Das Weingut. Tage des Schicksals - Marie Lacrosse - E-Book
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Das Weingut. Tage des Schicksals E-Book

Marie Lacrosse

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Beschreibung

Schweighofen in der Pfalz, 1877. Das ehemalige Dienstmädchen Irene und ihr Mann, der Weinguterbe Franz Gerban, führen eine glückliche Ehe. Dennoch fühlt Irene sich fremd in seiner Welt der besseren Kreise. Als Franz häufig auf Reisen ist, leidet sie zunehmend unter der Einsamkeit und sucht sich eine Aufgabe. Sie beginnt, sich für die Rechte der Arbeiterfrauen einzusetzen – und trifft dabei ihren ehemaligen Geliebten, den Arbeiterführer Josef, wieder. Franz reagiert mit glühender Eifersucht, ihre Beziehung droht zu zerbrechen. Und dann erfährt Franz ein Geheimnis, das ihrer beider Leben vor eine große Herausforderung stellt …

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Buch

Schweighofen in der Pfalz, 1877. Das ehemalige Dienstmädchen Irene und ihr Mann, der Weinguterbe Franz Gerban, führen eine glückliche Ehe. Dennoch fühlt Irene sich fremd in seiner Welt der besseren Kreise. Als Franz häufig auf Reisen ist, leidet sie zunehmend unter der Einsamkeit und sucht sich eine Aufgabe. Sie beginnt, sich für die Rechte der Arbeiterfrauen einzusetzen – und trifft dabei ihren ehemaligen Geliebten, den Arbeiterführer Josef, wieder. Franz reagiert mit glühender Eifersucht, ihre Beziehung droht zu zerbrechen. Und dann erfährt Franz ein Geheimnis, das ihrer beider Leben vor eine große Herausforderung stellt …

Autorin

Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitet heute als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Unter ihrem wahren Namen Marita Spang schreibt sie erfolgreich historische Romane. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort. Ihre »Das Weingut«-Saga um die Weinhändler-Familie Gerban wurde zum Bestseller. Weitere Romane der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.

Mehr Informationen unter www.maritaspang.de

Marie Lacrosse

Das Weingut.Tage des Schicksals

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen..Deutsche Erstveröffentlichung September 2019

Copyright © 2019 by Marie Lacrosse

Copyright der deutschen Erstausgabe © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Slow Images / Gettyimages

Max shen / gettyimages

FinePic®, München

Redaktion: Heike Fischer

BH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24596-2V003

www.goldmann-verlag.de

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Allen bekannten und unbekannten Frauen gewidmet, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter eingesetzt haben und denen wir unsere heutigen Rechte verdanken.

Die Frauen müssen sich selbst helfen. Von den Männern ist nicht viel zu erwarten: Wer verzichtet auch freiwillig auf seine Privilegien? Aber ein schweres Stück Arbeit ruht auf den Schultern jener Frauen, die es übernommen haben, die große Masse der Frauen aus ihrem Geistesschlafe zu rütteln.

T. W. Teifen in der Wiener Frauenzeitschrift »Dokumente der Frauen« 1899Es gibt keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichheit der Geschlechter.

August Bebel in der Einleitung seines Werkes »Die Frau und der Sozialismus«Eiapopeia, nun schlaft ihr Rangen, die Mutter ist wieder versammeln gegangen. Eiapopeia, o bleibt mir gesund, die Mutter hält Reden, der Vater den Mund!

Ein oft von der bürgerlichen Presse verwendeter Spottvers auf die Aktivitäten von Frauenrechtlerinnen, unter anderem anlässlich einer Veranstaltung von Gertrud Guillaume-Schack im Jahr 1883

Dramatis Personae

Es werden nur die handlungstragenden Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten werden mit einem * gekennzeichnet.

Irenes und Franz’ Familie

Irene Gerban, geb. Weber,unehelich geboren in einer Gebäranstalt, aufgewachsen in Waisenhäusern; »Weber« ist nicht ihr echter Familienname

Franz Gerban, Besitzer der Weinhandlung Gerban und des gleichnamigen Weinguts in Schweighofen

Fränzel, ihrer beider Sohn

Sophia und Klara, ihre Zwillingstöchter

Wilhelm Gerban, Franz’ verstorbener Ziehvater und Irenes leiblicher Vater

Sophia, Irenes verstorbene Mutter und jüngere Schwester Ottilies

Pauline Gerban, Franz’ französischstämmige Mutter

Mathilde Stockhausen, geb. Gerban, Franz’ jüngere Halbschwester

Herbert Stockhausen, Mathildes Ehemann, Tuchfabrikant in Oggersheim

Gregor Gerban, Wilhelms Bruder

Ottilie Gerban, Ehefrau vonGregor und ältere Schwester von Irenes Mutter Sophia

Fritz Gerban, Gregor und Ottilies im Krieg gefallener Sohn

Handlungstragende Personen in Wien

Graf Eberhard F. von Sterenberg, Majoratsherr, Diplomat an der österreichischen Botschaft in Berlin

