh, was gibt es in der Kirche denn heute zu essen?»
«Das ist mein Pausenbrot.»
«Sieht lecker aus.»
«Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen», meinte Carola. Ihre Finger waren inzwischen komplett gefühllos. «Ich muss weiter.»
«Mach’s gut.»
«Tschüssing.»
Carola stöhnte leise auf, sie hatte Monika angelogen. Das Essen war keinesfalls für sie selbst bestimmt. Niemand durfte wissen, wen sie mit Antipasti und Rhabarbersaft versorgte. Es war eine schwere Sünde, daran gab es nichts zu deuteln.
Bitte, vergib mir meine Schuld, bat sie im Stillen.
Mit ihrem linken Stiefel stieß sie das eiserne Tor zum Friedhof auf und eilte an den Grabsteinen vorbei. Hier lagen viele Seefahrer und Walfänger aus vergangenen Jahrhunderten begraben. Die Föhrer Kapitäne waren berühmt für ihre nautischen Fähigkeiten gewesen. Wer im Wattenmeer bei Ebbe und Flut navigieren konnte, fand sich auch im Eismeer zurecht. Die Namen auf den Grabsteinen waren Carola vertraut, sie lauteten Petersen, Braren, Olufs, Martens, Hassold. Mit ihren Nachfahren hatte sie täglich auf der Insel zu tun.
Inmitten des Friedhofs stand der mächtige Friesendom aus dem 13. Jahrhundert wie eine feste Burg, es war die größte Kirche der Insel. Der eckige Turm mit dem Satteldach streckte sich über dreißig Meter schroff in den stürmischen Himmel und trotzte allen Wettern.
Beeil dich, bevor dich noch jemand sieht, ermahnte sie sich. Sie versuchte die schwere Holztür zum Turm aufzuschließen, ohne den Teller abzusetzen. Dabei rutschte ihr die Kapuze vor die Augen, prompt fiel ihr auch noch der Eisenschlüssel aus der Hand. Also Teller abstellen, Schlüssel aufheben, aufschließen, Teller reinbringen, auf dem Steinfußboden abstellen, und dann hinter sich abschließen. Geschafft!
Im Inneren des Doms war es absolut windstill. Hinter den meterdicken, uralten Mauern fühlte sie sich geschützt. Sie schlug die Kapuze hoch und atmete auf, die erste Hürde war genommen. Carola schaute auf die steinerne Treppe, die zum Turm hoch führte. Erneut kamen ihr Zweifel: Sollte sie nicht doch besser umkehren?
Nein, sie hatte es angefangen, jetzt würde sie es auch zu Ende bringen. Im Treppenhaus war es frostig, die winzigen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Behutsam nahm sie Stufe für Stufe.
Hoffentlich mochte ihr Gast da oben, was sie ihm mitgebracht hatte. Anfangs hatte sie an Spaghetti Frutti di Mare gedacht, die sie selbst über alles liebte. Aber die verdarben zu schnell, deshalb hatte sie Antipasti zubereitet: Champignons in Olivenöl, getrocknete Tomaten, eingelegte Auberginen, Avocado in Balsamico und einiges mehr. Oben im Turm war es jetzt im Dezember eiskalt, da würde sich alles gut halten.
Auf halber Strecke musste sie eine kurze Pause einlegen, weil ihr die Luft ausging. Mensch, Carola, du bist fünfunddreißig und fährst viel Rad, das wirst du ja wohl locker schaffen! Gab es nicht sogar Wettläufe bis aufs Dach des Empire State Building in New York? Wie man das hinbekam, ohne tot umzufallen, war ihr schleierhaft.
Nach einiger Zeit gelangte sie zu den mächtigen Bronzeglocken, die so hoch waren wie sie selbst. Sie blieb stehen und holte erneut tief Luft. Auch hier war sie noch nicht am Ziel. Ihr Handy klingelte. Sollte sie rangehen? Sie stellte den Teller auf den Boden und drückte den grünen Knopf.
«Schmidt.»
«Moin, Carola.» Es war ihr Pfarrerskollege Benedikt Blüthgen, genannt «Bene», von der Fünfzig-Seelen-Hallig gegenüber im Wattenmeer. Auch er durfte nicht wissen, was sie hier tat.
