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Terroranschläge, Krisen, schwelende politische Konflikte: Die Zeiten werden rauer, von allen Richtungen bläst uns der Wind ins Gesicht. Da könnte es hilfreich sein, einen Standpunkt zu haben. Doch haben wir einen, und wenn ja, wie viele – oder spielen jetzt alle nur noch verrückt? Vor diesem Hintergrund schrieb Henryk M. Broder im letzten Jahr ein politisches Tagebuch, das heute bereits visionär erscheint. Pointiert und satirisch scharfsichtig hilft uns News-Junkie Broder dabei, im medialen Wahnsinn, der täglich über uns hereinbricht, Haltung zu bewahren.
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Seitenzahl: 437
Das Buch
Henryk M. Broder, der sich selbst als »Streckenwärter« bezeichnet, der an Gleisen entlang läuft und »einsammelt, was aus den Zügen fällt«, ist ein News-Junkie. Für ihn sind die Nachrichten von heute nicht morgen vergessen, sie sind Fundsachen, die man festhalten und miteinander verknüpfen muss, damit sie ein Gesamtbild ergeben, das über den Tag hinaus Bestand hat. Deshalb notierte er ein halbes Jahr lang, vom 1. Januar bis 30. Juni 2015, was ihm bei den Menschen, die unsere Politik bestimmen und präsentieren, so alles auf- und einfällt. Sein Ergebnis: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.« Wir leben in einer Gesellschaft, der die Kraft abhandengekommen ist, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.
Der Autor
Henryk M. Broder, geboren 1946 in Kattowitz, ist Reporter bei der »Welt« und Mitherausgeber des politischen Blogs »Achse des Guten«. Bei Knaus erschien zuletzt der Bestseller »Die letzten Tage Europas« sowie das Ebook »Rettet Europa!«. Er lebt in Berlin.
Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de
Henryk M. Broder
Das ist ja irre!
Mein deutsches Tagebuch
Knaus
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1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2015
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München
Lektorat: Axel Feuerherdt, Hilde Recher
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17407-1
www.knaus-verlag.de
Der Kopf ist willig, der Geist ist schwach
Dieses Buch hat sich wie von selbst geschrieben. Ich musste es nur zu Papier bringen. Wie ein Medium, das Nachrichten von Außerirdischen empfängt und dekodiert.
Ich brauchte freilich nichts zu dekodieren, ich musste mich nicht einmal mit fremden Kulturen vertraut machen. In dem Film Mars Attacks lassen die Friedensfreunde zum Empfang der Marsianer auf der Erde weiße Tauben aufsteigen, sie wissen nicht, dass weiße Tauben auf dem Mars das Symbol der Gewalt sind. Die Marsianer greifen zu ihren Waffen, der Empfang endet in einem Blutbad.
So kommen »kulturelle Missverständnisse« zustande. Händchen haltende Männer sind in homophoben arabischen Gesellschaften ganz normal. Bei uns können schwule Männer »eingetragene Lebenspartnerschaften« eingehen und demnächst auch heiraten, dennoch müssen sie im Alltag auf Benimmregeln achten, die noch aus der Zeit stammen, als »warmer Bruder« ein Schimpfwort war. Vermögende Saudis, die im Sommer die deutsche Gastfreundschaft genießen, geraten außer sich, wenn sie auf der Herrentoilette ihres Fünf-Sterne-Hotels einen Wickeltisch vorfinden. Ebenso irritiert reagieren sie, wenn eine Mutter am Nebentisch ihrem Kind die Brust gibt. So was gehört sich nicht, denken sie, diese dekadenten Deutschen!
Es ist nicht diese Art von Laissez-faire, um die es mir geht. Auch nicht um die Frage, ob die Geschlechtszugehörigkeit eine Tatsache oder ein soziales Konstrukt ist, ebenso wenig um die »Ehe für alle« und das Wahlrecht für Kinder vom Moment der Geburt an; nicht um die Eskapaden einer von Langeweile, Überfluss und Überdruss geplagten Subkultur, die man täglich bei Explosiv auf RTL besichtigen kann. Es geht um eine Gesellschaft, die sich so radikal selbst kastriert hat, dass ihr jeder Narr und jede Närrin einreden kann, zwei mal zwei müsse nicht unbedingt vier, es könne auch mal fünf oder dreieinhalb sein – je nach den Umständen. »Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagt die alternativlose Kanzlerin gern und oft und leistet so der Fiktionalisierung von Realität Vorschub nach dem Motto: die Welt als Wille und Vorstellung. Dabei ist es egal, was auf der Tagesordnung steht – die Energiewende, die Autobahnmaut oder das »Projekt Europa«, der Turmbau zu Babel des 21. Jahrhunderts. Wenn wir nur richtig wollten, könnten wir sogar den Rhein nach Süden fließen lassen.
Nichts ist unmöglich! Wir können heute, guten Willen und die richtige moralische Haltung vorausgesetzt, ökonomische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen. Beispielsweise wurde fünf Jahre lang Griechenland »gerettet« und mit Milliardenzuschüssen der EU vermeintlich über Wasser gehalten, bis schließlich der Patient, der es leid ist, künstlich beatmet und ernährt zu werden, die weitere Behandlung verweigert. Wie die Sache ausgeht, steht noch nicht fest, vielleicht wird der Patient doch weiterhin künstlich ernährt. Vielleicht wird ein Wunderheiler ans Krankenbett geholt. Eines fürchte ich aber: Der Wahnsinn wird weitergehen!
Ich bin kein Apokalyptiker, ich glaube weder daran, dass man die Erderwärmung wirklich vorhersagen und quasi monokausal herleiten oder gar durch Konferenzbeschlüsse so beeinflussen kann, dass sie bei plus zwei Grad stoppt. Ich denke auch nicht, dass früher alles besser war, im Gegenteil. Die Luft, die wir atmen, ist sauberer, das Wasser, das wir trinken, klarer, die medizinische Versorgung effektiver; die Lebenserwartung steigt, die Kindersterblichkeit geht zurück und das, was wir heute in vielen Industrieländern »Armut« nennen, ist das Ergebnis von ABM-Programmen für Scharen von Sozialarbeitern, die dafür sorgen, dass die Armen von Beihilfen abhängig bleiben. Man könnte es auch »staatlich geförderte Verwahrlosung« nennen.
Das alles regt mich auf, aber es treibt mich nicht in den Wahnsinn. Wenn ich, um wieder ein wenig vorzugreifen, in einer Rezension der päpstlichen Umwelt-Enzyklika lese, »Jesus würde Car-Sharing mögen«, finde ich das albern. Ebenso wie den Aufruf einer französischen Politikerin, Nutella zu boykottieren, weil zur Herstellung der Nuss-Nugat-Creme Palmöl benötigt wird, für dessen Gewinnung Regenwälder gerodet werden müssen. Ich frage mich: Wäre es denkbar, dass der Papst bald den Verzehr eines Nutella-Brötchens in den Katalog der Todsünden aufnimmt?
