Das Jahr ohne Sonne - Denise Hunold - E-Book

Das Jahr ohne Sonne E-Book

Denise Hunold

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Beschreibung

Das Jahr ohne Sonne - Nach einer wahren Geschichte Ein nervenaufreibender Kampf voller Verzweiflung und Schmerz beginnt, als Matthias zwei Tage vor ihrem gemeinsamen Neustart in Bonn die niederschmetternde Diagnose "Krebs" erhält. Denise muss den Weg nach Bonn zunächst ohne ihn gehen und es beginnt das Pendeln zwischen Büroalltag und Chemotherapie. Die Autorin erzählt den leidvollen Weg als Angehörige ihres krebskranken Partners und die hohe Flexibilität, die hier abverlangt wird. Die Bürokratie scheint sich den beiden in den Weg zu stellen, aber Denise gibt die Hoffnung nicht auf. Auf nicht ganz legalem Weg scheint sie ihm schließlich den Weg in den Frieden zu ebnen...

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Inhaltsverzeichnis

Das Leben

Das ist doch nichts

Die blöde Schulter

Nichts Schlimmes

Der Weg

Bonn

Der Plan

Im April

Der Plan 2.0

Die Heimat ruft

Turbolenzen

Die Station

Bergauf!

Es geht immer weiter

Die Idee

Der Widerstand

Das Ziel

Das Zimmer

Frieden

Glück

23:04 Uhr

Allein

2009

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Tatsachenbericht aus dem Leben der Autorin.

Der Inhalt basiert auf Erinnerungen und Erfahrungen. In einigen Fällen wurden die Bezeichnungen von Personen und Orten geändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen.

Vorwort

Fünfzehn Jahre mussten vergehen, bis ich durch schwierige Lebensumstände begriff, dass unser Körper nicht dafür gemacht ist, den Tod eines geliebten Menschen auszublenden.

2008 schien das Glück mich zu verlassen, als ich von der Krebsdiagnose meines Freundes erfuhr.

Doch voller Energie und Optimismus schmiedeten wir uns einen Plan nach dem anderen und hofften darauf, dass wir etwas Besonderes waren und uns das nicht passieren konnte. Unser Weg führte uns durch unbekanntes Terrain und trotzdem stellten wir uns jeder Hürde. Immer wieder fand sich eine Nische, durch die unsere Hoffnung kriechen konnte und schon ging es schnellen Schrittes weiter Richtung Sieg – denn etwas anderes gab es für uns nicht.

Noch nie habe ich in einer so schweren Zeit immer wieder Hoffnung schöpfen können, obwohl die Prognose längst etwas anderes sagte. Aber nur so war es uns beiden möglich das letzte Jahr, das uns blieb, so schön und voller Liebe zu gestalten.

Das Leben

Meine Geschichte beginnt im Spätsommer 2007, als wir beide unsere Umzugskartons füllten, um nach einer arbeitssuchenden Durststrecke endlich unseren Neuanfang zu starten. Es gab nur uns beide und ein großes Ziel, auf das wir uns schon einige Zeit freuten.

Wir hatten uns beide Arbeit in der Nähe von Bonn gesucht. Denn ich hatte die Möglichkeit bekommen in meiner alten Firma, in der ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte, neu zu starten.

Zuvor hatte ich kurzzeitig für eine kleine Zeitarbeitsfirma gearbeitet. Beides davon brachte uns finanziell nicht viel ein, weshalb sich dringend etwas ändern musste. Der Arbeitsmarkt gab in unserer Gegend schon lange nicht mehr viel her, sodass wir uns beide für diesen Neustart entschieden. Wie wahrscheinlich alle jungen Paare, träumten wir von einer Familie, einer großen Wohnung und vor allem einen volleren Geldbeutel.

Wir, das sind Matthias und ich.

Ein einfaches und junges Paar Anfang Zwanzig und mit großen Plänen. Matthias war gelernter Lebensmitteltechniker und ein gutaussehender junger Mann. Er interessierte sich für Motorräder und Computer-Krims-Krams. Ich bin Denise und hatte nach meiner Büro-Ausbildung in Bonn nur noch schlechtbezahlte Verkäuferinnenjobs im Osten gefunden. Häufig wurde ich über Zeitarbeitsfirmen eingesetzt oder bekam nur befristete Teilzeitjobs. Nichts womit große Sprünge möglich gewesen wären.

