Die Weihnachtsliste - Janne Mommsen - E-Book

Die Weihnachtsliste E-Book

Janne Mommsen

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Beschreibung

Vier Wochen vor Weihnachten. Ben Hinrichs soll den Spielzeugladen seines verstorbenen Onkels in Friedrichstadt auflösen. In der verschneiten friesischen Weite wirkt die niederländische Enklave aus dem 17. Jahrhundert wie eine Fata Morgana.  Als die Friedrichstädter registrieren, dass sich im Laden wieder etwas tut, strömen sie in Scharen herbei. Onkel Heins Geschäft war ein beliebter Treffpunkt für Kinder und Erwachsene. Auch Trauerrednerin Nintje Hermenau taucht auf. Sie hat Bens Onkel auf seinem letzten Weg begleitet. Im Hinterzimmer des Ladens entdeckt Ben eine Liste von Spielzeugen, die Onkel Hein zu Weihnachten ausliefern wollte. Leider fehlen die Namen dazu. Wie kann Ben allen ihre Weihnachtsgeschenke zukommen lassen? Auf seiner Suche nach den Adressaten wird Ben immer tiefer in die Geschichten der verschworenen Friedrichstädter Gemeinschaft eingesponnen. Nintje unterstützt ihn, abends zischen sie zusammen auf Schlittschuhen über die gefrorenen Grachten. Die funkelnden Lichter an den Giebeln ziehen an ihnen vorbei wie im Traum.

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Seitenzahl: 181

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Janne Mommsen

Die Weihnachtsliste

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Nur noch vier Wochen bis Weihnachten

Der kleine Spielzeugladen in Friedrichstadt ist ein bedeutsamer Treffpunkt für alle Generationen. Als Inhaber Hein stirbt, bricht vor allem für die Kinder eine Welt zusammen. Und wo wird nun der traditionelle Weihnachtsbasar stattfinden? Heins Großneffe Ben soll den Laden auflösen. Doch zuvor muss er einen letzten Auftrag erfüllen: die Weihnachtsliste, die Hein erstellt hatte. Die Spielzeuge darauf sollen noch vor Heiligabend ausgeliefert werden. Dabei unterstützt ihn Nintje, die Hein auf seinem letzten Weg begleitet hat. 

Für Ben eröffnet sich in der verschneiten friesischen Stadt mit ihren Giebelhäusern und zugefrorenen Grachten eine neue Welt. Die Geschichten hinter den Beschenkten bringen ihm seinen Großonkel noch einmal nahe. Doch bei einem Ausflug auf die Insel Föhr muss er feststellen, dass Hein ein Geheimnis hütete. Da wird der Geist von Weihnachten auf einmal für alle Beteiligten spürbar …

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Romane und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Kai Würbs

ISBN 978-3-644-01396-4

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Rafaela

Das Schicksal mischt die Karten

 

– und wir spielen

Arthur Schopenhauer

1

Ben kämpfte sich mit seinem Rollkoffer durch die überfüllten Amsterdamer Straßen, was kein Vergnügen war. Von hinten wurde er immer wieder angerempelt, von vorne ausgebremst. Die Adventszeit war für ihn purer Stress: Die Bürgersteige waren ohnehin schon schmal, jetzt hatte man sie zusätzlich mit Buden vollgestellt, in denen Holzarbeiten, Wollsachen und anderes verkauft wurde und fettiges Essen brutzelte. Die Geruchsmischung aus Süßem und Gebratenem verursachte bei ihm permanente Übelkeit. An einem Bierstand dröhnte aus den Lautsprechern laut «Oh jij vrolijke», gesungen von einem Kirchenchor, eine Gruppe betrunkener junger Männer grölte «Last Christmas» dagegen. Seltsamerweise lächelten alle selig zu dem Krach, sowohl die Budenbetreiber als auch die Männer. Vor der allgegenwärtigen kitschigen Weihnachtsmusik gab es kein Entkommen, die Ohren kann man nicht so leicht verschließen. Der Weg zu Bens Wagen war ein einziger Spießrutenlauf, dazu setzte auch noch heftiger Regen ein. Besinnung sah anders aus.

