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Nach dem Tod ihres Onkels leitet Sophie das Kaffeehaus Prinzess mit großem Erfolg. Sie erweitert das Angebot und setzt neue Ideen um, zum Beispiel eine spektakuläre Schaufensterdekoration. Das Café wird schon bald zum Treffpunkt der Wiener Kulturbohème. Privat ist Sophie in großer Sorge um ihre Schwester Milli. Und dann gefährdet auch noch ein unbekannter Saboteur das Kaffeehaus. Derweil ist Sophies große Liebe Richard sehr unglücklich in seiner Standesehe mit Amalie. Und sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, Sophie wieder nahe zu kommen ...
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Seitenzahl: 935
Buch
Nach dem Tod ihres Onkels leitet Sophie das Kaffeehaus Prinzess mit großem Erfolg. Sie erweitert das Angebot und setzt neue Ideen um, zum Beispiel eine spektakuläre Schaufensterdekoration. Das Café wird schon bald zum Treffpunkt der Wiener Kulturbohème. Privat ist Sophie in großer Sorge um ihre Schwester Milli. Und dann gefährdet auch noch ein unbekannter Saboteur das Kaffeehaus. Derweil ist Sophies große Liebe Richard sehr unglücklich in seiner Standesehe mit Amalie. Und sucht verzweifelt nach einer Möglichkeit, Sophie wieder nahe zu kommen …
Autorin
Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitete viele Jahre hauptberuflich als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Ihre Autorentätigkeit begann sie unter ihrem wahren Namen Marita Spang und schrieb erfolgreich historische Romane. Heute konzentriert sie sich fast ausschließlich aufs Schreiben. Ihre Trilogie »Das Weingut« wurde ebenso zu einem großen SPIEGEL-Bestseller wie die »Kaffeehaus«-Saga. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort.
Weitere Romane der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.
Mehr Informationen unter www.marielacrosse.de
Marie Lacrosse
Das KaffeehausGeheime Wünsche
Roman
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Originalausgabe Oktober 2021
Copyright © 2021 by Marie Lacrosse
Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Laurence Winram/Trevillion Images
© akg-images/Imagno
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Redaktion: Heike Fischer
Karte: © Peter Palm, Berlin
BH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-26609-7V004
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Jürgen und Mirko gewidmet,für ihre emotionale Unterstützung in schwierigen Zeiten.
Wien ist eine Stadt,die um einige Kaffeehäuser herum errichtet ist.
Bertolt Brecht
Die Straßen Wiens sind mit Kultur gepflastert. Die Straßen anderer Städte mit Asphalt.
Karl Kraus, österreichischer Schriftsteller und Journalist
Wenn man den Hysterischen in Hypnose versetzt und seine Gedanken in die Zeit zurückleitet, zu welcher das betreffende Symptom zuerst auftrat, so erwacht in ihm die halluzinatorisch lebhafte Erinnerung an ein psychisches Trauma (…) aus jener Zeit, als dessen Erinnerungssymbol jenes Symptom fortbestanden hat.
Dr. Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, aus: Inhaltsangaben der wissenschaftlichen Arbeiten des Privatdocenten Dr. Sigm. Freud
Wer a Jud is, bestimme ich!
Dr. Karl Lueger, Bürgermeister von Wien
Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.
Komtess Sophie von Werdenfels,genannt Phiefi, ältere Tochter des verstorbenen Freiherrn Nikolaus von Werdenfels
Henriette von Freiberg, genannt Yetta, geb. Danzer, ehemalige Freiherrin von Werdenfels, Sophies wiederverheiratete Mutter
Arthur, Freiherr von Freiberg, ihr zweiter Ehemann und Sophies Stiefvater
Emilia, genannt Milli, Sophies jüngere Schwester
Stephan Danzer, Henriettes verstorbener älterer Bruder, Sophies Patenonkel, ehemaliger Besitzer des Kaffeehauses Prinzess
Richard von Löwenstein, genannt Richie, einziger Sohn einer Nebenlinie der Familie, Major im Generalstab der k.u.k. Armee und Freund des verstorbenen Kronprinzen Rudolf
Eduard von Löwenstein, Richards Vater
Graf Maximilian von Löwenstein, genannt Max, Richards Onkel und Majoratsherr der Familie von Löwenstein
Maximilian, genannt Maxi, dessen ältester Sohn; Leutnant in der k.u.k. Armee
Alfred, genannt Fredl, ebenfalls Offizier in der k.u.k. Armee und später Mitglied des österreichischen Geheimdienstes
Graf Adalbert von Thurnau, ein Cousin mütterlicherseits von Richards Vater
Amalie von Löwenstein, genannt Ami, geb. von Thurnau, seine einzige Tochter und Richards Gattin
Kaiser Franz Joseph I.*, regierender Monarch und Familienoberhaupt der Habsburger
Kaiserin Elisabeth*, genannt Sisi, seine Frau
Kronprinz Rudolf*, ihr einziger Sohn, durch Selbstmord verstorben im Januar 1889
Kronprinzessin Stephanie*, Rudolfs Frau
Prinzessin Elisabeth*, genannt Erzsi, Rudolfs und Stephanies Tochter
Erzherzog Albrecht von Österreich-Teschen*, Onkel des Kaisers Franz Joseph und oberster Heerführer von Österreich-Ungarn; Richard von Löwensteins Vorgesetzter
Erzherzog Rainer*, Schwager von Erzherzog Albrecht und Großneffe Kaiser Franz Josephs, Inhaber des 59. Infanterieregiments in Salzburg
Franzi, Sophies Kammerzofe in der Hofburg und später in deren persönlichen Diensten
Emma, Dienstmädchen im Haushalt Stephan Danzers und nach dessen Tod im Haushalt Sophies
Elfi Braun, Franzis Freundin, ehemaliges Stubenmädchen im Hotel Sacher, später Spülerin im Kaffeehaus
Berta, Amalies Zofe
Ida, langjährige Mitarbeiterin in Stephan Danzers Kaffeehaus, später Mamsell im Haushalt von Werdenfels, unter Sophie wieder Mitarbeiterin im Kaffeehaus
Mina Löb, Aufseherin im Café Prinzess
Toni Schleiderer, ehemaliger Chefkonditor, dann Mitgeschäftsführer des Kaffeehauses nach Stephan Danzers Tod
Rudi Wallner, Nachfolger von Toni Schleiderer als Chefkonditor
Dr. Anastasius Krömer, Testamentsvollstrecker Stephan Danzers, später Rechtsbeistand von Sophie und Henriette
(in alphabetischer Reihenfolge)
Hermann Bahr*, Literat und Begründer der Schriftstellergruppe Jung-Wien
Alexander Girardi*, Schauspieler und Sänger
Hugo von Hofmannsthal*, Literat und Mitglied von Jung-Wien
Gustav Klimt*, Maler
Felix Salten*, Literat und Mitglied von Jung-Wien
Dr. Arthur Schnitzler*, Dichter und Arzt, Mitglied der Schriftstellergruppe Jung-Wien
(in alphabetischer Reihenfolge)
Irene Gerban, Arbeiterführerin, zukünftige Gräfin von Sterenberg
Benjamin von Hirschstein, Sohn von Theodor von Hirschstein
Theodor von Hirschstein, Textilfabrikant und Großaktionär der Wiener Tramway-Gesellschaft
Benjamin Löb, jüdischerKleinkrämer und Minas Vater
Heinz Pichler, Privatdetektiv
Dimitri Rostov, Mitarbeiter der russischen Botschaft in Wien
Gräfin Pauline von Sterenberg, Irene Gerbans Schwiegermutter
Felix Wagner, Oberleutnant im 14. Infanterieregiment in Linz
Karl Winkler, Hauptmann im Generalstab
(in alphabetischer Reihenfolge)
Dr. Victor Adler*, Arbeiterführer und Mitgründer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
Generaloberst Friedrich von Beck*, Nachfolger des verstorbenen Erzherzogs Albrecht als Leiter des Generalstabs und damit Vorgesetzter von Richard
Gräfin Ida von Ferenczy*, ungarische Hofdame Sisis
Dr. Sigmund Freud*, Nervenarzt, späterer Begründer der Psychoanalyse
Oberstleutnant Desiderius Kolossváry de Kolosvár*, Leiter des Wiener Evidenzbüros ab 1896
Dr. Karl Lueger*, Begründer der Christlichsozialen Partei, später Bürgermeister von Wien
Emilie Platter*, Anführerin der weiblichen Anhängerschaft Karl Luegers; spätere Präsidentin des Christlichen Wiener Frauenbunds
Adelheid Popp*, Arbeiterführerin
Amalie Ryba*, Anführerin des ersten Wiener Frauenstreiks
Anna Sacher*, Besitzerin undGeschäftsführerin des gleichnamigen Hotels
Katharina Schratt*, Schauspielerin am Hofburgtheater, anfangs Freundin, später wahrscheinlich Mätresse Kaiser Franz Josephs
Moritz Stukart*, Kommissär, ab 1896 Oberkommissär im Wiener Sicherheitsbüro
Komtess Marie Alexandrine von Vetsera*, genannt Mary, Sophies ehemals beste Freundin und Geliebte des Kronprinzen Rudolf, mit ihm gestorben im Januar 1889
Ende Juni 1891
Sophie von Werdenfels würgte es schon wieder in der Kehle, als der Priester in der Michaelerkirche die letzten Worte des Trauergottesdienstes für Stephan Danzer sprach. Ihre Augen brannten vom vielen Weinen über den zwar nicht unerwartet, aber dennoch plötzlich eingetretenen Tod ihres geliebten Patenonkels Stephan vor acht Tagen.
Mit Toni Schleiderer, Stephan Danzers langjähriger rechter Hand im Kaffeehaus Prinzess, an der Spitze traten sechs Männer vor, die den schweren Eichensarg gemeinschaftlich auf ihre Schultern hoben, um den lieben Verstorbenen von seinem Platz vor dem Altar zu dem schwarzen Leichenwagen vor dem Kirchenportal zu bringen. Dieser sollte Danzer zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Wiener Zentralfriedhof bringen, wo er endlich wieder mit seiner längst verstorbenen Frau Annerl vereint sein würde.