Ich malte gern und hatte einen Fabel für alte Musik und Bücher.

Wir waren beide bodenständig und hatten keine Flausen im Kopf – nur das gemeinsame Ziel.

Für Matthias bot sich gleich nach der ersten Bewerbung, ein gut bezahlter Job als Lebensmitteltechniker in der Nähe von Bonn. Noch einige Wochen zuvor hatten wir uns in der Umgebung eine schöne Erdgeschoßwohnung mit viel Platz und einem Stückchen Grün ausgesucht. Die fast 80 m2große Wohnung mit Tiefgaragenparkplatz war wie ein kleiner Glücksgriff für uns beide. Alles schien perfekt zu sein und so räumten wir fleißig unsere Schränke aus.

Wir lebten schon seit einem Jahr gemeinsam in einer kleinen Dreiraumwohnung mit sporadischer Einrichtung und wenig Schnick Schnack. Außerdem hatten wir ein kleines, zickiges Kaninchen, ein altes Auto und ein Motorrad. Wir liebten uns und waren zufrieden mit dem, was wir hatten. Matthias mutierte gelegentlich zum Computerjunkie und saß dann oft vor dem Computer, während ich zu Beginn nicht viel davon verstand.

Wer hätte gedacht, dass ich mich irgendwann einmal davon anstecken lassen könnte.

Es gab tatsächlich eine Zeit, in der wir beide gemeinsam bis spät in die Nacht vor dem Computer saßen. Wir schauten nicht auf die Uhr. Wir taten, wonach uns gerade war. Es war eine ruhige und schöne Zeit zu zweit, vollgepackt mit Träumen und Ideen.

Das ist doch nichts

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als er nach einem Frühdienst ziemlich geplättet nach Hause kam. Er beschwerte sich über einen schwierigen Arbeitstag, an dem einige Maschinen in der Fabrik stillstanden und die Produktion stoppte. Hinzukam eine Zerrung, die er sich in der Schulter zugezogen hatte, sodass er sich gleich nach seinem Frühdienst erschöpft auf die Couch warf.

»Ich fragte mich, was das jetzt wieder ist. Seit heute Mittag tut mir hier alles weh«, knurrte er und hielt sich die Schulter. Er kreiste mit dem Arm und murmelte vor sich hin.

Nach dem er sich die Haussachen angezogen hatte, kam er in die Küche, um zu schauen, was es zum Abendbrot gab. Wie üblich hatte ich nach seiner Frühschicht gekocht – wenn man das so nennen konnte. Es gab Nudeln und Tomatensoße mit frisch geriebenem Parmesan. Ich tänzelte durch die Wohnung und deckte den Wohnzimmer-Esstisch. Und weil ich es heute besonders gut mit ihm meinte bot ich ihm als Nachtisch eine Anti-Schulter-Schmerz-Massage an.

Matthias grinste und nahm das Angebot natürlich an. Ich mochte sein schräges Grinsen. In diese Schnute hatte ich mich damals verliebt.

In den kommenden Wochen mistete ich nach meinem Dienst die Schränke und den Keller aus. Weil seine Verspannung noch immer nicht zurückgegangen war, organisierte ich Wärmepflaster und Muskelentspannungsbäder aus der Apotheke. Manchmal hüpfte ich direkt nach ihm in die Badewanne, weil diese Bäder so gut rochen und das Badewasser bunt verfärbt war. Ich nahm ihm den Kleinkram beim Kartons packen ab, damit er sich schonen konnte und später fit für den Umzug ist, dieser rückte nämlich immer näher.

»Ich schaff das schon«, waren dann seine Worte. Selbstverständlich war er der Mann im Hause und ließ sich wegen einer Zerrung nicht die „Butter vom Brot“ nehmen.

