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Eine Insel liest In seinem atmosphärischen Sommer-Roman schickt Literatur-Spiegel-Bestsellerautor Janne Mommsen Greta Wohlert auf eine kleine Nordseeinsel, wo ihre Tante ein Haus am Strand hat. Die Stewardess hat sich ein paar Tage Auszeit vom stressigen Job genommen. Doch auf der Insel angekommen, muss Greta erst einmal Tante Hille beim Entrümpeln ihres ehemaligen Ladens helfen. In den staubigen Regalen entdeckt Greta unzählige Bücher. Fasziniert von dem Fund, veranstaltet sie einen Flohmarkt. Der Verkauf der Bücher macht Greta so viel Spaß, dass sie eine Idee hat: Wie wäre es, einfach hierzubleiben und eine Inselbuchhandlung zu eröffnen? Ermutigt wird sie dabei von Claas, dem attraktiven Pensionsbesitzer der Insel. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse: Jemand möchte Greta von der Insel vertreiben, eine geheimnisvolle Liebeswidmung in einem alten Buch gibt ihr viele Rätsel auf. Und zu allem Überfluss steht eines Tages Gretas Daueraffäre aus Frankfurt vor der Tür. Er möchte eine zweite Chance.
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Seitenzahl: 341
Janne Mommsen
Roman
Eine Insel liest
In seinem atmosphärischen Sommer-Roman schickt Literatur-Spiegel-Bestsellerautor Janne Mommsen Greta Wohlert auf eine kleine Nordseeinsel, wo ihre Tante ein Haus am Strand hat. Die Stewardess hat sich ein paar Tage Auszeit vom stressigen Job genommen. Doch auf der Insel angekommen, muss Greta erst einmal Tante Hille beim Entrümpeln ihres ehemaligen Ladens helfen. In den staubigen Regalen entdeckt Greta unzählige Bücher. Fasziniert von dem Fund, veranstaltet sie einen Flohmarkt. Der Verkauf der Bücher macht Greta so viel Spaß, dass sie eine Idee hat: Wie wäre es, einfach hierzubleiben und eine Inselbuchhandlung zu eröffnen? Ermutigt wird sie dabei von Claas, dem attraktiven Pensionsbesitzer der Insel.
Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse: Jemand möchte Greta von der Insel vertreiben, eine geheimnisvolle Liebeswidmung in einem alten Buch gibt ihr viele Rätsel auf. Und zu allem Überfluss steht eines Tages Gretas Daueraffäre aus Frankfurt vor der Tür. Er möchte eine zweite Chance.
Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Romane und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.
Gewidmet allen Buchhändlerinnen und Buchhändlern
Greta Wohlert schloss die Augen und setzte ihr freundliches Flugbegleiterinnen-Lächeln auf, das sie Tag und Nacht abrufen konnte. Dann griff sie zum Telefonhörer. «Herzlich willkommen an Bord unseres Lufthansa-Fluges nach Shanghai», ertönte ihre Stimme durch die Lautsprecher der Maschine. «Wir werden gleich starten. Bitte vergewissern Sie sich, dass großes und schweres Handgepäck sicher unter Ihrem Vordersitz verstaut ist.» Zum Glück sah sie in diesem Moment niemand, in ihrem Aufzug würde sie den Passagieren wohl Angst machen: Einige Strähnen ihrer blonden Haare hingen von der Stirn, die aufwendige Steckfrisur vom Morgen hatte nicht gehalten. Ihre dunkelblaue Uniformjacke mit dem Kranich-Emblem der Lufthansa und ihre weiße Bluse waren total zerknittert, die obligatorische Strumpfhose hatte sie ausgezogen, ebenso die hochhackigen Schuhe. Barfuß fühlte sich viel besser an.
Sie öffnete die Augen. Zum Glück hatte sie die Maschine bereits vor Stunden verlassen. Nun stand sie auf einem grünen Deich, der von der glühenden Abendsonne beschienen wurde. Vor ihr breitete sich das Meer bis zum Horizont aus, der Himmel war in roten und lila Pastelltönen marmoriert. Der erste Stern der kommenden Nacht leuchtete bereits auf sie herab.
Noch war sie nicht am Ziel. Das Paradies lag nur wenige Seemeilen von ihr entfernt: Auf der Insel gegenüber strahlten die weißen und roten Häuser in der Abendsonne, davor lag ein Streifen in kräftigem Ocker. Das war der Südstrand, an dem ihre Tante Hille wohnte, sie würde kommen und sie abholen.
Greta zog ihr Handy aus der Tasche, um Jana anzurufen. Natürlich wusste sie, dass eine Mutter, die sich ständig meldete, das Letzte war, wonach sich eine Neunzehnjährige sehnte. Sie wählte trotzdem ihre Nummer. Greta brauchte ihre Tochter gerade mehr als umgekehrt. Jana war vor einer Woche ausgezogen, um in Finnland Biochemie zu studieren. Auf der Mailbox meldete sich ihre Stimme auf Finnisch, was sich fremd anhörte. Ungeduldig wartete Greta den Pieps ab.
«Hier ist Mama», raunte sie. «Ich wollte dir nur sagen, ich stehe gerade am Fährhafen und fahre gleich rüber zu Tante Hille. Soll ich sie grüßen? Mach’s gut, meine Süße.»
Ein typischer, unsinniger Muttertext. Was sollte Jana damit anfangen, dass sie bald bei Tante Hille war? Greta hätte einfach nur gern ihre Stimme gehört, das hätte sie getröstet. Es gab ja so einen Kalenderspruch, dass man jeden Tag genießen solle. Dieser Tag gehörte bestimmt nicht dazu – es war einer der schlimmsten ihres Lebens.
Heute Morgen waren ihretwegen auf dem Frankfurter Flughafen Blaulicht und Martinshorn aufgefahren worden, und der Transkontinentalflug des Airbus A 380 musste verschoben werden. Peinlicher ging es kaum: Das größte Passagierflugzeug der Welt mit der modernsten Technik an Bord war an Flugbegleiterin Greta Wohlert gescheitert.
Vor dem Flug nach Shanghai waren sie und ihre Kolleginnen total ausgelassen gewesen, eine chinesische Flugbegleiterin hatte ihnen in der Bordküche ein paar Schimpfwörter in ihrer Sprache beigebracht – die sie natürlich alle falsch aussprachen, was deren abfällige Bedeutung noch einmal verschärfte. Anschließend hatte Greta das Catering kontrolliert, sämtliche bestellten Gerichte waren geliefert worden. Als die ersten Passagiere an Bord kamen, lagen sie mit den Vorbereitungen perfekt in der Zeit. Irgendwann schloss Greta die Kabinentür, und der Kapitän sagte über die Lautsprecher: «Ready.»
