Die Bücherinsel - Janne Mommsen - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Bücherinsel E-Book

Janne Mommsen

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In seinem neuen Sommerroman entführt uns Bestsellerautor Janne Mommsen noch einmal auf die idyllische Nordseeinsel und in Greta Wohlerts kleine Inselbuchhandlung. In der Fortsetzung seines Literatur-Spiegel-Bestsellers erzählt er eine anrührende Geschichte über einen Lesekreis, der gleich mehrere Leben verändert. Ein Kurzurlaub zwischen zwei Buchdeckeln für alle, die von frischer Seeluft träumen. Sandra Malien lebt in einem kleinen Haus am Strand. Durch Zufall landet die quirlige Enddreißigerin in dem Lesekreis der kleinen Inselbuchhandlung. Hier treffen sich Bücherliebhaber, aber auch diejenigen unter den Insulanern, die abends nicht allein vor dem Fernseher sitzen wollen. Besonders sympathisch ist Sandra der charmante Schulleiter Björn. Nur hat Sandra ein Problem: Dass sie nicht lesen und schreiben kann, ahnt auf der Insel niemand. Eines Tages trifft Sandra Björn unverhofft an ihrer Lieblingsstelle am Strand wieder, sie verbringen einen atemberaubendend schönen Nachmittag auf der großen Düne. Für Sandra ist danach klar: Sie hat sich Hals über Kopf in diesen Mann verliebt. Aber hat ihre Liebe trotz aller Geheimnisse eine Chance?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 298

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Janne Mommsen

Die Bücherinsel

Roman

Über dieses Buch

Lesen macht glücklich!

 

Sandra Malien lebt in einem kleinen Haus am Strand. Durch Zufall landet die quirlige Enddreißigerin in dem Lesekreis der kleinen Inselbuchhandlung. Hier treffen sich Bücherliebhaber, aber auch diejenigen unter den Insulanern, die abends nicht allein vor dem Fernseher sitzen wollen. Besonders sympathisch ist Sandra der charmante Schulleiter Björn. Nur hat Sandra ein Problem: Dass sie nicht lesen und schreiben kann, ahnt auf der Insel niemand.

Eines Tages trifft Sandra Björn unverhofft an ihrer Lieblingsstelle am Strand wieder, sie verbringen einen atemberaubendend schönen Nachmittag auf der großen Düne. Für Sandra ist danach klar: Sie hat sich Hals über Kopf in diesen Mann verliebt. Aber hat ihre Liebe trotz aller Geheimnisse eine Chance?

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Drehbücher und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

1.

Die Fähre vom Festland schob sich langsam durch das rötlich glitzernde Meer Richtung Insel. Sandra beugte sich über die weiß lackierte Reling auf dem Achterdeck, um sie sauber zu schrubben. Nach einer Weile richtete sie sich auf und streckte sich einmal lang aus. Hinter ihr versank der letzte Zipfel des riesigen Sonnenballs im Meer, sämtliche Fenster des Strandhotels im Fährhafen blitzten noch einmal hell auf, dann wurden sie dunkel. Im Osten war der tiefblaue Himmel längst bereit, die Nacht zu übernehmen. Sie fuhr mit dem Lappen über einen orangefarbenen Rettungsring und spann im Kopf die Geschichte weiter, die sie jeden Tag ein Stückchen vorantrieb. Das Putzen machte sich so fast nebenbei.

Das Sonnenrot und das Nachtblau mochten sich sehr, davon war sie überzeugt, auch wenn sie so gegensätzlich waren. Unter anderen Umständen wären sie bestimmt ein Paar geworden und zusammen um die Welt gezogen. Aber es sollte nicht sein. Es blieb ihnen nur diese knappe Stunde am Tag, um beieinander zu sein, bevor sie in unterschiedliche Richtungen getrieben wurden.

Der frühe Nachthimmel wirkte wie eine Samtdecke. Das war für Sandra die schönste Zeit des Tages. Es erfasste sie dann immer eine unstillbare Sehnsucht nach den unbekannten Orten, an die das Licht gerade weiterzog: Irgendwo im Westen war jetzt Sonnenaufgang. Wenn sich die Erde einmal weiterdrehte, würde die Nacht über dem Wattenmeer am Morgen dunkelgrau werden, dann langsam heller, bis der erste Sonnenstrahl alles in Farbe erscheinen ließ. Frühmorgens strahlte die ganze Insel dann so unverbraucht und zart wie sonst nie. Mit dem ersten Licht streckten die belaubten Bäume ihre Äste zu ihren jahrhundertealten Nachbarinnen und Nachbarn hin, um sie zu begrüßen. Die Bogenlampen an der Landstraße nickten dazu im Wind. Alle gehörten zueinander und bewegten sich nach einer geheimen Choreographie, die nur sie selbst kannten.

Sandra blickte auf die Nordsee, über der jetzt die ersten Sterne leuchteten. Sie zog ihr Diktiergerät aus der Jacke und hielt es vor den Mund. «Alle gehören zueinander …», hauchte sie den Satz, der ihr gerade durch den Kopf gegangen war, ins eingebaute Mikro.

«Lass alles stehen und liegen, Sandra!» Eine ruppige Männerstimme riss sie aus ihren Träumen. Sie drehte sich um. Hinnerk, der schlaksige Kellner der Fähre, eilte auf sie zu. Nach der Ruhe auf dem Achterdeck war das ein heftiger Wechsel.

«Was ist?», fragte sie immer noch leicht abwesend.

«Ich brauch deine Hilfe!», rief er. «Carla und Birte sind ausgefallen, ich bin alleine im Restaurant.»

«Oje», murmelte sie.

«Du musst einspringen.»

Einerseits tat ihr der Kollege leid, und sie wollte ihn nicht hängenlassen. Andererseits konnte sie ihm doch gar nicht helfen!

«Wie das?»

«Weg mit den Arbeitsklamotten.»

«Soll ich in Unterwäsche servieren, oder was?»