«Wo steckst du?», fragte Bene.
«Ich bereite im Friesendom die Probe für den Heiligabend vor.»
Schon wieder gelogen, Carola!
«Ach, deswegen hallt es so.»
«Was gibt’s?», fragte Carola.
«Ich bin in Frankfurt mit dem Wagen liegengeblieben und schaffe es nicht rechtzeitig auf die Hallig.»
«Oje.»
«Könntest du eventuell meinen Adventsgottesdienst übernehmen?»
«Ich habe, wie gesagt, eine Probe», sagte Carola.
«Es geht erst um vier Uhr los.»
«Hängt vom Wetter ab.» Sie musste ja rüber auf die Hallig kommen.
«Angesagt ist Windstärke fünf.»
«Das würde gerade noch hinhauen», meinte sie.
«Super, tausend Dank! Dann gebe ich dem Organisten gleich Bescheid.»
«Bis dann.»
«Bis dann – und danke noch mal!»
Carola legte auf und blickte argwöhnisch auf die schmale Holzleiter, die neben den Glocken an einem Balken lehnte. Wie sollte sie die jetzt hochkommen? Den Teller balancierend, arbeitete sie sich Sprosse für Sprosse voran. Mehrmals war sie kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren, dabei schoss ihr vor Schreck das Blut in den Kopf.
Es ging gut – gerade so!
In der nächsten Etage roch es nach altem Staub und trockenem Holz. Über eine weitere wackelige Leiter ging es zu dem kleinen Raum direkt unter der Turmspitze. Inzwischen war sie geübt und ging es beherzter an.
Ganz oben angekommen, konnte sie kaum stehen, so eng war es hier. Der eiskalte Westwind tobte durchs Gebälk und drückte die salzige Meeresluft durch jede Ritze. Durch eine kleine Maueröffnung blickte sie hinaus. Die Wellen der Nordsee liefen hoch auf und trugen schaumige Kronen auf den Spitzen. Der Sturm versetzte die ganze Insel in Bewegung, der Sand an den Stränden wurde hoch aufgewirbelt, das Dünengras gebürstet, Bäume und Büsche bogen sich. Ein Plastikstuhl wurde mit schnellen Salti über ein abgeerntetes Feld geschleudert.
Von der Nachbarinsel Amrum blinkte der Leuchtturm in Nebel herüber, als wollte er Kontakt zum Friesendom aufnehmen. Der lag auf einer Linie mit der Kirche St. Severin in Keitum auf Sylt, der Alten Kirche auf Pellworm und der heute auf dem Festland angesiedelten Kirche St. Magnus in Tating auf der Halbinsel Eiderstedt. Eine schöne Idee der damaligen Baumeister.
Es fing an zu regnen, die Tropfen peitschten ihr durch den Mauerspalt ins Gesicht. Ein paar Sekunden später drehte der Wind, die dunklen Wolken rissen auf, und die Sonne strahlte vom blauen Himmel auf die Insel und das Meer. Der Sturm hielt alles weiter in Bewegung, im Sonnenschein sah es jetzt aus wie ein übermütiger Tanz. Carola liebte dieses kräftige, sattgoldene Wintersonnenlicht, das es nur zur Adventszeit gab. Damit kündigte sich jedes Jahr das Weihnachtsfest an.
Sie kniete sich auf den Boden, stellte den Teller ab und entfernte die Folie. Der Duft von Knoblaucholiven füllte den zugigen Raum. Die Antipasti waren mal etwas anderes als das, was Nis Puk sonst vorgesetzt bekam. Die Rhabarbersaft-Flasche stellte sie zusammen mit dem Glas daneben. Zusätzlich klemmte sie eine grüne Papierserviette mit aufgedruckten Weihnachtsbäumen unter den Teller. Sie goss etwas Saft ins Glas. Zufrieden blickte sie auf ihr Arrangement, das im kahlen Dachraum einladend aussah.