In diesem Moment war ihr schlecht geworden, und zwar so heftig, als hätte ihr jemand mit der Faust in den Magen gehauen. Ihr Bauch krampfte, das Herz raste. Als Ursache dafür hatte sie sofort den Fisch im Verdacht, den sie am Vortag am Frankfurter Römer gegessen hatte. Sie atmete so tief wie möglich ein und hielt den Hörer fest in der Hand, als sie die Fluggäste begrüßte: «Herzlich willkommen an Bord unseres Lufthansa-Fluges nach Shanghai», presste sie aus sich heraus. «Wir werden gleich starten.»
Sie brach ab und rang nach Luft. Alle Passagiere schauten irritiert in ihre Richtung, was den Stress noch erhöhte. Verzweifelt versuchte sie weiterhin, Luft zu holen, aber da kam nichts mehr! Ihre Knie wurden weich, sie glitt zu Boden. Ihre Kollegin Mia rief den Captain um Hilfe, der die Startvorbereitungen sofort abbrach und die Triebwerke der riesigen Maschine herunterfuhr. Eine andere Kollegin schob ihr behutsam ein Kissen unter den Kopf und legte eine Decke über sie. Dann hockte sie sich zu ihr und hielt ihr die Hand. Derartige Magenkrämpfe hatte sie noch nie in ihrem Leben gehabt, jeder Atemzug machte es schlimmer. Würde sie sterben?
Kurze Zeit später wurde die Kabinentür geöffnet, draußen flackerte Blaulicht von Feuerwehr und Krankenwagen – alles ihretwegen, was für ein Wahnsinn! Eine Hebebühne fuhr an den Airbus heran, zwei Sanitäter und ein junger Notarzt stürzten herein. Der Arzt hörte sie ab, prüfte Sauerstoffsättigung und Puls. «Hundertzwanzig im Ruhezustand, das ist entschieden zu viel», erklärte er besorgt. «Wir nehmen Sie mit.» Die Sanitäter legten sie auf eine Trage und brachten sie hinaus auf die Hebebühne, die man an den Airbus herangefahren hatte. Es tat gut, an der Luft zu sein, auch wenn es stark nach Kerosin roch.
Auf der Krankenstation des Flughafens beruhigte sich alles wieder, ihr Puls ging langsam herunter, sie atmete wieder normal. Die Ursache der Attacke blieb unklar, es konnte der Fisch gewesen sein, aber auch alles Mögliche andere. Der Arzt schlug ihr weitere Untersuchungen vor, doch darauf verzichtete sie. Sie lebte – bis auf kleine Sünden – einigermaßen gesund, was sollte da sein? Er schrieb sie für drei Tage krank und entließ sie dann.
Greta wusste, was ihr jetzt guttun würde. Sie begab sich auf direktem Weg zum Bahnhof unter dem Flughafen, zückte ihr Handy und rief Tante Hille an. Es tutete dreimal, dann kam ein rauchiges «Moin» aus dem Hörer. Allein wie sie dieses Wort aussprach, breit und kurz zugleich, klang so vertraut nach Meer, Sonne und Strand. Keine Stunde später saß Greta im nächsten Zug nach Hamburg, um von dort aus weiter zum Fährhafen zu fahren. Nur ein einziger Tag bei Tante Hille auf der Insel, und sie würde sich wieder auf null befinden. Übermorgen würde sie sich erneut bei der Lufthansa einklinken und den nächsten Linienflug nach Shanghai antreten, das hatte sie bereits mit der Zentrale vereinbart.
Als hätte jemand einen Zeitraffer angestellt, sank der glühende Sonnenball nun immer schneller ins Meer. Gretas Zehen spielten mit dem warmen, feinen Sand, der ihre Füße sanft massierte. Kaum zu glauben, dass sie sich noch heute Morgen in der abgeschlossenen Welt des Flughafens mit seinen spiegelglatten Böden bewegt hatte! Staubkörner wurden dort mehrmals am Tag mit großen Maschinen weggesaugt, die Luft wurde gefiltert, um im Hochsommer wie im frostigen Winter die gleiche Temperatur herzustellen. Seit über zwanzig Jahren begab sie sich in frisch gereinigter Uniform und makellosen Schuhen in diese künstliche Welt, um zu einer nahezu identischen Welt am anderen Ende des Erdballs zu gelangen, mit exakt derselben Temperatur, egal ob sie in der Sahara lag oder am Polarkreis.
Es war schwül geworden, am Himmel zogen noch mehr lila Wolken auf. Von gegenüber funkelten die Lichter der Insel in der Abenddämmerung zu ihr herüber. Der Ohlhörner Leuchtturm am Südstrand zwinkerte ihr zu, als wolle er sie persönlich einladen. Ihre Eltern, mittlerweile beide verstorben, stammten von hier und hatten lange hier gelebt, bevor sie kurz vor Gretas Geburt nach Frankfurt gezogen waren. Seit Gretas frühester Kindheit hatte die Familie jeden Urlaub hier verbracht. Für Greta war die Insel – gefühlt – mehr Heimat als Frankfurt, wo sie auch heute noch lebte. Das letzte Mal war sie vor drei Monaten hier gewesen. Morgen würde sie an die vertrauten Orte pilgern, in die Godelniederung, über die Dünen, und sie würde durch die flache Marsch wandern, wo sie der höchste Punkt in der Landschaft war.
Nachdem der Sonnenball verschwunden war, flackerte der Himmel am Horizont ein letztes Mal rot auf, dann wurde es schnell dunkel. Eine gute Dreiviertelstunde später hörte sie ein sattes Motorblubbern, das musste der Diesel von Tante Hilles altem Boot sein! Und tatsächlich, nach kurzer Zeit näherten sich die Positionslichter der «Ariadne 2» dem Kai. In der linken Hand hielt Tante Hille das große Ruder, mit der rechten winkte sie ihr lässig zu. Sie trug weiße Shorts und ein grünes T-Shirt mit einer maskierten Spider-Woman als Aufdruck: Die Comicfigur kletterte eine Wand empor und lächelte dabei verwegen.
