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Ein literarischer Streifzug durch Kästners Berlin In Berlin schuf Erich Kästner jene Werke, die ihn weltberühmt machen sollten: die Gedichtbände Herz auf Taille und Lärm im Spiegel, Kinderbücher wie Emil und die Detektive, außerdem seinen Fabian und viele weitere. Aber er schrieb nicht nur, sondern nahm diese aufregende Stadt mit allen Sinnen wahr, stürzte sich ins Nachtleben und besuchte Theater, Kinosäle und Kabaretts. Erich Kästners Sicht auf Berlin ist einzigartig – oft amüsant, manchmal nachdenklich oder satirisch, aber stets hochinteressant. Mit dieser Zusammenstellung von Texten und Gedichten des Autors kommen nicht nur Berlin-Kenner auf ihre Kosten. Herausgegeben von Sylvia List.
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Seitenzahl: 57
Erich Kästner
Das ist Berlin!
Erich Kästner und seine Stadt 1927–1933
Herausgegeben von Sylvia List
Erich Kästners Werke erscheinen im Atrium Verlag in ihrer originalen Textgestalt. Die Sprache hat sich im Lauf der Jahrzehnte gewandelt, manche Begriffe werden nicht mehr oder anders verwendet. Von minimalen Eingriffen abgesehen, wurde aus urheberrechtlichen Gründen darauf verzichtet, Kästners Sprache – die eines aufgeklärten Moralisten und Satirikers – dem heutigen Sprachgebrauch anzupassen.
Erstausgabe
© Atrium Verlag AG, Zürich 2023
© Thomas Kästner:
Erich Kästner erinnert sich: Berlin 1927 ; Berlin als Film; Achtundvierzig Vögel; Es liegt in der Luft!; Provinz Berlin; Kunstgespräche; Ab 5 Uhr früh Reis mit Huhn; Hauptgewinn 5 Pfund Prima Weitzenmehl!; Hier werden Junggesellen aufgefrischt; Das ist Berlin!; Zwanzig Autogramme; Vox populi; Der Streichholzjunge; Erich Kästner erinnert sich: Berlin um 1930 ; Die »höfische« Kunstepoche; Berliner Vereinsleben; Dr. Goebbels’ weiße Mäuse; Kann man Bücher verbrennen?; Erich Kästner erinnert sich: Berlin 1933 und danach; Kleines PS. über die Berliner
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg
Covermotiv: © akg-images
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ISBN978-3-03792-220-0
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Berlin war damals die interessanteste Großstadt der Welt. Es war die Metropole und verdiente sich diesen Titel jeden Tag und auch jede Nacht von neuem. Theater und Kunst, Musik und Literatur, Mode und Schönheit, Lust und Laster, alles drängte sich, wie unterm Brennglas, zusammen. Freilich, unterm Brennglas ist es heiß. Es gab viel Blühen und auch hektische Blüten. Es gab viel Verwelken und auch Verbrennungen dritten Grades. […] Es war ein Leben auf dem hohen Seil, und es war ein Leben ohne Netz. Und wer sich das Genick nicht brach, fand dieses Leben hinreißend. In Berlin fragte niemand nach der Hautfarbe, nach dem Pass, nach dem Bankkonto, nach der Vorbildung, nach den Zensuren, nach der Familienchronik. Es hieß nur: »Hic Berolina, hic salta!« Wem der Sprung gelang, der war qualifizierter Berliner. Von einem Tag zum andern. Und wenn er aus Somaliland stammte. Wem der Sprung misslang, dem war nicht zu helfen. Für Mitleid blieb wenig Zeit.
Schon vormittags stehen die Berliner vor den Kassen des Tauentzienpalastes Schlange, um sich Karten für den Film Berlin, die Sinfonie der Großstadt zu erobern. Ein Jahr haben die Operateure gebraucht, um, unter Walter Ruttmanns Führung, die tausend Gesichter dieser einen Stadt in Bilder zu bannen; um nichts zu photographieren als das Tempo und die Buntheit Berlins. Die Stadt war ihnen Milieu und Held in einem; die Stadt von morgens bis mitternachts! Vom ersten Arbeiter, der früh in die leere Straße tritt, bis zum letzten Maskottchen, das beschwipst nach Hause stolpert; vom ersten Pfiff der Fabriken bis zur letzten Feuerwerksrakete im Lunapark; von der Arbeit bis zur Liebe enthüllten sie die großartige, hastige Fülle der Viermillionenstadt.
Hochbahnen, Autobusse, Straßenbahnen, Lastfuhrwerke, Menschenströme, Droschken, Züge, Flugzeuge bewegen sich, und das Wirrsal aller Bewegungen ist: Berlin. Arbeiter, Angestellte, Verkäuferinnen, Straßenmädchen, Schulkinder, Flaneure, Selbstmörder, Bettler, Magnaten rennen durcheinander und nach tausend Zielen, und diese Jagd aneinander vorbei ist: Berlin. Zeitungen, Theater, Zirkus, Tanz, Kabarett, Maschinen, Schornsteine, Leierkästen, Hochzeit, Leichenwagen, Reklame, Bahnhöfe, Konditoreien, Bars, Kaschemmen zeigen sich und verschwinden, und dieser wilde Taumel der Dinge, der Pflichten und der Lüste ist: Berlin!