Alle Sargträger waren als Ober oder Koch im Unternehmen Prinzess beschäftigt, das aus einem älteren, traditionellen Kaffeehaus und einem erst etliche Jahre später entstandenen, vornehmeren Konditorei-Café bestand. Alleiniger Inhaber beider Gaststätten war Stephan Danzer gewesen.
Mit ihrer Mutter, Henriette von Freiberg, Danzers Schwester, zu ihrer Linken und Emilia, genannt Milli, ihrer jüngeren Schwester, zu ihrer Rechten bildete Sophie die Spitze des Trauerzugs, hinter dem sich die restliche Trauergemeinde zum Auszug aus der Kirche formierte.
Ob Arthur von Freiberg, Henriettes zweiter Gatte, tatsächlich wegen einer unaufschiebbaren Angelegenheit im Ministerium des Äußeren, wo er im diplomatischen Dienst stand, unabkömmlich war, oder ob er dies als Vorwand benutzt hatte, um der Beerdigung seines ungeliebten Schwagers fernzubleiben, war Sophie herzlich gleichgültig. Ihr Stiefvater war wahrlich der letzte Mensch, den sie am heutigen Tag vermisste.
Ohnehin war die Trauergemeinde, die Stephan Danzer die letzte Ehre erweisen wollte, so groß, dass die Kapelle auf dem Zentralfriedhof, wo es keine eigene Kirche gab, viel zu klein gewesen wäre. Selbst in der weitläufigen Michaelerkirche war fast jeder Platz während der Totenmesse besetzt. Danzer war in Wien eine bekannte Persönlichkeit gewesen. Er gehörte zu den Zuckerbäckermeistern, denen der k.u.k. Hoflieferantentitel verliehen worden war, eine Auszeichnung, derer sich nur die besten Meister ihres jeweiligen Fachs erfreuen durften.
Zu den Produkten des Cafés Prinzess, das Danzer vor ungefähr zwanzig Jahren gemeinsam mit seiner früh verstorbenen Frau Annerl als Ergänzung des alten Kaffeehauses gegründet hatte, gehörte an erster Stelle die mittlerweile weit über Wien hinaus bekannte Mokkaprinzentorte, die ihrem Schöpfer schließlich den begehrten Titel eingetragen hatte.
Nur flüchtig und durch ihre tiefe Trauer abgelenkt, hatte Sophie wahrgenommen, dass auch die anderen Wiener Hoflieferanten aus Danzers Gewerbe ihrem geschätzten Konkurrenten das letzte Geleit gaben. Nun schritt sie am Ehepaar Sacher vorbei, dem eines der besten Hotels in Wien gegenüber der Hofoper gehörte. Die Schokoladentorte, die nach den Eheleuten benannt worden war, exportierten sie inzwischen in alle Welt.
»Leider eignet sich die Mokkaprinzentorte nicht zum Versand«, hatte ihr Onkel des Öfteren geklagt. »Die Sachertorte besteht nicht aus vielen Biskuitböden, sondern aus einem Schokoladenteig, der nur einmal durchgeschnitten und mit Marillenmarmelade anstatt Buttercreme gefüllt wird. In einem stabilen Holzkarton, der verhindert, dass der Schokoladenüberzug Risse bekommt, hält sie sich wochenlang und kann mit den schnellen Dampfschiffen sogar nach Übersee gelangen, bevor sie verdirbt.«
»Aber die Mokkaprinzentorte ist trotzdem ungleich köstlicher als die Sachertorte«, versicherte Sophie ihrem Onkel dann jedes Mal. »Auch wenn sie sich gekühlt höchstens drei Tage lang frisch hält.«
Unwillkürlich lächelte Sophie unter Tränen, als sie sich jetzt an diese Dispute mit ihrem Onkel erinnerte. Erst ein leichter Puff ihrer Mutter gemahnte sie daran, das Ehepaar Sacher mit einem Neigen des Kopfes zu grüßen, als sie die Kirchenbank passierte, in der die beiden saßen.
Ihr Gruß wurde nicht nur von den Sachers, sondern auch von einem distinguiert wirkenden älteren Herrn erwidert, in dem Sophie Anton Gerstner erkannte. In der Backstube seines ebenfalls mit dem Hoflieferantentitel ausgezeichneten Konditorei-Cafés in der Kärntnerstraße hatte Stephan Danzer einst seine Lehre absolviert und dabei den Ehrgeiz entwickelt, es seinem ehemaligen Meister gleichzutun, der den Titel schon einige Jahre vor dem Café Prinzess erhalten hatte.
Wieder wurde Sophies Kehle eng. Anton Gerstner war viele Jahre älter als ihr geliebter Onkel, den ein bösartiger Tumor im Gehirn noch vor der Vollendung seines fünfzigsten Lebensjahrs hinweggerafft hatte.
»Ach, warum musstest du so früh sterben?«
Erst als ihre Mutter ihren Arm drückte, merkte Sophie, dass sie diese Worte nicht nur gedacht, sondern geflüstert hatte. »Ich fürchte, unser geliebter Stephan wird diesen Sommer nicht der einzige Trauerfall unter Wiens Zuckerbäckermeistern bleiben«, raunte ihr Henriette ins Ohr. »Maria Demel, das ist die Dame, die hinter den Sachers sitzt, ist ohne ihren Gatten gekommen. Man sagt, Karl Demel sei ebenfalls schwer erkrankt.«
Sophie nahm dies nur beiläufig zur Kenntnis. Gerade hatte sie Richard von Löwenstein in der Trauergemeinde entdeckt. Zu dem Schmerz um ihren Onkel kam nun ein weiterer hinzu. Richard war der Mann, den sie von ganzem Herzen liebte. Doch obwohl er ihre Gefühle erwiderte, war er unerreichbar für sie. Seit Oktober 1890 war er mit Amalie von Thurnau verheiratet. Es war eine der im Hochadel üblichen arrangierten Ehen. Da Richard samt seiner ganzen Familie finanziell von Amalies Vater Adalbert abhängig war, hatte er der Hochzeit seinerzeit wohl oder übel zugestimmt.
Heute war Richard natürlich allein gekommen. Amalie und Sophie hatten sich von ihrer ersten Begegnung an nicht ausstehen können. Doch Richard nahm nicht nur um Sophies willen an der Beerdigung teil. Er war ein häufiger Gast sowohl im Café als auch im Kaffeehaus Prinzess, und nach seiner anfänglichen Skepsis hatte Stephan Danzer Richard ins Herz geschlossen. Erst recht, nachdem dieser Sophie zur Flucht aus der ihr verhassten Hofburg verholfen hatte, kurz bevor sie zu einer Heirat mit einem ungeliebten ungarischen Grafen gezwungen worden wäre.
Vor der Kirche warteten zahlreiche Fiaker auf den Teil der Trauernden, die dem Toten nach der Messe noch das letzte Geleit zu seinem Grab geben wollten. Es waren weit mehr Mietdroschken, als Sophie für das Personal des Kaffeehauses bestellt hatte. Aber auch etliche private Kutschen standen dort, darunter Danzers eigener Landauer, mit dem sie und ihre Familie fahren würden.
Der Wiener Zentralfriedhof war nämlich sehr weitläufig und nicht bequem zu erreichen. Der Weg zu seinem Haupttor führte über die belebte Simmeringer Hauptstraße, auf der sich der Leichenzug zwischen mit Bierfässern beladenen Brauereifahrzeugen und Wagen, die ungarisches Vieh zum nahe gelegenen Schlachthof brachten, seinen Weg bahnen musste.
Auch zum Grab Danzers war es vom Eingangstor des Friedhofs aus noch eine gute Strecke Wegs. Der Wagenzug bog in eine der von ausladenden Zweigen üppiger Laubbäume beschatteten Haupt-Alleen des Zentralfriedhofs ein. Man passierte das pompöse Denkmal für die Opfer des Ringtheaterbrands im Dezember 1881, dem auch Sophies und Millis älterer Bruder Nikki zum Opfer gefallen war. Da seine Leiche wie die vieler anderer nicht mehr hatte identifiziert werden können, ruhten Nikkis sterbliche Überreste nun in dem Sammelgrab unter der marmornen Statue der trauernden Vindobona, die die Stadt Wien symbolisierte.
Sophie hörte ihre Mutter aufschluchzen und drückte ihr nun tröstend den Arm. Wir sollten an der Ringtheater-Gedenkstätte später ein paar Blumengebinde ablegen, kam ihr in den Sinn.Sicherlich sind es so viele, dass sie ohnehin nicht alle auf Onkel Stephans Grab passen.
Schließlich erreichte der Leichenzug den Abzweig zur Grabstätte. Hier stiegen die Trauernden aus, um die letzten Meter zu Fuß zurückzulegen. Wieder schritten die Sargträger hinter dem Priester und seinem Messdiener dem Zug voran. In der Tat erstreckte sich zu beiden Seiten des Wegs ein ganzes Blumenmeer. Toni Schleiderer hatte mit den Friedhofsgärtnern vereinbart, dass die Kränze, Gestecke und Sträuße auf dem Grab arrangiert werden sollten, nachdem die Beerdigung abgeschlossen war.
Die Grabstätte lag idyllisch im Schatten einer großen Rosskastanie, die gerade Früchte anzusetzen begann. Im Mai, als Sophie mit ihrem Onkel zum letzten Mal vor dessen eigenem Tod Annerls Grab besucht hatte, hatte der Baum noch verschwenderisch mit unzähligen rosa Kerzen geblüht.
Sie erinnerte sich noch genau an Stephan Danzers damalige Worte. »Annerl hat Rosskastanien geliebt. Nichts erfreute sie mehr, als im Frühling unter diesen Bäumen im Prater spazieren zu gehen.«
Nun würde er Seite an Seite mit seiner geliebten Frau und seinem tot geborenen Sohn ruhen. Obwohl Annerl ihm dies sicher von ganzem Herzen gegönnt hätte, war Stephan Danzer zu seinen Lebzeiten kein neues Liebesglück beschieden gewesen. Aufgrund seiner fortschreitenden Krankheit hatte er es nicht gewagt, sich gegenüber Mina Löb, der tüchtigen Aufseherin im Café Prinzess, zu erklären, die, wie Sophie wusste, seine Gefühle erwiderte.