«Sehr witzig. Hol deine normale Kleidung. Bitte.»

Wie kam sie da nur raus?

Für den Gastrobereich war sie wirklich nicht geschaffen. Wenn sie volle Tabletts durch die schmalen Gänge zwischen den Tischen balancierte, würde es einen Totalschaden nach dem anderen geben. Und wie bitte sehr sollte das Kassieren funktionieren? Darauf gab es nur eine Antwort: gar nicht!

«Bitte, Hinnerk, ich kann das nicht!»

Er ging gar nicht darauf ein, sondern zeigte ihr ein handyähnliches Gerät. «Du tippst die bestellten Getränke und Speisen einfach hier ein, dann geht das per Funk sofort in die Küche.»

Genau so was in der Art hatte sie befürchtet. «Vergiss es. Ich habe meine Brille vergessen, ich sehe nur Schatten.»

Hinnerk verzog das Gesicht. «Und wie bekommst du dann das Putzen hin?»

«Da krieche ich immer ganz nah ran.»

«Dann machst du das im Restaurant eben genauso.»

Sandra stemmte die Arme in die Hüften. «Ich kann den Gästen doch nicht so dicht auf die Pelle rücken, dass sich unsere Nasen berühren.»

«Wir haben keine Zeit, also los!»

Wie heißt das Zauberwort, Kollege? Sie hatte einfach nicht die Kraft, sich zu widersetzen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen eilte sie in den stickigen, fensterlosen Umkleideraum unter Deck, zog sich die Arbeitsjacke und die grobe Hose aus. Dann schlüpfte sie in ihr türkisfarbenes Sommerkleid, das sie kürzlich in einer Edel-Boutique auf der Insel billig geschossen hatte. Blöderweise war ihre Steckfrisur mit den drei langen Holzstäbchen nicht fürs schnelle Umziehen gemacht, sie blieben mehrmals im Kleid hängen. Aber verzichtet hätte sie nie auf die Stäbe, schließlich waren sie ihr Markenzeichen. Beim Putzen nicht besonders praktisch, aber das war ihr egal.

Als sie fertig war, schaute sie nicht unzufrieden in den kleinen Spiegel im Spind. Ihre braun gebrannten Arme und Beine kamen in dem ärmellosen Kleid ganz gut zur Geltung. Wie eine Kellnerin wirkte sie allerdings nicht gerade. Sie sah eher aus, als ginge es zu einer Party in einem Golfclub. Besser zu viel als wenig, dachte sie.

Als sie ins Restaurant kam, steckte Hinnerk ihr eine Anstecknadel mit dem Emblem der Reederei ans Kleid. Ihn kümmerte es nicht, dass sie reichlich overdressed war, er nahm es anscheinend gar nicht wahr. «Komm jetzt bitte!», rief er mit angespannter Miene.

Sandra sah sich um und schluckte. Der Restaurantbereich des Schiffes war mit modernen Sitzecken ausgestattet, durch die Mitte des Raumes zog sich ein langer Tresen mit Barhockern auf beiden Seiten. Die letzte Fähre war immer besonders voll, sie wurde «der Lumpensammler» genannt, danach fuhr nichts mehr.

Sie hatte weit über hundert Gäste zu bedienen. Da sie mit dem Bongerät nicht zurechtkäme, würde sie sich eben sämtliche Bestellungen im Kopf merken müssen. Sie gab sich einen Ruck und steuerte den erstbesten Tisch an, irgendwo musste sie ja anfangen. Dort saßen zwei Insulaner, die sie kannte: der lange, dürre Hauke vom Edeka-Markt und der runde Kalle vom Bonbonladen, beide in ihrem Alter. Die würde sie sich gut merken können.

«Was kann ich für euch tun, Jungs?»

«Moin, Sandra! Kommst du nach Feierabend noch mit zum Autoscooter?» Hauke blickte sie auffordernd an.

Ausgerechnet, dachte sie. Der Autoscooter wäre für sie Maximalstrafe gewesen. Sandra warf einen Blick durchs Fenster. Über der Inselhauptstadt zuckten rote, blaue und gelbe Blitze durch die Dunkelheit. Heute begann der Hafen-Jahrmarkt: ein Albtraum!

«Ich verschwende mein Geld lieber anderswo», antwortete sie und beugte sich zu ihm. «Bierchen?»

Kalle nickte. «Und ’n Lütten dazu, für uns beide.»

«Geht klar.»

Sie eilte weiter. «Und was braucht ihr?», fragte sie schwungvoll in eine Runde mit drei Paaren, die an einem langen Tisch saßen. Das «Ihrzen» kam immer gut an, es wirkte auf die Feriengäste bodenständig und irgendwie insulanerisch.

Um die Übersicht zu behalten, baute Sandra sich Eselsbrücken. Eine war die Krimi-Schiene: An Tisch eins saßen die Gangster, am zweiten die Opfer, an Tisch drei die Zivilfahnder, am vierten die Staatsanwälte, am fünften die Richter, am sechsten die Zeugen, am siebten die Verteidiger. Was natürlich keiner von den Gästen je erfahren würde.

Auf der anderen Seite des Restaurants platzierte sie Musiker: Saxophonisten, Pianisten, Drummer, Sänger, Manager, Groupies usw. So konnte sie Tischnummern und Bestellungen leichter zuordnen. Pommes mit Mayo für die Staatsanwälte, Tee und Kiba für die Pianisten, aber ohne Eis für die Verteidiger. Am Richtertisch nahm sie eine Tomatensuppe mit Tabasco, ein Krabbenbrötchen, Currywurst-Pommes mit Mayo, ein Käsebrot, zwei Matjes und ein Stück Käsekuchen auf, dazu kamen die Getränke. Und das im Kopf, mal siebzig weitere Bestellungen, immer mit der entsprechenden Tischnummer. Um keinen Verdacht zu erregen, nahm sie einen Kugelschreiber in die Hand und tat so, als machte sie sich auf einem Block Notizen.