Was mich dagegen wirklich irre macht, ist, wenn Marietta Slomka im Heute-Journal über den »sogenannten Islamischen Staat« spricht. Wieso »sogenannt«? Gibt es irgendwo eine Stelle, die islamische Staaten zertifiziert? Der IS definiert sich nicht über international anerkannte Grenzen, sondern über die Macht, seine Vorstellungen von Recht und Ordnung durchzusetzen. In diesem Sinne ist er sogar ein sehr moderner Staat – bürgernah, flexibel und grenzüberschreitend. Will Frau Slomka mit dem Zusatz »sogenannter« andeuten, der IS habe sich das Etikett »islamisch« nicht fleißig erarbeitet, sondern nur erschlichen, wie Karl Theodor zu Guttenberg seinen Doktortitel? Sie könnte sich freilich darauf berufen, auch Präsident Obama habe erklärt, der »sogenannte Islamische Staat« sei »weder ein Staat noch islamisch«. Was ist er dann? Eine vegane Niederlassung von Kentucky Fried Chicken? Ein Außenposten der Heilsarmee? Eine Halloween-Party, auf der Kürbisköpfe rollen? Käme irgendein Bischof auf die Idee, die christliche Inquisition mit dem Attribut »sogenannte« zu relativieren, müsste er mit dem Shitstorm seines Lebens fertigwerden.
Das alles sind Symptome einer Gesellschaft, der die Kraft abhandengekommen ist, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen, die vom Terror nur dann tangiert wird, wenn die Frage aufkommt, ob man nach einem Anschlag auf eine Ferienanlage – in Ägypten, Tunesien oder Bali – die Reise kostenfrei stornieren kann.
Ich nehme es mir immer wieder vor, mich nicht mehr aufzuregen, mit 68 könnte ich langsam aufhören, das HB-Männchen zu spielen. Indes, der Kopf ist willig, der Geist ist schwach. Nicht, dass ich die Welt verändern möchte, das war nie meine Absicht, aber ich kann nicht im Welttheater sitzen und Begeisterung heucheln, wenn ich die Vorstellung abstoßend finde.
Wenn die Kanzlerin nach dem Anschlag von Sousse dem tunesischen Ministerpräsidenten versichert, Deutschland stehe in diesen schweren Stunden an der Seite Tunesiens und werde die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus weiter intensivieren, dann frage ich mich, ob sie wirklich die Bundeswehr nach Tunesien schicken will oder nur einen Witz gemacht hat, der sich mir nicht ganz erschließt. So geht es mir auch, wenn ich den Präsidenten des Europaparlaments sagen höre, die Rettung Griechenlands habe »uns bis jetzt keinen Euro gekostet«. Wahr ist, die Rettung Griechenlands hat ihn bis jetzt keinen Euro gekostet, weil alle mit der Rettung verknüpften Aktivitäten des umtriebigen Präsidenten aus der EU-Kasse finanziert werden, also aus Steuergeldern. Dass Merkel, Schulz und andere mit solchen Schummeleien davonkommen, finde ich unerträglich. So etwas muss – for the record of history – wenigstens protokolliert werden. Andere sammeln Bierdeckel oder Briefmarken, ich sammle Entgleisungen, Fehlleistungen, Täuschungen.
Und so lag die Idee zu diesem Tagebuch einfach in der Luft. Ein Buch als Chronik des laufenden Irrsinns, der im Gewand der Normalität und dem Gestus »Wir retten die Welt« daherkommt. Dabei will ich nicht ausschließen, dass ich der Irre vom Dienst bin und diejenigen, die ich für gaga halte, pumperlgsund sind. Wer oder was irre ist, hängt davon ab, wer in einer Gesellschaft das Sagen und die Deutungshoheit hat. Und so nahm ich die Anregung meines Verlegers auf, ein halbes Jahr lang Buch zu führen und jeden Tag meinem Tagebuch eine Geschichte anzuvertrauen. Worüber, das sollte mein Lebenspartner, der Genosse Zufall, entscheiden. Ich konnte nicht ahnen, dass es in dieser Zeit um Alles oder Nichts, Sein oder Nichtsein der EU und des Euro gehen würde. Auch nicht, dass gleich zu Beginn meines täglichen Zwiegesprächs der islamische Terror in Paris und am Ende in Sousse, Lyon und Kuwait morden würde. Ich dachte, die künstliche Aufregung der verlässlich antiamerikanischen deutschen Kulturschaffenden vor dem Transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP wäre das Schrägste, das mich erwarten würde.
Wie meine Bücher zuvor habe ich auch dieses Tagebuch für mich geschrieben, um Klarheit zu gewinnen, was um mich herum passiert. Nun weiß ich zwar mehr, ich kann sogar den EFSF vom ESM unterscheiden, bin aber ebenso ratlos wie am Anfang.
Also fragen Sie mich bitte nicht, welche Lösungen ich anzubieten hätte. Ich bin kein Politiker und kein Therapeut, und ich finde, es laufen schon genug Gesundbeter und Geistheiler herum, die uns einreden wollen, wo ein Wille sei, da gebe es auch einen Weg, unabhängig von Natur- oder ökonomischen Gesetzen. Das ist Voodoo-Politik.
Ein Tagebuch hat eine Chronologie, aber Sie können es von vorne nach hinten ebenso lesen wie von hinten nach vorne. Sie können auch mittendrin einsteigen und hin und her surfen. Egal wie Sie es machen, Sie werden sehen: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.«
Dieser Satz stammt von Oskar Panizza, einem bayerischen Schriftsteller (Das Liebeskonzil) und Nervenarzt, der von 1853 bis 1921 lebte. Er wurde 1895 wegen »Religionsbeschimpfung« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und später auch der »Majestätsbeleidigung« angeklagt. Ihm widme ich dieses Buch.
HMB im Juli 2015
Liebes Tagebuch!
Kaum hat das neue Jahr begonnen, rege ich mich schon wieder auf. Gott sei Dank habe ich mir nicht vorgenommen, mich nicht aufzuregen.