Wir füllten eifrig unsere Umzugskartons und bauten schon kleinere Schränke auseinander. Andere Teile verkauften wir im Internet und sparten schon für neue Möbel. Wenn es passte, holte mich Matthias von der Arbeit ab und wir fuhren zum Shoppen und Eis essen in das Einkaufscenter an der Autobahn. Dort schlenderten dann wir dann am Nachmittag durch die Läden. Ich kaufte schon Dekokram für die neue Wohnung und Matthias Verlängerungskabel und anderen technischen Kram von dem ich nicht viel verstand. Danach genossen wir unsere Eisbecher und besprachen den Umzug. Wir fachsimpelten über die Nachmittage in der neuen Wohnung und was wir mit dem Mini-Garten anstellen würden, welcher am Wohnzimmer angrenzte. In der Anzeige hieß es Terrasse. Aber dort passte gerade einmal ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen hin.

Am Abend liehen wir uns noch einen Film aus und kuschelten uns zusammen auf das Sofa. Ich mochte diese Abende. Und vor allem das vertraute und warme Gefühl zwischen uns.

In dieser Nacht gegen 2 Uhr saß Matthias im Bett und starrte Richtung Fenster.

»Ist alles in Ordnung?« fragte ich ihn.

»Meine Schulter macht mir zu schaffen. Ich kann nicht schlafen.« Er hielt sich den Arm, als müsste er gestützt werden.

»Ich nehme nur schnell eine Tablette. Schlaf du weiter«, flüsterte er und gab mir einen flüchtigen Kuss, während er schon aus dem Bett kroch.

Diese verflixte Zerrung wollte keine Ruhe geben. Schließlich drängelte ich ihn, sich noch einmal beim Hausarzt vorzustellen und nach einem Rezept für eine Krankengymnastik zu fragen.

Und gleich am nächsten Nachmittag stolzierte er winkend mit einem Rezept in die Wohnung. Zehn Massagen sollte er bekommen und ich freute mich für ihn. Denn jetzt würde es sicher bald besser werden.

Am Wochenende bekamen wir Besuch von seinen Freunden, die uns bei den schweren Möbeln halfen. Wir waren eine lustige Truppe und der Tag bestand nicht nur aus Kartons, Möbeln und Fast Food. Wir machten unsere Späße zusammen und genossen das Beisammensein. Wir bauten schon die Schlafzimmermöbel samt Bett auseinander und planten, die kommenden Wochen auf den Matratzen zu schlafen. Am frühen Abend fuhren wir alle zusammen etwas essen und ließen den Tag ausklingen.

Die blöde Schulter

Wir mussten relativ schnell feststellen, dass die Massagen und die Krankengymnastik seine Schulterschmerzen nicht linderten. Abends beim Umziehen, begutachtete ich seine Schulter immer wieder, um vielleicht etwas festzustellen. Eine rote Stelle, einen blauen Fleck oder eine Beule von einem Stoß. Aber da war nichts zu sehen. Ich rieb ihn wieder mit einer dieser antientzündlichen Cremes ein und wünschte ihm eine ruhige Nacht. Aber an Schlaf war kaum noch zu denken. Gerade nachts schien die Schulter noch mehr zu schmerzen.

Außerdem hatte Matthias in Folge seiner Schulterschonung auch noch Rückenschmerzen bekommen und das erschwerte den geplanten Auszug zusätzlich.

Inzwischen waren fast zwei Monate vergangen und unser großer Tag näherte sich. Eine Woche vor unserem Umzug gab es noch einmal einen Termin beim Hausarzt.

»Vielleicht kann der Hausarzt ja gleich ein Röntgenbild machen«, sagte ich hoffnungsvoll und wollte damit eigentlich sagen, dass er ohne ein Röntgenbild die Praxis gar nicht erst verlassen soll.

»Dann sieht man vielleicht, was da drinnen los ist«, fügte ich hinzu.

Mir war natürlich klar, dass die Hausärzte mit großräumiger Diagnostik geizten, aber inzwischen war ich mit meinen Low-budget-Pflastern und den Massagen am Ende.

Unsere Tage drehten sich mittlerweile fast ausschließlich um seine Schulterzerrung. Ausflüge und Kinobesuche hatten wir heruntergefahren, weil er immer wieder Schmerzen bekam und dann keine Lust auf die Fahrerei hatte. Zudem fand ich das Motorradfahren inzwischen gefährlich, weil ich der Schulter nicht mehr traute. Somit fielen auch die Nachmittage weg, an denen er mich vom Dienst abholte. Hinzukam, dass er nachts so unruhig schlief, dass er tagsüber ständig müde war.