Tante Hille hatte die siebzig bereits überschritten, besaß aber noch Energie für zwei. Greta liebte ihre große lange Nase und den Mund mit den rundlichen Lippen, das gehörte bei ihr so. Die roten Haare kannte Greta allerdings noch nicht, für ihren Geschmack waren sie ein bisschen zu rot. In ihrem großen offenen Holzboot wirkte die üppige Tante Hille beinahe etwas verloren, der weiß gestrichene Rumpf war zehn Meter lang und drei Meter breit. Das sogenannte «Börteboot» wurde normalerweise zum Ausbooten der Passagiere von ankernden Seebäderschiffen vor Helgoland eingesetzt und fasste bis zu fünfzig Menschen.
Vor dem Kai zog Tante Hille eine elegante Schleife und kam genau vor Greta zum Stehen. «Moin, mien Seuten», rief sie fröhlich, und ihre blauen Augen strahlten. «Schön, dass du da bist!»
Greta warf ihren Handkoffer an Bord und sprang hinterher. Auf den schwankenden Planken drückte ihre Tante sie erst einmal fest an ihren großen Busen. Greta roch das grasige Parfüm, das sie seit Jahren auftrug, und atmete auf. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren! Tante Hille war immer wie eine Mutter für sie gewesen, und das war nicht nur so dahergesagt: Gretas leibliche Mutter war verstorben, als sie ein Säugling war, Tante Hille war oft nach Frankfurt gekommen, um sie einzuhüten, oder sie waren bei ihr auf der Insel gewesen.
Sie beschloss, ihr erst einmal nichts von der Sache am Flughafen zu erzählen, sonst würde sie sich zu viele Sorgen machen.
Greta stellte sich neben ihre Tante, die das Ruder fest in der Hand hielt, und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen. Die Nordsee gluckste, gurgelte und produzierte feine Luftblasen am Rumpf. Vom offenen Meer zog ein leichter Nebel herüber, die Sicht wurde schlechter. Aber Tante Hille blieb unverändert auf volle Kraft voraus, sie fand den richtigen Kurs in der Dunkelheit auch ohne technische Geräte. Greta ließ ihre Hand an der Bordwand hinabgleiten, tauchte sie ins kühle Wasser und rieb sich dann damit die Stirn. Schon als kleines Mädchen war sie stolz darauf gewesen, eine Tante mit einem großen Motorboot zu haben. Sie unternahmen herrliche Ausflüge in die friesische Insel- und Halligwelt, Tante Hille erzählte ihr dabei spannende Geschichten von Piraten, die mit genau jenem Boot auf Kaperfahrt im Wattenmeer gegangen waren.
Normalerweise war Tante Hille ein Mensch, der die Dinge ruhig angehen ließ, sie bügelte ihre Wäsche sorgfältig und hasste Sport jeder Art, abgesehen von langsamem Radfahren und gemächlichem Brustschwimmen. Nur auf See lebte sie ihre Sehnsucht nach der wilden Spider-Woman aus. Sie fuhr immer viel zu schnell, was zu Dauerärger mit der Wasserschutzpolizei führte. Tante Hille hatte das auf Insulanerart geregelt: Kein Wasserschutzpolizist der Insel musste in ihrem Textilladen («Wetter- und Brautmoden Wohlert») jemals auch nur einen Cent für seefeste Kleidung bezahlen.
«Ich habe große Sorge, ob du dich bei uns entspannen kannst», rief Tante Hille gegen den Motorlärm und runzelte die Stirn. «In letzter Zeit ist es bei uns auf der Insel gefährlich geworden. Ich kann dir nur raten, die Augen aufzuhalten.»
«Wovon redest du? Raub, Mord, Diebstahl?», fragte Greta erstaunt. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass hier seit ihrem letzten Besuch plötzlich Zustände wie in Frankfurt oder New York herrschten.
«Amokläufer», raunte Tante Hille ihr zu.
Greta zuckte zusammen. «Davon stand bei uns gar nichts in der Zeitung.»
Tante Hille schaute ernst aufs Wasser. «Eine Kuh von Bauer Johannsen ist ausgebüxt und durch die halbe Stadt gerannt. Alle ihr hinterher, wie in dieser spanischen Stadt …»
«Pamplona?»
«Genau.» Sie grinste. «Wir haben den Touristen erzählt, dass wir das jedes Jahr so machen und dass die Spanier das von uns Friesen geklaut hätten.»
Beide lachten.
«Die Urlauber glauben alles, oder?», fragte Greta. Sie wusste auch, woran das lag: Wenn Friesen jemanden auf die Schippe nahmen, zeigten sie nicht die Andeutung eines Lächelns. Sie besaßen die Fähigkeit, das Lachen auf später zu verschieben.
«Und, was ist sonst so passiert?».
Tante Hille schaute sie verständnislos an. «Nichts.»
Greta schüttelte den Kopf. «Das kann nicht sein, irgendwas passiert doch immer.»
«Nicht auf der Insel! Die ganze Welt dreht sich schneller und schneller, aber bei uns bleibt alles, wie es ist. Wenn die Erde mal untergehen sollte, musst du sofort hierherkommen: Hier passiert alles fünfzig Jahre später.»
Greta bekam vor Freude warme Ohren. Einen besseren Ort konnte es für sie nicht geben.
Im kleinen Hafen der Insel drosselte Tante Hille das Tempo und ließ die Ariadne 2 behutsam an einen leicht verwitterten Holzsteg gleiten. Als sie den Motor ausstellte, hörte man nichts mehr, es war totenstill. Die Luft roch nach kühlem Meerwasser und nassen Tampen, alles mit einer feinen Dieselnote versetzt. Auf einem Poller saß eine Möwe, die Greta und ihre Tante beäugte, als wüsste sie, wer da gerade ankam. Die Insel war nicht einfach ein anderer Ort auf diesem Planeten – es war ein anderer Planet. Dicke Nebelschwaden umhüllten die reetgedeckten Fischerhäuser, als wollten sie sie abschirmen. Gegenüber dem Hafen lag die Segelmacherei «Stegmann & Sohn», die es genau an dieser Stelle schon seit über zweihundert Jahren gab. Greta sprang auf den Steg und befestigte mit ein paar gekonnten Griffen das Boot mit dem Tampen. Tante Hille hatte ihr sämtliche Seemannsknoten beigebracht, noch bevor sie lesen und schreiben gelernt hatte. Greta reichte ihr den kleinen Handkoffer hoch und hüpfte mit einem lässigen Sprung an Land. Am Steg wartete das Tandem auf sie, das Tante Hille letztes Jahr zusammen mit ihrer Freundin Karen gekauft hatte.