Von Nis Puk hatte sie das erste Mal gehört, als sie gerade nach Föhr gekommen war. Nach alter friesischer Überlieferung waren die Dachböden und Scheunen der Insel das Zuhause des Trolls. Nis stammte aus heidnischen Zeiten, lange vor dem Christentum. Er wirkte ausgleichend auf die Bewohnerinnen und Bewohner eines Hauses und passte auf sie auf. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, musste ihm etwas zu essen hingestellt werden. Geschah das nicht, wanderte er weiter, und das Haus war vom Verfall bedroht. Konnte man so etwas ernsthaft glauben?
Viele Insulaner machten sich darüber lustig – und stellten Nis trotzdem etwas zu essen hin. Zugegeben, auch Carola war empfänglicher für solche Phänomene, als sie es von Berufs wegen sein durfte. Am Freitag, den 13. zum Beispiel mied sie Entscheidungen und ging ungern aus dem Haus. Wovon natürlich niemand etwas wusste.
Mit ihrem Glauben an den Troll befand sie sich in bester Gesellschaft, auf Island glaubte der Großteil der Bevölkerung daran. Dort gab es sogar ein Ministerium, das einen Baustopp für eine Autobahn erzwungen hatte, damit Elfen ungestört weiterziehen konnten. Auf Föhr durfte niemand erfahren, was sie hier für Nis Puk tat. Immerhin war sie die Pastorin der größten Kirche. Und trotzdem glaubte sie natürlich an Gott, Jesus und den Heiligen Geist, über die sie jeden Sonntag predigte, das war ja klar.
Andererseits waren Gottes Wege unergründlich. Was, wenn er Nis Puk für jene Menschen geschaffen hatte, die mit dem biblischen Glauben nichts anfangen konnten? Zugegeben, das war ein ketzerischer Gedanke, so konnte man jeden Unsinn rechtfertigen. Doch selbst wenn es den Troll nicht gab, schadete das Mahl niemandem. Und so abwegig, wie es im ersten Moment schien, waren die heidnischen Traditionen auch wieder nicht: Oder was hatten Weihnachtsbaum und Ostereier mit der biblischen Botschaft zu tun?
Plötzlich setzte ein Höllenlärm ein. Die tonnenschweren Glocken unter ihr schlugen vier Uhr. Ihr Körper vibrierte bei jedem Schlag. Sie hielt sich die Ohren zu, aber das änderte nichts.
Als endlich wieder Ruhe herrschte, warf sie einen letzten Blick auf das Essen und kletterte guter Dinge die Leiter hinab, was ohne Teller spielend leicht war.
Im Innenraum der Kirche wurde gerade auf der Orgel ein uralter Rocktitel gespielt, der Jahrzehnte vor Carolas Geburt ein Hit gewesen war: «Child in Time» von Deep Purple. Die Töne aus den Pfeifen vermischten sich mit dem Sturmgeheul, das ergab eine ganz eigene Musik.
Bitte, Nis Puk, falls es dich gibt, und das glaube ich, lass dir dieses Jahr irgendetwas für mich einfallen!, betete sie im Stillen. Begleitet von den Orgeltönen, eilte Carola die Stufen des Kirchturms hinab.
Als Carola die Kirchentür öffnete, lächelte sie. Kinder liefen herum, Jugendliche, Eltern und Großeltern standen beisammen oder saßen auf den Bänken. Es war ein Gebrumme wie im Bienenstock, überall wurde gelacht und geschwatzt. Dazu spielte Organist Roland leise «Child in Time», was sich wie eine passende Begleitmusik über die Szenerie legte. Alle freuten sich auf die Probe für den Weihnachtsgottesdienst und hatten jetzt schon Lampenfieber.
Der Friesendom bestand aus einem langgestreckten Mittelschiff, einem Querschiff und dem abgesetzten quadratischen Chor. Die hölzernen Bänke für die Gottesdienstbesucher waren in dezentem Dunkelgrün gehalten und an den Seiten verziert. Vorne gab es einen Altar mit kunstvoll geschnitzten Holzfiguren, die das Leben und Wirken Johannes des Täufers darstellten. Davor hing das Modell eines alten Segelschiffs von der Decke. Der Altar war für Carola mindestens so spannend wie ein Kinofilm: im Lauf der fünf Jahre, die sie nun auf der Insel lebte, hatte sie immer neue Details darin entdeckt. Gegenüber dem Altar lag die Empore. Die altehrwürdige Orgel mit ihren mächtigen Pfeifen befand sich auf einer Extra-Empore.