Zu den Kollateralschäden der Wiedervereinigung gehört für mich, dass wir eine Kanzlerin haben, von der niemand sagen kann, was sie in der DDR gemacht hat, nicht einmal sie selbst. Angela Merkel soll in »ihrer« FDJ-Gruppe »Sekretärin für Agitation und Propaganda« gewesen sein. Dieses »Gerücht« taucht immer wieder auf und wird von Merkel weder dementiert noch bestätigt. Sie sagt nur, dass sie »nichts verheimlicht« habe. »Ich kann mich da nur auf meine Erinnerung stützen. […] Wenn sich jetzt etwas anderes ergibt, kann man damit auch leben.«
Allerdings räumt sie ein, nach bestimmten Dingen nie gefragt worden zu sein, zum Beispiel nach ihrer Mitgliedschaft im FDGB und ihrer Mitarbeit in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Oder sie lässt ihren Sprecher Steffen Seibert (früher ZDF) sagen: »Die Bundeskanzlerin hat sich wiederholt und über Jahre hinweg in Büchern wie in Interviews zu ihrem Leben in der DDR geäußert. Sie hat Fragen dazu stets offen und stets auf der Basis ihrer ehrlichen Erinnerungen beantwortet.«
Bei solchen Statements kommt es auf jedes Wort an.
Seibert sagt nicht, die Kanzlerin habe alle Fragen dazu beantwortet, sondern nur Fragen. Und zwar auf der Basis ihrer ehrlichen Erinnerungen. Und er sagt auch nicht, dass sie die Fragen ehrlich beantwortet hat, sondern auf der Basis ihrerehrlichen Erinnerungen. Erinnerung jedoch kann auch trügen – das wissen der Volksmund und die Gehirnforschung.
Wer, wie ich, schon mal eine Brille, die er eben noch in der Hand gehabt hat, nicht mehr finden konnte, der weiß, dass man sich auf alles verlassen kann, nur nicht auf seine eigene Erinnerung. Und wenn ein ehemaliger IM mit einer Akte konfrontiert wird, aus der hervorgeht, dass er der Stasi zugearbeitet hat, dann versagen zwar seine ehrlichen Erinnerungen, aber er weiß ganz genau, dass er weder eine Verpflichtungserklärung unterschrieben noch bewusst Informationen an die Stasi geliefert hat.
Deswegen ist es egal, woran sich die Kanzlerin erinnern oder nicht erinnern kann. In der DDR war alles Agitation und Propaganda, der tägliche Wetterbericht ebenso wie der Preis der Halloren-Schokoladenkugeln und die Werbung für Nudossi-Brotaufstrich.
In meinen Albträumen fürchte ich, das Einzige, worauf es ankommt, ist: Meine Kanzlerin, die aus der DDR gekommen ist, führt mich mit ruhiger, fester Hand in die DDR zurück, eine größere und mit materiellen Gütern besser ausgestattete DDR, in der es zu den Entscheidungen der Regierung keine Alternativen gibt. Ich wache auf und ahne, ich muss bei ihr auf jedes Wort achten, das gesagte und das ungesagte.
»2014 mussten wir außerdem erleben«, sagte gestern Angela Merkel in ihrer sieben Minuten langen Neujahrsansprache zu mir, »dass die Terrororganisation IS alle Menschen verfolgt und auf bestialische Weise ermordet, die sich ihrem Herrschaftswillen nicht unterwerfen.« Hätte es die Kanzlerin viel mehr Mühe oder Zeit gekostet, das Kürzel IS auszusprechen? »Islamischer Staat« oder meinetwegen »der sogenannte Islamische Staat«. Hat man ihr geraten, das Wort »islamisch« nicht zu benutzen? Damit sich niemand beleidigt, gekränkt, verletzt fühlt? Als Präsident Obama nach der »Hinrichtung« eines US-Bürgers erklärt hat, der Islamische Staat sei weder islamisch noch ein Staat, da hat er den Firmennamen wenigstens noch vollständig ausgesprochen: »Neither islamic nor a state.« Okay, liebes Tagebuch, ich halte ihr zugute, dass sie über die »DDR« gesprochen und nicht »Deutsche Demokratische Republik« gesagt hat, als sie an die Montagsdemos vor 25 Jahren erinnerte.
»Heute rufen manche montags wieder ›Wir sind das Volk!‹. Aber tatsächlich meinen sie: ›Ihr gehört nicht dazu. Wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion.‹ Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen, denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen.«
Ist die Kanzlerin eine gelernte Physikerin oder eine Kardiologin? Hat sie ein Gerät oder ein Verfahren entwickelt, mit dem man in die Herzen der Menschen schauen kann? Eine Sonde, eine Art Lackmustest? Gibt es auf den Ruf »Wir sind das Volk!« ein Copyright, das von der Regierung gehütet wird? Gehört es zur Richtlinienkompetenz der Kanzlerin, darüber zu verfügen, wer sich zum Volk rechnen darf? Wenn der »Islam zu Deutschland gehört«, wie Christian Wulff gesagt hat, gehören dann nicht auch diejenigen zum Volk, in deren Herzen Hass und Kälte wohnen? Setzt sich das Volk nur aus den Edlen, Guten und Hilfreichen zusammen? Müssen die Kaltherzigen draußen vor der Tür bleiben? Ist Angela Merkel nicht die Kanzlerin aller Deutschen? Es fällt mir einfach schwer hinzunehmen, dass die Kanzlerin die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen stecken möchte, als wäre sie Aschenputtel.
Okay, liebes Tagebuch, vielleicht sollte man das, was eine Kanzlerin kurz vor Ultimo redet, nicht auf die Goldwaage legen. Sie hat ja auch mal gesagt: »Mit mir wird es keine Maut geben.« Die Maut war in der Neujahrsansprache kein Thema, dafür aber der Bundeshaushalt für das Jahr 2015. Wir würden, sagte sie, »das erste Mal seit 46 Jahren keine neuen Schulden im Bund aufnehmen müssen«; nun sei Schluss »mit dem Leben auf Pump«.
Wirklich? Der Bundeshaushalt für 2015 weist ein Ausgabenvolumen von 299,5 Milliarden Euro auf. Der größte Posten mit 41,7 Prozent entfällt auf »Arbeit und Soziales«. Es folgt die Verteidigung mit 10,8 Prozent, auf Platz drei rangiert mit 9,4 Prozent die »Bundesschuld«. Das sind die Ausgaben für die Tilgung und Zinsen der Kredite, die der Bund aufgenommen hat. In Zahlen: 28,2 Milliarden Euro, genau das Doppelte der Summe, die für Familienförderung ausgegeben wird.
So sieht es also aus, wenn »mit dem Leben auf Pump« Schluss gemacht wird. Ein Alkoholiker mit einem vollen Weinkeller würde sagen: »Ab sofort wird kein Wein mehr gekauft.«
Das ist ja irre!, sagst du, liebes Tagebuch, und du hast recht.
Liebes Tagebuch!