Adelaide von Windisch-Grätz, seine ältere Schwester

Lea Walberger, Arbeiterführerin

Dr. Viktor Adler*, österreichischer Sozialdemokrat

Personal auf dem Weingut in Schweighofen

Nikolaus Kerner, Verwalter des Weinguts

Hansi Krüger, Verwalterlehrling und späterer Nachfolger von Nikolaus Kerner

Johann Hager, Kellermeister des Weinguts

Frau Burger, Hausdame in Altenstadt und später in Schweighofen

Clemens Dick, erster Vorarbeiter des Weinguts

Herrmann, junger Landarbeiter auf dem Weingut

Rosa, ehemals Wärterin in der Anstalt in Klingenmünster, jetzt Paulines Zofe in Schweighofen

Frau Grete, Köchin in Schweighofen

Peter, der junge Kutscher

Fräulein Adelhardt, Hauslehrerin von Klara

Bewohner der Villa Stockhausen

Ilse Stockhausen, Herbert Stockhausens Tante

Theobald, Kutscher und Kammerdiener

Herta, Köchin

Hanne, Dienstmädchen und Zofe

Hauspersonal der Gerbans in Altenstadt

Gitta, Dienstmädchen

Heidi, Dienstmädchen

Niemann, erster Hausdiener

Frau Kramm, Köchin

Riemer, Kutscher

Irenes Bekannte aus ihrer Zeit als Fabrikarbeiterin

Josef Hartmann, Arbeiterführer

Emma Schober, Textilarbeiterin in der Tuchfabrik Reuter und Irenes beste Freundin in Lambrecht

Georg Schober, ihr Mann, ehemaliger Textilarbeiter bei Reuter

Marie und Thea, ihre Töchter

Trude Ludwig, Freundin und Vermieterin Irenes in Lambrecht

Robert Sieber, ehemaligerVorarbeiter in der Tuchfabrik Reuter, jetzt Stellvertreter des Verwalters

Benjamin Reuter, Tuchfabrikant in Lambrecht

Plotzer, Reuters Verwalter in der Tuchfabrik

Weitere handlungstragende Personen von Bedeutung

Werner Kegelmann, preußischer Beamter im Reichskanzleramt in Berlin

Monsieur Payet, Rechtsanwalt und Notar der Gerbans in Weißenburg

Dr. Frey, Hausarzt der Gerbans

Minna Leiser, Irenes Freundin aus Altenstädter Zeiten

Otto Leiser, Minnas Ehemann, Küfer in Schweigen und Fass-Lieferant des Weinguts

Ernest Lauth*, elsässischer Abgeordneter für die Protestpartei im Reichstag

Arnold Blauberg, Weingroßhändler in Berlin

August Bebel*, Arbeiterführer und sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag

Carl August Schneegans*, Führer der elsässischen Autonomisten-Partei, Reichstagsabgeordneter

Gertrud Guillaume-Schack*, Schweizer Arbeiterführerin

Eduard von Wernitz, preußischer Major und ehemaliger Hochzeitsbewerber von Mathilde

Konrad Ahrens, Leiter der Polizeibehörde in Weißenburg

Im Roman erwähnte historische Persönlichkeiten ohne aktive Rolle

Otto Graf Bismarck*, deutscherReichskanzler

Karl Marx*, einer der wichtigsten Protagonisten der Arbeiterbewegung

Friedrich Engels*, Kollege, Freund und Mitkämpfer von Karl Marx

Eduard von Moeller*, erster von Berlin eingesetzter Oberpräsident in Straßburg

Max Hödel*, Attentäter auf Kaiser Wilhelm am 11. Mai 1878

Karl Eduard Nobiling*, Attentäter auf Kaiser Wilhelm am 2. Juni 1878

Xaver Nessel*, Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Hagenau-Weißenburg von 1874 bis 1878

Wilhelm Liebknecht*, Arbeiterführer und sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichstag

Robert Viktor von Puttkamer*, preußischer Innenminister; strenger Befürworter des Sozialistengesetzes

Clara Zetkin*, deutsche Arbeiterführerin

Prolog

Kirche St. Ulrich in Altenstadt April 1874

Am Arm von Herbert Stockhausen, ihrem zukünftigen Schwager, betrat Irene die festlich geschmückte Kirche St. Ulrich. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen.

Das sanfte Licht unzähliger Wachskerzen täuschte darüber hinweg, dass draußen ein grauer Apriltag herrschte, der ab und zu sogar noch einige Graupelschauer niedergehen ließ, die der Wind durch die Straßen trieb. Überall erblickte sie große und kleine Blumenbuketts. Jede der voll besetzten Kirchenbänke war von Sträußchen aus rosa Tulpen und weißen Narzissen geziert, umwunden mit einer Spitzenschleife. Im Mittelschiff standen in regelmäßigen Abständen Gebinde aus betörend duftenden blauen Hyazinthen und weißen und rosa Tulpen auf kleinen Säulen. Die prachtvollsten Blumenarrangements befanden sich zu beiden Seiten auf den untersten Stufen des Altars vor den mit rotem Samt überzogenen Stühlen, die man eigens aus dem Altenstädter Herrenhaus herbeigeschafft hatte und auf die Irene nun zuschritt. An diesem Platz würden sie und Franz heute getraut werden. Für die rosa Rosen, die blauen Iris und weißen Lilien, die zu dieser Jahreszeit nur in Gewächshäusern gediehen, musste Franz ein Vermögen ausgegeben haben. Diese Überraschung war ihm wahrhaftig gelungen.