Hinterm Tresen leierte sie Hinnerk die Bestellungen runter, praktisch ohne Luft zu holen. Im Auswendiglernen war sie eine Meisterin, das trainierte sie jeden Tag. Trotzdem blieb der ungewohnte Job im Schiffsrestaurant eine Herausforderung. Denn zum Bestellen kam ja noch das Jonglieren mit den Gläsern auf dem riesigen Tablett, und das bei leichtem Seegang! Wobei sie schnell feststellte, dass die leeren Gläser das höhere Risiko darstellten.

Erstaunlicherweise ging nichts schief, alle Gäste bekamen genau das, was sie bestellt hatten, inklusive Sonderwünsche. Bis auf den Richter mit dem Tabasco, der behauptete, er hätte Maggi-Soße geordert, was nicht stimmen konnte, weil sie Maggi gar nicht an Bord hatten. Aber auch ihm gegenüber blieb sie charmant und freundlich.

Zwischendurch packte sie auch noch in der Küche mit an, füllte Gläser mit Getränken, belegte Brötchen, schaute nach den Pommes. Hinnerk tippte ihre mündlichen Bestellungen ein und ging später rum, um abzukassieren.

Es war eigentlich nicht zu schaffen, aber irgendwie klappte es doch.

 

Als die Passagiere im Inselhafen von Bord gingen, waren Hinnerk und sie schweißüberströmt – und mächtig stolz. Das Trinkgeld war auch nicht zu verachten, Hinnerk teilte es mit ihr.

«Super gemacht, Sandra», lobte er. «Willst du nicht für immer in den Service wechseln?»

«Nee, danke.»

«Bei uns kriegst du mehr als beim Putzen.»

Sie hob abwehrend die Hände. «Ich bleibe lieber da, wo ich bin.»

«Das soll mal einer verstehen.»

Sandra zuckte mit den Achseln. Sie hatte ihre Gründe, aber die gingen ihn wirklich nichts an.

«Komm, zur Feier des Tages nehmen wir noch einen Absacker im Hofbräu-Zelt», schlug er vor.

Sie auf dem Jahrmarkt? – Undenkbar!

«Danke, ich bin total kaputt.»

«Aber einer geht immer.»

«Heute nicht. Dir einen schönen Feierabend.»

Er würde im Zelt genug Kumpel treffen, mit denen er feiern konnte. Für viele Insulaner war der Jahrmarkt die fünfte Jahreszeit, einige nahmen sich sogar extra Urlaub, um jeden Tag dabei zu sein.

Vor den reetgedeckten Fischerhäusern im Hafen flackerten die Bonbonfarben der Fahrgeschäfte, beschallt von den wummernden Bässen aus den Lautsprechern. Jedes Fahrgeschäft spielte etwas anderes, was zusammengenommen einen irrsinnigen Lärm ergab. Sogar in ihrer Wohnung, die ein paar Kilometer entfernt lag, war er noch zu hören.

Nicht einmal unter Androhung von Gewalt hätte man Sandra in die Fahrgeschäfte zerren können. Der Jahrmarkt fühlte sich für sie an wie eine Belagerung. Was sehr persönliche Gründe hatte, von denen niemand auf der Insel etwas ahnte. Und das sollte bitte auch so bleiben.

2.

Sandra lebte in einer reetgedeckten Acht-Zimmer-Villa direkt hinterm Südstrand. Die Außenwände waren weiß, große Fenster zeigten zum Meer. Der perfekt gestutzte Rasen des Gartens ging über in einen feinkörnigen Strand, dahinter breitete sich bis zum Horizont die Nordsee aus. Über das Wasser spannte sich ein riesiger Himmel, der jeden Tag vom Wetter neu beschrieben wurde. Schöner konnte man auf dieser Welt nicht wohnen.

Okay, das Anwesen gehörte nicht ihr, sie hatte nur eine kleine Einliegerwohnung im Souterrain der Villa gemietet. In der sie sich aber derartig wohl fühlte, dass sie nie wieder von dort wegziehen wollte. Besitzer des Hauses war Meinhard Gerke, ein Buchverleger aus Hamburg. Ihre Miete war gering, weil sie auf das Haus aufpasste, wenn Herr Gerke nicht da war, und es regelmäßig putzte.

Als Sandra am nächsten Morgen gegen acht in ihrem kleinen Zimmer aufwachte, war alles gelb gefärbt: Der winzige Schreibtisch mit den Bilderbüchern, die beiden Stühle, die Couch, die Tür nach hinten, das Bild vom Wattenmeer, das sie selbst gemalt hatte, der Teppich. Die Wände hatte sie mit bunten Tüchern dekoriert. Das Bad mit Dusche entsprach von der Größe her dem eines Campingmobils, weiter hinten gab es noch eine winzige Küche samt Herd mit zwei Kochplatten. Das Wichtigste in der Wohnung war jedoch ihre Hörbuchsammlung mit Hunderten CDs. Kurz: Hier hatte alles Platz, was sie zum Leben brauchte.

Genüsslich machte sie sich unter der körperwarmen Decke lang und blickte zum Fenster: Wenn die Gardinen so leuchteten wie gerade, erwartete sie draußen ein praller Sonnentag. Sie würde auf einen sattgrünen Rasen sehen, der am Strand endete. Dahinter würde das Meer unter einem azurblauen Himmel mit Schönwetterwolken schillern.

Sie stand auf und zog den Vorhang beiseite. Es sah sogar noch schöner aus als erwartet. Das Rasengrün war kräftiger, das Leuchten des Himmels und des Meeres noch intensiver. Die Farbe des Strandes wechselte in der Sonne je nach Jahres- und Tageszeit, meistens von Gelb bis Ocker, heute war er fast weiß. Links vor ihr lag eine unbewohnte Insel, über der unzählige Vögel kreisten.