Sophie bedauerte zutiefst, nicht neben Mina, die ihr inzwischen eine treue Freundin geworden war, am Grab stehen zu dürfen. Doch dies verbot die Konvention. Offiziell war Mina »nur« eine Angestellte und führte daher im Trauerzug die Gruppe der weiblichen Bediensteten des Cafés an, das wie das Kaffeehaus heute geschlossen war. Nur einige Köche waren zurückgeblieben, um den anschließenden Leichenschmaus vorzubereiten.
Überwältigt von ihren Erinnerungen und den dazugehörigen Empfindungen stand Sophie nun in der ersten Reihe der Trauernden vor dem offenen Grab. Mechanisch murmelte sie die Totengebete mit, ohne den Sinn der Worte zu erfassen. Noch einmal überfiel sie das Gefühl des Unwirklichen, das sie in den vergangenen Tagen seit dem Tod ihres Onkels immer wieder ergriffen hatte.
Heute war so ein herrlicher Tag! Ein Tag, um verliebt im Prater zu bummeln, kein Tag für eine Beerdigung! Eine milde Junisonne strahlte von einem leuchtend blauen Himmel, über den ein paar duftige Schleierwölkchen zogen. Es roch betörend nach den Blumen der Sträuße, die die meisten Trauergäste in den schwarz behandschuhten Händen hielten, in denen sie sicherlich inzwischen heftig schwitzten.
Sophie erhaschte einen weiteren Blick auf Richard, der sich verstohlen den Schweiß von der Stirn wischte. Als einer der Adjutanten von Erzherzog Albrecht, dem obersten Heerführer der k.u.k. Armee, trug er die Gala-Uniform eines Mitglieds des Generalstabs. Leider gehörte ein überaus unbequemer, grüner Federhut zu dieser Gala-Adjustierung, über den sich Richard bei früheren Gelegenheiten schon weidlich beklagt hatte.
Auch ihr wurde es in der zunehmenden Juni-Wärme immer heißer in ihrem hoch geschlossenen schwarzen Kleid mit dem steifen Stehkragen, den bis zu den Handgelenken reichenden Ärmeln und dem Hut mit dichtem Trauerschleier. Kurz entschlossen schlug Sophie den Schleier zurück, um freier atmen zu können. Anstatt dies zu missbilligen, taten es ihr Henriette und einige andere Damen umgehend nach.
Langsam näherte sich die Andacht am Grab ihrem Ende. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben«, hörte Sophie den Priester sagen. Dann wurde der Sarg ins Grab gesenkt.
Der Abschluss der Zeremonie stand bevor. Der Geistliche trat vor das Grab, besprengte den Sarg mit Weihwasser und warf dann mithilfe einer kleinen Schaufel etwas Erde darauf. »Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken«, betete er.
Dann trat er zurück und reichte die Schaufel an Henriette weiter. Sophies Mutter trat ans Grab. Tränen liefen ihr über die Wangen. Auch sie nahm etwas Erde aus einem neben dem Sarg stehenden Gefäß. Als sie diese auf den Eichensarg fallen ließ, dröhnte das Geräusch in Sophies Ohren. Sogar das Aufklatschen des kleinen Teerosenstraußes, den Henriette der Erde hinterherschickte, kam ihr überlaut vor.
Nun war sie an der Reihe. Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle, als sie Erde und ihren Strauß aus Vergissmeinnicht und Schleierkraut hinunterwarf. Da war ihr plötzlich so, als höre sie noch einmal die Stimme ihres Onkels. So deutlich, als stünde er neben ihr: »Du wirst mein Lebenswerk fortsetzen, Phiefi«, nannte er sie bei ihrem Kosenamen. »Und dabei erfolgreicher sein, als ich es je war.«
»Und wirst du dabei über mich wachen?« Lautlos formten Sophies Lippen diese Worte. »Das werde ich!«, lautete daraufhin seine für sie deutliche Antwort. Etwas getröstet trat Sophie vom Grab zurück. Ihre Tränen versiegten.
Nach Milli, die leise weinte, trat Toni Schleiderer als Danzers ranghöchster Mitarbeiter vor. Er hatte einen Buchsbaumzweig als letzte Gabe mitgebracht. Danach sprach er Henriette und ihren Töchtern sein Beileid aus. Einer spontanen Regung folgend, zog Sophie den Konditormeister in eine Reihe mit ihrer Mutter und Schwester. Er sollte ebenso wie Mina Löb, die Toni mit rot geweinten Augen als ranghöchste weibliche Angestellte des Cafés folgte, die Beileidsbezeugungen der zahlreichen Gäste entgegennehmen.
Nach Annerls Tod hatte Danzer als einzige lebende Verwandte nur noch seine Schwester Henriette und deren Töchter gehabt. So waren ihm seine treuesten Mitarbeiter im Kaffeehaus zur zweiten Familie geworden. Dazu gehörte auch Mamsell Ida, die Henriette nun den Haushalt führte und ehemals Sitzkassiererin im Kaffeehaus und Aufseherin im Café Prinzess gewesen war. Auch ihr liefen Tränen über die rundlichen Wangen, als sie ihrem ehemaligen Vorgesetzten den letzten Gruß entbot.
Ein Trauergast nach dem anderen kondolierte Sophie und den vier anderen, die mit ihr vor dem Grab standen. Viele kannte Sophie zumindest vom Sehen. Außer Danzers Personal waren etliche Gäste des Cafés Prinzess unter den Teilnehmern der Beerdigung. Sie stammten zumeist aus großbürgerlichen Familien. Doch selbst einige Adelige, wie die Gräfin Anna von Wilczek und andere Besucherinnen von Henriettes jeden Donnerstag stattfindendem Jour fixe, drückten ihr Beileid aus.
Kondolenzkarten hatten sogar Mitglieder höchster Adelskreise an Danzers Adresse gesandt. Darunter befanden sich so illustre Persönlichkeiten wie die Fürstin Kinsky und sogar die erste Dame der Wiener Gesellschaft, Pauline von Metternich.
Auch aus der Hofburg war eine Beileidskarte eingetroffen, unterzeichnet von der Obersthofmeisterin Sisis, Gräfin Maria von Goëss, die ihre Anteilnahme auch im Namen Ihrer allerhöchsten Majestät, der Kaiserin, zum Ausdruck brachte. Natürlich wusste Sophie nicht, ob diese Karte nicht nur eine reine Förmlichkeit war, von der Sisi nie Kenntnis erhalten hatte, oder ob sie tatsächlich auch in deren Namen abgesandt worden war. Sie nahm die Grüße dennoch als ein positives Zeichen dafür, dass man ihr ihre überstürzte Flucht aus dem Dienst der Kaiserin, deren Promeneuse sie fast zwei Jahre lang gewesen war, verziehen hatte.
Darauf wies auch der Brief von Sisis langjährigster Hofdame Ida von Ferenczy hin, der zusammen mit einem Bukett aus roten Rosen und weißen Lilien am Morgen in Danzers Wohnung abgegeben worden war. Ida war Sophies einzige Vertraute am Kaiserhof gewesen.
Hinter Dr. Victor Adler, dem Führer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, der auch Stephan Danzers behandelnder Arzt gewesen war, trat nun eine zierliche ältere Frau vor, die Sophie aus dem Café Prinzess nur flüchtig bekannt war. Doch die Dame kam zu ihrem großen Erstaunen in einer anderen Funktion als der einer Besucherin des Cafés.
Sie reichte Sophie ihre in einen schwarzen Spitzenhandschuh gehüllte Hand. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Pauline von Sterenberg, die Schwiegermutter von Irene Gerban. Sie weilt gerade in ihrer Heimat Rheinbayern und hat mich daher gebeten, sie bei der Beerdigung zu vertreten und Ihnen allen in ihrem Namen ihr tief empfundenes Beileid auszusprechen. Irene sagt, sie selbst und die Männer und Frauen, die sie als Arbeiterführerin vertritt, hätten Ihrem verstorbenen Onkel viel zu verdanken.«
»Das ist wahr«, bestätigte Mina Löb der angesichts dieser Worte verblüfften Sophie, als die Dame sich Henriette zuwandte. »Ihr Onkel gewährte den bei dem Tramway-Kutscherstreik vor zwei Jahren verletzten Demonstranten Zuflucht in seinem Kaffeehaus und schützte sie damit vor dem Zugriff der Gendarmen.«
»Davon wusste ich bislang gar nichts«, erwiderte Sophie, noch immer erstaunt.
»Ihr Onkel war ein sehr honoriger Mann, der sein Herz am rechten Fleck hatte. Schon als Schuljunge setzte er sich für die Schwachen und Gehänselten ein, zum Beispiel für einen Judenbuben wie mich. Obwohl er der Jüngere von uns beiden war.«
»Das ist mein Vater, Benjamin Löb«, stellte Mina den drahtigen Mann vor, der auf Pauline von Sterenberg folgte. Gerührt konstatierte Sophie, dass die Großherzigkeit ihres Onkels offenkundig noch weit über die gegenüber seiner Familie und seiner Belegschaft hinausgegangen war.
Weitere Trauergäste zogen an ihr vorbei. Manche hatte sie zwar, wie den Sänger und Schauspieler Alexander Girardi, noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen, kannte aber ihre Gesichter und Namen aus der Zeitung, da sie in ganz Wien bekannt waren. Dazu gehörten auch die Gebrüder Klimt. Deren Fresken, auf denen die Geschichte des Theaters in den Stiegenhäusern des neuen Burgtheaters dargestellt war, hatte Sophie schon vor Jahren bewundert.
Sie müssen Gäste des alten Kaffeehauses sein, überlegte sie nun bei sich. Dabei wurde ihr klar, dass sie von diesem Teil des Erbes ihres verstorbenen Onkels noch so gut wie gar nichts wusste. Denn im klassischen Wiener Kaffeehaus wurden Frauen in der Regel nicht gern gesehen.