Als Matthias an diesem Tag mit einem neuen Physiotherapie-Rezept inklusive Fango-Packung und einem Krankenschein nach Hause kam, stritten wir uns bis in die Abendstunden. Ich konnte nicht verstehen, dass er sich wieder mit diesen unnützen Rezepten zufriedengab. Sollte nicht erst einmal geklärt werden, was die Schmerzen verursachte, bevor man weiter therapierte – dachte ich. Unsere Nerven lagen blank und nachdem auch diese Nacht wieder zum Tag wurde, wussten wir, dass etwas passieren musste.

Als wir beide schon vor fünf wach waren, schauten wir uns zunächst schweigend an. Wir wussten, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Nächte waren inzwischen schlimmer, als die Tage.

»Manchmal fühlt es sich so an, als wäre da etwas drin«, sagte er, während er nach seiner Schulter griff.

»Vielleicht ist bei der Arbeit etwas abgesplittert, was jetzt die Schmerzen verursacht«, entgegnete ich fragend.

»Ja das könnte sein. Aber dann brauch ich wirklich ein Röntgenbild«, sagte er.

Wir waren keine Mediziner, also vertrauten wir auf die vorgeschlagenen Bewegungstherapien, die er nun zwei bis drei Mal wöchentlich hatte. Die Nachmittage verbrachten wir aber immer häufiger zu Hause oder wir besuchten seine Großeltern, die um die Ecke wohnten.

Kochen wurde zu meinem Hobby und ich experimentierte in der Küche, während Matthias die letzten Kartons füllte und später an seinem Computer herumbastelte. Eine Zeit lang gab es ungenießbaren Gulasch, ziemlich feste Kartoffelklöße oder Asianudeln, die im Öl förmlich ertranken. Bei uns wurde gegessen, was auf den Tisch kam und so probierte ich mich als Köchin und wir sparten uns das Essen gehen.

Als wir uns die nächsten Nächte um die Ohren geschlagen hatten, fuhren noch einmal zum Hausarzt. Ich hatte inzwischen einen Jahresvorrat an Schmerzpflastern und Schmerzmitteln im Schrank, weil er ohne kaum zur Ruhe kam. Aber nicht nur er wurde zum Nachtwanderer - auch ich lag nachts Stunden mit ihm wach.

Matthias bekam eine Überweisung für ein Röntgenbild und wir ächzten diesem Termin hinterher und überbrückten weiter mit Faulenzerei, Ibuprofen und Cremes.

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich für die Auswertung in der Gemeinschaftspraxis auf Matthias wartete, während er das Gespräch mit einem der Ärzte hatte. Die Praxis war voll und ich stand in der Nähe der Anmeldung, weil es keine Sitzplätze mehr gab. Obwohl ich nur fünfzehn Minuten wartete, kam es mir vor wie eine Stunde. Die Luft war stickig und alles schniefte und hustete. Das weiße Licht, war ähnlich grell wie in einem OP-Saal und die Telefone klingelten ununterbrochen. Es war aber zu kalt, um draußen auf ihn zu warten, also blieb ich.

Sein Gesichtsausdruck, als er aus dem Behandlungszimmer kam war beunruhigend. Irgendwie mimiklos. Mir wurde etwas flau im Magen und ich musterte ihn, als er vor dem Behandlungszimmer auf einige Zettel wartete, die noch ausgedruckt werden mussten. Er kam auf mich zu und wir verließen schweigend die Praxis.

»Die haben irgendwelche Schatten auf meinen Knochen gesehen, und irgendetwas steckt da in meiner Schulter. Vielleicht ist da was abgesplittert oder so«, sagte er recht zuversichtlich.

»Siehst du, ich wusste es!«, sagte ich nur und freute mich einen Moment lang, dass wir nun wussten, woher die Schmerzen kamen.

»Ich muss für eine Probenentnahme und weitere Untersuchungen ins Krankenhaus«, erklärte er mir. Ich machte mir keine großen Sorgen, denn endlich wussten wir, dass wir mit unseren Vermutungen nicht falsch gelegen haben. Zumindest dachte ich das damals. Weshalb eine Probe entnommen werden sollte, und wovon überhaupt – war irgendwie untergegangen. Wir hatten schließlich die Lösung.