Sandra zog ihren karminroten Badeanzug an und huschte durch die Terrassentür nach draußen. Der Garten hinter der Villa war penibel gepflegt, die Grashalme standen exakt auf einer Höhe, sie sahen aus, als kämen sie frisch vom Friseur. Der Rasen fühlte sich weich unter ihren Füßen an, der Strand, den sie kurze Zeit später erreichte, war bereits von der Morgensonne aufgewärmt. Gerade lief die Flut auf. Das tägliche Bad in der Nordsee gehörte von Mai bis Ende September zu ihrem festen Morgenritual, und das bei jedem Wetter. Einen Moment lang blieb sie an der Wasserkante stehen und atmete tief ein. Die Mischung aus Meersalz und frischer Luft ließ sie richtig wach werden. Schritt für Schritt trat sie ins Wasser. Als sie bis zu den Hüften drin war, stürzte sie sich kopfüber hinein.

Im ersten Moment durchfuhr sie ein kalter Schauer, der sich vom Rücken bis zu den Unterschenkeln zog. So schnell wie möglich kraulte sie hinaus, drehte sich auf den Rücken und schaufelte mit den Beinen Wasser nach oben. Die durchsichtigen Tropfen, die um sie herum spritzten, glitzerten in der Sonne wie Edelsteine.

Jetzt war ihr warm, und sie ließ sich mit geschlossenen Augen auf dem Rücken treiben. In diesem Moment fühlte sie sich eher wie ein Fisch als wie ein Mensch.

Als sie wieder am Strand war, schüttelte sie sich das Wasser aus den Haaren und eilte zum Haus zurück. Auf der Terrasse saß bereits ihr Vermieter an seinem riesigen Mahagonitisch unter der Markise und frühstückte. Der Mann mit dem kahl rasierten Schädel war Mitte sechzig und trug wie fast immer eine helle Hose und ein weißes Hemd mit dunkelgrünem Seide-Einstecktuch. Seine nackten Füße steckte er am liebsten in Slipper aus Schlangenlederimitat, auch im Winter. Beim Lesen setzte er eine große schwarze Brille auf, über die er heute ein paar altmodische Sonnenclips gesteckt hatte. Sandra wusste immer noch nicht so recht, wie sie seinen Look finden sollte: Einerseits war er sehr eitel und hielt sich für mindestens zwanzig Jahre jünger, als er war. Andererseits tat er einiges für sein Aussehen und ließ sich nicht hängen, das gefiel ihr.

«Moin, Frau Malien!», grüßte Gerke.

«Moin.» Sie ging weiter zu ihrer Wohnung.

«Hätten Sie vielleicht einen Moment?»

Sie stutzte. Sonst begegneten sie sich freundlich, hatten aber nie viel zu reden. Sie hatte vor zwei Tagen, als Gerke in Hamburg war, das Haus durchgeputzt. Es war alles in Ordnung. Was wollte er jetzt Dringendes von ihr?

«Ich ziehe mich eben um und komme dann», rief sie.

In ihrem Zimmer schloss sie die Vorhänge, duschte sich kurz ab und zog sich ein luftiges Strandkleid an. Mit nassen Haaren ging sie wieder raus und setzte sich zu Gerke an den Tisch.

«Herrlich heute, nicht wahr?», sagte sie.

«Allerdings», bestätigte er. «Wollen Sie einen Tee?»

Er war leidenschaftlicher Teetrinker. Es hätte sie nicht gewundert, wenn er in seinem Leben noch nie eine Tasse Kaffee probiert hätte.

«Gerne.»

Er beugte sich vor. «Folgendes: Wir bekommen hohen Besuch aus den USA. Stellen Sie sich vor, Jonathan Brown höchstpersönlich beehrt mich in meiner bescheidenen Hütte.»

«Bescheidene Hütte» war eine nette Untertreibung für seine Zweihundert-Quadratmeter-Villa. Sandra sah ihn unbeeindruckt an.

«Sagen Sie jetzt nicht, Sie wissen nicht, wer Jonathan Brown ist!», rief er.

«Nein», gab sie zu.

«Er ist einer der berühmtesten Schriftsteller unserer Zeit. Ein Weltautor! Und ich habe es geschafft, dass seine deutschen Übersetzungen alle in meinem Verlag erscheinen.»

Wenn dieser Brown tatsächlich eine derart große Nummer war, hätten ihn bestimmt auch andere Verleger gerne genommen. Der harmlos wirkende Gerke war vielleicht gerissener, als sie dachte.

Er nahm einen Schluck Tee, bevor er weiterredete. «Brown will seinen neuen Roman hier in meinem Haus schreiben. Und natürlich werde ich ihm zu Ehren eine große Party geben, mit Presse und allem Pipapo. Sogar amerikanische Journalisten werden seinetwegen auf die Insel kommen.»

«Also großer Viehauftrieb.»

«Kann man so sagen.»

«Herzlichen Glückwunsch.»

Gerke warf einen melancholischen Blick in Richtung Himmel. «Nur hat Brown leider eine leichte bis mittelschwere Macke. Er lebt in Maine an einem wilden Naturstrand. Im Grunde seines Herzens verachtet er die Zivilisation.»

«Er hat dort kein fließend Wasser und keine Dusche?»

«So schlimm nun auch wieder nicht. Ich denke, auch er duscht warm.»

«Dann bin ich ja beruhigt.»

«Aber nun schauen Sie sich mal unseren Rasen an!»

«Sämtliche Halme sind wie immer exakt auf eine Länge getrimmt. Was ist das Problem?», sagte sie trocken.

«Nun ja, vielleicht könnten wir den Garten irgendwie wilder gestalten, sodass sich Brown wohl fühlt. Der reist sonst womöglich wieder ab, weil ihm der Rasen zu steril ist.»

«Wann will er denn kommen?»

«In vierzehn Tagen.»

«Oha.» Sandra überlegte. «Selbst wenn Sie den Rasen bis dahin nicht mähen, wird er nicht so schnell verwildern.»

Gerke kratzte sich am Kinn. «Wir können nur auf eine Sturmflut hoffen, die alles überspült.»