Sophies Neugier wuchs, als auch Männer kondolierten, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.
»Dr. Arthur Schnitzler«, stellte sich ihr ein Mann mit einem spitz zulaufenden schwarzen Vollbart, den Sophie auf ungefähr Anfang dreißig schätzte, mit einer Verbeugung vor. »Habe die Ehre, Ihnen als regelmäßiger Gast des Kaffeehauses des teuren Verblichenen mein tief empfundenes Beileid auszusprechen. Und ich darf dies auch im Namen meines geschätzten Kollega, Dr. Sigmund Freud, tun. Er ist heute leider verhindert, aber frequentiert das Prinzess als mein Spielpartner beim Tarock ebenfalls regelmäßig.«
Erst Jahre später würde Sophie erfahren, dass Freud Beerdigungen grundsätzlich mied.
Weitere Namen prasselten auf sie ein.
»Felix Salten, habe die Ehre!«
»Hermann Bahr, mein tief empfundenes Beileid.«
An Toni Schleiderers erfreuter Miene erkannte Sophie, dass es sich auch bei diesen Herren um Stammgäste des Kaffeehauses handeln musste.
Auch ein blutjunger Bursche, dessen Alter Sophie auf noch weit unter zwanzig Jahre schätzte, ergriff ihre Hand und verneigte sich. »Hugo von Hofmannsthal, gnädiges Fräulein. Zwar blieb es mir versagt, Ihren Onkel zu seinen Lebzeiten kennenzulernen. Doch ich habe so viel Gutes von ihm als Förderer der Kunst gehört, dass ich heute nicht versäumen wollte, ihm die letzte Ehre zu erweisen.«
Onkel Stephan, ein Förderer der Kunst? Wieder war Sophie völlig verblüfft. Offenbar waren ihr etliche Facetten der Persönlichkeit ihres Onkels völlig entgangen.
Toni Schleiderer bemerkte ihre Verwirrung. »Ihr Onkel hat diesen Literaten im letzten Jahr einen ständigen Tisch im Kaffeehaus zur Verfügung gestellt, der nur für sie reserviert ist. Sie treffen sich dort regelmäßig zu einer Art Künstlerstammtisch. Meines Wissens war dies allerdings die einzige Art der Förderung, die er diesen ›jungen Wilden‹, wie er sie nannte, zuteilwerden ließ.«
Toni zwinkerte Sophie verschwörerisch zu und brachte sie damit trotz der traurigen Umstände beinahe zum Lachen. Doch schon wurde ihre Aufmerksamkeit erneut abgelenkt. Diesmal von Richard von Löwenstein.
Er war tatsächlich der Letzte in der Reihe der kondolierenden Trauergäste und trug zu ihrem Erstaunen keinen Buchsbaum- oder Lorbeerzweig bei sich, wie ihn die meisten Männer als letzte Gabe mitgebracht hatten, sondern einen Kranz, der üppig mit roten, gelben und weißen Rosen bestückt war. Sophie fiel auf, dass das Gebinde keine Schleife trug, die auf den Spender hinwies.
Richard verneigte sich vor Henriette und Sophie. »Darf ich den Damen diese Gabe der Baronin Helene Vetsera überreichen?«, fragte er. »Sie möchte sie anonym aufs Grab legen lassen, zumal sie auch nicht persönlich an der Beerdigung teilnehmen kann. Diese Bitte hat sie über ihren Bruder Alexander, mit dem ich gut bekannt bin, an mich herantragen lassen.«
Sophies Stimmung trübte sich sofort wieder ein. Seit Kronprinz Rudolf ihre ehemals beste Freundin Mary im Jänner 1889 mit sich in den Freitod gerissen hatte, wurden die Vetseras in ganz Wien geächtet. Man machte die ehemals hoch angesehene Familie für die Tragödie mit verantwortlich, obwohl sie diese nicht hätte verhindern können. Selbst Sophie und Richard, die durch ihre jeweilige Freundschaft mit Mary und dem Kronprinzen Rudolf viel mehr über deren düstere Absichten ahnten, hatten die Katastrophe von Mayerling nicht abwenden können.
»Ich respektiere den Wunsch meiner Freundin Helene und lasse ihre Gabe gern auf einen Ehrenplatz auf dem Grab meines Bruders legen«, hörte Sophie ihre Mutter Henriette nun zu ihrer Überraschung mit fester Stimme antworten. »Doch wenn Sie wieder in Kontakt zu ihrem Bruder treten, lassen Sie der Baronin bitte ausrichten, sie wäre mir von Herzen willkommen gewesen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah Sophie das Gesicht ihres Stiefvaters Arthur vor sich. Da er seiner Frau Henriette jeden Kontakt zu den Vetseras verboten hatte, wäre er über ihre Worte außer sich gewesen. Doch offensichtlich ließ sich Henriette nicht mehr so stark von seinem drohenden Zorn einschüchtern wie früher.
Sich über diese Wendung der Dinge im Palais Werdenfels zu freuen, vermochte Sophie im Augenblick allerdings nicht. Die Erinnerung an die Tragödie von Mayerling und deren bisherige Folgen, auch für sie persönlich, war gar zu erdrückend. Obwohl die Sonne nach wie vor strahlend vom Himmel schien, war es Sophie nun, als schöben sich düstere Wolken davor. Trotz der Hitze begann sie zu frösteln.
Am liebsten hätte sie sich jetzt in ihre Kammer in Danzers Wohnung über dem Kaffeehaus zurückgezogen und sich dort ausgeweint. Doch das war unmöglich. Der Brauch verlangte es, dass sie, ebenso wie Henriette und Milli, am Leichenschmaus für ihren Onkel im Café Prinzess teilnahm. Das wäre selbst dann der Fall gewesen, wenn ihr Onkel nicht immer wieder angedeutet hätte, dass er sie zu seiner Nachfolgerin und damit zur Leiterin des Cafés bestimmen wollte. Vor ihr lag noch ein langer anstrengender Tag.
Am besten gewöhne ich mich schon einmal daran, dass mich die Pflicht auch ruft, wenn mir ganz und gar nicht danach zumute ist, dachte sie trübsinnig.
In zwei Tagen fand die Testamentseröffnung ihres Onkels statt. Dann würde sie ganz genau wissen, welche Rechte, aber auch welche Pflichten er ihr, seinem Patenkind, zugedacht hatte.
Ende Juni 1891, zwei Tage später
Beklommen betrat Sophie hinter ihrer Mutter den großen Salon in der Privatwohnung ihres Onkels, in der sie seit ihrer Flucht aus der Hofburg im vergangenen Dezember eine Kammer bewohnte. Diese war einst als Kinderzimmer für den Nachwuchs des Ehepaars Danzer bestimmt gewesen, den es dann aber nie gegeben hatte.
Im Laufe der Zeit, sobald sie die Sachen ihres Onkels geordnet hätte, beabsichtigte Sophie, ins weitaus geräumigere Elternschlafzimmer umzuziehen, das Stephan Danzer in den letzten fünfzehn Jahren allein bewohnt hatte. Aber noch war es längst nicht so weit. Bis auf den besten schwarzen Anzug ihres Onkels, den der Bestatter dem Toten anzog, hatte Sophie noch nichts in seinem Zimmer angerührt. Geschweige denn, damit begonnen, seine persönlichen Dinge durchzusehen. Das wäre ihr so bald nach seinem Tod wie ein Sakrileg erschienen.
Dennoch würde sie sich heute dem letzten Willen ihres Onkels stellen müssen. Der Testamentsvollstrecker, Dr. Anastasius Krömer, ein würdiger älterer Advokat in einem für die Jahreszeit viel zu warmen, grauen Anzug aus Wollstoff mit Weste und langem Gehrock, war bereits vor fünfzehn Minuten eingetroffen. Das Dienstmädchen Emma hatte ihm das gewünschte Glas Wasser im Salon serviert, während er seine Papiere auf der hellgrün gemaserten Marmorplatte des Tisches ausbreitete und ordnete. Dafür hatte er sich genau die Viertelstunde Zeit ausbedungen, die nun vorüber war.
Schon vor Danzers Beerdigung hatte Krömer ein Schreiben an Sophie gesandt, in dem er sie davon unterrichtete, dass ihr Onkel erst im Frühjahr ein neues Testament aufgesetzt und sie darin zur Haupterbin bestimmt habe. Der Anwalt hatte außerdem darum gebeten, dass ihre Mutter Henriette, Herr Antonius Schleiderer und Fräulein Mina Löb bei der Testamentseröffnung anwesend sein sollten. Das konnte nur bedeuten, dass Onkel Stephan auch diese drei mit größeren Legaten bedacht hatte.
Hinter Henriette und ihr traten daher nun auch Toni und Mina in den Salon. Ihnen folgte eins der Serviermädchen aus dem Café mit einem Tablett, auf dem verschiedene Getränke aus der Kaffeeküche des Prinzess standen. Drei Tassen Mandelmelange für Sophie, Henriette und Mina, eine Tasse Pfefferminztee für den Advokaten und ein Großer Schwarzer für Toni. Das Dienstmädchen brachte dazu eine große Karaffe gekühlten Wassers und Gläser.
Nach einem Stück Torte war ihnen allen nicht zumute gewesen. Vorsorglich hatte Sophie allerdings auf einem Servierwagen Cognac, Obstbranntwein und Marillenlikör bereitgestellt, sollte es einen der Anwesenden im Laufe des Nachmittags nach geistigen Getränken gelüsten.
Aus unerfindlichen Gründen hatte der Advokat außerdem eine Flasche Champagner verlangt, die in einem silbernen, mit Eis aus der Kühlkammer gefüllten Kübel stand.
Nachdem Dr. Krömer sich davon überzeugt hatte, dass alle Anwesenden den Personen entsprachen, die er eingeladen hatte, räusperte er sich. Dann erbrach er das große rote Siegel eines Umschlags aus schwerem Büttenpapier.