»Was ist dir bei unserer Hochzeitsfeier besonders wichtig?«, hatte er sie vor einigen Wochen gefragt.

»Dass wir ein friedvolles Fest miteinander begehen«, antwortete Irene spontan.

Franz schnaubte etwas ungeduldig. »Das versteht sich von selbst, mein Schatz. Aber meine Mutter möchte natürlich jetzt schon mit den Vorbereitungen beginnen. Worauf legst du am meisten Wert? Auf das Essen, die Musik, die Garderobe der Gäste …«

»Blumen«, fiel Irene Franz spontan ins Wort. »Ich wünsche mir viele Blumen. Nichts Teures natürlich«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Tulpen, Narzissen oder was eben sonst gerade so blüht.«

Tatsächlich bestand ihr Brautstrauß aus Vergissmeinnicht und weißen und rosa Anemonen. Mathilde, Franz’ jüngere Schwester, hätte ihn als gewöhnlich bezeichnet, doch es waren gerade diese bescheidenen Frühlingsboten, die zu Irenes Lieblingsblumen zählten. Umso prächtiger war nun die Kirche geschmückt.

Der Organist spielte feierliche Weisen. Im Bemühen, kerzengerade den mit einem roten Teppich belegten Gang hinunterzuschreiten, verfing sich einer der Absätze von Irenes hochhackigen elfenbeinfarbenen Seidenschuhen im Saum ihres Hochzeitskleides von gleicher Farbe und Stoff. Irene geriet ins Straucheln, wurde aber geschickt von Herbert Stockhausen aufgefangen.

»Immer mit der Ruhe«, hörte sie ihn leise raunen. Dankbar drückte sie seinen Arm.

Alles an dieser Feier war für Irene ungewohnt. Das kostbare Kleid mit der spitzenbesetzten, zwei Ellen langen Schleppe hatte die Weißenburger Schneiderin Madame Marat nach der neuesten Pariser Mode gefertigt. Der kleine Stehkragen betonte Irenes schlanken Hals, ein Einsatz aus geraffter Seide reichte vom keuschen Dekolleté bis zu dessen unterer Naht.

Irene hatte sich ein schlichteres Kleid gewünscht. Doch in diesem Punkt war ihre Schwiegermutter Pauline unnachgiebig geblieben. »Ich möchte, dass du in nichts hinter meiner Tochter Mathilde zurückstehst, die nur einen Monat nach dir heiraten wird. Da werden die Gäste natürlich besonders die Garderobe der Bräute miteinander vergleichen.«

Auch wenn Irene dies einleuchtete, vermutete sie noch einen anderen Grund hinter Paulines Beharrlichkeit. Eine späte Wiedergutmachung an meiner Mutter Sophia, die nie die Braut eines geliebten Mannes sein durfte, überlegte sie, während sie die langwierigen Anproben über sich ergehen ließ.

Sophia, die jüngere Schwester von Franz’ angeheirateter Tante Ottilie, war als blutjunges Mädchen von Paulines verstorbenem Gatten Wilhelm geschwängert worden. »Eher vergewaltigt als verführt, während ich selbst guter Hoffnung mit Franz war«, hatte ihr Pauline erst im vergangenen Jahr kurz vor Weihnachten erzählt.

Sophia hatte Irene unter dem Druck ihrer Familie anonym in einer Gebäranstalt zur Welt gebracht und dort als Waise zurückgelassen, den Verlust ihres Kindes jedoch nie verwunden und mit nur einundzwanzig Jahren den Freitod gewählt.

In Altenstadt, einem Vorort der kleinen elsässischen Stadt Weißenburg, war Irene dann Franz, ihrer großen Liebe, begegnet. Doch ihrer beider Glück stand zunächst unter keinem guten Stern. Durch den Deutsch-Französischen Krieg wurden sie getrennt. Franz verlor in der Schlacht bei Sedan ein Bein. Und Irene, die von ihm schwanger war, floh vor ihm, hielt sie ihn doch fälschlicherweise für ihren Halbbruder, nachdem sich sein Vater Wilhelm ihr gegenüber auch als der ihre zu erkennen gegeben hatte.

Erst nach vielen Irrungen und Wirrungen hatte Franz sie wiedergefunden und Irene zu ihrer unendlichen Erleichterung erklärt, dass sie doch nicht miteinander verwandt waren.

Und so wurde am heutigen Tag ein Traum wahr. Franz, ihr geliebter Franz, den sie für immer verloren geglaubt hatte, stand nun vor dem Altar von St. Ulrich und erwartete sie mit leuchtenden Augen.

Wieder strauchelte Irene leicht, wieder hielt Stockhausen sie fest. Hoffentlich hält meine Frisur, schoss es ihr durch den Kopf. Sie bewegte ihn vorsichtig hin und her. Doch das kleine Seidenhütchen mit dem zarten Schleier, der ihr nur bis knapp über die Augen reichte, saß fest auf ihren kunstvoll aufgesteckten, dichten braunen Haaren.