Tante Hille setzte sich nach vorne und übernahm den Lenker, Greta stieg hinter ihr auf den Sattel. So radelten sie gemeinsam an der Polizeistation vorbei, die flutsicher in einem alten Reetdachhaus auf dem Deich hinter dem Hafen untergebracht war. Im Schaufenster von «Fische-Godbersen», wo tagsüber der frische Fang in Styroporbehältern auf Eis präsentiert wurde, waren nichts als blanke weiße Kacheln zu sehen. Dahinter begann die Altstadt. Hier gab es den Bonbonladen, den Dessous- und Bademodenladen «Hemd und Höschen», «Schmuck-Dieter», «Frischmarkt Peters», Bäcker Hansen und Friseur Pohlmann sowie diverse Cafés.
Sie traten kräftig in die Pedale. Es war kurz nach zehn, und kein Mensch war in den spärlich beleuchteten, nebelverhangenen Straßen zu sehen. Neben dem stillgelegten roten Backstein-Leuchtturm aus dem vorigen Jahrhundert stand das Inselrathaus, das nicht breiter war als zwei hintereinander geparkte Autos. Daneben befand sich die Praxis von Dr. Sörensen, bei dem Greta mal als Kind gewesen war, als sie sich den Fuß mit einer Muschel aufgeschnitten hatte. Links davon lag die traditionelle Fischerkneipe «Bei Rita». Sie war schon geschlossen. Schließlich bogen sie auf die Promenade zum Südstrand ab. Etwas zu schnell, wie Greta fand, denn man konnte bei dem Nebel kaum etwas erkennen, sogar die große Kurklinik war in der Suppe verschwunden. Nur der Ohlhörner Leuchtturm blinkte verlässlich in der Dunkelheit.
Der Weg endete an einem Wäldchen, direkt davor stand Tante Hilles Haus. Ihr Vater, Gretas Opa, hatte es damals gebaut, und Tante Hille hatte hier nach seinem Tod weiter gelebt. Der massive zweistöckige Backsteinbau wirkte wie eine trotzige Burg. Unten befanden sich die Verkaufsräume des ehemaligen Textilladens, inklusive großem Wintergarten, im ersten Stock wohnte Tante Hille, und im zweiten gab es eine windgeschützte Terrasse, von der aus man den Strand und die ganze Bucht überblicken konnte. Was das Haus zu einem echten Traumpalast machte, befand sich jedoch drinnen: Dort konnte man die Wände nicht einmal erahnen, es sah so aus, als würde das Gebäude allein durch Zigtausende Bücher gestützt! Sie waren an jeder nur denkbaren Stelle gestapelt: in Regalen, unter den Treppenstufen, die zum ersten Stock führten, in der Küche, im Badezimmer, überall. Tante Hille war eine so fanatische Leserin wie Gretas Großvater gewesen und hatte die Büchersammlung nach seinem Tod immer weiter aufgefüllt. Ihr Bücherhaus war für Greta in den großen Ferien ein Paradies gewesen. Man schnappte sich einfach ein Buch, setzte sich damit in einen Strandkorb oder legte sich auf die lederne Chaiselongue. Die gesamte Familie Wohlert lagerte dort stundenlang, wie eine dösende Tierherde in der Savanne, und las. Zwischendurch ging man baden, abends beim Essen tauschte man sich über das Gelesene aus. Das Schönste damals war: Niemand konnte kontrollieren, was Greta las. Schon mit zwölf verschlang sie sämtliche verbotenen Erwachsenenwerke. So manches Geheimnis der Liebe wurde auf diesem Weg Jahre früher gelüftet, als es ihr Vater ahnen konnte. Die interessantesten Bücher versteckte sie bis zu den nächsten Ferien hinter den vorderen Bücherreihen in einem wenig beachteten Regal unter der Treppe zum Dachboden.
Als Tante Hille nun die Haustür öffnete, blieb Greta der Mund offen stehen. Statt auf die gewohnten Buchdeckel blickte sie auf freie Flächen und weiße Tapeten, an denen nicht einmal Bilder angebracht waren! Die wuchtigen Ledersessel im Wohnzimmer hatte Tante Hille durch Gartenmöbel aus Bambus und Rattangeflecht ersetzt. Alles sah sommerlich-leicht aus – und total fremd.
«Was ist denn hier passiert?», fragte Greta erschrocken.
«Ich brauchte Platz zum Atmen», sagte Tante Hille.
«Und die Bücher?»
«Habe ich nach unten in den ehemaligen Laden gebracht.»
Sie gingen weiter in die Küche, wo Tante Hilles Freundin Karen am Herd stand und Essen zubereitete. Es roch nach Gemüse und Huhn.
«Moin, Karen, schön, dich zu sehen.» Greta umarmte sie.
Tante Hille und Karen waren seit dreißig Jahren ein Paar, wenngleich sie nie darüber redeten. Sie wollten, dass es ihre Sache blieb, und das wurde auf der Insel auch akzeptiert. Karen war eine zurückhaltende Frau und im Gegensatz zu Tante Hille knabenhaft und schmächtig, was durch ihren raspelkurzen Haarschnitt hervorgehoben wurde. Mit Mitte sechzig war sie zehn Jahre jünger als Tante Hille. Ihre besonnene Art war der perfekte Ausgleich für Gretas Tante, die sich gerne mal zu viele Aufgaben auf den Teller legte. Was Tante Hille nicht hinbekam, brachte Karen ohne Aufhebens wieder in die Spur. Außerdem konnte sie hervorragend kochen, sie war zeit ihres Lebens Köchin in der Kurklinik gewesen.
«Da seid ihr ja!» Karen kniff Greta zärtlich in die Wange. «Hille hat gesagt, ich soll unbedingt die Kummersuppe für dich kochen», sagte sie und fügte hinzu: «Ist gleich fertig.»
Greta blickte sie fragend an. «Kummersuppe?»
«Hilft gegen alles Schlechte im Leben.»
«Wie kommst du darauf?»
Tante Hille musterte ihre zerknitterte Lufthansa-Uniform. «Du bist ja wohl nicht hier, weil es dir prächtig geht, oder?»
Greta fühlte sich erwischt. Aber Tante Hille konnte sie eben nichts vormachen, und das war auch gut so. «Du hast recht», gab sie zu. «Aber es geht schon wieder. Was ist denn in der Suppe drin?»
«Alle Gemüsesorten aus dem Garten, Hühnerknochen und kräftige Gewürze. Das ist ein altes Rezept von meiner Großmutter. Die hatte es von ihrer Großmutter und so weiter. Man muss sie ganz heiß essen.»
«Ist sie pikant oder mild?», erkundigte sich Greta vorsichtig. «Ich hab es gerade nämlich etwas mit dem Magen, weißt du.»
Karen winkte ab. «Da mach dir mal keine Sorgen, die Suppe hat bisher alle wieder auf die Beine gebracht.»