Dabei sehnte er sich durchaus nach dem, was die Adventslieder versprachen: Seligkeit und Freude. Aber wo bitte sehr fand denn die viel besungene stille Heilige Nacht statt? Auf keinen Fall in Amsterdam, da konnten die historischen Grachtenhäuser noch zehnmal extra angestrahlt werden.

Das mattrote alte Cabrio, das ihm sein Arbeitskollege John Cussick für die Fahrt nach Norddeutschland geliehen hatte, fand Ben schließlich wie verabredet in der Nähe vom Frankendael-Park. In den winzigen Kofferraum passte gerade mal eine Aktentasche, deswegen musste er seinen Koffer auf den Beifahrersitz stellen. Die Taschenlampe und den altmodischen Hausschlüssel aus Eisen legte er ins Handschuhfach, beides würde er später brauchen. Seine eins achtzig passten gerade so in den Zweisitzer hinein, seine Haarspitzen berührten leicht das Verdeck. Im Sommer wäre er offen gefahren, jetzt prasselte der Winterregen aufs Dach. Es hörte sich an wie in einem Zelt, hoffentlich war das Auto dicht. Außerdem war es ein Rechtslenker, auf der Autobahn würde Ben sich beim Überholen über den linken Außenspiegel orientieren, aber auf der Landstraße hinter einem Lkw war von der Gegenfahrbahn nichts zu sehen.

Wie immer am Freitagnachmittag wollte alles raus aus der Stadt. Der Boden des Wagens lag nur wenige Zentimeter über dem Asphalt, zu den Rücklichtern der vorausfahrenden Autos musste Ben von seinem niedrigen Fahrersitz hochschauen. Es erinnerte ihn an den Gokart, den er als kleiner Junge gehabt hatte. Die Scheinwerfer waren im Kotflügel versteckt und klappten hoch, als er sie anstellte. Er schaltete sie aus Spaß ein paarmal aus und ein: Augen zu, Augen auf.

Auf der Autobahn Richtung Norden wurde es dann endlich besinnlich. Der beleuchtete Ausschnitt vor ihm auf dem Asphalt blieb die ganze Zeit gleich, es kam Ben so vor, als stünde er auf der Stelle, während sich die Fahrbahn wie ein Laufband durchzog. Es wirkte beruhigend wie eine Meditation. Plötzlich fiepte im Wageninneren ein hoher Pfeifton, unangenehm laut, fast schmerzhaft. Am Armaturenbrett leuchtete keine Warnlampe auf, der Ton verschwand aber nicht, er hatte sich tief in seinem Ohr eingenistet. Ben war ratlos, ging das von selbst wieder weg? Mit Sicherheit waren es die Nachwirkungen der Adventsmusik. Verzweifelt schaltete er das Radio ein, vielleicht half es dagegenzuhalten. Doch was aus den Lautsprechern waberte, erhöhte seinen Stress noch: Sie spielten einen kitschigen Weihnachtstitel nach dem anderen.

Bens Job in der Amsterdamer Zentrale einer niederländischen Reederei war für ihn nur eine zweimonatige Zwischenlandung, am ersten Weihnachtstag würde er nach Singapur ziehen. Bis vor Kurzem hatte er in Jakarta gearbeitet, auch die Jahre davor war er in Asien und somit weit weg von Weihnachtsfeiern aller Art gewesen. Sie hatten ihm nicht eine Sekunde gefehlt. Der Heiligabend würde dieses Jahr auf eine Nacht im Flughafenhotel hinauslaufen, was ihn nicht störte, für ihn war es ein Tag wie jeder andere. Bens Eltern machten Langzeiturlaub auf Gran Canaria, er würde ausführlich mit ihnen skypen, wie jedes Jahr.