Mehr noch als Angela Merkel ist Frank-Walter Steinmeier für mich das Gesicht der Berliner Republik. Der Chef des Auswärtigen Amtes nimmt seinen Job wörtlich, er ist immerzu auswärts. Brauchte Phileas Fogg noch 80 Tage, um einmal die Welt zu umrunden, kommt Steinmeier in der gleichen Zeit auf mindestens zwei Dutzend Weltreisen. Das ist nicht nur eine Frage der Logistik, es ist eine Frage des Bewusstseins.
Natürlich muss der deutsche Außenminister dabei sein, wenn die Generalversammlung der Vereinten Nationen eröffnet wird. Gerade die informellen Gespräche am Rande des Plenums sind ja sooo wichtig. Und ein Treffen der Außenminister des Weimarer Dreiecks (Deutschland, Frankreich, Polen) ohne Steinmeier wäre so trostlos wie eine Skatrunde mit nur zwei Spielern.
Auch beim deutsch-russisch-polnischen Trialog in St. Petersburg darf »Steini« nicht fehlen, denn der Weg der deutschen Geschichte führt über Warschau nach Stalingrad.
Es lohnt sich, einen Blick auf die »Chronik der Ministerreisen« auf der Homepage des Auswärtigen Amtes für das vergangene Jahr zu werfen. 2014 unternahm der Außenminister 54 Dienstreisen. Er war unter anderem sechsmal in Kiew, viermal in Israel/Palästina, dreimal in Paris, je zweimal in Moskau und London. Er besuchte Äthiopien, Tansania und Angola; Georgien, Moldawien und Armenien; Kasachstan, Aserbaidschan und Saudi-Arabien. Mexiko, Indonesien und Südafrika. Japan, Indien, China und Korea. Breslau, Prag, Rom und Warschau. Oslo, Sarajewo und Wien. Auch Reisen zu weit entfernten Zielen dauerten selten länger als drei Tage, Hin- und Rückflug inklusive. Eine solche Leistungsbilanz kann nicht einmal der amerikanische Außenminister vorweisen.
Kaum war das Fest der Heiligen Drei Könige im vergangenen Jahr vorbei, brach Steinmeier nach Brüssel auf, um dort den Präsidenten der EU-Kommission zu treffen. Gleich nach seiner Ankunft gab Steinmeier eine Erklärung zu Sinn und Zweck seiner Reise ab. »Das ist keine Zufälligkeit des Terminkalenders, sondern ein Statement der Bundesregierung. Wir wollen hier sagen: Europa ist für uns nicht eine Option unter vielen, sondern auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte und eine Zukunftshoffnung.«Europa sei mehr als nur eine gemeinsame Währung und ein gemeinsamer Binnenmarkt. »Dieses Europa steht […] für gemeinsame Werte und für eine gemeinsame Zukunft. Wir Deutschen sollten uns dieser Verantwortung sehr bewusst sein, und wir sollten alle unsere Bemühungen darauf ausrichten, dass die europäische Krise, die uns in den letzten Jahren beherrscht hat, überwunden wird.«
Im Februar schlug Steinmeier in Madrid auf, um den Spaniern seine Anerkennung für die Umsetzung der Reformen auszusprechen. »Ich anerkenne in hohem Maße, dass das schwere Zeiten sind, durch die die Menschen in Spanien gehen müssen. Umso mehr freut mich natürlich, dass wir die Krise in Europa zwar noch nicht überwunden haben, aber dass sich der ökonomische Himmel doch ein bisschen gelichtet hat …« Dennoch komme einiges auf die europäischen Regierungen zu. »Wir stehen als europäische Regierungen alle in der Verantwortung, das Gespräch mit unseren Bevölkerungen zu suchen und immer wieder zu sagen: Europa ist nicht das Problem, sondern Europa wird Teil der Lösung unserer Probleme sein.«
Im März machte Steinmeier Estland, Lettland und Litauen die Aufwartung. Dafür nahm er sich einen ganzen Tag Zeit. Er versicherte seinen Gesprächspartnern, eine Abtrennung der Krim von der Ukraine sei »völkerrechtlich inakzeptabel«. Er lobte die baltischen Staaten, sie seien zu »festen Ankern der europäischen Wertegemeinschaft« geworden und hätten auf dem Weg in die EU »viele Herausforderungen« gemeistert. »Heute teilen wir als Partner gemeinsame Verantwortung in der EU und in der NATO. Die Sorgen unserer baltischen Partner […] teilen wir und nehmen wir sehr ernst.«
Kaum aus dem Baltikum zurück, machte sich Steinmeier wieder auf den Weg in den Osten, nach Kiew, wo er den Ukrainern den Ernst der Lage erklärte: »Wir treffen uns heute hier, weil wir wissen, dass die Situation immer noch dramatisch ist.«
Das blieb sie auch nach seiner Abreise aus Kiew, während er in Äthiopien, Tansania und Angola die Lage erkundete, derweil in Japan und China schon der rote Teppich für den Gast aus Deutschland ausgerollt wurde.
Nach einem kurzen Boxenstopp in Berlin reiste Steinmeier zusammen mit dem französischen Außenminister Fabius nach Georgien, Moldawien und Tunesien. In Sarajewo kam er mit »Vertretern von Regierung und Zivilgesellschaft« zusammen, stimmte sich in Wien mit seinem Kollegen Sebastian Kurz ab und nahm in Istanbul an einem »strategischen Dialog« zwischen Deutschland und der Türkei teil.
Dann kam der Juli. Und mit ihm der 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Mongolei und der Bundesrepublik Deutschland. Das musste angemessen gefeiert werden. Bei der Ankunft in Ulan Bator wurde Steinmeier von einer jungen Mongolin in traditioneller Kleidung begrüßt, die ihm noch auf dem Flugfeld »einen blauen Schal und eine Schale mit mongolischem Trockenquark« überreichte. Nach einem Gespräch mit seinem mongolischen Amtskollegen Luvsanvandan Bold gab Steinmeier Folgendes zu Protokoll: »Wir Besucher aus Deutschland kommen jedenfalls mit großem Respekt und Anerkennung für die Transformationsfortschritte der vergangenen Jahre. Wir sind beeindruckt von der Kraft der Zivilgesellschaft und der geduldigen Standfestigkeit der politisch Verantwortlichen auf diesem Weg der Modernisierung. Wir freuen uns, zu den engen Partnern der Mongolei gehören zu dürfen.« Beide Nationen, betonte der deutsche Außenminister, seien einander durch »gemeinsame Werte« verbunden.
Im Oktober flog Steinmeier nach Nigeria, um dort »Vertreterinnen und Vertreter der nigerianischen Zivilgesellschaft« zu treffen, unter ihnen auch eine Vertreterin der Initiative »Bring Back Our Girls«.