Greta setzte sich an den gedeckten Tisch, Karen gab ihr eine große Kelle zum Probieren auf den Teller. Die Suppe war extrem scharf und brannte höllisch in Gaumen und Hals. Ob das gut für sie war? Der zweite Löffel kam Greta schon etwas milder vor. Ihr Bauch wurde warm, und ihr Herz fühlte sich ruhig und zufrieden an. Nach dem dritten Löffel stand ihr der Schweiß auf der Stirn.
«Liebeskummer?», flüsterte Tante Hille und blickte ihr tief in die Augen.
«Nee.»
Ihre Tante fasste sie am Ellenbogen. «Du bist doch nicht ernsthaft krank, Greta, meine Süße?» So stark sie sonst war, wurde ihre Stimme jetzt brüchig. «Tu mir das nicht an!»
«Nein.»
«Gut so. Wir wollen uns doch bitte schön an die Reihenfolge halten: Erst sterbe ich und dann irgendwann viel später vielleicht du.»
Typisch Tante Hille.
«Es ist nichts Schlimmes», beruhigte sie Greta und legte ihre Hand auf Tante Hilles Arm.
«Wirklich nicht?»
«Kann ich später schnacken? Ich bin fix und fertig.» Sie konnte kaum noch aus den Augen gucken.
Tante Hille lächelte. «Ab ins Bett mit dir. Brauchst du noch was?»
«Gute Träume.»
«Nach der Kummersuppe sind die garantiert. Wenn du magst, frühstücken wir morgen auf der Terrasse. Es soll sonnig werden, das wird ein Supertag.»
Greta strahlte. Sie würde einen langen Spaziergang am Strand machen, der einmal fast um die ganze Insel ging. Danach sah die Welt bestimmt ganz anders aus.
«Gute Nacht, Tante Hille, und dir, Karen, noch mal danke für die tolle Suppe.»
«Da nicht für.»
Sie umarmte die beiden und ging dann nach oben in ihr Zimmer, in dem sie immer schlief, wenn sie zu Besuch war. Hundemüde ließ sie sich in das Holzbett mit der viel zu weichen Matratze fallen. Die frische Bettwäsche duftete leicht nach Lavendel, was eine alte Familientradition war: Alle Wohlerts besprühten ihre Betten mit Lavendelwasser. Während sie die Augen schloss, kam ihr noch einmal der Moment hoch, als sich im Airbus die Tür schloss und sie nach Luft rang, sowie die besorgten Blicke ihrer Kolleginnen, das Blaulicht und der Notarzt. Zum Glück war sie heil davongekommen.
Das war auch schon der letzte Gedanke an diesem Tag, bevor sie in einen tiefen, erholsamen Schlaf fiel.
Als Greta am nächsten Morgen aufwachte, hörte sie die Wellen sanft an den Strand schlagen. Dazu streifte ein fröhlicher Wind ums Haus, irgendwo knatterte eine Fahne. Sie öffnete die Augen. Die Morgensonne beleuchtete die weißen Vorhänge vorm Fenster. Dies war schon das Kinderzimmer ihres Vaters gewesen. Bei ihrer großen Renovierung hatte Tante Hille netterweise alles so gelassen, wie es früher einmal ausgesehen hatte. An den Wänden hingen immer noch Papas alte Poster: der erste Mann auf dem Mond, die Rolling Stones mit absolut lächerlichen Frisuren, Fotos von Muscheln und Inselstränden sowie verblichene Postkarten von den Pyramiden oder von einem Lavendelfeld in der Provence. Das alles hatte mal eine Bedeutung in Papas Leben gehabt und war Greta deswegen bis heute heilig. Er war ein Mensch mit vielen Interessen gewesen – vielleicht ein Ausgleich zu seinem Beruf als Bauingenieur, bei dem er vor allem präzise rechnen musste. Er war ein glänzender Erzähler gewesen und hatte ihr als Kind immer phantastische Geschichten vorgetragen, spannend und lustig zugleich. Auf Partys suchten die Menschen seine Nähe, Kinder wie Erwachsene. Papa konnte die Leute mit seinen Erzählungen zum Lachen und zum Weinen bringen, das hatte sie immer sehr beeindruckt. Schade, dass er sie nie aufgeschrieben hatte, er wäre ein toller Autor geworden.
Letztes Jahr war er mit vierundachtzig Jahren friedlich eingeschlafen. Obwohl alle damit einverstanden waren, auch er selbst, war es einer der traurigsten Momente ihres Lebens gewesen. Hier, in seinem Jugendzimmer, wurde er für sie wieder lebendig, sie dachte gerne an ihn.
Greta gähnte herzhaft und streckte sich im Bett einmal ganz lang aus. Dann pulte sie sich aus der Lavendelbettwäsche und tapste barfuß zum Fenster. Gespannt schob sie die Gardine beiseite und wurde nicht enttäuscht: Die Sonne schien von einem knallblauen Himmel, hinter der Promenade leuchtete der Strand mit den bunten Strandkörben, dahinter glitzerte das Wasser. Eine schwanenweiße Fähre zog langsam an der unbewohnten Nachbarinsel vorbei, über der Hunderte Vögel kreisten. Alles, was sie sah, wirkte wie ein einziges Versprechen: «Das wird dein Tag, Greta!»
Sie öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Eine Windbö fuhr sanft unter ihr T-Shirt, die Luft war nicht zu warm und nicht zu kalt. Vielleicht sollte sie vor dem Frühstück schwimmen gehen.
Ihr Handy piepste. Sie ging zum Nachttisch und öffnete eine Nachricht von Jana:
Bin unterwegs mit neuen Leuten. Viel Spaß bei Tante Hille, knuddel sie von mir. LG Jana
Sie schien in ihrem finnischen Studentenwohnheim bestens gelandet zu sein, wunderbar!
Greta zog sich etwas über und ging hinunter in die Küche. Auf dem Esstisch fand sie einen Zettel: «Bin im Laden». Über die schmale Holztreppe begab sie sich in Tante Hilles altes verwinkeltes Lager hinab, das direkt neben dem ehemaligen Laden im Erdgeschoss lag. Das Fischgrätparkett knarzte bei jedem Schritt laut auf. Die runden Seitenfenster sahen aus wie Bullaugen, die in Jahrzehnten von der salzigen Meeresluft trübe geworden waren. Durch sie fiel nur wenig Tageslicht herein, was den schattigen Räumen die Abgeschiedenheit eines Klosters gab. Sie atmete tief ein. Die Seeluft von draußen vermischte sich mit dem Geruch nach altem Papier und nassem Tauwerk. In einer Ecke hatte Tante Hille die Sachen für die Ariadne 2 untergebracht. Früher hatte sie hier Wetterkleidung, Brautmoden und andere Textilien für den Laden gelagert. Als kleines Mädchen hatte Greta in diesen Räumen stundenlange Verkleidungszeremonien gefeiert, ein Traum!