Sein zukünftiges Leben in Singapur hatte er gut vorbereitet, wie zuvor das in Duisburg, Shanghai, Mumbai und Jakarta. Grundvoraussetzung dafür war, dass er mit sich selbst zurechtkam, und das tat er. In Singapur hatte er sich online in einem Sportstudio angemeldet und würde sein Mandarin in einem Intensivkurs auffrischen. Immer, wenn er an einen neuen Ort zog, in dem er niemanden kannte, belegte er solche Kurse. So lernte er gleich zu Anfang Leute kennen: Alle globalen Arbeitsnomaden waren in der gleichen Situation, das schweißte zusammen. Allerdings musste er einräumen, dass an seinen vorherigen Standorten so gut wie niemand als Freund oder Freundin hängen geblieben war. Man kontaktete sich, nachdem man weitergezogen war, eine Weile über soziale Medien, bis man nach und nach vom Bildschirm des anderen verschwand. Er hatte gelernt, das zu akzeptieren, so war das eben.

Ben stellte die Weihnachtsmusik leise, ließ sie aber weiterlaufen. Seine Reise in den Norden passte ihm eigentlich überhaupt nicht in den Kram, er hatte in Amsterdam mehr als genug zu tun. Aber es ließ sich nicht umgehen. Dass er so kurz vor Weihnachten eine Woche freibekommen hatte, grenzte an ein Wunder, immerhin war schon der 8. Dezember. «Du musst deinen Schreibtisch aber trotzdem bis Heiligabend abgearbeitet haben!», hatte ihn sein Chef ermahnt. «Wie du das hinkriegst, ist deine Sache.» Ben nahm es als Herausforderung, wenn der Tag nicht ausreichte, gab es ja noch die Nächte.

Der Regen ließ nicht nach, die Scheibenwischer schafften es kaum, die Scheibe frei zu halten. Nach ein paar Stunden hatte Ben den Hamburger Elbtunnel erreicht. Hinter der Metropole wurde das Land tellerflach. Der Regen ging über in Schnee, ein Meer aus dicken Flocken raste ohne Pause auf die Windschutzscheibe zu, der Wind zerrte am Verdeck. Bald konnte Ben weder Mittelstreifen noch Fahrbahnrand klar erkennen. Er fühlte sich wie in einer Raumkapsel, die durch eine unbekannte Galaxie schleuderte. Nach sieben Stunden Fahrt war er hundemüde, eigentlich brauchte er dringend eine Pause – aber wo sollte er hier halten, mitten im Nichts?

Zum Glück war sein Ziel nicht mehr weit. Die Autobahn ging über in eine zweispurige Bundesstraße. Noch einige Kilometer geradeaus, dann kam der Abzweiger nach Friedrichstadt. Schlagartig hörte es auf zu schneien.

Ben ahnte, was ihn gleich erwartete: eine verschlafene norddeutsche Kleinstadt, schmucklose Rotklinkerbauten, gähnend langweilig.

Doch als er nach Friedrichstadt hineinfuhr, riss er die Augen auf. Was war das? Eine Fata Morgana? Es sah aus, als wäre er wieder dort angekommen, wo er vor ein paar Stunden losgefahren war! Mitten in Nordfriesland durchfuhr er eine niederländische Stadt, durchzogen von Grachten, an denen jahrhundertealte Häuser mit prachtvollen Treppengiebeln standen. Wie war das möglich?

Hin und wieder beleuchtete eine gusseiserne Laterne das Kopfsteinpflaster, das mit feinem Pulverschnee bedeckt war. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen, die Stadt gehörte um diese Zeit anscheinend sich selbst.

Nach wenigen Metern bog Ben auf einen Marktplatz ab, der ihn an ein Gemälde in einem alten Märchenbuch erinnerte. Die hellen Fassaden der prachtvollen historischen Häuser wurden mit Scheinwerfern beleuchtet, Giebel und Sprossenfenster wurden zusätzlich von kleinen Glühbirnen illuminiert. Davor stand ein Weihnachtsbaum mit unzähligen elektrischen Kerzen und bunten Kugeln. Ben ließ die Scheibe herunter. Von draußen hörte er nichts außer dem sanften Wind, es roch nach Holzrauch. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Pfeifton in seinem Ohr verschwunden war.