Roland brach sein Orgelspiel ab und winkte ihr zu. Sie winkte fröhlich zurück. Niemand ahnte, wie es der Pastorin in ihrem Inneren ging.
Noch hatte sie vierzehn Tage Zeit bis Heiligabend, aber die rauschten immer schnell vorbei, bis sie dann in dieselbe Katastrophe schlitterte wie in den vergangenen Jahren. Im Grunde nahm sie auf dieser Probe Anlauf für ihren Untergang, doch daran durfte sie jetzt nicht denken.
Hinter großen Schautafeln mit Fotos von ihrer Frühjahrsfahrt nach Dänemark zogen die Konfirmandinnen gerade ihre Föhrer Trachten an, die hohe Textilkunst waren: Der Trägerrock bestand aus dunkelblauem Tuch mit einer Weite von bestimmt fünf Metern, das Rückenteil war sechzigfach gefaltet, dazu kamen eine weiße Schürze aus Batist und der filigrane Brustschmuck. Das Anlegen der Trachten war alleine nicht zu schaffen, ein paar ältere Insulanerinnen halfen ihnen dabei. Die Mädchen lebten ansonsten mit Tablet und PC wie andere Jugendliche auch. Die Traditionen der Insel empfanden sie jedoch als etwas Besonderes, das sie stolz weiterführten.
«Moin, Carola», riefen sie.
«Moin zusammen», grüßte Carola zurück.
Sie kletterte auf die Kanzel aus dem 18. Jahrhundert, die an einem seitlichen Pfeiler angebracht war. Von hier predigte sie selten, sie stand lieber nahe bei ihrer Gemeinde vor dem Altar.
Unter ihren Schuhen knirschte es ungewohnt, sie blickte zu Boden und entdeckte einige Glasscherben. Wieso hatte die Putzfrau der Kirche sie übersehen? Birgit war sonst absolut zuverlässig. Auch das Lesepult war staubig, anscheinend hatte sie vergessen, die Kanzel zu wischen.
«Moin, Moin!», rief Carola in den Raum. Alle wurden still und schauten zu ihr hoch. «Schön, dass ihr gekommen seid, um einmal mit mir den Weihnachtsgottesdienst durchzugehen. Den Ablauf seht ihr auf den Zetteln, die am Eingang verteilt wurden.»
Vor dem Altar stand die Band mit Schlagzeug, Gitarren, Mikros und Verstärker. Die jungen Musiker und Musikerinnen stimmten gerade ihre E-Gitarren.
«Seid ihr bereit?», rief Carola ihnen zu.
«Jo», kam es verhalten zurück.
Sie lachte. «Das ist alles?»
Die Bandmitglieder grinsten und spielten zusammen einen Akkord in einer derartigen Phonzahl, dass Carola ernsthaft Schäden am Mauerwerk befürchtete. Jetzt trat die fünfzehnjährige Swantje in Friesentracht mit Mikro vor die Band.
Carola blickte zur Empore. «Roland?»
Der Organist hob lächelnd den Daumen und beugte sich über die Tasten. Vor dem Altar zählte der Schlagzeuger acht Schläge vor, dann begannen Roland und die Band mit dem Stück, das sich einige ältere Gemeindemitglieder gewünscht hatten: Swantje sang «Child in Time» von Deep Purple voller Inbrunst. Ihre raue Stimme passte perfekt zu dem Song aus den Siebzigern: Sweet child in time, You’ll see the line. The line that’s drawn between good and bad … Carola lief ein Schauer über den Rücken.