Tante Hille hatte die rotbraunen Holzregale aus den oberen Räumen jetzt hier aufgestellt, sie reichten bis zur Decke. Die Längsstreben waren mit aufwendigen Schnitzarbeiten versehen: Buschwindrosen, in denen manchmal eine Meerjungfrau oder ein Pelikan versteckt war. In diesen Regalen bekam jedes Buch einen großen Auftritt, selbst abgegriffene Taschenbücher wurden zu Kunstwerken veredelt. Opa hatte die Regale seinerzeit aus der alten Inselbibliothek geholt, nachdem sie zur Hälfte abgebrannt war. Wenn man mit der Nase ganz nah ranging, roch das Holz immer noch rauchig.
Sie schritt weiter an den Regalwänden entlang. Die Buchrücken schillerten in allen Farben, von Weiß bis Dunkelrot, einige sahen aus wie neu, andere waren mehr oder weniger abgenutzt. Es waren Zigtausende. Schon das Äußere eines Buches faszinierte Greta, unabhängig vom Inhalt: Wie lag es in der Hand? Wie fühlte sich der Umschlag an? War er aus verstärktem Papier oder aus festem Leinen? Dann erst kam für sie das Cover, manchmal ein Foto, ein Gemälde oder ein abstraktes Muster. Oft stand dort schlicht nur der Titel, der wiederum tauchte in den unterschiedlichsten Schrifttypen auf.
Wenn sie ein unbekanntes Buch aufschlug, las sie als Erstes immer das Nachwort des Autors: Bei wem bedankte er sich, wen kannte er usw.? Es erzählte mehr über den Urheber als seine offizielle Biographie. Tabu war es natürlich, die letzte Seite der Geschichte vorher zu lesen, das hatte sie als junges Mädchen ein paarmal gemacht und sich damit den ganzen Lesespaß verdorben.
Ihr Opa Friedrich, der vor ihrer Geburt verstorben war, hatte alles aus den damaligen Bestsellerlisten gesammelt und was ihm sonst wie in die Finger kam: Thriller, Romane, Klassiker, Hochliterarisches und Sachbücher. Nach seinem Tod hatte Tante Hille seine Sammelleidenschaft wie gesagt fortgesetzt. Zwischen den Buchdeckeln flüsterten, schimpften und jubelten Millionen von Figuren. Hier konnte man die Wahrheit genauso finden wie die Lüge, die Liebe wie den Hass, die Leichtigkeit wie die Trauer. Es gab Klassiker wie Franz Kafka und Hemingway, in einer anderen Ecke standen Simmel, Böll und Stephen King friedlich neben Siegfried Lenz und Goethe. Im Vorübergehen flogen schwedische Krimiautoren aus den Achtzigern an ihr vorbei, für die sie bei Erscheinen noch zu klein gewesen war. Sie kannte erstaunlich viele Titel, die hier standen. Eigentlich kein Wunder: Seit sie lesen konnte, hatte sie immer ein Buch in den Fingern gehabt. Im Lauf der Jahre war da einiges zusammengekommen.
In einer dunklen Ecke befand sich ein alter Eisenofen, daneben stand das alte Klavier mit den Intarsienarbeiten im Holz. Darauf hatte sie als Kind immer stundenlang herumgeklimpert. Richtig spielen konnte niemand in der Familie, Opa Friedrich wollte es angeblich immer mal lernen, hatte es aber nie geschafft.
Ein Buch leuchtete ihr sofort entgegen, obwohl der Umschlag grau und unauffällig war. Für sie war es wertvoll wie ein Diamant, sie kannte es besser als jedes andere, hatte es aber seit Jahren nicht mehr in der Hand gehalten: «Momo» von Michael Ende. Die gute alte Momo, die gegen die grauen Herren kämpfte, weil sie ihr die Zeit stehlen wollten! Wie lange war das her? Tante Hille hatte ihr das Buch mit ihrer rauchigen Stimme vorgelesen, als Greta noch nicht selbst lesen konnte. Sie hatte die Geschichte geliebt. Mit zwölf hatte sie es dann noch einmal selbst verschlungen und viele Stellen entdeckt, deren Bedeutung sie beim ersten Mal gar nicht richtig verstanden hatte. Sie nahm «Momo» in die Hand und ging nach vorne in den ehemaligen Laden.
«Tante Hille?», rief sie laut. Die Bücher und schweren Teppiche dämpften den Hall ihrer Stimme.
«Hier bin ich!», kam es zurück.
Greta tapste in die Richtung, aus der die Stimme kam. Das Lager ging über in den ehemaligen Verkaufsraum, der sich zum Meer hin mit einem riesigen Wintergarten öffnete. Von hier blickte sie direkt auf den Strand und den blauen Himmel. Der ehemalige Kassentresen war mit Büchern zugepackt, die ihre Tante gerade in einen Umzugskarton schichtete. An der Wand dahinter befand sich eine Spüle mit einem Wasserhahn, darüber ein Sideboard mit Teetassen und Gläsern. Tante Hille hatte ihre Kunden immer als Gäste in ihrem Haus betrachtet, denen sie selbstverständlich Tee oder das Nationalgetränk der Insel, einen Manhattan-Cocktail, anbot.
T-Shirt-mäßig war bei Tante Hille heute Mickey-Mouse-Tag, dazu trug sie alte, verwaschene Jeans.
«Guten Morgen, meine Liebe.» Tante Hille umarmte sie. «Hast du gut geschlafen?»
«Bestens.»
«Wie lange hast du vor zu bleiben?»
«Bis morgen früh, wenn es geht.»
«So kurz?»
«Morgen Abend muss ich nach Shanghai.»
«Shanghai», seufzte Tante Hille. «Meinst du, das wäre auch was für mich und Karen?»
«Aber natürlich, kommt doch nächstes Mal mit! Ich kann euch im Flieger ein kostenloses Upgrade in die First Class besorgen. Mit Champagner und einem richtigen Bett.»
«Klingt verlockend.»
«Schau her.» Sie hielt das Buch hoch, das sie gerade gefunden hatte.
«Momo, wie wunderbar! Da muss ich sofort an deinen rosa Frotté-Schlafanzug denken, den du immer getragen hast.»