«Das passiert im Sommer alle hundert Jahre.»

«Leider.» Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. «Deswegen muss ich der Natur etwas nachhelfen.»

Sandra zog skeptisch die linke Augenbraue hoch. «Sie lassen die Flut drei Meter höher als normal steigen, damit hier alles unter Wasser steht? – Respekt, dafür müssen Sie Beziehungen nach ganz oben haben.»

«Schön wär’s. Nein, ich dachte, wir verteilen Büschel mit Seegras auf dem Rasen, legen eine große Boje drauf, die sich scheinbar losgerissen hat, dazu kommt etwas Plastikmüll, der die Verschmutzung des Meeres belegt. Das wird ihm gefallen. Vielleicht sollte man mit einem Bagger zusätzlich ein paar Kuhlen ausheben.»

Was für eine absurde Idee. Dieser Brown musste ein ganz Großer sein, wenn Gerke ihm zuliebe seinen geliebten Garten zu verunstalten bereit war.

Der Verleger lehnte sich zurück. «Wenn Brown seinen neuen Roman hier schreibt, wird mein Haus ein unvergesslicher Ort der Literaturgeschichte werden.»

Ah, darum ging es also: Unsterblichkeit.

«Gratulation.»

«Könnten Sie das mit dem Garten organisieren?»

«Aber dafür ist doch Eike zuständig, oder?» Eike Hansen, der Gärtner, pflegte den Garten wie seinen eigenen.

Gerke verzog das Gesicht. «Er würde mich töten, wenn ich ihn darum bitte. Herr Hansen hat diesen Garten über Jahrzehnte gehegt und gepflegt – nein. Sie sind die Einzige, die das bei ihm hinbekommen kann. Bitte, Frau Malien, lassen Sie mich nicht im Stich.»

«Ihr Plan ist absolut verrückt.»

«Nein, dieser Autor ist verrückt. Aber er ist auch genial.»

«Also gut, ich versuche es.»

«Tausend Dank.»

Irgendwie war sie es ihm schuldig. Außerdem konnte man nie wissen. Vielleicht würde später in den Geschichtsbüchern stehen, dass die literarisch komplett unbedeutende Putzfrau Sandra Malien durch ihre bloße Überredungskunst den größten Roman aller Zeiten ermöglicht hatte.

 

Sandra hatte noch drei Stunden Zeit, bis sie wieder zur Arbeit auf die Fähre musste. Sie zog sich ihren neuen gelben Bikini an, darüber ein weißes T-Shirt und eine kurze dunkelblaue Hose, dann setzte sie sich ein weißes Basecap und Sonnenbrille auf. In ihre Tasche im Fahrradkorb kamen eine Flasche Sonnenöl, ein Handtuch und ein Fünf-Euro-Schein. Mehr brauchte sie heute nicht, ihre Arbeitsklamotten befanden sich auf der Fähre im Umkleideraum.

Sie radelte durch die Inselhauptstadt, die einwohnermäßig eher ein großes Dorf war. Ursprünglich waren die winzigen Häuser überwiegend von Fischern bewohnt und mussten eher die Winterstürme überstehen, als dass sie als Hingucker fürs Auge gedacht waren. Nur die Walfänger hatten mit ihrem vielen Geld prächtige Villen bauen lassen. Als der Walfang Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ein Ende hatte, kamen die ersten Touristen, allen voran der dänische König, auf die Insel, und man baute die Hauptstadt zum Seebad aus. Bis heute fand man hier beides: schöne, alte Pensionen und Fischerhäuser in engen Gassen, die man mit vielen Blumen aufhübschte.

Als Sandra durch die Altstadt fuhr, musste sie an Gerkes Garten denken und kicherte in sich hinein. Wie kam man bloß auf eine solche Idee? Aber der große Verleger wollte halt noch bekannter werden, und dafür war ihm anscheinend jedes Opfer recht. Ohne sich besonders anzustrengen, gondelte sie durch das Wohnviertel mit den friesischen Straßennamen, Strunwai, Braseekrempswai und Süderstigh. Bald kam «Wiebkes Modestübchen» in Sicht, wo sie Stammkundin war. Sandra überlegte, ob sie kurz reinschauen sollte, aber das Wetter war einfach zu gut, um jetzt einen Laden zu betreten.

Sie radelte die Promenade hinunter, die Strände waren rappelvoll. In der Schach-Ecke mit den überdimensional großen Figuren spielten ein paar Rentner, die jüngeren Feriengäste tobten sich auf dem Beachvolleyballfeld aus, aber die meisten Urlauber genossen es einfach, faul in ihrem Strandkorb zu liegen und sich zu sonnen.

Seit fünf Jahren lebte Sandra nun auf der Insel, seit sie den Putzjob auf der Fähre angenommen hatte. Zuerst hatte sie in einer kleinen Pension gewohnt, bis sie an Bord der Fähre zufällig mit Gerke ins Gespräch gekommen war, der ihr prompt seine Einliegerwohnung für eine geringe Miete anbot, wenn sie dafür bei ihm putzte.

Auf der Insel war sie zur Ruhe gekommen, und das war ihr unendlich viel wert. Zugegeben, sonst war in den letzten fünf Jahren nichts Spektakuläres passiert, von ihrem Liebesleben mal ganz zu schweigen, das fand schlicht und einfach nicht statt. Einige Interessenten hatte es zwar gegeben, auch Hinnerk von der Fähre hatte es versucht. Aber sie ließ nichts zu. Dann wäre nämlich früher oder später aufgeflogen, weswegen sie hier war, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern. Aber konnte es ewig so weitergehen? Putzen – schwimmen – schlafen, putzen – schwimmen – schlafen. Sie musste realistisch bleiben, viele Möglichkeiten blieben ihr nicht, ihr Spielraum war eng.