Auch in Kasachstan, das von Steinmeier im November beehrt wurde, hatte die deutsche Vertretung eine Zusammenkunft »mit Vertreterinnen und Vertretern der kasachischen Zivilgesellschaft« arrangiert. Allerdings wurde auch diese Reise von den Ereignissen in der Ukraine überschattet. Nach einer Unterredung mit seinem kasachischen Amtskollegen Jerlan Idrissowgab Steinmeier eine Erklärung zur Lage in der Ukraine ab: »Wir beide haben festgestellt, dass das Bemühen aus Kasachstan und Deutschland anhalten muss, um zu einer Entschärfung der Gesamtsituation beizutragen.«
Anfang Dezember reiste Steinmeier nach Georgien, wo er Gespräche mit der neuen Außenministerin Tamar Berutschaschwili, Staatspräsident Georgi Margwelaschwili und Premierminister Irakli Garibaschwili über die »Annäherung des Landes an Europa« führte. »Im Verlauf seines Besuchs suchte Außenminister Steinmeier außerdem das Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft …«
Der Außenminister beendete das Jahr 2014 mit einem weiteren Besuch in Kiew, wo er »noch am Flughafen mit der OSZE-Sonderbeauftragten für die Ukraine, Heidi Tagliavini, zu einem ersten Gespräch über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen hin zu einem Waffenstillstand in der Ost-Ukraine« zusammenkam. Dieser Waffenstillstand war so nachhaltig wie die vorausgegangenen Waffenstillstände, an denen Steinmeier mitgewirkt hatte.
Mir kommt es so vor, als habe Shakespeare an Steinmeier gedacht, als er seine im Jahre 1600 erschienene Komödie Viel Lärm um nichts konzipiert hat.
Auch der Fliegende Holländer kommt mir in den Sinn, die Sage über den Kapitän, der vom Schicksal dazu verdammt ist, mit seinem Geisterschiff über die Meere zu irren. Und schließlich eine Geschichte, die Hellmuth Karasek 1982 über Helmut Kohl schrieb: »Der sprachlose Schwätzer«.
Du findest, ich bin ungerecht gegenüber »Steini«, liebes Tagebuch, er sei doch ein netter Kerl und tue doch wirklich sein Bestes für unser Land: Dieser dauernde Schlafentzug, der Jetlag in Permanenz, die radioaktive Strahlung bei jedem Flug, nur um dieses Deutschland gut zu repräsentieren. Und dass all diese Reisen keine Ergebnisse brächten, sei doch am allerwenigsten ihm anzulasten. Von mir aus, dann soll er uns eben kein X für ein U vormachen, halte ich dagegen, uns lieber seine Macht- und Hilflosigkeit eingestehen und nicht in Textbausteinen reden. Da wäre schon viel gewonnen.
So wie die Dinge stehen, fürchte ich, dass 2015 ein Jahr der Krisen und Konflikte sein wird, wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Es wird unserem Außenminister das Äußerste an Kondition und Rhetorik abverlangen.
Ich denke darüber nach, liebes Tagebuch, ob ich meinen Verleger anrufen soll. Im Herbst habe ich ihm noch gesagt, dass ich nie mehr ein Buch schreiben will. Jetzt denke ich, dass mein Zwiegespräch mit dir vielleicht ein spannendes Projekt werden könnte.
Liebes Tagebuch!
Es gebe in Deutschland »keinen Grund für Ausländerhass«, sagt der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller. Allerdings werde der Zuzug von immer mehr Flüchtlingen vor allem in den Großstädten »als Konkurrenz« gesehen. Denn: »Die Menschen haben Existenznöte, fühlen sich an den Rand gedrückt und machen auf sich aufmerksam, da sie sich nicht umfassend vertreten fühlen.«
Also, es gibt keinen Grund für Ausländerhass, aber der Zuzug von immer mehr Flüchtlingen verursacht Existenznöte etc. Demnach sieht der Minister doch einen Grund für Ausländerhass, nur so deutlich mag es der Experte für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nicht sagen. Und er lässt sogar offen, ob er die Gründe für berechtigt hält oder eben nicht. Wenn er zum Beispiel erklären würde: »Es gibt keinen Grund, Frauen zu schlagen« oder »Es gibt keinen Grund, Kinder zu misshandeln«, und ergänzte, allerdings gingen Frauen oder Kinder einem manchmal ganz schön auf die Nerven, müsste er aus gutem Grund damit rechnen, von der Familienministerin persönlich abgemahnt zu werden, weil in der Behauptung, es gebe keinen Grund, Frauen zu schlagen und Kinder zu misshandeln, das Gegenteil mitschwingt.
Der Minister hat von Logik und Dialektik keine Ahnung, aber von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung versteht er was. Und deswegen macht er sich Gedanken, wie man für die Menschen in Syrien »Lebensperspektiven« schaffen könnte, damit sie sich nicht auf den Weg nach Deutschland machen, nämlich durch »den Ausbau der Infrastruktur« und »Bildungsangebote für die Jugend«.
Eine geniale Idee! Wieso ist vor Gerd Müller noch keiner darauf gekommen? Seit über drei Jahren wird die Infrastruktur in Syrien systematisch ausgebaut, während die verschiedenen Milizen die Jugend mit Bildungsangeboten überschütten. Die Al-Nusra-Front veranstaltet Lehrgänge im Umgang mit halb automatischen Waffen, die Schabiha-Miliz nimmt sich der jungen Männer an, die gerne die Kunst des Folterns erlernen möchten. Was fehlt, sind Berufsschulen nach deutschem Vorbild, die eine »Duale Ausbildung« anbieten: »Wie nehme ich eine M16 auseinander und baue sie in zwei Minuten wieder zusammen?« oder »Fachgerechtes Foltern – Theorie und Praxis«. Die erste Anstalt dieser Art wird den Namen »Gerd-Müller-Schule« tragen.
Liebes Tagebuch!
Die Flut der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, hat die Bundesregierung, die Parteien, die Kirchen und die Kommunen kalt erwischt. Etwa so, wie alljährlich der Ausbruch des Winters die deutschen Autofahrer, die mit allem rechnen, nur nicht damit, dass es im Dezember schneien könnte. Deswegen wird wieder einmal über den »Umgang mit Flüchtlingen« in Deutschland diskutiert. Die CSU will die Asylverfahren beschleunigen, der Städte- und Gemeindebund möchte, dass Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern »konsequenter abgeschoben« werden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, warnt davor, Asylsuchende in Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge einzuteilen, eine genaue Trennung sei kaum möglich.