«An den erinnere ich mich auch noch.» Greta schaute sich um. «Was treibst du hier eigentlich?»
«Ich muss Ballast abwerfen», erklärte Tante Hille. «Leider. Ich liebe Bücher über alles, das weißt du ja. Aber jetzt brauche ich den Platz, der Laden soll vermietet werden. Deswegen muss ich die Bände nach und nach weggeben und fange schon mal an zu packen. Was mir nicht leichtfällt, das kannst du mir glauben.»
«Mach doch einen Flohmarkt für Touristen, dann werden sie weiter gelesen», schlug Greta vor.
«Meinst du, jemand interessiert sich für das alte Zeugs?»
«Sicher!»
Tante Hille zog die Augenbrauen hoch und legte die Stirn in Falten. «Nee, ein Flohmarkt ist mir zu anstrengend. Willst du das nicht übernehmen?»
Greta lächelte. «Gerne, aber ich habe ja schon einen Job. Am liebsten würde ich alle Bücher mit nach Frankfurt nehmen.»
«Nur zu!»
«Dann müsste ich anbauen. – Darf ich mir Momo leihen?»
«Klar. Ich bin dankbar für jedes Buch, das ich nicht selber einpacken muss. Du kannst alles behalten, was du findest. Komm, jetzt frühstücken wir erst mal.»
Sie spannten den dunkelroten Sonnenschirm auf der Terrasse auf und holten die Frühstückssachen mit einem Tablett aus der Küche. Am Strand vor ihnen sonnten sich hier und da ein paar Urlauber. Ansonsten sah es noch ziemlich leer aus, Ende Mai war Vorsaison. Jetzt endlich erzählte Greta Tante Hille in Kurzform, was am Vortag im Flieger passiert war. Dabei nahm sie allerdings jede Dramatik heraus, um sie nicht allzu sehr zu beunruhigen. Das schien nicht ganz geklappt zu haben, denn Tante Hille blickte sie am Ende trotzdem besorgt an.
«Geh besser zum Arzt, Greta, mein Kind! Du musst unbedingt herausbekommen, was es war.»
Sie winkte ab. «Ach was, ich habe wahrscheinlich etwas Falsches gegessen, so was passiert.»
Tante Hille blieb ernst. «Besser, man weiß es.»
«Ein Tag auf der Insel, und alles läuft wieder rund.»
«Na, dann ab an den Strand.»
«Nein, ich packe lieber bei den Büchern mit an.»
«Nix da, du gehst an den Strand!»
«Ich helfe dir gerne, immerhin ist es das Erbe meines Großvaters.»
«Ab an den Strand, das ist ein Befehl!»
«Wenn, müsstest du mir Klamotten leihen. Meine Lufthansa-Uniform ist etwas unpraktisch für die Dünen.»
«Zum Glück haben wir ja dieselbe Größe», sagte Tante Hille, ohne die Miene zu verziehen.
«Eins von deinen Spider-Woman-T-Shirts wäre perfekt.»
Tante Hille lachte. «Du kannst es ja als kurzes Kleid tragen.»
«Super.»
«Weißt du überhaupt, wer Spider-Woman ist?»
«Nicht genau.»
Tante Hille zog beide Augenbrauen hoch. «Sie war Agentin der Verbrecher-Organisation Hydra. Als sie deren Ziele durchschaut, kämpft sie sich frei, wird Detektivin und tritt erst den X-Men bei, später auch den Avengers. Nur falls dich jemand drauf anspricht.»
«Alles klar, Tante Hille.»
Sie lieh ihr ein T-Shirt in Größe XXL, was an Greta tatsächlich wie ein Nachthemd aussah. Egal, am einsamen Strand würde es außer den Möwen fast niemand zu sehen bekommen.
Greta lief barfuß durchs flache Wasser und ließ sich vom Rückenwind sanft an den Südstrand schieben. Am Horizont verschmolzen Himmel und Meer, der Wind streichelte ihr Gesicht, die Luft war klar und roch nach Salz. Sie blieb einen Moment stehen, schloss die Augen und genoss es einfach nur, hier zu sein. Die Brandung war wild und laut und trotzdem beruhigend. Sie wanderte weiter die Wasserkante entlang und beobachtete fasziniert, wie die Sonne mit dem Wasser spielte und es hell leuchten ließ. Hier in der Brandungszone inhalierte man automatisch das maritime Aerosol, das Lunge und Atemwege reinigte. Dafür musste sie nichts weiter tun, als ganz normal zu atmen. Parallel zur Küste zischte ein Kite-Surfer mit einem pinkfarbenen Schirm übers Wasser und machte wahnsinnige Sprünge in der Luft. Was für ein Gefühl musste das sein!
Greta schaute sich nach allen Seiten um, es war kein Mensch zu sehen. Sie zog sich aus und legte ihre Sachen auf einen großen Findling, der am Strand lag. Dann stürzte sie sich nackt ins schäumende Wasser, das ihren Körper kalt umspülte. Eine Riesenwelle nach der anderen rollte heran, Greta tauchte darunter weg oder ließ sich von der Brandung massieren. Plötzlich näherte sich ein Brecher, der um einiges größer war als alle anderen, er bäumte sich vor ihr auf wie ein kleines Haus. Sie schwamm ein Stück gegen ihn an, bis sich die Welle tosend über ihr brach und sie an Land spülte, ohne dass sie das irgendwie kontrollieren konnte.
Nach kurzer Zeit verließ sie das kalte Wasser und rannte schnatternd am Strand hin und her, um wieder warm zu werden. Dann blieb sie stehen und streckte die Arme zur Seite aus. Der Wind strich ihr um Rücken, Hüften und Beine und trocknete ihre Haut. Sie zog sich rasch an und kletterte hinter dem Strand auf die Dünen, die ihr vorkamen wie eine nördliche Dependance der Sahara. Der Strandhafer bog sich im Wind, feiner Treibsand massierte ihre Knöchel. Von hier aus konnte sie weit ins Innere der Insel blicken.