Die Flut lief weiter auf. Sie stellte ihr Fahrrad vor der kleinen Inselbuchhandlung ab und streifte ihre Flip-Flops ab. Dann ging sie mit dem Handtuch unterm Arm über den Strand und zog sich Hose und T-Shirt aus. Vom Radfahren war ihr ganz warm geworden. Den Fünf-Euro-Schein legte sie unter ihr Handtuch, ohne dass sie sich Sorgen machte, dass er wegkam. Das war bisher noch nie passiert. Voller Euphorie sprang sie ins Wasser. Es war schon das zweite Bad an diesem Tag, wie herrlich! Sie lebte wirklich im Paradies.

Mit schnellen Zügen kraulte sie hinüber zur Sandbank, die ungefähr fünfzig Meter entfernt lag. Dort stellte sie sich auf den feuchten Sand. Die Sonne brutzelte auf sie herab, dazu wehte eine leichte Brise. Hier war sie ganz alleine und vollständig von Wasser umgeben. Sie holte tief Luft und schrie, so laut sie konnte, das Lied «Zombie» von den Cranberries Richtung Himmel. Sie liebte diesen Song, obwohl sie kein Wort verstand, sie konnte ja kein Englisch. Für sie waren das nur Laute, aber sie gefielen ihr: «Zombiee-iee-iee!»

Danach blieb sie noch eine Weile im Sand stehen und blickte hinüber zur Vogelinsel. Rechts lag der offene Ozean, verbunden mit der ganzen restlichen Erde. Über ihr kreisten zwei Austernfischer mit orangefarbenen Schnäbeln und stießen fröhliche Schreie aus.

Irgendwann schwamm sie zurück zum Strand. Dort trocknete sie sich ab, steckte den Schein ein und ging zu ihrem Fahrrad. Bei Greta, der Inhaberin der kleinen Inselbuchhandlung, hatte Sandra auch schon öfter mal geputzt, außerdem hatte sie damals bei der Eröffnung des Ladens Getränke ausgeschenkt. Der Wintergarten mit den neuen Büchern lag um diese Tageszeit voll im Sonnenlicht, weiter hinten im Haus befand sich das Antiquariat mit zigtausend alten Büchern.

Gerade wollte sie ihr Fahrrad Richtung Altstadt schieben, als sie ein Ruck durchfuhr. Tim, der Chef des Autoscooters vom Jahrmarkt, kam direkt auf sie zu, in Gummischlappen, kurzer Hose und mit verspiegelter Sonnenbrille. Er war braun gebrannt und trug seine blonden Haare etwas länger als beim letzten Mal.

Sandra hatte ihren Cousin lange nicht gesehen, ein paar Jahre waren es bestimmt. Sie hatte nichts gegen ihn, er war nett. Trotzdem wollte sie ihn jetzt nicht treffen. Sie musste verschwinden, bevor er sie erkannte.

3.

Die Tür zum Wintergarten der kleinen Inselbuchhandlung stand offen, Sandra huschte hinein. Neben der Kasse übten Buchhändlerin Greta und ihr Freund Florian gerade ein paar Tangoschritte, ohne Musik. Ihre Körper wirkten wie verschmolzen, sie waren ein schönes Paar. Und schienen immer noch verliebt wie am ersten Tag.

Florian und Greta kannten sich seit etwa einem Jahr. Er war vorher Pilot bei der Lufthansa gewesen, nun versorgte er die Inseln mit seinem kleinen Wasserflugzeug als Kurier. Das Haus hatte früher einmal Gretas Tante Hille gehört, sie hatte es ihrer Nichte überlassen, damit diese eine Buchhandlung in den Räumen eröffnen konnte. Neuerdings wohnte Tante Hille mitten in der Marsch. Zurzeit machte sie mit ihrer Freundin Karen eine Traumreise durch Patagonien.

«Moin, Sandra», grüßte Greta lächelnd und löste sich von Florian.

«Wie geht es dir?», fragte Florian, wie immer braun gebrannt. Sein Job als Inselflieger ließ ihm genug Zeit zum Surfen.

«Danke, mir geht’s gut», sagte Sandra.

«Kann ich was für dich tun?», erkundigte sich Greta.

«Nee, ich guck nur mal.»

Gerade wollte sie sich dem ersten Bücherregal zuwenden, da entdeckte sie erneut ihren Cousin. Über die Promenade kam er auf die Buchhandlung zu. Musste der denn überall auftauchen, wo sie war? Ihm würde doch wohl nicht in den Sinn kommen, hier reinzukommen und ein Buch zu kaufen? Sie überlegte kurz, ob er ein Büchermensch gewesen war. Doch, eine Zeitlang hatte er Massen an Fantasy und Krimis verschlungen, aber das war lange her.

Tim blieb kurz vorm Wintergarten stehen und wandte sich dann Richtung Eingangstür. So schnell sie konnte, lief sie nach hinten ins Antiquariat, genannt «der Büchertempel». Falls Tim hereinkäme, würden ihr die hohen Regale Deckung bieten. Zum Glück konnte er nicht ahnen, dass sie hier war, das war ihr Vorteil. Barfuß schlich sie über die Orientteppiche, die sich weich unter den Fußsohlen anfühlten. Vom Putzen kannte sie jeden Meter hier. Tante Hille und ihr Vater hatten im Lauf von Jahrzehnten eine unglaubliche Menge an Büchern angesammelt. Die Wälzer dämpften sämtliche Geräusche, sie fühlte sich beschützt. Von Anfang an war der Büchertempel ein magischer Ort für Sandra gewesen. Irgendeine besondere Energie ging von den Bänden in den schattigen Räumen aus, und das hatte bis heute nicht nachgelassen.

Sie hielt kurz inne. Weiter hinten im Raum hörte sie einen Mann mit einer wunderschönen sonoren Stimme sprechen. Sie kam aus der Sitzecke mit den wuchtigen Ledersesseln, die vor den beiden großen Bullaugenfenstern standen.

Sandra schlich sich näher heran. Nun konnte sie ihn genauer verstehen. Anscheinend las er gerade etwas vor.