»Hierin befindet sich das Original des handgeschriebenen Testaments von Herrn Stephan Johannes Danzer, geboren am 14. Jänner 1842 in Wien, selig im Herrn verschieden am 19. Juni 1891 im Alter von neunundvierzig Jahren, ebenfalls in Wien«, deklamierte er theatralisch.
»Das Testament wurde am 14. April dieses Jahres eigenhändig von dem Verstorbenen aufgesetzt. Bevor ich das Dokument persönlich in diesem Umschlag versiegelte, wurden zwei Abschriften davon angefertigt, die in meiner Kanzlei und einem Bankschließfach des Verblichenen aufbewahrt werden. Es war der Wille des Verstorbenen, mich in persona zum Testamentsvollstrecker zu ernennen. Eine Pflicht, der ich sorgfältig nachkommen werde, so wahr mir Gott helfe.«
Trotz ihrer Befangenheit spürte Sophie eine leichte Ungeduld in sich aufsteigen. Es verlangte sie danach, dass der Anwalt endlich zur Sache käme. Noch unruhiger als sie schien allerdings Toni Schleiderer zu sein, der unablässig mit den Füßen scharrte und an seiner Serviette zupfte.
Nachdem noch einige weitere Formalien verlesen worden waren, die die Beglaubigung der Abschriften sowie das genaue Prozedere der Vollstreckung des letzten Willens betrafen, kam Krömer endlich zum entscheidenden Punkt.
Er räusperte sich noch einmal und trank einen Schluck Wasser. »Ich komme jetzt zum letzten Willen des verstorbenen Herrn Stephan Johannes Danzer. Zur Haupterbin bestimmt der Verblichene seine Nichte Sophie von Werdenfels. Ich lese nun den genauen Wortlaut der Verfügungen vor.«
Obwohl ihr Onkel Sophie vor seinem Tod enige Male angedeutet hatte, dass er ihr den Löwenanteil seines Vermögens hinterlassen würde, begann sich ihr Puls zu beschleunigen. Es war etwas anderes, Vermutungen zu hegen als Tatsachen zu hören. Die folgenden Worte Danzers trieben Sophie die Tränen in die Augen.
Meine Nichte Sophie stand meinem Herzen jederzeit so nahe wie die Tochter, die mir versagt blieb. Ich schätze mich glücklich, dass es mir nach dem frühen Tod ihres leiblichen Vaters Nikolaus vergönnt war, dessen Stelle in ihrem Leben zumindest zum Teil ausfüllen und ihr ein väterlicher Freund sein zu dürfen.
Sophie hat einen guten Charakter. Sie ist treu, ehrenhaft, überaus fleißig und strebsam und jederzeit dazu bereit, für die Menschen, die ihr am Herzen liegen, zu sorgen und falls nötig, sogar zu kämpfen. Dies ist umso höher zu bewerten, als sich die Verhältnisse in ihrem Elternhaus nach dem Tod ihres Vaters Nikolaus nicht zum Besten entwickelt haben.
Nun begann auch Sophies Mutter zu weinen.
Dabei ist es besonders bedauerlich, dass sich die Familie des verstorbenen Nikolaus von Werdenfels nach der Heirat meiner Schwester Henriette mit Arthur von Freiberg vollständig von ihr und ihren Töchtern abwandte.
Zwar ist mir bekannt, dass Sophie im Fall ihrer Hochzeit eine erkleckliche Mitgift aus dem Erbe ihres leiblichen Vaters zu erwarten hat, die von der Rothschild-Bank als Treuhänder verwaltet wird. Es ist mir jedoch ein Herzensanliegen, Sophie zur völligen materiellen Unabhängigkeit zu verhelfen, auch im Vertrauen darauf, dass sie auf dieser Basis ihrer Mutter Henriette und ihrer jüngeren Schwester Emilia jeden Beistand gewähren wird, sollte sich dies als notwendig erweisen.
Wie betäubt lauschte Sophie den konkreten Fakten, die auf diese einleitenden Worte folgten. Es stellte sich heraus, dass Stephan Danzer über ein noch größeres Vermögen verfügt hatte, als von ihr vermutet.
Er vermachte Sophie zum einen die beiden Gebäude in der Dorotheergasse und der Ecke zum Graben, in denen sich das alte Kaffeehaus sowie das Café Prinzess befanden und die mittlerweile durch Mauerdurchbrüche miteinander verbunden waren. Zum anderen hinterließ er ihr seine weitläufige Privatwohnung, die sich über die beiden oberen Etagen der Häuser erstreckte.
Bis auf einige Erinnerungsstücke, die ich mir lieb gewordenen Menschen zugedacht habe, soll Sophie außerdem das Interieur der Wohnung und der beiden Unternehmensteile erben.
Zusätzlich erhielt Sophie das gesamte Barvermögen im Wert von mehreren hunderttausend Gulden, das zu einem großen Teil in gewinnbringenden Wertpapieren angelegt war.
Jedoch sind aus diesem Barvermögen die folgenden Legate zu entrichten.
Wieder räusperte sich der Anwalt und trank einen Schluck Wasser, offenbar, um die Spannung zu steigern.
Meiner geliebten Schwester Henriette von Freiberg hinterlasse ich die Summe von fünfundzwanzigtausend Gulden. Aus diesem Legat kann Henriette allerdings erst einen Nutzen ziehen, wenn sie, durch welche Umstände auch immer, nicht mehr mit Herrn Arthur von Freiberg in einem gemeinsamen Haushalt lebt.
Henriette zuckte zusammen und stöhnte hörbar auf.
Krömer fuhr ungerührt fort. So lange wird die Summe durch einen Treuhänder, zu dem ich die Rothschild-Bank bestimme, verwaltet, die Henriette nach Bedarf davon Teilbeträge zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auszahlen wird, sobald die Trennung von ihrem jetzigen Ehemann erfolgt ist. Erst danach kann meine Schwester auch über das gesamte Guthaben mit Zins und Zinseszins frei verfügen. Arthur von Freiberg wird ausdrücklich von jedem Anspruch auf das Legat oder dessen Nutznießung ausgeschlossen.
Auch die Summe von zehntausend Gulden für Milli, über die sie ab dem Tag ihrer Volljährigkeit verfügen kann, soll bis dahin von der Treuhandgesellschaft verwaltet werden.
Nun komme ich zu meinen treuen Mitstreitern im Kaffeehaus und dem Café Prinzess.
Hier war Danzers letzter Wille, dass jedes Mitglied der Belegschaft eine gewisse Summe erhalten sollte, die sich nach seiner Stellung und der Dauer seiner Mitarbeit im Unternehmen richtete. Die Höhe der Summen reichte von fünfzig Gulden für Lehrbuben und einfache Serviermädchen bis hin zu fünfhundert Gulden für die ranghöchsten und langjährigsten Mitarbeiter.
Zur letzten Gruppe gehörte auch Danzers Dienstmädchen Emma, das seit Annerls Tod seinen Privathaushalt versorgt hatte und vor Freude außer sich sein würde, vermutete Sophie. Denn für ein Dienstmädchen bedeuteten fünfhundert Gulden den Lohn mehrerer harter Arbeitsjahre.
Krömer fuhr fort, Danzers letzten Willen zu verlesen. Für die unschätzbaren Dienste, die sie mir, meiner Nichte Sophie und dem Café Prinzess in der kurzen Zeit ihrer Mitarbeit erwiesen hat, bedenke ich Fräulein Mina Löb mit einem Legat von fünftausend Gulden. In der Hoffnung, dass sie ihre unschätzbare Arbeitskraft auch meiner Nichte weiterhin zur Verfügung stellen wird.
Nun schossen Mina ebenfalls die Tränen in die Augen. Halb blind tastete sie nach einem Sacktuch und bemühte sich angestrengt, ihr Schluchzen zu unterdrücken.
Mit einem Legat von zehntausend Gulden möchte ich dagegen die Treue meines langjährigen Mitarbeiters Antonius Schleiderer belohnen.
Täuschte sich Sophie, oder huschte einen Lidschlag lang ein unwilliger Ausdruck über Schleiderers Gesicht, ehe er ob der Erbschaft eine freudige Miene aufsetzte, die Sophie allerdings nicht ganz ehrlich vorkam.
Nun ja. Toni ist schon seit mehr als zwanzig Jahren im Kaffeehaus tätig, dachte sie bei sich. Da erscheint es ihm vielleicht unverhältnismäßig, dass Mina, die erst vor knapp zweieinhalb Jahren zur Belegschaft dazu gestoßen ist, schon die Hälfte der Summe erhält, die Onkel Stephan ihm zugedacht hat.
Es folgten noch die restlichen Verfügungen Danzers über sein Privatvermögen. Henriette und Milli sollten sich so viele Erinnerungsstücke aus seinem Nachlass aussuchen dürfen, wie es ihnen beliebte. Schleiderer sollte zum Andenken seine goldene Taschenuhr erhalten, Mina Löb und das Dienstmädchen Emma jeweils ein Schmuckstück ihrer Wahl aus Annerls Schatulle. Der Rest der Preziosen ging wiederum an Sophie.
Spontan beschloss sie, auch ihrer treuen Kammerzofe Franzi, die ihr aus der Hofburg in ihr derzeitiges Domizil gefolgt war, ein Schmuckstück von Annerl zu überlassen, das ihr gefiel.
Weitere zehntausend Gulden liegen, ebenfalls von der Treuhandgesellschaft verwaltet, auf einem Sperrkonto, auf das nur meine Nichte Sophie von Werdenfels Zugriff hat, sofern sie dem Treuhänder nachweisen kann, dass sie diese Summe ganz oder teilweise für notwendige Investitionen im Kaffeehaus oder dem Café Prinzess verwenden will.
Sofern die Summe von zehntausend Gulden durch solche Zugriffe unterjährig vermindert wird, soll sie nach Möglichkeit aus dem Gewinn des nächsten Geschäftsjahres ganz oder teilweise wieder aufgefüllt werden, damit eine ständige Liquidität, insbesondere für Notfälle, zur Verfügung steht.