Denn in diesem Punkt hatte sich Irene von Anfang an durchgesetzt. Angesichts der Tatsache, dass ihr gemeinsamer Sohn Fränzel bereits drei Jahre alt war, erschien es ihr verlogen, mit dem üblichen Myrtenkranz über einem bodenlangen Schleier Jungfräulichkeit vorzutäuschen.

Um das elfenbeinfarbene Hochzeitskleid hatte es dagegen keinerlei Diskussionen gegeben. Diese Farbe war gerade in Mode gekommen und wirkte viel eleganter als das reine Weiß herkömmlicher Brautmoden.

Die zweite Abweichung von den üblichen Sitten und Gebräuchen war jüngerer Natur und unerwartet erforderlich geworden. Sie würde den Gästen allerdings vorläufig verborgen bleiben. Kurz vor der Hochzeit musste Madame Marat die Taille ihres Kleides wieder ein wenig herauslassen. Aufgrund morgendlicher Übelkeit und anderer untrüglicher Zeichen hatte Irene erkannt, dass sie schon kurz nach ihrer Wiedervereinigung mit Franz erneut schwanger geworden war. Zum Glück ersparte ihr das die allzu enge Schnürung in das ihr noch immer ungewohnte und mittlerweile sehr unangenehme Korsett, das sie unter ihrer schlichten Arbeiterinnentracht nicht benötigt hatte.

Wir werden ein weiteres Kind haben, durchzuckte es sie jetzt freudig, wie schon so oft in den letzten Tagen. Ihr Herz quoll vor Liebe schier über, als sie Franz immer näher kam. Schmuck sah er aus in seinem Frack mit dem blütenweißen gefältelten Hemd, das aus Herbert Stockhausens Weißnäherei stammte, und dem Sträußchen aus Vergissmeinnicht und Anemonen am Revers.

Mein geliebter Mann. Nun sind wir endlich vereint.

»Mama! Da kommt die Mama!«

»Pst!« Franz legte einen Finger auf seine Lippen, während sich seine Mutter Pauline zu seinem dreijährigen Söhnchen hinunterbeugte und ihm lächelnd etwas ins Ohr flüsterte, worauf der Kleine verstummte und sich sein Händchen vor den Mund hielt.

Liebevoll betrachtete Franz die beiden für einen Moment. Fränzel, der in seinem eigens für ihn geschneiderten Miniaturfrack entzückend aussah, entwickelte sich prächtig, trotz der großen Entbehrungen, unter denen Irene ihn bis zu ihrem Wiedersehen aufgezogen hatte. Sie hatte lieber selbst gehungert, als es dem Kind an irgendetwas fehlen zu lassen.

Fränzel glich beiden Eltern von Tag zu Tag mehr. Die dunklen Augen und Locken hatte ihm Franz vererbt, der sie wiederum seiner Mutter Pauline verdankte. Von Irene stammten die dichten Augenbrauen, die kleine, spitze Nase und der schmallippige Mund.

Darüber, wer Fränzel seine Aufgewecktheit und insbesondere sein Beharrungsvermögen, wenn er sich etwas in den Kopf setzte, vererbt hatte, stritten Irene und Franz oft lachend mit wechselnder Zuschreibung.

Franz’ Mutter Pauline in ihrem eleganten nachtblauen Kostüm mit dem dazu passenden, mit Pfauenfedern geschmückten Hut wirkte dank ihrer wiedergewonnenen Lebensbejahung und Energie jünger und beeindruckender denn je.

Wie ein weiblicher Phönix aus der Asche, dachte Franz, der Paulines Verwandlung oft mit der der mythischen Sagenfigur verglich. Tatsächlich erklärte seine Mutter selbst, dass sie an den Erfahrungen und Entbehrungen in den über drei Jahren, in denen sie auf Betreiben ihres Gatten Wilhelm widerrechtlich in der Irrenanstalt von Klingenmünster festgehalten worden war, gewachsen sei.

»Wenn man einmal so tief unten war, wie ich es gewesen bin, teils aus eigener Schuld wegen meiner Laudanum-Sucht, teils durch Wilhelms Tücke, kann alles nur noch besser werden, als es vorher war«, erklärte Pauline ihre positive Entwicklung. »Und wenn einen danach Fortuna nicht nur mit einem wunderbaren Sohn und einer entzückenden Schwiegertochter, sondern auch mit einem so reizenden, klugen Enkel entschädigt, sind Leid und Unbill vergangener Zeiten schnell vergessen.«

Dabei war auch die junge Pauline nicht immer die zaghafte, zurückhaltende Frau gewesen, als die Franz sie aus seiner Kindheit und Jugend überwiegend in Erinnerung hatte. Während eines Kuraufenthalts im österreichischen Bad Ischl hatte sie sich aus ihrer unglücklichen Ehe in die Arme jenes Gardeoffiziers geflüchtet, der sein wahrer Vater war. Leider verschwieg ihm Pauline dessen Identität bis heute.