 

Ein lauter Knall unterbrach den Pastor und ließ die Gemeinde zusammenfahren. Alle drehten sich erschrocken um: Der Wind hatte die Tür aufgeschlagen. Sofort brauste der Sturm wie ein unheimlicher Gast in die Kirche und blies einen Großteil der Kerzen auf dem Altar aus …

 

Sandra lehnte den Kopf gegen die Längsstreben eines Regals, schloss die Augen und hörte zu. In dem Text, den der Mann vorlas, gab es beeindruckende Naturbeschreibungen. Sie sah alles plastisch vor sich, die Kirche in Nordfriesland, die mystische Atmosphäre im Orkan. Auch von dem unbekannten Vorleser hatte sie ein klares Bild, ein sportlicher Mann mit lebhaften Augen, dichtem Haar und schlanken Handgelenken.

Irgendwann öffnete sie die Augen wieder und schaute sich um, aber es war niemand zu sehen. Aus der Sitzecke meldeten sich jetzt andere Stimmen zu Wort. Sandra erkannte Polizistin Ellen, deren Freund Jan, den Krabbenfischer, sowie Andrea aus Dr. Sörensens Arztpraxis.

Es gab kaum etwas, was Sandra mehr liebte als Geschichten. Sie hörte sie ausschließlich auf CDs. Das lag vor allem daran, dass es die günstig auf dem Flohmarkt gab, als Putzfrau verdiente sie eben keine Millionen. Oft ging sie mit ihrem Discman ins Watt und hörte sich «Vom Winde verweht» an. Die meisten Hörbuchsprecher waren echte Könner und zogen sie mit Haut und Haaren in ihre Geschichte hinein. Von Krimi bis Frauenroman hörte sie alles, was ihr in die Finger kam. Das Buch, aus dem der Mann eben vorgelesen hatte, kannte sie allerdings nicht, wahrscheinlich war es noch nicht als Hörbuch erschienen.

Jetzt diskutierten die Teilnehmer über die Atmosphäre in der Kirche und den Pastor in der Geschichte. Sandra hatte nach dem, was sie gehört hatte, allerdings den Eindruck, dass sie etwas Wichtiges übersahen. Sie schaute sich noch einmal um, ob Tim in der Nähe war, dann bog sie um die Regalecke.

In den Ledersesseln unter den Bullaugenfenstern saßen, wie erwartet, Polizistin Ellen in Jeans und weißer Bluse, Krabbenfischer Jan in Latzhose und Andrea im Frottékleid, neben ihnen ein unbekannter Mann in schwarzer Jeans und T-Shirt. Meistens lagen Stimme und Aussehen ja weit voneinander entfernt. Dieser Mann jedoch sah fast genauso aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war in ihrem Alter, in seinem braunen Haar blitzten ein paar graue Strähnen auf, seine blauen Augen leuchteten, er hatte eine sportliche Figur. Irgendwo auf der Insel hatte sie ihn schon einmal gesehen, aber sie konnte sich nicht erinnern, wo.

Neben ihm saß eine Frau, die ihr noch nie begegnet war. Sie hatte sich eine große Sonnenbrille ins blonde Haar gesteckt und war mit Sicherheit ein Feriengast: teuer gekleidet, Hose, Bluse und Schuhe waren modisch auf dem allerneusten Stand. Alles durchaus geschmackvoll, aber für die Insel etwas overdressed.

«Moin», grüßte Sandra leise in die Runde.

Alle Augen richteten sich neugierig auf sie.

«Moin, Sandra», rief Ellen. «Wo kommst du denn her?»

«Ich habe nur ein bisschen im Laden gestöbert.» Was sollte sie sonst auch sagen?

«Willst du vielleicht bei uns mitmachen?»

«Wobei denn genau?»

«Wir lesen uns gegenseitig Bücher vor und sprechen darüber.»

«Klingt gut.» Sie setzte sich auf einen freien Klappstuhl, denn zurück in den Wintergarten wollte sie jetzt auf keinen Fall. Sie wusste ja nicht, ob Tim wirklich weg war.

«Ich habe eben etwas zugehört.»

«Und was sagst du?», erkundigte sich Jan.

Sandra hatte noch nie mit jemandem über die Geschichten geredet, die sie im Lauf der Jahre gehört hatte, es geisterten Tausende in ihrem Kopf herum. «Also, meiner Meinung nach ist die eigentliche Hauptfigur in diesem Buch die Landschaft. Es gab sie, bevor alle Menschen da waren, und es wird sie noch geben, wenn sie gestorben sind. Deswegen ist sie ungeheuer wichtig. Und das will der Autor zum Ausdruck bringen.»

«Interessanter Gedanke», bemerkte der unbekannte Mann. Sandra schaute ihn genauer an. Er setzte sich jetzt eine Brille auf, die ihm sehr gut stand. Dann blickte sie auf die unbekannte Blonde neben ihm, die aber nicht zu ihm gehörte, das spürte sie. Sandra fiel auf, dass sie außergewöhnlich große, braune Augen hatte. Sie konnte wirklich noch nicht lange auf der Insel sein, denn sie sah so blass aus wie alle Feriengäste, die gerade frisch vom Büro an die Nordsee gekommen waren.

«Was ist das für ein Roman?», fragte Sandra.

«‹Deichmörder› von Hendrik Berg, ein friesischer Krimi», antwortete die Frau. «Du liest viel, oder?»

Sandra nestelte an ihren Stäben im Haar herum: Meinte sie das ironisch? Hatte sie etwas Falsches gesagt? Ihr wurde ganz heiß.

«Wieso?», murmelte sie.

«Es hört sich so an.»

«Na ja, ich lese gerne, aber ‹viel› ist übertrieben.»

Die Frau reichte das Buch an Sandra weiter. «Magst du vielleicht weiterlesen?»

Sandra schluckte. «Sorry, ich habe meine Brille nicht dabei.»