Hinter den Dünen begann ein kleiner Wald mit einem Süßwasserteich in der Mitte, auf der anderen Seite lag das Marschgebiet, das durch wehrhafte Deiche geschützt wurde. Die alten Windmühlen und ein Leuchtturm ragten aus der flachen Landschaft heraus. Auf der höchsten Düne fand sie eine windgeschützte Kuhle, die aussah wie ein großes Ohr, das in den Himmel lauschte. Sie legte sich hinein. Der Wind schien diesen Platz extra für sie vorbereitet zu haben, sie passte mit ihrem Körper perfekt hinein. Hier war es noch einmal einige Grade wärmer als im frischen Meereswind. Ab da gab es nur sie, den Himmel und ihr Buch – das Wellenrauschen lieferte den Soundtrack zum Text. Sie begab sich mit Momo ins kleine Amphitheater, traf Beppo, den Straßenkehrer, und die grauen Herren bekamen in ihrer Kuhle keine Chance. Irgendwann machte sie die unwiderstehliche Mischung aus sanftem Wellenschlag und Sonne schläfrig, alles wurde eins, Momo, das Meer und die Luft. Sie sank in wilde Träume.
Später wachte sie mit starkem Durst auf, trank eine halbe Flasche Wasser und las weiter. Dann sonnte sie sich erneut mit geschlossenen Augen. Stunden danach wanderte sie auf die andere Seite der Düne. Dort stand ein altes Reetdachhaus mit schrumpeligen roten Ziegeln, dessen Dach mehrfach geflickt worden war. Das Gebäude war umgeben von Hagebuttenbüschen, die bis an die Regenrinne reichten. Ein sandiger Feldweg hinter dem Haus führte zur Inselstraße, ansonsten weit und breit kein Zeichen von Zivilisation, es gab nur Sand und Strandhafer. Früher hatte in diesem Haus ein Maler sein Atelier gehabt, das erinnerte sie noch. Hier draußen in der Weite zu leben war die Gegenwelt zum engen Frankfurter Nordend, wo Greta eine Zweizimmerwohnung im achten Stock bewohnte. Das Haus vor ihr war mittlerweile eine Pension, sie hieß laut Schild über der Eingangstür «Dünenwind». So ähnlich nannten sich fast alle Pensionen auf der Insel: «Windrose», «Strandhus», «Möwennest».
Neben dem Eingang gab es eine windgeschützte Terrasse mit Strandkörben und Tischen, die durch Bastmatten gegen den Wind geschützt wurden. Dort sonnte sich ein halbes Dutzend Gäste. Vor dem Haus faltete ein Kite-Surfer gerade seine Sachen zusammen, der Farbe seines Schirms nach zu urteilen musste es der sein, den sie vorhin im Wasser gesehen hatte. Er war ungefähr so alt wie sie und anscheinend viel draußen, seine Haut war tiefbraun. Seine weizenblonden Locken leuchteten im Kontrast dazu hell in der Sonne.
«Moin», grüßte sie ihn im Vorbeigehen.
«Moin, Spider-Woman», grüßte er zurück.
Das T-Shirt von Tante Hille hatte sie vollkommen vergessen, aber zum Verstecken war es nun zu spät, also drückte sie das Kreuz selbstbewusst durch. Doch es kam noch schlimmer:
«Greta!», rief er.
Kein Zweifel, sie kannte den Mann von früher. Allerdings hatte sie ihn nicht als derartig attraktiv in Erinnerung gehabt.
«Claas?», fragte sie mit offenem Mund. Es war der Sohn von Rita, die in der Altstadt die Fischerkneipe führte. Sie hatten als Kinder zusammen gespielt, wenn Greta mit ihrem Vater zu Besuch bei Tante Hille gewesen war. Sie fielen sich in die Arme.
«Wie geht es dir?», fragte sie.
«Bestens, und selber?»
«Auch. «
Er deutete auf einen Strandkorb auf der windgeschützten Terrasse. «Setz dich doch!»
In dem riesigen T-Shirt fühlte sie sich nicht gerade wie der Hauptgewinn, aber das ließ sich jetzt nicht ändern.
«Ich muss leider gleich in die Küche», fügte er hinzu.
«Bist du hier Koch?»
«Unter anderem. Als Geschäftsführer bin ich Mädchen für alles. Wie gefällt dir mein Dünenwind?»
«Von außen schon mal sehr. Ich würde mir deine Pension gern genauer anschauen, aber leider muss ich auch los.»
Sie war am Abend mit Tante Hille und Karen zum Kartenspielen verabredet.
«Dann komm doch morgen zum Frühstück vorbei.»
«Würde ich gerne», sagte sie bedauernd, «aber dann bin ich schon wieder weg.»
«Wie? Du fährst wieder ab, ohne dass wir geredet haben?»
Sie grinste ihn an. «Los, auf Insulanerisch, das geht fix!»
Diese Phantasiesprache hatten sie sich als Kinder ausgedacht. Die Insulaner waren dafür bekannt, dass sie nicht viel redeten, vor allem in den einsamen Inseldörfern. Normalerweise sprach man hier Friesisch, das beherrschten sie aber beide nicht. Deshalb hatten sie sich «Insulanerisch» ausgedacht. Die Grundregel dabei lautete: So wenige Wörter und Silben wie möglich benutzen.
«Verheiratet?», fragte sie. Erst einmal das Terrain sondieren, konnte nicht schaden.
«Nee.»
«Was in Sicht?»
Er lachte. «Nee.»
«Auf Suche?», fragte sie, was sie eigentlich nichts anging.
«Ja.»
«Was?»
«Blond.»
«Bin ich.»
«Grüne Augen.»
«Hab ich.» War das Zufall, oder flirtete er gerade mit ihr?
«Und selber?», fragte er.
Sie lächelte. «Single mit zwanzigjähriger Tochter.»
«Auf Suche?»
«Kommt drauf an.»
«Worauf?»
«Muss die Küste lieben.»
«Mach ich.»
«Surfer?»
«Bin ich.»
Sie lachte. «Willst du mit mir gehen?»
Er schaute ihr tief in die Augen und lächelte. «Gerne.»
Jetzt wurde es brisant, ihr wurde richtig warm. Zum Glück musste er los.
«Sorry, die Küche ruft, ich bin jetzt schon zu spät.»
Sie blickte auf den Strandhafer, dessen Halme sich im Wind bogen. Die Dünen wurden in gelbes und rotes Licht getaucht, im Westen machte sich die Sonne schon zum Untergehen bereit. Sie hätte noch ewig mit ihm hier sitzen können.
«Kiek mol wedder in», sagte Claas. «Ich würde mich freuen.»
Ein funkelnder Blick aus seinen blauen Augen traf sie so heftig, dass ihr ganz anders wurde.
«Gerne.»
Sie umarmten sich kurz zum Abschied, dann schlenderte Greta an der Wasserkante entlang zurück zum Haus ihrer Tante. Ihre Haut glühte angenehm von der Sonne nach, so frisch hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Und Claas war eine äußerst nette Zugabe gewesen. Kaum zu glauben, was aus dem unscheinbaren Jungen von damals geworden war.