Wieder glaubte Sophie, einen unwilligen Ausdruck auf Schleiderers Gesicht wahrzunehmen, bis dieser erneut eine undurchdringliche Miene aufsetzte.
Doch schon durch seine nächste Reaktion verriet er, dass er auf etwas wartete. Als Krömer erneut einen Schluck Wasser nahm, fragte Toni: »Hat der selige Herr Danzer denn auch etwas bezüglich der zukünftigen Leitung des Unternehmens Prinzess verfügt?«
»Dazu komme ich noch«, erwiderte der Anwalt steif. »Zuvor möchte ich Ihnen allerdings die Modalitäten der Treuhandverwahrung erläutern.«
Es vergingen weitere zähe zehn Minuten, die Sophie insbesondere deshalb überflüssig vorkamen, da Dr. Krömer diese Informationen von einem Blatt ablas, das er Henriette, Milli und ihr als den drei von der Treuhandregelung betroffenen Erbinnen im Anschluss aushändigte.
Nicht nur Toni Schleiderers innere Spannung stieg, während der Anwalt das nun allen bekannte Ritual des Sich-Räusperns und Trinkens eines Schlucks Wasser ein weiteres Mal wiederholte. Dann wandte er sich zunächst an Toni.
»Herr Schleiderer, Sie erkundigten sich soeben nach den Verfügungen Ihres verehrten ehemaligen Dienstherrn über die zukünftige Leitung des Kaffeehauses und des Cafés Prinzess. Nun, dann mache ich Sie jetzt wortwörtlich mit Herrn Danzers diesbezüglichen Instruktionen vertraut.« Damit griff er erneut zu Danzers Originaltestament und begann, den Text vorzutragen.
Ein besonderes Augenmerk habe ich darauf gelegt, wer in welchem Ausmaß die Leitung meines Unternehmens nach meinem Ableben ausüben soll. Dabei gehe ich ohne Zweifel davon aus, dass meine Nichte Sophie von Werdenfels trotz ihres jugendlichen Alters und der Tatsache, dass man geneigt sein könnte, sie als Frau zu unterschätzen, ein großes Interesse an der Fortsetzung und Weiterentwicklung meines Lebenswerks hat und auch das nötige Talent dafür besitzt.
Aus diesem Grund möchte ich ihr mit meinen testamentarischen Bestimmungen die Möglichkeit geben, dieses Talent zur Entfaltung zu bringen, sofern sie dies will.
Dabei vertraue ich außerdem darauf, dass mein langjähriger treuer Mitarbeiter und in jüngster Zeit auch mein Stellvertreter bei der Leitung des Kaffeehauses, Herr Antonius Schleiderer, meine Nichte Sophie mit seiner Erfahrung und seiner Loyalität nach Kräften unterstützen wird.
Diesmal machte sich der Zuckerbäckermeister erst gar nicht die Mühe zu verbergen, dass ihn Danzers Worte beunruhigten. »Und was soll das nun genau heißen?«, fragte er den Advokaten mit belegter Stimme.
Der blieb weiterhin ungerührt. »Dazu bedarf es einer sehr differenzierten Erläuterung. Denn der verblichene Erblasser hat hier einige unterschiedliche Möglichkeiten skizziert. Ich fahre fort.«
Sollte meine Nichte Sophie zum Zeitpunkt meines Ablebens bereits über mindestens drei Jahre Erfahrung bei der Leitung des Cafés Prinzess verfügen und sich auch, soweit es ihr als Frau möglich ist, in die Belange des Kaffeehauses eingearbeitet haben, darf sie vollkommen eigenständig darüber entscheiden, ob sie Herrn Antonius Schleiderer an meiner Stelle in die Geschäftsführung berufen möchte.
Schleiderer stieß hörbar die Luft aus. Auch Henriette und Mina starrten den Advokaten erstaunt an. Dass Danzer so viel Vertrauen in Sophie setzen würde, hatten selbst sie offenbar nicht erwartet. Einen Moment lang schwiegen alle Beteiligten rund um den Tisch.
»Dies ist aber nun nicht der Fall«, ergriff Schleiderer als Erster das Wort. Er klang zornig. »Im Gegenteil! Fräulein von Werdenfels hat an der Seite meines verehrten, verstorbenen Vorgesetzten, Herrn Danzer, nicht einen einzigen Tag lang die Geschäftsführung ausgeübt. Diese Position hatte er ihr meines Wissens erst nach Erreichen ihrer Volljährigkeit zugedacht. Doch dazu kam es dann ja nicht mehr.«
Sophie zuckte zusammen. Ihr einundzwanzigster Geburtstag, dem sie so lange entgegengefiebert hatte, war nur einen Tag nach dem plötzlichen Tod ihres Onkels und daher einer der traurigsten, anstatt einer der glücklichsten Tage ihres Lebens gewesen. In ihrem Gram hatte sie sich jegliche Feierlichkeit verbeten, sogar das Ständchen, das ihr das Personal des Cafés bringen wollte. In einer Ecke ihrer Kammer lagen noch immer die Geschenke ihrer Mutter und Schwester sowie der Bediensteten des Prinzess, die sie bislang nicht ausgepackt hatte. Lediglich den großen Blumenstrauß Richards von Löwenstein hatte sie in ihr Zimmer gestellt.
Verstört fragte sie sich, warum Toni Schleiderer, den sie bislang immer als einen ihr wohlgesonnenen und freundlichen Mann erlebt hatte, so taktlos war, das unglückliche Zusammentreffen ihres Geburtstags mit dem Tod ihres Onkels so harsch zu betonen. Doch schon fuhr Toni fort.
»Fräulein Sophie hat bislang insgesamt nur wenige Wochen als Aufseherin im Café mitgewirkt. Diese liegen zudem größtenteils schon über zwei Jahre zurück.«
Nun blickten auch Henriette und Mina betreten drein. Jedermann wusste doch, dass Sophie es nur aufgrund der Feindseligkeit ihres Stiefvaters nicht gewagt hatte, schon vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag wieder als Aufseherin tätig zu werden. Außerdem hatte sie sich schon während ihrer Zeit als Hofdame in die Buchhaltung des Prinzess eingearbeitet und seit ungefähr einem halben Jahr die Verantwortung dafür übernommen. Das erwähnte Schleiderer nun mit keinem Wort.
Auch Dr. Krömer schien die veränderte Atmosphäre im Raum zu spüren. Er räusperte sich erneut und trank einen weiteren Schluck Wasser. Sophie bemerkte, dass er seinen Pfefferminztee noch nicht angerührt hatte, und fragte sich irritiert, warum ihr ausgerechnet in diesem dramatischen Moment solch eine Nebensächlichkeit auffiel.
Doch nun ergriff der Anwalt wieder die Initiative. »Lassen Sie mich zunächst einmal zum Ende kommen, Herr Schleiderer! Erst dann macht es Sinn, den letzten Willen Ihres verstorbenen Dienstherrn zu kommentieren.« Er las weiter vor:
Für den Fall, dass ich so früh versterben sollte, dass ich meine Nichte keine drei Jahre lang in meine Nachfolge einführen konnte, verfüge ich, dass (sein Einverständnis vorausgesetzt) Herr Antonius Schleiderer gemeinsam mit meiner Nichte die Geschäfte sowohl des Kaffeehauses als auch des Cafés Prinzess zunächst für die Dauer von fünf Jahren führt.
Ich wünsche, dass Herr Schleiderer dabei seine Erfahrung an meine Nichte weitergibt und alle wesentlichen Entschlüsse, zum Beispiel über größere Investitionen, einvernehmlich getroffen werden. Obwohl ich von Herzen hoffe, dass dieser Fall niemals eintreten wird, bestimme ich einschränkend, dass meine Nichte Sophie bei einer nicht auszuräumenden Uneinigkeit zwischen ihnen das letzte Wort bei geschäftlichen Entscheidungen hat.
Für die Dauer seiner Mitarbeit als Geschäftsführer erhält Herr Antonius Schleiderer zusätzlich zu seinem Salär eine Gewinnbeteiligung von jährlich zehn Prozent. Das Jahresgehalt meiner Nichte sollte dem Salär von Herrn Schleiderer entsprechen.
Aus dem restlichen Gewinn wird bei Bedarf zunächst die Summe, die für Investitionen und Notfälle zurückgelegt wird, wieder auf zehntausend Gulden aufgestockt. Sollte darüber hinaus ein Gewinn erzielt worden sein, kann meine Nichte darüber nach ihrem eigenen Gutdünken verfügen.
Da Toni Schleiderer Anstalten machte, den Advokaten an dieser Stelle zu unterbrechen, hob der die Hand und beeilte sich, den restlichen Absatz des Testaments vorzulesen. Natürlich war dem erfahrenen Advokaten klar, wie konfliktträchtig diese ungewöhnlichen Verfügungen Danzers waren. Das galt insbesondere für die nun folgenden, abschließenden Bestimmungen des Testaments.
Nach Ablauf der fünf Jahre gemeinsamer Geschäftsführung kann Sophie von Werdenfels entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie Herrn Schleiderer weiterhin an der Geschäftsführung beteiligen möchte. Es steht ihr auch frei, diese gänzlich an Herrn Schleiderer abzutreten, sofern eine Fortsetzung ihrer Berufstätigkeit nicht mehr mit zusätzlichen, insbesondere familiären Verpflichtungen vereinbar ist.
Es steht meiner Nichte außerdem frei, den Entschluss, die Geschäftsführung an Herrn Schleiderer abzutreten, schon vor Ablauf der fünf Jahre zu treffen. Dies gilt jedoch nicht für die Entscheidung, Herrn Schleiderer vorzeitig von der Geschäftsführung zu entbinden. Als einzige Ausnahme gälte nur der sehr unwahrscheinlich eintretende Fall, dass sich dieser eines erheblichen, geschäftsschädigenden Fehlverhaltens schuldig gemacht haben sollte.
Im Übrigen verfüge ich, dass sowohl Herr Antonius Schleiderer als auch Fräulein Mina Löb unter der Voraussetzung eines untadeligen Verhaltens im Unternehmen Prinzess unkündbar sind und nach ihrem altersbedingten Ausscheiden eine Rente von fünfzig Prozent ihres letzten Einkommens aus den Einnahmen des Unternehmens beziehen sollen.