Die Asylverfahren müssten weiter beschleunigt werden, sagt Gerd Landsberg, der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes. Armin Laschet, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, sagt: »Vierzig Prozent der Flüchtlinge kommen aus sicheren Herkunftsländern«, seien also eigentlich keine Flüchtlinge im Sinne des Asylrechts. »Da brauchen wir schnellere Verfahren, damit Platz ist für die aus Syrien, aus dem Irak, die aus schrecklichen Bürgerkriegssituationen kommen«.
Die SPD ist da schon weiter. Sie warnt die CDU davor, sich »bei AfD und Pegida anzubiedern«. Es müsse »bei der Beschleunigung der Asylverfahren darum gehen, schnell Sicherheit für die Menschen zu finden und den Kommunen die Integration zu erleichtern«, sagt Yasmin Fahimi, die Generalsekretärin der SPD, »deswegen gibt es eine richtige Antwort darauf, die wir schon bereits (!) beschlossen haben, nämlich die zuständige Bundesbehörde mit mehr Personal auszustatten«.
Yes, Ma’am! Das ist die sozialdemokratische Antwort auf alle Probleme: Mehr Personal! Mehr Sozialarbeiter in sozialen Brennpunkten! Mehr Frauen in die Aufsichtsräte! Mehr Gespenster in Geisterbahnen! So werden zwar keine Probleme gelöst, dafür aber mehr Stellen in unproduktiven Bereichen geschaffen.
Jetzt muss nur noch die Zahl der GeneralsekretärInnen in der SPD verdoppelt werden, damit es mit der Partei wieder aufwärtsgeht. Wie man aus der Berliner Zentrale hört, hat Frau Fahimi »schon bereits« einen Plan, wie sie sich klonen könnte.
Ich kenne Menschen, liebes Tagebuch, die sind schon vor über 15 Jahren aus der SPD ausgetreten, weil sie kein vernünftiges Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsrecht zusammengebracht hat – auch nicht, als sie die Regierung stellte.
Liebes Tagebuch!
Heute wollen die Pegida-Leute in Köln demonstrieren. Keine Ahnung, warum es die Domstadt sein muss, das benachbarte Bonn würde sich viel besser für eine Demo gegen Islamisierung eignen, denn die »Bundesstadt« ist unter anderem dafür berühmt und auch ein wenig berüchtigt, dass sie eine sehr aktive Salafisten-Szene beherbergt.
Köln dagegen hat nur BAP, die Bläck Fööss, die Höhner und Jürgen Zeltinger. Die Kölner, das muss man anerkennen, kommen mit Zuwanderern gut zurecht, solange diese nicht aus Aachen oder Düsseldorf kommen. In Köln finden auch regelmäßig Aktionen gegen Fremdenhass und Rassismus statt (»Köln stellt sich quer«, »Arsch huh, Zäng ussenander!«), obwohl es in Köln weder Fremdenhass noch Rassismus gibt, jedenfalls nicht offiziell. Und so hat das »Kölner Bündnis« – bestehend aus DGB, SPD, den Grünen, der Linken, den Gewerkschaften ver.di und IG Metall, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten sowie christlichen, jüdischen und muslimischen Religionsgemeinschaften – zu einer Anti-Pegida-Demo aufgerufen, die ebenfalls heute stattfinden soll. Die eine Volksfront gegen die andere, sozusagen.
In Köln geht freilich nichts ohne den Segen der Kirche. Deshalb hat der Domprobst im Namen des Domkapitels angekündigt, während der Pegida-Demo die Dombeleuchtung abzuschalten. Der Dom im Dunkeln, so was hat es zuletzt während der Bombenangriffe der Alliierten gegeben.
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Rolf Mützenich nannte die Aktion ein »sehr beachtenswertes und auch richtiges Signal«. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), sagte dem Kölner Stadt-Anzeiger: »Ich bin als Katholik und Politiker froh über dieses klare Zeichen der Abgrenzung in meiner Kirche.« Der Vorsitzende der FDP, Christian Lindner, tauchte aus der außerparlamentarischen Versenkung auf, um die Pegida-Demo als einen »Angriff auf die Liberalität unseres Landes« zu verurteilen.
Mir wird es angesichts solcher Fackelzüge der Solidarität immer etwas unwohl. Es ist kein Nachweis von »Liberalität«, wenn sich alle einig sind. »Signale« und »Zeichen« stehen für eine Politik der Geselligkeit, nicht der Vernunft. Und die deutsche Antifa gedeiht dort am besten, wo es keinen Faschismus gibt. Der muss mit Parolen wie »Kein 4. Reich« und »Nazis raus!« herbeifantasiert werden.
Der Domprobst, der die Beleuchtung der Kathedrale abschalten will, um ein Zeichen gegen die Pegida zu setzen, müsste aber nur kurz vor die Tür seines Hauses treten, um eine Kundgebung des real existierenden Hasses zu besichtigen, wie sie in Deutschland ihresgleichen sucht. Dort, wo die Domplatte in die Hohe Straße übergeht, demonstriert seit über zehn Jahren ein pensionierter Lehrer tagaus, tagein gegen »Israel’s aggressive Besatzungs- und Siedlungspolitik«. Er tut dies mit Fotos, Schautafeln und Parolen wie »Hitler ist Vergangenheit, aber Israel ist Gegenwart. Nicht noch einmal!«, »Wie viele Jahrhunderte will das israelische Volk noch unsere ›Eine Welt‹ erpressen?«, »Der Holocaust verpflichtet uns, nicht wieder schweigend zuzuschauen« und »Die Zionisten versuchen durch Medienpolitik den Islam in der ganzen Welt schlecht aussehen zu lassen«.
Mehrere Anzeigen wegen Volksverhetzung wurden von der Kölner Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Eine Kölner Bürgerin wurde dahingehend belehrt, sie sei überhaupt nicht »strafantragsberechtigt«, da sie weder Jüdin noch Israelin sei. Der Rat der Stadt hat sich von der »Botschaft des Hasses« distanziert, aber irgendjemand in Köln muss seine schützende Hand über den Mann und sein Machwerk halten. Immerhin wurde ihm 1998 der »Aachener Friedenspreis« verliehen. Und die Polizei hat die »Dauerdemo« dauerhaft genehmigt. »Wir haben es mit einem Konflikt zwischen Demonstrationsrecht und Ordnungsrecht zu tun«, sagt der Sprecher des Oberbürgermeisters. Daran dürfte es wohl liegen, dass der Domprobst bis jetzt nicht auf die Idee gekommen ist, ein »Zeichen« gegen die »israelkritische« Horrorshow vor seiner Tür zu setzen und mal kurz das Licht am Dom auszuknipsen. Auch das »Kölner Bündnis« kriegt seinen Arsch nicht hoch und die Zähne nicht auseinander. Die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten« wartet auf eine Direktive aus Moskau, und die jüdische Gemeinde in Köln tut das, was Juden in solchen Situationen meistens tun: Sie wartet ab, was die anderen machen.