Als Swantje fertig war, klatschte sie begeistert in die Hände. Die Kirchentür öffnete sich, und Klaas Broder im weiß-blau gestreiften Hemd kam herein. Seinen Seemannsgang konnte der Fischer auch an Land nicht ablegen. Er drückte Carolas Hand zur Begrüßung so fest, dass sie um ihre Finger fürchtete. Klaas war sein Leben lang Fischer gewesen und leitete nun die Föhrer Tafel. Zusammen mit ein paar engagierten Rentnern sammelte er bei Bauern und in Supermärkten Lebensmittel für Bedürftige auf der Insel.
«So weit ist es schon gekommen», stöhnte er und schaute sie besorgt an.
«Was ist?», fragte Carola.
«Wie es aussieht, muss ich meine Vorurteile gegen Sylt aufgeben. Es fällt mir nicht leicht, das sag ich dir.»
«Aber wieso denn?», hakte sie nach. Das Lästern über die mondäne Nachbarinsel gehörte auf der Insel zum guten Ton.
«Ein Sylter Nobelrestaurant hat unserer Tafel pünktlich zum Fest 150 tiefgefrorene Bio-Enten gespendet», sagte er. «Plus Rotkohl.»
«Einfach so?»
«Die haben aus Versehen zu viel bestellt und können das nirgendwo lagern. Deshalb wollen sie armen Föhrern Gutes tun.» Klaas schüttelte bekümmert den Kopf. «Wirklich, das ist nicht mehr das überhebliche, schnöselige Sylt, das ich kenne.»
Jetzt entdeckte Carola ein Lächeln auf seinem Gesicht. «Ich fahr in paar Tagen mit meinem Kutter rüber und hole es ab», knurrte er.
Klaas huschte hinüber zu den Konfirmandinnen und Konfirmanden, die zwischen ein paar Älteren standen, einige davon ihre Großeltern. Alle hielten weiße Kerzen in der Hand, die sie für die Probe aber nicht angezündet hatten. Sie lasen mit verteilten Rollen das Gebet eines französischen Priesters über die Liebe.
Alt und Jung nebeneinander ergaben ein schönes Bild. Gleichzeitig wusste Carola: Wenn am 24. Dezember dieser Programmpunkt erreicht war, stand sie selbst nur noch eine Stunde vor dem absoluten Tiefpunkt des Jahres. Sie war gerne Pastorin und begleitete Menschen auf allen Wegstrecken des Lebens, auf Taufen, Hochzeiten und auch Beerdigungen. Sie bot Seelsorge, Gespräche und Gottesdienste. Bei ihren Predigten hatte sie im Lauf der Jahre ihren eigenen Stil entwickelt. Carola bemühte sich, möglichst normal, freundlich und respektvoll zu sprechen. Das weihevolle Geseiere einiger Kolleginnen und Kollegen auf der Kanzel hatte sie noch nie gemocht. Zu ihr konnte man mit seinen Sorgen genauso um Mitternacht kommen wie nachmittags um vier, und das war nicht nur so dahingesagt. Pastorin zu sein, war ihre Berufung, sie wollte nichts anderes machen. Alles war gut.
Bis auf den Heiligabend. Nicht der Festgottesdienst, wenn die Kirche übervoll war und sich alle in einer hochfeierlichen Stimmung befanden, die es so nur an diesem Abend gab. Sondern das Danach. Wenn alle beim Essen mit ihren Familien zusammensaßen, tigerte sie mutterseelenallein im Pastorat auf und ab. Vielleicht hätte sie sich irgendwem anschließen können, aber das fünfte Rad am Wagen wollte sie auch nicht sein. Daher blieb sie Heiligabend immer alleine. Und genau das war das Problem.
Carola war schon seit einigen Jahren Single, und es sah so aus, als ob sich daran nichts mehr ändern würde. Manchmal bekam sie Anflüge von Torschlusspanik: Würde niemals mehr ein Mann in ihr Leben treten? Was verhinderte, dass sich bei ihr in der Liebe etwas tat? Ihr Beruf? Sahen Männer sie als eine Art Nonne, mit der man nicht flirten durfte? Dabei war sie eine ganz normale Frau, mit ganz normalen Sehnsüchten.