Sophie bezweifelte, dass überhaupt noch einer der vier Anwesenden Krömers umständlichen Erläuterungen folgte, wie und ab wann diese Rente zur Auszahlung kommen sollte. Nicht nur sie selbst, auch die beiden anderen Frauen schienen deutlich zu merken, wie enttäuscht der Zuckerbäckermeister von den Verfügungen Danzers war. Machten ihn diese als erfahrenen Konditormeister und zuletzt sogar stellvertretenden Leiter des Kaffeehauses in einem hohen Ausmaß abhängig von dessen blutjunger Nichte.
Auch Sophie fehlten zunächst die Worte. Sie kannte Schleiderer schon, seit sie ein kleines Mädchen war. Viele Jahre lang war er für sie eine Respektsperson gewesen, in den letzten sechs Monaten seit ihrer Flucht aus der Hofburg zumindest ein gleichberechtigter Kollege, auf dessen Rat sie viel Wert legte.
Doch noch war die Zeremonie nicht zu Ende. Wieder ergriff der Anwalt das Wort, zunächst mit einer überraschenden Mitteilung.
»Ich möchte nicht verhehlen, dass ich gegenüber Herrn Danzer mein Erstaunen, ja sogar meine Irritation über diese weitreichenden Verfügungen zugunsten seiner noch sehr jungen Nichte zum Ausdruck gebracht habe. Sie verzeihen mir sicherlich diese Offenheit, Komtess von Werdenfels.« Er neigte den Kopf leicht in Sophies Richtung.
»Aber die Übertragung einer solch hohen Verantwortung an einen so jungen Menschen, noch dazu an eine Frau …«, Krömer unterbrach sich kurz, als er seine Taktlosigkeit bemerkte, fuhr dann aber entschlossen fort: »… erschien mir zumindest … ungewöhnlich.«
Er trank zum ersten Mal hastig einen Schluck von seinem sicherlich mittlerweile kalt gewordenen Tee, verschluckte sich dabei und hustete zunächst ausgiebig in sein Sacktuch. Nach einer Weile, die Sophie unendlich erschien, da ihr die gesamte Situation zunehmend unangenehm wurde, kam der Anwalt endlich wieder zu Atem.
»Ich räume freimütig ein, dass ich bei dem lieben Verstorbenen kaum Gehör mit meinen Einwänden fand. Doch zumindest mit diesem meinem Vorschlag war er letztlich einverstanden.«
Krömer rückte seinen Kneifer zurecht. »Herr Danzer hat mir zugestimmt, dass solch weitreichende Bestimmungen nicht über die Köpfe der beiden Betroffenen hinweg verfügt werden sollten. Deshalb hat er auf meine Empfehlung hin angeordnet, dass sowohl Sie, gnädiges Fräulein von Werdenfels, als auch Sie, verehrter Herr Schleiderer, Ihre explizite Zustimmung zu diesen Verfügungen über die Zusammenarbeit bei der zukünftigen Geschäftsführung des Unternehmens Prinzess schriftlich zum Ausdruck bringen sollten. Die entsprechenden Dokumente habe ich vorbereitet und heute mitgebracht. Daher frage ich Sie nun beide, ob Sie bereit sind, die Bedingungen von Herrn Danzer zu erfüllen und dies durch Ihre Unterschrift zu bestätigen. Sollten Sie sich dazu heute noch nicht in der Lage sehen, wird Ihnen eine Bedenkzeit von zehn Tagen eingeräumt.«
Mit einem skeptischen Blick auf Sophie fügte er hinzu: »Dabei steht es Ihnen selbstverständlich frei, diesen Teil der Bestimmungen von Herrn Danzers Testament abzulehnen.«
»Und was geschieht dann?«, kam Henriette Sophies Frage zuvor.
»Über Herrn Danzers Anweisungen für diesen Fall bin ich nicht befugt, Auskunft zu geben, bevor sich Fräulein von Werdenfels und Herr Schleiderer entschieden haben.«
Sophie spürte plötzlich einen Kloß im Magen. Sie fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits traute sie sich die alleinige Leitung des Prinzess keineswegs zu und wusste auch nicht, ob ihr Onkel ihr diese überhaupt anvertrauen würde, sollte Schleiderer dessen Vorschlag ablehnen. Andererseits war sie gerührt über das Vertrauen ihres Onkels in sie, obwohl ihr auch klarwurde, dass er offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, schon so bald nach der Abfassung seines neuen Testaments zu sterben. Ebenso wenig, wie er seine schwere Erkrankung anfänglich ernst genommen hatte.
Aber besonders deutlich spürte sie, dass eine Bedenkzeit die Entscheidung keineswegs vereinfachen würde. Sie war auf Toni Schleiderer angewiesen. Dass er in seinem sichtlich verletzten Stolz über seine Zurücksetzung geneigt sein könnte, Danzers Vorschlag abzulehnen, wenn er nur lange genug darüber nachdachte, wollte sie nicht riskieren, indem sie jetzt unnötig zögerte.
Sie holte tief Luft und trat die Flucht nach vorn an. »Ich bin mit den Verfügungen meines Onkels vollkommen einverstanden und daher auch bereit, dies heute an Ort und Stelle zu unterschreiben. Es wäre mir eine große Ehre, Herr Schleiderer, mit Ihnen als unverzichtbare Stütze an meiner Seite gemeinsam die Geschäfte des Prinzess führen zu dürfen!« Bittend sah sie den korpulenten Mann mit dem bereits ergrauten, zur Halbglatze zurückgewichenen Haar an. Der erwiderte ihren Blick anfangs mit unergründlicher Miene, während er ein Ende seines ausladenden Schnurrbarts zwirbelte.
Schließlich verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Wenn es denn der letzte Wunsch Ihres verehrten Herrn Onkels war, Fräulein Sophie, so will auch ich mich ihm nicht widersetzen. Also, lassen Sie uns unser Glück gemeinsam versuchen!«
Auch Krömer lächelte jetzt schmal. »So kommt der Champagner heute doch noch zum Einsatz«, klärte er endlich auf, weshalb er darauf gedrungen hatte, dass die Flasche bereitgestellt würde. »Es war Herrn Danzers ausdrücklicher Wunsch, dass wir alle auf diese Vereinbarungen anstoßen, sollten sie bereits am Tag der Testamentseröffnung von beiden Parteien unterzeichnet werden.«
Januar 1892
Sophie warf einen letzten Blick in den Spiegel im Ankleidezimmer der Aufseherinnen, um zu überprüfen, ob ihr dunkelgrünes Nachmittagskleid aus Samt, das sie mithilfe ihrer Kammerzofe Franzi soeben angelegt hatte, auch richtig saß. Sie trug es heute zum ersten Mal.
Denn nun war über ein halbes Jahr seit dem Tod ihres Onkels vergangen und damit die sogenannte Halbtrauerzeit angebrochen. Jetzt schrieb die Konvention nur noch schwarze Accessoires an der ansonsten in gedeckten Farben erlaubten Garderobe vor, mit denen angezeigt wurde, dass das gesamte Trauerjahr um einen lieben Verstorbenen noch nicht vorbei war.
Sophie versuchte, tief durchzuatmen, was ihr schwerer fiel als in ihrem Aufseherinnenkleid, das sie kurz zuvor noch getragen hatte. Die Taille der Samtrobe war um zwei Zentimeter enger als die ihrer Tracht, sodass Franzi sie zuvor fester geschnürt hatte. Dieses leidige Korsett ist wahrlich die Geißel aller Frauen, dachte sie mit einem Anflug von Ärger.
Doch im Schneideratelier von Jungmann & Neffe, in dem ihre neue Garderobe angefertigt worden war, hatte man Sophie versichert, dass die neueste Mode eben nun einmal diese schmale Taille verlangte. Und so hatte sie sich, wie jede Dame von Stand in der Wiener Gesellschaft, dem Modediktat der aktuellen Saison seufzend gebeugt.
»Des steht Ihna aba ganz prächtig zu G’sicht, gnä’s Fräulein«, versicherte ihr auch Franzi zufrieden. »Jetz, wo S’ endlich nimmer des düst’re Schwarz tragen müssen, schaun S’ aus wie a andere Mensch. Nur die Haar würd i Ihna gern no richten. So is die Frisur zu streng.«
Sophie warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor halb vier. Bis zu Ida Ferenczys Ankunft, die sie heute zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus der Hofburg im Café Prinzess besuchen wollte, war noch mehr als eine halbe Stunde Zeit. Und Franzi, die seit Sophies erstem Tag bei Hofe vor nunmehr fast drei Jahren in ihren Diensten stand, war eine sehr geschickte Friseuse.
Das Mädchen hatte außerdem mit seiner Anmerkung recht. Sophies Kleid war ein Meisterwerk der Schneiderkunst. Zum Zeichen der Halbtrauer war es am Oberteil, der Vorderseite des glockenförmigen Rocks und am Saum mit rautenförmigen, schwarzen Borten verziert. Jede Raute war wiederum, wie der bis zum Kinn reichende Stehkragen, aufwendig bestickt. Der letzte Schrei waren die schwarzen Fransen, die rundherum auf Brusthöhe angebracht waren. So wirkte die Robe züchtig, zugleich aber auch eine Spur erotisch.
Zu dieser eleganten Aufmachung passte der strenge Dutt, der den Aufseherinnen im Café Prinzess vorgeschrieben war, in der Tat nicht. Zudem würde das ebenfalls mit grünem Samt überzogene und mit einer schwarzen Feder geschmückte Hütchen nicht gut darauf zu befestigen sein.
Während Franzi ihre Haare löste und mit einer Bürste zu kämmen begann, ließ Sophie ihre Gedanken schweifen. Es war nun länger als ein Jahr her, dass ihr Ida Ferenczy zur Flucht aus der Hofburg verholfen hatte. Seither hatten sich die beiden nicht mehr gesehen.