»Es würde dir nichts nutzen, deinen Vater zu kennen, Franz«, betonte sie immer wieder. »Er stammt aus dem österreichischen Hochadel, mehr als eine Affäre hätte daher nie zwischen uns sein können. Und du würdest nur eine weitere Enttäuschung erleben, wenn dein leiblicher Vater dich nicht als seinen Sohn anerkennt.«

»Und meine schönen Erinnerungen an diese kostbaren Wochen in Bad Ischl würden getrübt werden«, fügte sie noch hinzu. »Ich weiß nicht, was aus deinem Vater geworden ist. Aber er hat mit Sicherheit eine Frau aus seinen Kreisen geheiratet und legitime Söhne aus dieser Verbindung.«

Franz’ Blick streifte weiter über die Gästeschar und blieb auf der Miene seiner jüngeren Schwester Mathilde, die neben Pauline in der vordersten Kirchenbank saß, haften. Sie war und blieb Wilhelm Gerbans wahre Tochter. Obwohl sie ihre frühere Fettleibigkeit durch eiserne Disziplin überwunden hatte und sich heute viel geschmackvoller kleidete als in früheren Jahren, hatte sich ihr Charakter nur unwesentlich zum Guten verändert. Wenn überhaupt, war es dem Einfluss ihres zukünftigen Gatten, dem Oggersheimer Textilfabrikanten Herbert Stockhausen, zu verdanken, dass sie sich zumindest in der Öffentlichkeit zusammennahm. Er ließ seiner zwanzig Jahre jüngeren Verlobten mit sanfter, aber unnachgiebiger Strenge kein Verhalten durchgehen, das er seiner zukünftigen Frau für unschicklich erachtete.

Es war auch Herbert Stockhausen gewesen, der Franz und Irene aus der Verlegenheit geholfen hatte, einen Brautführer zu finden. An sich wäre Gregor Gerban, der jüngere Bruder von Franz’ Ziehvater Wilhelm, der männliche Verwandte gewesen, der Irene zum Altar hätte bringen sollen. Aber schon vor ihrer Ankunft auf dem Weingut der Familie Gerban in Schweighofen, das Franz leitete, hatten Irene und er beschlossen, ihre wahre Abstammung vor allen bislang noch Uneingeweihten zu verschweigen. Deshalb hielten Gregor Gerban und seine Frau Ottilie Irene immer noch für das Dienstmädchen, das sie einst im Herrenhaus von Altenstadt gewesen war, und Franz’ Verbindung mit ihr für eine Mesalliance, für die sie nur schlecht verhohlene Geringschätzung übrighatten. Irene zum Altar zu führen hätte Gregor Gerban daher für eine Zumutung gehalten, sofern er sich nicht eh rundweg geweigert hätte, dies zu tun.

Als Zumutung empfand es auch Mathilde, dass ihr vergötterter Verlobter sich nun mit Irene am Arm dem Altar näherte. Ihre Miene sprach diesbezüglich Bände, wobei Franz sie sogar im Verdacht hatte, eifersüchtig auf Irene zu sein. Denn im Gegensatz zu seiner Verlobten nahm Herbert keinen Anstoß an Irenes niederer Herkunft. »Aus der Frau wäre auch ohne diese Ehe etwas geworden«, pflegte er zu schwärmen. »Schließlich wurde sie in kürzester Zeit die beste Vorarbeiterin, die ich je hatte.« Überdies bildete er sich etwas darauf ein, dass Franz Irene in seiner Fabrik nach einer langen Zeit des Suchens wiedergesehen hatte. »Ich war euer Glücksbote«, scherzte er immer wieder, sehr zum Ärger Mathildes.

Einen kurzen Moment erlaubte sich Franz noch, seinen Blick über die restlichen Hochzeitsgäste schweifen zu lassen. Mit großer Dankbarkeit konstatierte er, dass alle Menschen, die ihm in den vergangenen schweren Jahren zur Seite gestanden hatten, vollständig versammelt waren.

Da saß der evangelische Pfarrer Carl Klein, ein treuer Freund, der nach der Schlacht von Fröschweiler-Wörth nahezu Übermenschliches für die Pflege der Verwundeten beider Kriegsparteien geleistet hatte und sein Trauzeuge sein würde. Gleich hinter Pauline und Mathilde hatte Madame Marianne Serge in der Bank für die Ehrengäste Platz genommen. Ihr weinrotes Samtkostüm stand an Eleganz dem von Pauline in nichts nach. Die reiche französische Industriellenwitwe hatte Franz nach seiner schweren Verwundung in ihrem Haus in Saint-Quentin nicht nur gesund gepflegt, sondern ihm darüber hinaus auch eine beträchtliche Summe Geldes geliehen, mit der Franz das von seinem Ziehvater fast ruinierte Weinunternehmen Gerban hatte retten können.

In den Bänken für die männlichen Gäste auf der anderen Seite des Ganges waren seine Straßburger Cousins versammelt, die für die zweite Hälfte des Kredits zusammengelegt hatten und mit ihren Gattinnen vollzählig zur Feier erschienen waren. Besonders Pauline hatte sich sehr gefreut, ihre Herkunftsfamilie nach langen Jahren endlich einmal wiederzusehen.