Das Navi führte ihn in eine dunkle Gasse mit kleinen Häusern. Der Möbelladen, den er suchte, befand sich hinter einem jüdischen Friedhof, direkt an dem Flüsschen namens Treene. Dessen Eisfläche wurde von einem Halbmond sanft beleuchtet. Im Licht der Straßenlaterne tanzten ein paar Schneeflocken. Ben nahm das schlichte weiße Haus mit den kleinen Sprossenfenstern in Augenschein. Auf dem Dachfirst thronte ein Wetterhahn mit rotem Kamm und buntem Schwanzgefieder. Neben der Eingangstür stand eine verwitterte grüne Sitzbank, von der aus man auf den Fluss sah. Ein Firmenschild gab es nicht, anscheinend kannte die Kundschaft den Laden. Hinter dem Schaufenster war ein Schild angebracht, auf dem in handgemalten Großbuchstaben stand:

BASAR AM VIERTEN ADVENT!

EILET HERBEI IN SCHAREN!

Seine Eltern hatten ihn vorgewarnt, er solle in dem Haus keine Schätze erwarten, allenfalls ein paar Bauernschränke vom Flohmarkt, die hier und da nachpoliert waren. Ben hangelte sich aus dem Wagen. Seine Knie waren von der langen Fahrt stocksteif, er streckte sich erst einmal durch. Vom zugefrorenen Fluss kam jetzt ein schneidend kalter Wind, der ihn erschaudern ließ. In diesem Moment fiel ihm ein, dass seine Daunenjacke noch in Amsterdam lag, dort war es viel wärmer gewesen, sodass er nicht daran gedacht hatte, sie mitzunehmen.

Ben zog den Eisenschlüssel und die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete auf ein verwittertes Emailleschild über der Eingangstür. Darauf waren ein roter und ein grüner Luftballon zu sehen, die versetzt Richtung Himmel schwebten.

Nett, dachte er.

Vorsichtig steckte er den Schlüssel in die Tür, drehte zweimal um und drückte behutsam die Klinke. Die massive, grün lackierte Holztür öffnete sich ächzend, gleichzeitig ertönte eine helle Glocke, die darauf hinwies, dass jemand den Laden betrat. Er kam sich vor wie ein Einbrecher. Er setzte einen Fuß in den dunklen Raum – und zuckte zusammen.

Er wurde bereits erwartet.

2

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe strahlte in das aufgeschreckte Gesicht einer Frau, deren große blaue Augen ihm entgegenstarrten. Sie war rundlich, ihre Lippen knallrot geschminkt. Unter einem gelben Tutu mit schwarzen Punkten trug sie eine grüne Seidenstrumpfhose.

Du störst mich!, schien sie ihm zuzurufen. Wenn ich hier tanze, hat niemand Zutritt!

Der Schein seiner Taschenlampe erfasste die durchsichtigen Fäden, die sie an der Decke hielten, ihr Schatten wurde riesengroß. Im Luftstrom der offenen Tür geriet sie in leichte Bewegung. Um ihren Kopf herum schwebten ein Dutzend hölzerne Miniatur-Auslegerboote aus der Südsee mit Segeln aus getrockneten Palmenblättern. Auf einem Tisch unterhalb der Tänzerin lag Blechspielzeug in bunten Farben.

Er ließ das Licht weiterwandern und staunte. Von wegen heruntergekommener Trödelladen – das hier sah aus wie ein riesiger Gabentisch. Antikes und modernes Spielzeug war bis unter die Decke gestapelt, geschmückt mit Lametta und Christbaumkugeln. Sobald Ben etwas erkannte, tauchte dahinter sofort etwas Neues auf. Zwischen einem Feuerwehrwagen und einer aufziehbaren Wildente stand ein Minimotorrad mit Beiwagen, eine Frau mit Ledermütze saß am Lenker, ihr Schal wehte im Fahrtwind. Im Beiwagen saß ein Mann mit Zigarette im Mundwinkel, der sich von ihr chauffieren ließ. Neben afrikanischen Kleinbussen, die aus Coladosen zusammengebastelt waren, hockte ein in die Jahre gekommener Metallroboter aus den Achtzigern mit einer Fellweste über dem Leib. Dahinter stand ein antikes Hochrad, das Ben bis zur Schulter reichte. Auf dem Sattel saß eine Stoffgiraffe, deren Hals bis zur Decke reichte, sie hatte einen roten Umhang mit Strasssteinen umgeworfen. Ihre braunen Augen hatten etwas Unnahbares. Vor ihr in einem weißen Plüschsessel saß ein Typ, der sie bewundernd in den Blick nahm, mit Sonnenbrille im gegelten Haar. Auf dem Boden davor ein kniehohes Holzkarussell mit Pferden, Löwen, Adlern und Wildgänsen.