Dafür waren verschiedene Umstände verantwortlich. Zwar hatte sich das Problem mit Sophies ungeliebtem Freier, dem ungarischen Grafen Lajosz von Szalay, dank Richard von Löwensteins Hilfe sehr rasch gelöst. Und da Richard Szalay in der Hand hatte, bewirkte der Ungar darüber hinaus sogar trotz Sophies Flucht aus der Hofburg ihre Entlassung in allen Ehren aus dem Dienst der Kaiserin.
Dennoch war Sophie damals zum einen mit ihrem Onkel und Richard übereingekommen, sich bis zu ihrer Volljährigkeit nicht mehr als Aufseherin im Café zu zeigen und auch alle gesellschaftlichen Anlässe in der Wiener Frühjahrssaison zu meiden, um keinerlei unnötiges Aufsehen in der Öffentlichkeit zu erregen.
Dann war zum anderen Sophies Onkel gestorben. Anfangs fühlte sich Sophie wie betäubt durch ihren Schmerz und schleppte sich mühsam von Tag zu Tag. Später nahm die Übernahme der vielen Aufgaben im Kaffeehaus sie eine Zeit lang völlig in Anspruch. Als sie Ida im Herbst danach endlich ins Café Prinzess einlud, riet diese ihr brieflich, noch die Hälfte des Trauerjahrs abzuwarten. Denn während der ersten sechs Monate nach einem Todesfall waren auch aushäusige, gesellschaftliche Treffen verpönt und hätten Anlass zu Klatsch und Tratsch gegeben, wäre ihrer beider Wiedersehen von Gästen des Cafés bemerkt worden.
Ein Mitglied des Hofstaats der Kaiserin in Danzers bürgerliche Wohnung einzuladen, schloss Sophie dagegen von vorneherein aus. Sie spürte instinktiv, dass sich dies mit der Würde einer Hofdame nicht vereinbaren ließ und ihre Freundin in eine peinliche Situation gebracht hätte.
Der Verzicht auf den persönlichen Kontakt zu Ida war Sophie im Laufe der Zeit recht schwergefallen. Beide waren jedoch ständig in brieflichem Kontakt miteinander geblieben.
Die Ungarin war die dienstälteste Hofdame der Kaiserin und besaß deren volles Vertrauen. Während ihre heimliche Konkurrentin, die ebenfalls ungarische Hofdame Marie von Festetics, vor Wut über das Scheitern ihrer Pläne, Sophie zu schaden, schäumte, hatte diese es Ida zu verdanken, dass die Kaiserin letztlich kaum Notiz davon nahm, dass ihr Sophie den Dienst quittiert hatte.
Sisi ist völlig von Janka Mikes eingenommen, hatte ihr Ida schon vor Weihnachten 1890 geschrieben. Die Kaiserin war nur kurze Zeit nach Sophies Flucht von einer mehrmonatigen Mittelmeerreise zurückgekehrt. Außerdem leidet Sisi an einem hartnäckigen Husten und macht sich große Sorgen um ihre an den Masern erkrankte Tochter Marie Valerie. Da Sisi ohnehin nicht nach Dir geschickt hat, hat zunächst niemand gewagt, sie mit dieser ganzen unangenehmen Angelegenheit überhaupt zu belästigen.
Auch wenn Idas Ausdrucksweise ihr zunächst einen kleinen Stich versetzte, war Sophie letztlich froh darüber, dass die Kaiserin sie nicht vermisste, da sie in ihrer Zeit als Hofdame durchaus unter einigen Eigenheiten Sisis gelitten hatte.
Das waren vor allem die Rastlosigkeit und Sprunghaftigkeit der Kaiserin gewesen, die sich nach dem Selbstmord ihres einzigen Sohnes Rudolf sogar noch verstärkt hatten. Seitdem befand sich Sisi, die sich schon zuvor kaum noch in Wien aufgehalten hatte, beständig auf Reisen. Da sie nun den größten Teil des Jahres in halb Europa unterwegs war, brauchte sie eine kräftige Hofdame, die sie auf ihren fast täglichen, exzessiven Wanderungen und ausgedehnten Schiffsreisen im Mittelmeerraum begleitete.
Als ihre Promeneuse hatte Sophie diese Aufgabe über ein Jahr lang übernommen. Doch als sie der Kaiserin im Sommer 1890 mitteilte, dass sie aufgrund der schweren Erkrankung ihres Onkels nicht auf eine geplante Mittelmehrfahrt mitkommen könne, hatte Sisi Sophie schnell und offenbar ohne Bedauern durch die junge Ungarin Janka Mikes ersetzt. Die Kaiserin war dafür bekannt, Menschen sofort fallen zu lassen, die ihren Vorstellungen von unbedingter Treue und Loyalität bis hin zur Selbstaufgabe nicht mehr entsprachen.
Sophie wäre trotzdem zufrieden gewesen, hätte Marie Festetics mithilfe Jankas nicht die Intrige gegen sie gesponnen und sie mit ihrem an Syphilis erkrankten Cousin Lajosz zwangszuverheiraten versucht, was schließlich zu ihrer Flucht geführt hatte.
»Schaun S’ amal, gnä’s Fräulein, ob’s jetz so passt«, riss Franzi Sophie aus ihren Gedanken. Sie kam der Aufforderung ihrer Kammerzofe nach und betrachtete sich im fleckigen Spiegel der verschrammten Frisierkommode, vor der sie saß.
In der Tat hatte sich Franzi wieder einmal selbst übertroffen. Statt des streng nach hinten gebundenen Dutts hatte sie Sophies blonde Haare zu weichen Zöpfen geflochten und kunstvoll am Hinterkopf aufgesteckt, wie sie ihr nun mittels eines Handspiegels zeigte. Aufgrund der blinden Stellen im Spiegel der Kommode musste Sophie allerdings mehrmals den Kopf bewegen, um die Frisur betrachten zu können.
»Wunderschön, Franzi!«, lobte Sophie, während Franzi gleichzeitig sagte: »Wollen S’ des schäbige Ding ned amal ersetzen?«
»Auf gar keinen Fall«, lehnte Sophie spontan ab. Als sie daraufhin die verwunderte Miene ihrer Zofe im Spiegel erblickte, griff sie hastig zur ersten Ausrede, die ihr einfiel. »Die Kommode ist ein Erbstück von Annerl Danzer, der Frau meines verstorbenen Onkels.«
»Aba die is scho ewig lang tot«, argumentierte Franzi hartnäckig. »Dann lassen S’ wenigstens den Spiegel neu mach’n!«
Auch das wies Sophie zu Franzis Verblüffung zurück. »Setz mir jetzt bitte den Hut auf!«, bat sie dann.
»Sehr wohl, gnä’s Fräulein.«
An der steifen Antwort erkannte Sophie, dass Franzi ein wenig verschnupft darüber war, dass sie ihre Vorschläge so brüsk abgelehnt hatte. Aber dafür gab es nun wahrlich einen triftigen Grund.
Denn im Geheimfach der Frisierkommode, das Sophie seinerzeit zufällig entdeckt hatte, bewahrte sie Mary Vetseras Abschiedsbrief aus Mayerling auf. Er enthielt all die verräterischen Einzelheiten über den von Kronprinz Rudolf geplanten Tod ihrer ehemals besten Freundin, welche der Kaiserhof, der bis heute Marys Anwesenheit in Mayerling leugnete, beharrlich zu vertuschen versuchte.
Dieser Brief, der ihr von Rudolfs Leibfiaker Josef Bratfisch nur einen Tag nach Marys Hinscheiden überbracht worden war, hatte Sophie bislang gleichermaßen Glück wie Unglück eingetragen. Zwar behauptete sie gegenüber der Kaiserin, die durch ein Geständnis des Fiakers von der Existenz dieses Briefes wusste, ihn vernichtet zu haben. Doch ihr daraus resultierendes, gefährliches Wissen war der einzige Grund dafür gewesen, dass Sisi sie, eine Komtess aus niederem Adel, als Promeneuse in ihren Hofstaat berufen hatte, worüber Sophie anfangs sehr unglücklich gewesen war. Aber als Mitglied des Hofes war sie über alle internen Angelegenheiten zum Schweigen verpflichtet gewesen und musste darüber sogar einen Eid ablegen.
Nach ihrer Flucht hatte sie den Inhalt des Briefes dagegen zu ihren Gunsten verwenden können, nämlich als Waffe gegen ihren ebenso herrsch- wie geltungssüchtigen Stiefvater Arthur von Freiberg. Als ihr Vormund stimmte er der Zwangsheirat mit dem ungarischen Grafen zu, da er sich davon als Gegenleistung einen Hoftitel versprach. Auch nach Sophies Flucht verfolgte er diesen Plan zunächst weiter.
Auf Richards Rat hin, der damals als Einziger außer ihr und ihrem jetzt verstorbenen Onkel von der Existenz dieses Dokuments wusste, hatte sie ihren Stiefvater dann jedoch genau mit der Drohung, den Inhalt des Briefs an die Öffentlichkeit zu bringen, zum Nachgeben gebracht. Denn Arthur war mittlerweile zu einem ranghohen Diplomaten im Ministerium des Äußeren aufgestiegen. Und im Habsburgerreich war es durchaus üblich, die gesamte Familie für das Fehlverhalten eines ihrer Mitglieder büßen zu lassen, vor allem, wenn sich der Kaiserhof dadurch düpiert fühlte. Daher hätte ein solcher Verstoß gegen ihren Schweigeeid nicht nur für Sophie, sondern auch für ihren Stiefvater schlimme Konsequenzen gehabt. Arthur von Freiberg hätte sein Amt als hoher Beamter im Dienste Seiner Majestät sofort aufgeben müssen und wäre wahrscheinlich sogar seiner Pension verlustig gegangen.
Allerdings beabsichtigte Sophie nie, ihre Drohung wahr- und den Brief, der sicher in seinem Versteck im Kaffeehaus ruhte, publikzumachen. Aber sie verstand es, ihrem Stiefvater das Gegenteil so geschickt weiszumachen, dass er auf ihre Finte hereinfiel und sie seither in Ruhe ließ.