Aber heute Abend, bei der großen Anti-Pegida-Demo, werden sie alle auf den Beinen sein und ganz laut »Wehret den Anfängen!« rufen. So bläst man diesen ganzen Pegida-Brei zu einer Bedeutung auf, die er nicht hat und nie haben wird. Und wenn er verschwunden sein wird, wie er gekommen ist, wird man sich auf die Schultern klopfen, weil man noch einmal das Schlimmste verhindert hat.
Das Jahr ist noch jung, aber die Probleme zeigen sich deutlich und werden sich zuspitzen: Ukraine, Flüchtlinge, Islamismus – Reaktionen darauf wie Pegida – und nicht zuletzt das liebe Geld, vulgo Europa und der Euro. Morgen treffe ich meinen Verleger.
Liebes Tagebuch!
Achttausend Menschen sind gestern in Stuttgart zusammengekommen, »um gegen die islamfeindliche Pegida-Bewegung zu demonstrieren«, schreiben die Stuttgarter Nachrichten. Hauptredner der Kundgebung war der Oberbürgermeister der Stadt, Fritz Kuhn, der, bevor er sich in die Kommunalpolitik zurückzog, eine Weile als Bundesvorsitzender der Grünen und Vorsitzender der grünen Bundestagsfraktion tätig war.
Er sei, so Kuhn, »froh und stolz« über die große Zahl der Demonstranten, sie zeige, dass in Stuttgart kein Platz sei für Menschen, die andere diskriminierten. Über die Pegida-Demos in Dresden und anderen deutschen Städten sagte Kuhn: »Das ist kein europäischer Patriotismus, das ist diskriminierende Hetze.« Den Teilnehmern dieser Demos rief der OB zu: »Machen Sie sich nicht zu Mitläufern und zum Handwerkszeug von rechtsradikalen Neonazis.«
Gehen wir davon aus, dass die Stuttgarter Nachrichten den OB korrekt zitiert haben. Dass er also tatsächlich »diskriminierende Hetze« und »rechtsradikale Neonazis« gesagt hat. Dann hat der Mann ein Pleonasmus-Problem oder, wie die Kölner sagen, er mag es »doppelt gemoppelt«. Vermutlich reitet er täglich auf einem weißen Schimmel ins Rathaus, wo er im Dienste der Zivilgesellschaft härteste Schwerstarbeit verrichtet. Es könnte aber auch sein, dass es im Schwäbischen nicht nur die Kehrwoche, sondern auch wohlwollende Hetze und linksradikale Neonazis gibt.
Jedenfalls: »In Stuttgart hatte es bisher keine Pegida-Demo gegeben«, schreiben die Stuttgarter Nachrichten. Das heißt, die weltoffenen, toleranten und hilfsbereiten Stuttgarter, in deren Stadt Ende 2014 knapp 2 600 Flüchtlinge lebten, demonstrierten nicht gegen »Rassismus & Hetze«, wie auf einem der Transparente zu lesen war, sondern gegen ein Gespenst, das sie nur vom Hörensagen kannten. Etwa so, wie die Dresdner Wutbürger gegen die »Islamisierung« demonstrieren, obwohl in ganz Sachsen nur etwa 4 000 Muslime leben, also gerade mal 0,1 Prozent der Bevölkerung.
Während aber den Dresdnern immer wieder vorgehalten wird, dass von einer »Islamisierung« keine Rede sein könne, dass sie gegen ein Phantom randalierten, wurden die Stuttgarter für ihren Gratismut von der taz bis zur Tagesschau mit Lob überschüttet. Hier die depperten xenophoben Ossis, die einen Muslim von einem Minarett nicht unterscheiden können, dort die empathischen Württemberger, die ihren Schlossgarten in eine Zeltstadt für Flüchtlinge verwandeln wollen. Drüben die Unmenschen, hüben die Gutmenschen. Und mittendrin der sympathische OB, der sich »rechtsradikalen Neonazis« in den Weg stellt. Warum, liebes Tagebuch, so viel wohlfeile Erregung gegen einen Popanz?
Kuhn ist mir schon vor fast zehn Jahren durch eine extrem idiotische Stellungnahme aufgefallen. Als sich Millionen von Moslems durch ein Dutzend Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten bei weltweiten Demos dermaßen aufregen mussten, dass über 100 von ihnen tot umfielen, sagte Kuhn in einem Interview, die Zeichnungen erinnerten ihn an die antisemitischen Karikaturen im Stürmer. Was in etwa so stimmte, als hätte er gesagt, das Essen in der Stuttgarter Rathauskantine schmecke wie die Schonkost in Auschwitz.
Am Nachmittag war ich in München und habe meinen Verleger getroffen und ihm von unserem Zwiegespräch erzählt. Wir haben beschlossen: Ein halbes Jahr lang (vom 1. Januar bis zum 30. Juni) schaue ich nicht dem Volk, sondern unserer Elite aufs Maul respektive auf die Finger – und messe sie an ihren Taten und Versprechen. Wird Angela Merkel die Ukraine für Europa sichern und die Krim von Putin zurückerobern? Werden wir den Fremdenhass besiegen? Werden die deutschen Bischöfe ihre Paläste den Flüchtlingen öffnen? Wird der Grexit verhindert, und werden Schulz, Juncker, Draghi und Claus Kleber Europa und den Euro retten?
Liebes Tagebuch!
Elmar Brok, seit 35 Jahren Abgeordneter im Europäischen Parlament, erklärt in der Tagesschau, warum ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone »verkraftbar« wäre: »Die Europäische Union hat sich weiterentwickelt, der Euro ist heute sehr viel stärker, wir müssen sehen, dass wir inzwischen über die Bankenunion und einer Vielzahl anderer Gesetzgebungen die Struktur des Euros erheblich gestärkt haben, sodass das (der Austritt Griechenlands) nicht mehr die Dominoeffekt-Wirkung (sic!) hätte.«
An sich ist Brok Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments und in dieser Funktion viel unterwegs. Weil er aber auch von Wirtschaft nichts versteht, wird er gelegentlich zu ökonomischen Fragen um seine Meinung gebeten. Und so gibt er gerne zu Protokoll, dass der Austritt Griechenlands keine »Dominoeffekt-Wirkung« hätte. Auch die Bundesregierung, erfahren wir in derselben Tagesschau, habe »eine mahnende Botschaft an Athen«. Zwar wolle keiner einen Euroaustritt der Griechen, »aber man könne eine Rückkehr zur Drachme notfalls verkraften«. Und in einer Stellungnahme aus Brüssel heißt es: »Ein Austritt aus der Gemeinschaftswährung ist in den Verträgen schlicht nicht vorgesehen. Eine Euro-Mitgliedschaft kann man demnach nicht einfach kündigen.«
Was für eine Gemengelage! An alles haben die Schöpfer der Eurozone gedacht, nur nicht daran, dass ein Land eines Tages aus der Gemeinschaftswährung aussteigen könnte. Jedes Paar, das zwei Bausparverträge in die Ehe einbringt, schließt einen Vertrag, in dem die Modalitäten einer möglichen Scheidung geregelt werden. Nur bei der Unterzeichnung der Euro-Verträge muss irgendjemand die Formel »Bis dass der Tod uns scheidet« gemurmelt haben. Und das war’s dann.