Als Ben weiterging, streifte er aus Versehen einen hölzernen Garderobenständer. Dabei fiel ihm die Taschenlampe aus der Hand und ging sofort aus. Es war stockfinster im Raum, er sah seine eigene Hand nicht mehr. Bei all den Figuren befiel ihn das Gefühl, dass hier irgendwo jemand war.

«Hallo?», rief er.

Eine Schrecksekunde lang war es totenstill, dann meinte er, die Spielzeugfiguren miteinander wispern zu hören. Schritt für Schritt tastete er sich zurück zur Eingangstür und fuhr die Wand daneben mit der flachen Hand ab. Den Lichtschalter fand er auf Hüfthöhe. Er drückte und staunte erneut. Bunte Lichterketten leuchteten die gesamte Szenerie aus, wie bei einer Strandparty irgendwo im warmen Süden. Ein Weihnachtsbaum drehte sich auf dem Podest im Kreis. Ben lächelte. Er war behängt mit bunt bemalten Papierflugzeugen, einer kleinen Strandliege, Palmen und silbernen Gabeln.

Im Nebenraum befand sich eine Werkstatt. Auf einer Bank lagen Zangen, Drähte und Pinzetten verschiedener Größe, an der Wand waren Schraubenkästen mit unzähligen Fächern angebracht. Eine Motorradlederjacke hing an einem Eisenhaken, sie war dick mit Schaffell gefüttert. An der gegenüberliegenden Wand hingen Dutzende Ansichtskarten aus aller Welt, mit bunten Nadeln an die Tapete gepinnt.

Im hinteren Zimmer des Ladens fand Ben einen hohen Stapel kleiner und größerer Pakete, laut handgeschriebenen Adressschildern sollten sie alle nach Friedrichstadt gehen. Hatte sein Onkel Hein sie zur Post bringen oder selbst ausliefern wollen? Vermutlich Letzteres.

Ben schlängelte sich an den Paketen vorbei zu einer Wand, in die ein hölzerner Alkoven eingelassen war. Links und rechts davor wachten zwei Marionetten wie vor einer Höhle. Der Zauberer auf der einen Seite hatte einen klassischen schwarzen Seidenumhang umgeworfen, auf dem Kopf trug er einen altmodischen Spitzhut. Mit seinem rot-weiß geringelten Stab schien er herbeizaubern zu können, was er wollte. Je nachdem, von welcher Seite Ben ihn betrachtete, wirkte sein Gesicht melancholisch oder fröhlich.

Die hagere junge Marionettenfrau auf der anderen Seite trug eine Metallbrille, ihr dichtes Haar war nur mühsam zu bändigen. An ihr rotes Strandkleid war ein Zettel geheftet. Für die Insel!, stand da in steiler Handschrift.

Innen war der Alkoven mit dunkelblauem Samt ausgeschlagen, an der Decke leuchteten kleine Sterne. Auf der Leinenbettdecke lag eine Seifenkiste mit Speichenrädern, sie war mit der Nummer 23 versehen und groß genug, dass ein ausgewachsener Erwachsener darin Platz fand. Auf ihrer Haube lag ein Spielzeugfeuerwehrwagen aus Blech mit ausziehbarer Leiter, daneben ein uraltes Röhrenradio.

Neben dem Alkoven hing ein weiterer Zettel, auf dem mit dickem Zimmermannsbleistift unter der Überschrift «Weihnachtsliste» eine Reihe Namen und Spielzeuge vermerkt worden war. Die meisten davon waren durchgestrichen und abgehakt.