Und Franz hielt für seine Schuldner sogar eine Überraschung parat: Das Bankhaus Quistorp, bei dem sein Vater seine wertlos gewordenen Immobilienpapiere erstanden hatte, würde sich tatsächlich über einen Teil der verlorenen Summen mit seinen Gläubigern vergleichen. Ginge auch alles Weitere gut, was Franz plante, würde er die Kredite schon in wenigen Jahren vollständig tilgen können.

Auch dank des wunderbaren Personals, das er für das Weingut in Schweighofen gewonnen hatte, welches nun die hinteren Kirchenbänke füllte. Der neue Verwalter Nikolaus Kerner war ebenso tüchtig wie sein Schwager, der Kellermeister Johann Hager. Besonders gut machte sich auch der junge Hansi Krüger, der Sohn seines Freundes Karl Krüger, der Vorarbeiter auf dem Weingut gewesen und vor Sedan gefallen war. Vor seinem Tod hatte ihm Franz in die Hand versprochen, seinen begabten Sohn Hansi zu fördern. Und siehe da! Schon jetzt versprach der gerade einmal Achtzehnjährige, nach Abschluss seiner Verwalterlehre trotz seiner Jugend bereits für eine Schlüsselposition auf dem Weingut qualifiziert zu sein. Ungeahnte Möglichkeiten für mich, den Weinhandel auszubauen. Bevor er darüber weiter ins Grübeln kam, riss Franz sich zusammen. Heute stand anderes im Mittelpunkt als zukünftige gute Geschäfte!

Da näherte sich die Frau seines Lebens, um für immer die Seine zu werden. Wunderschön und ohne jeden Dünkel, was ihre zukünftige Stellung anging.

Wahrlich, ich bin ein glücklicher Mann!

»Und so erkläre ich Euch für Mann und Frau.«

»Sie dürfen die Braut jetzt küssen«, fügte der Priester pflichtgemäß hinzu, obwohl er natürlich darüber im Bilde war, dass Irene und Franz schon ein gemeinsames Kind hatten.

Durch den zarten Schleier hindurch strahlten Irenes blaue Augen wie zwei funkelnde Saphire. Franz zog sie sanft in seine Arme. Für einen Augenblick versanken sie in einem innigen Kuss. Vergessen waren die schweren Jahre voller Enttäuschungen und Entbehrungen. In diesem Moment schwelgten die beiden in reinem, unverfälschtem Glück.

Während sich die Menge nach dem Ende der Messe nach draußen begab, um das Brautpaar vor der Kirchentür mit Reis und einem Blütenschauer zu erwarten, traten die Trauzeugen vor, um Irene und Franz in die Sakristei zu begleiten und die Trauung mit ihrer Unterschrift zu beurkunden.

Sowohl Irene als auch Franz hatten dafür eine Person erwählt, die für sie eine ganz besondere Bedeutung hatte. Was für einfache Leute, konnte Irene Mathilde geradezu abfällig flüstern hören, als ihre Freundin Minna mit einem breiten Lächeln auf sie zutrat. Es war Minna gewesen, die Irene einst als Dienstmädchen im Haushalt der Gerbans angeleitet und ihr später mit ihren gesamten Ersparnissen bei der Flucht ausgeholfen hatte. Erst vor wenigen Wochen hatte Franz diese Schuld in doppelter Höhe beglichen.

Nur kurz hatte Irene zwischen Minna und Trude Ludwig geschwankt, ihrer gütigen Vermieterin während der schweren Lambrechter Zeit, wo Irene unter härtesten Bedingungen in einer Tuchfabrik geschuftet hatte. Dann war ihr klargeworden, dass sie Minna noch mehr verdankte als Trude.

Nun drückte die Freundin Irene an ihre volle Brust und küsste sie hernach auf beide Wangen. Dann schob sie Irene mit beiden Armen ein Stück weit von sich fort. »Was für ein wunderschönes Halsband. Wie nennt man diese Edelsteine?«

Irene spürte, dass sie errötete. »Es sind Smaragde. Meine Schwiegermutter hat mir die Kette zur Hochzeit geschenkt. Es ist ein Familienerbstück, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Eigentlich viel zu kostbar für mich.«

»Wäre es dir lieber gewesen, Mathilde hätte es bekommen?«, erwiderte Minna schlagfertig.

Bevor Irene darauf antworten konnte, zupfte Franz sie am Ärmel. »Komm endlich, Liebes! Das Wetter ist leider zu ungemütlich, um unsere Gäste allzu lange vor der Kirchentür warten zu lassen.«

Gemeinsam mit Pfarrer Carl Klein betraten die drei hinter dem Priester die Sakristei. Als die kleine Gruppe sie nach den Unterschriften wieder verließ, hielt der Pfarrer von St. Ulrich Franz noch kurz zurück. »Seien Sie nachsichtig mit Ihrer Tante Ottilie! Heute ist ein besonders schwerer Tag für sie.«

Mit gemischten Gefühlen erinnerte sich Franz daran, dass der Pfarrer in der Kirche von St. Ulrich auch die Totenmesse für seinen in der Schlacht am Geisberg gefallenen Cousin Fritz, den einzigen Sohn von Ottilie und Gregor Gerban, gelesen hatte. Er nickte widerwillig.