Während wir kurz darauf den Termin im Krankenhaus organisierten, musste ich mich zeitgleich um unseren Umzug kümmern. Meine Eltern und einige Kollegen halfen mir, weil Matthias zur selben Zeit einige Aufklärungsgespräche in der Klinik in Halle hatte. Wir räumten die Wohnung in Weißenfels komplett leer und fuhren mit einem LKW knappe fünf Stunden nach Bonn, um dort alles auszuladen. Glücklicherweise hatte ich fleißige Helfer, so dass einen weiteren Tag darauf der Großteil der Möbel schon stand und ich mit dem Auspacken anfangen konnte. Mit Matthias blieb ich per Handy in Kontakt und schickte ihm Fotos von unserer schönen Wohnung.

Zumindest provisorisch richtete ich ihm schon die Computerecke mit seinen Heavy Metall CDs und dem Gaming Equipment ein.

Er sollte sein eigenes kleines Reich haben.

Nichts Schlimmes

Einige Tage vor Weihnachten fand schließlich in der Universitätsklinik die Untersuchung mit einer kleinen OP und der Probenentnahme in seiner

Schulter statt. Die Ärzte wollten einen genaueren Blick auf die Schatten werfen, die wir vom Röntgenbild kannten und auch die Gewebsentnahme schien von großem Interesse zu sein.

Ich brachte ihn gleich früh ins Krankenhaus.

Die orthopädische Klinik war ein altes Steingebäude inmitten der Stadt. Alte Pflastersteine umgaben die Klinik und große, kahle Eichen ließen das Gelände noch düsterer wirken, als es ohnehin schon war. Die Station leuchtete in einem fürchterlichen, kühlen Grünton an den Wänden. Es wirkte wie aus DDR-Zeiten und war auch schon ordentlich abgenutzt. Alte Holzpaneele zierten die grünen Wände, als Schutz vor den Betten und alles wirkte ziemlich „oll“. Ich lief die Gänge unzählige Male auf und ab und las die Wandbeschilderungen; schaute mir die Gemälde an und begann von vorn. Ich weiß bis heute nicht, warum ich in der Zwischenzeit nicht einfach zu meinen Eltern gefahren bin.

Und so wartete ich geschlagene fünf Stunden. Zwischenzeitlich informierten mich die Schwestern, dass er nun im Aufwachraum angekommen war und bald auf sein Zimmer gebracht werden würde.

Weil ich offiziell nicht zur Familie gehörte, war mir der Zutritt zum Aufwachraum nicht gestattet und so wartete ich weiter im Stationsgang, bis ich ihn schließlich in seinem Patientenzimmer besuchen konnte. Ich hatte angenommen, eine Probenentnahme ist schnell getan, aber damals wusste ich davon nicht viel.

Einige Zeit später brachte mich dann eine der Schwestern in sein Zimmer. Matthias hatte schon sein typisches Grinsen im Gesicht und zwinkerte mir zu.

»Na, du bist ja auch schon da«, sagte er und grinste weiter, als hätte er im Lotto gewonnen.

Wir kuschelten und schwatzen noch eine Weile, bevor ich am späten Nachmittag zu meinen Eltern fuhr.

Am darauffolgenden Tag konnte ich Matthias aus dem Krankenhaus abholen. Die Ärzte konnten uns noch nicht viel sagen. Die Schatten waren offensichtlich noch immer ein Rätsel und so hoffte man auf die entnommenen Gewebsteile aus der Schulter.

Diese mussten aber erst irgendwo hingeschickt werden, um dann genauer untersucht zu werden. Uns wurde gesagt, dass dieser Vorgang noch einige Tage dauern würde. Deshalb erhielten wir einen weiteren Termin für die Auswertung in zwei Wochen.

Silvester stand vor der Tür und ich verbrachte die letzten Tage des Jahres mit ihm zusammen in seinem Elternhaus. Alle anderen Dinge, die uns gehörten, waren ja schon in Bonn in unserer neuen Wohnung. Wir verbrachten viel Zeit mit Gesellschaftsspielen, Gesprächen mit seinen Eltern und gingen seiner Oma, die im Nachbarhaus wohnte zur Hand. Es war ein ruhiges Silvester, weil Matthias sich wieder mit den Schulterschmerzen herumschlug. Dennoch dekorierten wir alle zusammen das Wohnzimmer mit Luftschlangen und Luftballons. Kerstin, Matthias´ Mutter stand schon seit den frühen Morgenstunden in der Küche und das ganze Haus duftete wie im Restaurant. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was sie kochte – aber es schmeckte einfach immer.