Ben setzte sich auf die Kante des Alkovens und leuchtete mal hierhin, mal dorthin. Überall gab es etwas zu entdecken, Stofftiere, kleine Flugzeuge, irgendwelche Fantasiegebilde. Kaum zu fassen, dass das alles nun ihm gehören sollte. Es war einfach zu viel.

«Na, dann frohes Fest, Ben Stein», murmelte er.

Plötzlich merkte er, dass die lange Fahrt ihm in den Knochen steckte. Gähnend schaute er auf sein Smartphone – schon zehn Uhr abends! Wenn er in Friedrichstadt noch eine Unterkunft finden wollte, sollte er sich umgehend auf die Suche machen. Blöderweise hatte sein Handy kaum noch Akku, der Stadtplan blinkte nur einmal kurz auf, dann verabschiedete sich das Display. Das war ärgerlich, aber keine Katastrophe.

Friedrichstadt war nicht riesig, hier fand er mit Sicherheit eine Pension oder ein kleines Hotel. Er stand auf und wollte gerade losgehen – da wurde er vom Strahl eines Handscheinwerfers geblendet.

«Ich will deine Hände sehen!», brüllte eine Frauenstimme. Die klang nicht nach Spielzeugfigur!

Das Licht schmerzte ihm in den Augen, er konnte nichts mehr erkennen.

«Heh!», protestierte er.

«Die Hände!», kam es jetzt noch lauter.

Zögernd hob er die Arme. «Ich bin nicht bewaffnet!», erklärte er mit schwacher Stimme.

Kaum war er hier, wurde er ausgeraubt. Mehr Pech konnte man wohl nicht haben.

3

Vor ihm stand eine uniformierte Frau, deren lockige hellblonde Haare unter einer Pudelmütze hervorquollen. Sie war ungefähr in seinem Alter. Auf der Mütze stand in weißen Lettern «Polizei», in der Hand hielt sie eine Pistole, die auf ihn gerichtet war. Sie schien zu allem entschlossen. Auf den zweiten Blick passte sie hervorragend zu all dem Spielzeug und den skurrilen Figuren, aber nicht wegen ihres Aussehens oder ihrer Uniform: Nein, Ben hatte noch nie zuvor eine Polizistin auf Schlittschuhen gesehen! Wenn er jetzt wegliefe, käme sie auf den Dingern wohl kaum hinterher, es sei denn, er begäbe sich aufs Eis.

Doch da irrte er gewaltig. Ehe er es kapierte, riss sie ihn herum, eine Sekunde später waren die Hände hinter seinem Rücken und Handschellen angelegt, das erste Mal in seinem Leben! Neben der Polizistin tauchte jetzt ein Mann auf, er trug Pferdeschwanz und keine Uniform, vermutlich ein Zivilfahnder. Auf seiner Nase saß eine randlose Brille. Auch er stakste auf Schlittschuhen – waren die beiden zusammen auf dem Eis Streife gelaufen?

«Was soll das?», beschwerte sich Ben.

Sie stemmte die Hände in die Hüften. «Hast gehört, dass der Besitzer gestorben ist, was? Und da dachtest du, kannst mal eben den Laden leer räumen.»

«Nein.»

«Ab in U-Haft mit dir!»

Sonst war er mit dem Duzen ja eher locker, aber bei ihr gefiel ihm das gar nicht. «Das ist ein Missverständnis», erklärte er ruhig. «Mein Name ist Benjamin Stein.» Alle nannten ihn nur «Ben», aber in diesem Fall schien sein offizieller Name angebracht.

«Für mich Häftling Stein», schnarrte sie.

Fand sie das witzig?

«Heinrich Stein war mein Großonkel.»

«Ausweis!»

«In der Hosentasche», erklärte er.

Die Polizistin hatte keine Scheu, dort hineinzugreifen und sein Portemonnaie herauszuziehen. Sie las, was auf der Ausweiskarte stand. Dann schaute sie hoch. «Ist der englische Wagen da draußen Ihrer?»

Sie war zum Sie gewechselt, interessant.

«Er gehört einem Kollegen.»

«So?»