Verdient hat Ottilie es nicht. Wenn es damals nach ihr gegangen wäre, hätten mich die Preußen standrechtlich erschossen. Denn Franz, wie seine Mutter Pauline von Geburt her Franzose, war auf der gegnerischen Seite in den Krieg gezogen. Allerdings als Zivilist, worauf die Todesstrafe gestanden hatte.

»Denn niemand von uns ist ohne Schuld.« Der Pfarrer deutete Franz’ Gesichtsausdruck richtig.

Als er Irenes Arm nahm und zur Kirchentür ging, spürte Franz zum ersten Mal an diesem Tag wieder den pochenden Schmerz in seinem Beinstumpf.

Mit einem leisen Seufzer blickte Mathilde Frau Burger, der Altenstädter Hausdame, nach, die soeben auf die Straße trat, um mit einer Mietsdroschke vorzeitig zurückzufahren und die letzten Vorbereitungen für das üppige Hochzeitsmahl zu überwachen. Die Feierlichkeiten würden im großen Festsaal des Herrenhauses stattfinden, da das Gutshaus in Schweighofen, in dem Irene und Franz weiterhin wohnen würden, keine vergleichbaren Räumlichkeiten aufwies.

Einen kurzen Moment lang war Mathilde durch ihre Gedanken an all die Köstlichkeiten, die sie dort erwarteten und aus denen sie eine sorgfältige Auswahl treffen wollte, um ihre neu gewonnene schlanke Figur nicht zu gefährden, von den widrigen Wetterverhältnissen abgelenkt.

Soll ich die Hirschpastete probieren oder lieber das Trüffelmousse? Als Hauptgang werde ich wohl oder übel die Forelle nehmen müssen, obwohl ich den Entenbraten oder das Rinderfilet vorziehen würde. Aber vielleicht erlaube ich mir dafür zum Dessert dann zumindest die Biskuitrolle anstatt des langweiligen Fruchtsalats.

In diesem Moment wehte der Aprilwind erneut einen Graupelschauer heran. »Wo bleiben sie denn nur?«, beklagte sich Mathilde und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Hier zieht es ganz fürchterlich! Wir werden uns noch alle erkälten.«

Sie ignorierte das Stirnrunzeln ihres Verlobten, der auf der anderen Seite der Gasse stand, die die Hochzeitsgäste vor dem Kirchenportal für das Brautpaar frei hielten, um es mit Reis und Blüten zu überschütten.

Ihre Mutter Pauline, die Adressatin der Unzufriedenheit ihrer Tochter, lächelte mit einer Spur Spott um die Mundwinkel. »Sie werden jeden Moment kommen. Und erinnere dich, ich habe dir heute Morgen empfohlen, etwas Wärmeres mitzunehmen als diese Stola.«

»Ich habe aber keine passende Jacke zu diesem Kleid«, murrte Mathilde.

Pauline verkniff sich die Bemerkung, dass nahezu jede Jacke zu Mathildes Robe aus hellblauem Samt gepasst hätte. Allerdings um den Preis, das Dekolleté zu verbergen, mit dem Mathilde wahrscheinlich ihren Verlobten beeindrucken wollte.

Es wird wirklich Zeit, dass sie unter die Haube kommt, seufzte Pauline innerlich. Die Hochzeit war bereits mehrere Male verschoben worden, unter anderem wegen Wilhelm Gerbans plötzlichem Tod im vergangenen Spätsommer. Obwohl Pauline nicht an Herbert Stockhausens Absichten zweifelte, machten die Verzögerungen Mathilde offensichtlich zunehmend nervös.

»Was schenkst du mir denn zu meiner Hochzeit?«, unterbrach sie jetzt Paulines Gedanken mit dem nörgelnden Unterton, den sie bei solchen Gelegenheiten stets anschlug.

Was für ein verzogenes Weibsbild, schoss es Pauline unwillkürlich durch den Kopf. Stellt wie eh und je nur Ansprüche. Ohne jede Ahnung von den Entbehrungen dieser Welt.

Kurz erinnerte sie sich an das traurige Schicksal von Emma Schober, Irenes Freundin in Lambrecht, von dem ihre Schwiegertochter erst kürzlich erzählt hatte.

»Emma darf nicht zur Hochzeit kommen. Ihr Mann hat es ihr verboten«, erklärte sie traurig, nachdem sie Emmas Antwortschreiben auf ihre Einladung gelesen hatte. »Er hat ihr sogar das Geld weggenommen, das ich ihr für die Reise geschickt habe, und es gleich in die nächste Kneipe getragen.«

Nach einem Blick in Mathildes blassblaue Augen, in denen Pauline neben der üblichen Anmaßung auch Unsicherheit zu erkennen glaubte, biss sie jedoch wieder das altvertraute schlechte Gewissen. Obwohl Wilhelm Mathilde nach Strich und Faden verwöhnt hatte, war ihre Tochter vielleicht auch deshalb so unleidlich geworden, weil sie, Pauline, sie immer weniger geliebt hatte als Franz.