Also ist dieser Film eine Revue? Er will mehr, er will Sinfonie sein. Ruttmann versuchte, statt der bloßen Bildfolge, einen epischen Verlauf, der mit musikalischen Werken verglichen werden kann. Gewisse Themen kehren in Abständen wieder; neben Bildreihen, in denen Arbeit, Armut und Laster sichtbar sind, laufen kontrapunktisch andere, welche das Vergnügen und den Reichtum, den Genuss und den Feierabend zeigen. Die wahllose Fülle des Materials wurde so geordnet, dass Melodien und Akkorde, Themen und Variationen fürs Auge »hörbar« wurden. – Und der Plan einer Sinfonie wurde, auch musikalisch, weitergeführt. Edmund Meisel, der Piscator-Komponist, schrieb eine chronometrisch und klanglich dem Film eingefügte Musik dazu. Die Maschinen stampfen tatsächlich. Die Lokomotiven rollen und bremsen auch im Orchester, wenn sie’s auf der Leinwand tun. Die Großstadt schreit in Augen und Ohren. Partitur für 75 Mann Besetzung! Bleche rasseln; der Viertelton-Flügel ist in Betrieb! Vor den Augen flimmert’s, und die Ohren dröhnen von Dissonanzen!
So imposant dieser Versuch und so richtig er im Prinzip ist – er ist zu sehr […] bedacht, durch äußere Effekte zu wirken. Er geht zu sehr von der These aus: Zehn Untergrundbahnen und tausend Menschen überzeugten uns eher als fünf Bahnen und hundert Menschen. Er unterschätzt den stellvertretenden Wert der Episode. […]
Trotzdem – der Film Berlin ist ein aktiver Protest gegen den albernen Kurbelbetrieb jeder Sorte. Er will es sein, und er wird es bleiben.
In einem der größten und neuesten Vergnügungslokale des Berliner Zentrums – ich hätte große Lust, den Namen zu nennen – befinden sich in achtundvierzig winzig kleinen Vogelbauern achtundvierzig gelbe Kanarienvögel. Die Sache klingt vorläufig noch harmlos, und um ihre grausame Lächerlichkeit im schönsten Licht zu zeigen, ist es erforderlich, das Milieu kurz vorzustellen. Der große Saal der Lokalität, mit Stuckatur und Säulen bepflastert, fasst sicher 800 Gäste. Zwei Jazzkapellen spielen abwechselnd und werden von relativ jungen Damen unterstützt, die mit Megaphonen vor dem Munde Schlagertexte schmettern. Varieté-Darbietungen, Girl-Hüpferei, Konfettischlacht und Tanz des Publikums wechseln in atemloser Folge. Animierfräuleins regen die älteren männlichen Besucher zu gesteigertem Sektgenuss an. Lärm, Tabakrauch, erotischer Rummel und Varieté-Sensationen machen den Riesenraum zu einer besseren Art von Hölle, die man nur in bereits angeheitertem Zustand einigermaßen erfolgreich zu absolvieren imstande ist.
Wenn nun wirklich einmal für fünf Minuten jener ungewöhnliche Zustand eintritt, den man mit sehr viel gutem Willen als »Ruhe« bezeichnen kann, hört man plötzlich von irgendwoher vielstimmiges Zwitschern und Piepen. Man hebt den Blick und sieht rund um eine kitschige Säule zwölf kleine Vogelbauer, in deren jedem ein Kanarienvogel hockt und ängstliche Laute von sich gibt. Man blickt sich weiter um und stellt fest, dass sich an drei weiteren solchen Säulen je zwölf andere Bauer mit den kleinen gelben Vögeln befinden.
Achtundvierzig Kanarienvögel hocken in der halben Höhe dieses Rummelplatzes und sind von der Direktion dazu angestellt, etwaige Pausen des Radaus mit ihrem Gezwitscher auszufüllen. Selbstverständlich singen und piepen sie auch in der übrigen Zeit, doch da hört man sie nicht, und es wird vielleicht Besucher geben, denen die tierquälerische Geschmacklosigkeit überhaupt nicht auffällt, da sie mit den übrigen Attraktionen und mit der Getränkekarte zu sehr beschäftigt sind. Indessen haben die kleinen Tiere, in einer Atmosphäre, die in jeder Beziehung nicht das Richtige für Kanarienvögel ist, bis nachts drei Uhr geschäftlich zu tun. Jeder sitzt in einem Bauer, dessen Höhe und Breite höchstens 15 Zentimeter betragen, und zwitschert kläglich.
Es wäre gewiss aufschlussreich zu erfahren, wie lange (oder wie kurz) diese Vergnügungsvögel leben, und wie oft man, an Stelle der krepierten, neue engagieren muss.
(Ist sehr sachlich zu sprechen)
Ich bin aus vollster Brust modern
und hoffe, man sieht es mir an.
Ich schlafe mit allen möglichen Herrn,