Am Nachmittag drängelte ich ihn zu einem Spaziergang.

»Lass uns doch mal ein paar Meter runter zum Wasser gehen«, sagte ich und stupste ihn liebevoll von der Seite an.

»Muss das sein? Ich bin irgendwie kaputt«, sagte er genervt.

»Ja das muss sein! Du hast etwas mit der Schulter und nicht mit den Beinen. Und außerdem tut frische Luft uns beiden gut«, fauchte ich zurück und machte mich schon auf den Weg zur Garderobe.

Sein Elternhaus war ganz in der Nähe eines Flusses und einem Wehr. Es war ein schönes und ruhiges Eckchen und weit weg von den Irren, die schon jetzt die Straßen mit ihren illegal erworbenen Böllern unsicher machten.

Wir schwangen uns in die Winterjacken und spazierten eine kleine Kopfsteinpflasterstraße hinunter zum Fluss bis Matthias zu meckern begann.

»Irgendwie wollen meine Beine nicht so richtig«, schimpfte er und ließ sich mehr von mir ziehen, als dass er selbst lief.

»Aber mal ehrlich. Mit deinen Beinen ist alles in Ordnung. Und wir könnten ein bisschen Bewegung gebrauchen«, knurrte ich beleidigt zurück und zog ihn wieder ein Stück Richtung Fluss.

»Komm schon. Es sind nur noch fünfzig Meter. Davon ist noch keiner gestorben«, versuchte ich ihn zu motivieren. Doch nach nur wenigen Metern machten wir uns auf den Rückweg und ich war genervt von seinem Protest. Wir hatten zwei Tage im Haus verbracht und verstand sein übelgelauntes Verhalten und diese Faulheit nicht.

Die Silvesterfeier war mehr als ein gemütliches hineinfeiern. Wären wir Rentner gewesen, hätte ich es sicher genossen. Eine halbe Stunde nach Mitternacht und schließlich in 2008 angekommen, verschwanden wir im Bett. Denn am 1. Januar 2008 sollte unsere gemeinsame Fahrt nach Bonn starten. Schließlich sollten wir schon am 2. Januar unsere neuen Jobs antreten.

In dieser Nacht, gegen vier Uhr rüttelte mich Matthias hektisch wach.

»Ich brauche deine Hilfe. Ich komme irgendwie nicht hoch«, flüsterte er verzweifelt.

»Was hast du denn?«, fragte ich noch etwas benommen. Zunächst dachte ich, er drückte wieder auf die Tränendrüse. Seine Schulterschmerzen kannte ich inzwischen gut und ich vermutete, er hatte vor dem Schlafengehen die Schmerztablette vergessen.

»Ich kann meine Beine nicht so richtig steuern«, sagte er.

»Die machen nicht, was sie sollen«.

Ich drehte mich zu ihm und setzte mich auf. Wie sollten Gelenkschmerzen in der Schulter plötzlich Beschwerden beim Laufen verursachen, fragte ich mich. In mir stieg Wut auf, weil ich annahm, er übertrieb wieder. Aber wahrscheinlich war ich auch einfach nur müde.

Er wollte zur Toilette und ich versuchte ihn zu stützen und klemmte mich unter seinen Arm. Erst jetzt sah auch ich, wie seine Beine merkwürdige Bewegungen machten. Sie knickten immer wieder weg und zappelten an seinem Körper als hätten sie ein Eigenleben. Sie erhielten einfach keine Stabilität, als er nur zu stehen versuchte. Seine Knie knickten immer wieder ein und es war mir kaum möglich, ihn zur Toilette zu geleiten. Es war eher ein hinter mir herziehen, als ein Laufen.

Während Matthias auf der Toilette saß, hörte ich ihn weinen.

»Hey Matschi«, flüsterte ich.

»Wer weiß, was das ist. Vielleicht hast du blöd gelegen«.