Sosehr sie die Insel liebte, in dieser Hinsicht hatte sie ihr kein Glück gebracht. Entweder waren die Männer vergeben oder nicht ihr Fall. Leider zog kaum jemand Neues hierher, sodass ihr Liebesleben auf null stagnierte. Zu den Ü-30-Partys traute sie sich nicht: Alle kannten die Pastorin des Friesendoms, jeder ihrer Schritte würde dort genau beäugt werden. Nach zwei Gläsern Wein hatte sie mal überlegt, es einfach von der Kanzel herunterzurufen: «Liebe Gemeinde, am Schluss des Gottesdienstes habe ich noch ein persönliches Anliegen. Ich suche dringend einen Mann. Ob älter oder jünger, ist egal, vor allem sollte er Humor haben. Und Sexappeal natürlich, er muss mich kicken. Wer so jemanden kennt, möge sich bei mir oder im Gemeindebüro bei unserer Frau Petersen melden, ich nehme Angebote gerne entgegen.»
Okay, das war nur Phantasie. Aber wenn weiterhin nichts passierte, verlor sie ihre Hemmung vor so einer Kamikaze-Aktion, da war sie sicher. Was hatte sie zu verlieren?
Sie brauchte gar nicht auf den Ablaufzettel zu schauen, sie wusste auch so, was als Nächstes kam. Im Heiligabend-Gottesdienst gab es einen grausamen Teil, der für sie schon auf der Probe eine Herausforderung war. Das Böse lauerte im Seitenschiff in Form von zwanzig Insulanerkindern, alle im Alter zwischen fünf und zehn, die aufgeregt durcheinanderschnatterten. Natürlich im Prinzip alles liebenswerte Wesen.
Die Kinder stellten sich im Halbkreis um den wuchtigen Taufstein herum, der vor über 800 Jahren aus einem Findling gearbeitet worden war. Darin war ein Mischwesen eingraviert, halb Löwe, halb Schlange, das dabei war, einen Menschen zu verschlingen.
Das Unheil wurde durch längliche, hohle Holzstäbe mit Löchern verursacht, in die man hineinblasen konnte. Es sollte einen warmen Klang erzeugen. Allerdings nur im besten Fall, und der war während ihrer Zeit im Friesendom noch nie eingetreten. Sie hoffte, dass der Herrgott ihr die bösen Gedanken verzeihen würde, aber falsches Blockflötenspiel löste in ihrem Gehirn einen Schmerz aus, der Zahnbohren gleichkam. Im Unterschied zum Zahnarzt gab es im Gottesdienst jedoch keine Option auf Betäubungsmittel.
Die fünfzigjährige Ludmilla, die bis vor zwei Jahren in Kasachstan diverse Blockflötengruppen geleitet hatte, stellte sich vor die Kinder und hob die Hände. Dann flöteten sie «Süßer die Glocken nie klingen», und zwar so laut, schrill und falsch sie konnten. Machten die das mit Absicht? Carola wünschte sich einen Hörschutz, wie ihn Bauarbeiter trugen, die Presslufthammer in Asphalt rammten. Sie fragte sich, wie sich Jesus in ihrer Lage verhalten hätte. Womöglich hätte er eine Ausnahme von der Nächstenliebe zugelassen und das Flötenspiel abbrechen lassen.
Jetzt gab Ludmilla das Schlusszeichen, der pummelige Eike kleckerte noch einen Takt hinterher, bevor er es bemerkte.
Mütter und Väter überhörten das Elend, die Liebe zu ihren Kindern setzte ihre Urteilsfähigkeit komplett außer Kraft. Einige Blockflöten-Eltern setzten noch einen drauf, indem sie sich zu Carola stellten und sie stolz anstrahlten: «Phantastisch, oder? So gut waren sie noch nie!»
Jeder Beruf hatte eben seine eigenen Härten. Als Pastorin durfte Carola wahre Elternliebe natürlich nicht in Frage stellen. «Sie haben wunderbar gespielt!», antwortete sie dann mit einem süßen Lächeln. Der Herrgott mochte ihr auch diese Lüge verzeihen.
Als wenn das nicht schlimm genug wäre, bot ein Vater ihr an: «Ich habe es mit meinem Handy aufgezeichnet, warte, ich schicke es dir direkt rüber!»