«Kein Problem, dann mache ich einfach weiter», erklärte der Mann. «Ich bin übrigens Björn.»

«Sandra.»

«Und ich heiße Franziska», sagte die blasse Schicki-Frau.

Björns Stimme war tief, er las so genussvoll, dass sofort Bilder in ihrem Kopf entstanden – Bilder, die weit über die Geschichte hinausgingen. Sie sah sich mit Björn im Wohnzimmer, er legte ein paar Holzscheite im Kamin nach, dann setzte er sich neben sie auf die Couch und nahm sie in den Arm.

Was für ein Quatsch! Sandra befahl diesem kitschigen Gedanken, sich augenblicklich aus ihrem Kopf zurückzuziehen – ab auf die Fähre und zurück aufs Festland! Zusätzlich sicherte Ellen im Polizeiwagen den Kai und kontrollierte, dass er nicht wiederkam. Manchmal klappte so etwas. Aber in diesem Moment konnte sie ihre Phantasie einfach nicht stoppen, sie träumte weiter. Und warum auch nicht, es erfuhr ja keiner.

Jetzt übernahm Ellen das Buch. Sonst trat sie immer sehr entschieden auf, man kannte von ihr barsche Ansagen wie: «Hier können Sie nicht parken!» Oder: «Runter vom Rad, das ist ein Gehweg!» Aber jetzt, beim Vorlesen, war sie ganz zart und leise.

Als Nächstes war ihr Freund Jan an der Reihe. Der Krabbenfischer las in seinem friesisch gefärbten Slang, was einen natürlichen, herben Charme besaß, der perfekt zu der Geschichte im Wattenmeer passte.

Arzthelferin Andrea hauchte den nächsten Abschnitt, als sei er eine Liebeserklärung. Im Gegensatz zu ihr ging es Franziska sachlich an: In diesem Tonfall hätte sie Nachrichten im Radio verkünden können.

Thema im anschließenden Gespräch wurden dann tatsächlich die Naturbeschreibungen in dem Buch, die alle sehr beeindruckend fanden. Ellen erinnerte an den Winter auf der Insel, wenn die Strände leer waren, das Meer laut brüllte und man nach langen Spaziergängen im Sturm die Wärme im Haus genoss. Das konnte Sandra gut nachvollziehen, wenngleich der Winter noch weit weg war. Ihre Wohnung wurde ihr in der kalten Jahreszeit manchmal zu klein, dann verzog sie sich nach oben in die Villa, weil Gerke in dieser Jahreszeit selten da war. Sie warf den Kamin an und schaute stundenlang ins Feuer, worauf sie sich jetzt schon ein bisschen freute. Das war anders als der Sommer, hatte aber auch was.

«Den Sommer können die meisten Autoren nicht so gut beschreiben», fand Sandra.

«Wie meinst du das?», fragte Franziska.

«Weil der Sommer etwas Eintöniges hat. Im Herbst und Winter aber weißt du nie, wie das Wetter wird. Sonne? Regen? Nebel? Schnee? Da kannst du aus der Kälte in die Wärme kommen und umgekehrt. So ein Wetter finde ich in Büchern immer spannend.»

«Sommer ist aber auch schön», fand Andrea.

«Ja, aber es ist viel schwieriger, einen Hochsommertag mit blauem Himmel zu beschreiben. Denn da passiert mit dem Wetter nicht viel, ich meine so, dass es die Leser echt packt.»

«Gutes Wetter ist öde?», fragte Björn lächelnd. Sein Blick traf Sandras.

«Nur im Roman», antwortete sie und lächelte zurück. «Und das auch nur, wenn er nicht auf unserer Insel spielt. Hier sorgt der Wind auch im Sommer jede Minute für Veränderung.»

«Denke ich auch.»

«Was wollen wir nächstes Mal lesen?», fragte Ellen in die Runde.

«Horror!», schlug Andrea vor und strahlte. «Ich habe hier einen Roman, der auf einer Insel in Schottland spielt. Bei Ebbe kommen Menschenfresser übers Watt. Die verschlingen erst die Haustiere, aber von denen werden sie nicht satt, und deswegen machen sie sich dann als Nächstes an die …»

«Mann, Andrea», stöhnte Ellen. «Wer denkt sich bloß so was Krankes aus?»

Auch die anderen sahen Andrea entsetzt an. Die verstand gar nicht, wo das Problem lag. «Deine Krimis sind mindestens genauso grausam, Ellen!», gab sie zu bedenken. «In der Gerichtsmedizin zum Beispiel …»

«Jaja, aber das ist etwas ganz anderes.»

Andrea zog eine Kladde heraus. «Sehe ich das richtig? Horror ist abgelehnt? Bei einer heftigen Gegenstimme von mir?»

Alle nickten. Andrea schrieb etwas in das Heft.

«Notierst du das etwa?», fragte Sandra erstaunt.

Andrea setzte ein ernstes Gesicht auf. «Ich mache hier die Protokollführerin.»

Die was?

«Andrea wollte schon immer mal irgendwo Protokoll schreiben», erklärte Ellen und zwinkerte Sandra unmerklich zu. «Also macht sie es jetzt bei uns im Lesekreis.»

«Sonst noch jemand einen Vorschlag?», fragte Ellen.

«Wie wäre es mit dem guten alten ‹Schimmelreiter› von Storm?», fragte Björn.

«Den lieben wir Friesen natürlich besonders», meinte Andrea. «Aber ich kenne ihn fast auswendig.»

«Wenn man ihn nach Jahren mal wieder liest, entdeckt man immer noch etwas Neues», versprach Björn. «Außerdem habe ich die Geschichte noch nie mit euren Stimmen gehört.»

«Also doch Horror!», sagte Andrea und blickte in die Runde.

«Wieso?»

«Im ‹Schimmelreiter› soll doch etwas Lebendiges in den Deich, oder?»

«Wir sollten uns eine andere Hausaufgabe stellen», schlug Ellen vor.

«Was könnte das sein?», fragte Björn.