Davon unberührt erklärt der in Bielefeld weltberühmte Ökonom Elmar Brok, dass aufgrund einer Vielzahl von Maßnahmen die Struktur des Euro dermaßen gestärkt worden sei, dass ein Austritt Griechenlands nicht mehr die »Dominoeffekt-Wirkung« hätte und deswegen »verkraftbar« wäre.
Ja, Elmar, der Euro ist so stark wie nie zuvor. Vor allem deswegen, weil er sich gegenüber dem Dollar, dem Yen, dem polnischen Zloty und dem israelischen Schekel im freien Fall befindet. Für seine Stärke spricht auch, dass die »Anleger« aus dem Euro in andere Währungen flüchten, den siechen Schweizer Franken und die labile norwegische Krone. Der Dominoeffekt entfaltet keine Wirkung mehr, aber die Basis ist noch immer die Grundlage des Fundaments. Gab es noch vor zwei Jahren zu der Milliarden-Rettungsaktion für Griechenland (genauer: für die Banken, die sich mit griechischen Anleihen verhoben hatten) keine Alternative, so wäre heute der nicht vorhergesehene Austritt der Griechen aus der Euro-Zone »verkraftbar«.
Denn am Ende ist alles verkraftbar. Die Deutschen haben das Dritte Reich verkraftet, die Juden den Holocaust und Sylvie Meis ihre Bilderbuchehe mit Rafael van der Vaart. Ist das nicht irre?
Liebes Tagebuch!
Ich hatte einen Traum. Ja, lach nur, manchmal kann auch ich mich an einen Traum erinnern. Ich träumte, dass Bundesjustizminister Heiko Maas eine Berliner Moschee besuchte, um nach den Terroranschlägen von Paris seine Verbundenheit mit den Muslimen zu demonstrieren. Er hatte sich die Schuhe ausgezogen und saß im Schneidersitz auf dem Teppich, umrahmt von zwei kräftigen jungen Männern und umkreist von Fotoreportern, die mit ihm gekommen waren, um den historischen Moment festzuhalten. Maas, der immer so aussieht, als trüge er seinen inzwischen zu klein geratenen Abituranzug auf, machte keinen allzu glücklichen Eindruck. So, als hätte er sich in der Tür geirrt und wäre statt bei seinem Physiotherapeuten in einem Swingerclub gelandet. Ich wollte auf ihn zugehen und ihm sagen: »Heiko, ich bring dich hier raus«, aber ich konnte meine Füße nicht bewegen, und auch meine Stimme hörte nicht auf mein Kommando. Da ergriff Maas das Wort. »Wir müssen mehr miteinander reden«, sagte er, Dialog sei der beste Weg, um einander kennenzulernen. So ist es, meinte daraufhin der Vorsitzende der Gemeinde, es sei wichtig, »dass Muslime und Nicht-Muslime in der Gesellschaft solidarisch miteinander leben«. Und: Radikale gebe es »auf beiden Seiten«. Maas nickte zustimmend. Er wäre wohl gerne aufgestanden, um im Stehen zu sprechen, aber er fürchtete, das könnte von seinen Gastgebern als arrogant aufgefasst werden.
Also blieb er im Schneidersitz sitzen und verlagerte sein Körpergewicht von der linken auf die rechte Seite. Sein linkes Bein war nämlich bereits eingeschlafen. Man gebe sich große Mühe, fuhr der Vorsitzende der Gemeinde fort, »unsere Jugendlichen aufzuklären und ihnen ein gesundes Religionsverständnis zu vermitteln«, es habe in Deutschland »noch nie einen Gewaltakt als Reaktion auf Karikaturen gegeben […], auch wenn uns einige von ihnen nicht gefallen und die Grenzen zur Volksverhetzung erreichen«. Maas nickte wieder und versuchte, sein eingeschlafenes linkes Bein ein wenig zu bewegen. Das sei ja »das Schwierige bei der Meinungsfreiheit, sie gilt auch für widerwärtige, schäbige, falsche Meinungen«, sagte Maas. Jetzt war auch sein rechtes Bein eingeschlafen, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Aus dem Lautsprecher erklang die Stimme des Vorbeters, der auf Deutsch eine Erklärung vorlas: »Am 7.1. hat sich in Paris ein terroristischer Akt ereignet. Wir verurteilen diese Tat aufs Schärfste als Angriff auf die Menschlichkeit. Unser aller Schöpfer gebietet die Unverletzlichkeit des Menschen. Wir beten für die Menschen, die bei diesem Attentat Angehörige verloren haben.«
»Heiko«, dachte ich, ohne den Satz aussprechen zu können, »jetzt musst du etwas sagen«. Wie wäre es damit: »In Paris ist kein Blitz eingeschlagen, und es hat sich kein terroristischer Akt ereignet. Es waren gläubige Muslime, die ein Verbrechen begangen und dabei ›Gott ist groß!‹ gerufen haben. Statt für die Menschen zu beten, die Angehörige verloren haben, solltet ihr besser Klartext reden.« Aber Maas konnte mich nicht hören. Ich träumte, und er saß im Schneidersitz in einer Berliner Moschee, und seine beiden Beine waren eingeschlafen.
Dann ging der Radiowecker, und ich wachte auf. »Guten Morgen, liebe Zuhörer«, sagte eine Stimme, »Bundesjustizminister Heiko Maas hat gestern eine Moschee besucht, um ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein friedliches Zusammenleben zu setzen. Er sagte, wir müssten mehr miteinander reden, Dialog sei der beste Weg, um einander kennenzulernen. Der Vorsitzende der Moscheegemeinde stimmte dem zu und betonte, wie wichtig es sei, dass Muslime und Nicht-Muslime in der Gesellschaft solidarisch miteinander leben.«
Der Traum war vorbei. Ich stand auf und rief meinen Verleger an, jetzt hatte ich auch den Titel für unser Buch: »Das ist ja irre!«