«Wenn Sie mir die Handschellen abnehmen, kann ich Ihnen meinen Erbschein zeigen.»

Er sah ihr förmlich an, wie es in ihrem Hirn ratterte. Sie brauchte einen Moment, um die Lage zu erfassen, dann nahm sie ihm die Handschellen ab.

«Das hätten wir ja geklärt», sagte sie ohne Bedauern in der Stimme. «Willkommen in Friedrichstadt! Ich bin Hauptkommissarin Esther Seeling.»

Jetzt meldete sich der Pferdeschwanz-Mann zu Wort. «Sorry, Benjamin, seit Herr Stein verstorben ist, habe ich seinen Laden immer im Blick. Das Taschenlampengeflacker erschien mir verdächtig, da habe ich Esther alarmiert. Man weiß ja nie.»

«Bei euch fühlt man sich gleich herzlich aufgenommen», knurrte Ben.

Daraufhin machte die Polizistin etwas, womit er bei einer Beamtin im Dienst nicht gerechnet hätte: Sie ging auf ihn zu, umarmte ihn kurz und sagte: «Tut mir leid.» Die plötzliche Nähe verwirrte ihn umso mehr, als die Frau am Hals sehr gut roch.

Der Typ reichte ihm die Hand. «Stefan Beucker, ich bin der Filialleiter von Herrn Steins Bank, also sozusagen sein Finanzminister.»

«Will sagen?»

«Ich habe die Abwicklung des Ladens zur Chefsache gemacht, damit alles locker über die Bühne geht.»

«Was meinen Sie mit locker?»

Der Mann winkte ab. «Das Sie können wir weglassen, mein Bankinstitut ist nicht so ein spießiger Laden. Das sehen wir in Friedrichstadt nicht so eng, ich bin Stefan.»

Ben fand, das sprach eher gegen die Bank. Wer wollte sein Geld schon bei einer «lockeren Bank» anlegen?

Polizistin Esther begab sich auf Schlittschuhen Richtung Ausgang. «Schönen Abend dann noch.»

Beucker lächelte ihm aufmunternd zu. «Wir reden morgen, ja?»

«Worüber genau?»

«Und keine Panik.»

«Ich habe keine Panik», erwiderte er.

«Du kommst hier ohne Verluste raus, dafür werde ich sorgen.»

Beucker drückte ihm seine Visitenkarte in die Hand und folgte der Polizistin hinaus. Durch das Ladenfenster sah Ben das ungleiche Paar im Licht der Laterne die verschneite Böschung zur Treene hinunterrutschen, auf dem Hintern! Dann standen sie auf und fuhren nebeneinander auf dem Eis davon.

 

Ben hatte seinen Großonkel nur wenige Male in seinem Leben gesehen. Als er sieben war, hatte er ihn mal zusammen mit seinen Eltern besucht. Es war Bens einziges Mal in Friedrichstadt, aber damals existierte der Laden noch nicht. Onkel Hein plante gerade erst, sein neu erworbenes Haus mit alten Möbeln zu bestücken. Ben hatte sich von da an nur diffus erinnert, dass Onkel Hein in irgendeiner alten Stadt in Norddeutschland wohnte. Das Meerschweinchen vom Nachbarsjungen und die Badestelle im Fluss hatten ihn viel mehr interessiert als die alten Häuser.

Wie hatte sein Onkel damals noch ausgesehen? Zwei Meter groß, abstehende Ohren, Knollennase. Sympathische Erscheinung. Er hatte Ben mehrmals unauffällig Bonbons zugesteckt, die er immer lose in seiner Tasche herumtrug. Das ging blitzschnell, ohne dass es jemand mitbekam.

Fünf Jahre später war Onkel Hein dann Heiligabend bei ihnen in Frankfurt aufgetaucht, da war Ben zwölf. An diesen Tag mochte Ben nicht zurückdenken, er hatte sein ganzes Leben verändert. Was nichts mit Onkel Hein zu tun hatte.

Bens Vater hatte ihm erzählt, dass sein Onkel in der ersten Hälfte seines Lebens als Maschineningenieur auf