Habe ich sie überhaupt jemals wirklich geliebt?, fragte sie sich nun.Schon die Schwangerschaft war beschwerlich gewesen, gar nicht zu reden von der qualvollen Geburt. Pauline schüttelte die unangenehmen Erinnerungen ab und konzentrierte sich auf die Gegenwart.

»Nun«, beantwortete sie die Frage ihrer Tochter schließlich. »Ich dachte an das Diamantcollier, das mir dein Vater zur Hochzeit geschenkt hat.«

Mathildes Züge entspannten sich augenblicklich. »Das freut mich über alle Maßen, Mutter. Ich hätte es dem Smaragdcollier ohnehin vorgezogen. Zumal es das wertvollere Schmuckstück ist.«

Bevor Pauline etwas erwidern konnte, traten Franz und Irene auf den Platz vor der Kirche. Hochrufe erklangen, die Gäste jubelten, Reis prasselte auf die Steinfliesen, blaue, rosa und weiße Blüten landeten auf dem Schleier und der Zylinderkrempe des Brautpaars.

Pauline drängte ihren erneut aufgeflammten Unmut über Mathilde beiseite und trat mit Fränzel an der Hand als Erste vor, um dem Brautpaar zu gratulieren.

»Ich wünsche euch alles erdenklich Gute, meine Kinder. Dass ihr in eurer Ehe glücklich und zufrieden bleibt bis an euer Lebensende.«

Sie ahnte mehr, als dass sie hörte, was Mathilde daraufhin ihrer neben ihr stehenden Tante Ottilie zuflüsterte.

»Ein Dienstmädchen und ein Herrensohn! Ob das wirklich gut geht, wollen wir doch erst einmal abwarten!«

Teil 1 Unrast

Kapitel 1

Weingut bei Schweighofen Oktober 1877

»Wo ist Fränzel? Habt ihr Fränzel gesehen?«

Die beiden Buben in den einfachen Kitteln und Hosen von Landarbeiterkindern, deren bloße Füße in groben Holzpantinen steckten, schüttelten die Köpfe. Kurz kam es Irene so vor, als mieden die beiden ihren Blick. Aber das mochte auch einfach daran liegen, dass sie schüchtern gegenüber der Gutsherrin waren.

Mit den Zwillingsmädchen Sophia und Klara an beiden Händen überquerte Irene den Hof des Schweighofener Weinguts in Richtung der Wirtschaftsgebäude. Ernsthafte Sorgen machte sie sich nicht um ihren Ältesten. Schon mehr als einmal war Fränzel in den letzten Tagen mit den Leserinnen in die Weinberge gezogen und hatte bei der Traubenernte mitgeholfen.

Allerdings hätte er mir vorher Bescheid geben müssen, dachte sie ärgerlich. Das hat er mir erst vorgestern versprochen, als er nicht rechtzeitig zum Mittagessen zurück war.

Sie nahm sich vor, ihrem sechseinhalbjährigen Sohn diesmal ernsthaft ins Gewissen zu reden und ihn mit einem Tag Hausarrest zu bestrafen. Obwohl sie wusste, dass dies Fränzel, der die turbulente Zeit der Traubenlese über alles liebte, hart treffen würde.

In diesem Moment strauchelte die kleine Klara und wäre fast auf den rauen Schotter des Hofs gestürzt, wenn Irene sie nicht instinktiv nach oben gerissen hätte. Da dies jedoch mit einem kräftigen Ruck an ihrem Ärmchen verbunden war, fing die Kleine trotzdem an zu weinen.

»Ach, mein Schatz!« Irene ließ Sophia los, ging in die Hocke und nahm ihr Töchterchen in die Arme. Klara schluchzte noch eine kleine Weile ausgiebig, bis sie sich wieder fasste und von Irene die Nase putzen ließ.

Derweil trat Sophia, ihre um zehn Minuten ältere Zwillingsschwester, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Heulsuse, Heulsuse!«, schimpfte sie.

»Pscht!«, rief Irene das Mädchen milde zur Ordnung. »Klara tut der Arm weh, weil ich so stark daran ziehen musste, damit sie nicht hinfällt.«

Aber Sophia blieb unnachsichtig und schüttelte nur trotzig den Kopf.

Wieder einmal wunderte sich Irene über die Verschiedenartigkeit der beiden Mädchen, die erst vor wenigen Tagen ihren dritten Geburtstag gefeiert hatten.

Obwohl sich Irene während ihrer Schwangerschaft über die zunehmende Unförmigkeit ihres Leibes gewundert hatte, war es selbst der Hebamme bis zum Augenblick von Klaras Geburt verborgen geblieben, dass es einen zweiten Säugling gab.

»Das kommt davon, dass Sie keinen Arzt hinzugezogen haben«, erlaubte sich Rosa, die der Hebamme als ehemalige Krankenschwester zur Hand gegangen war, Irene und Franz’ Mutter Pauline nach der Geburt zu tadeln. »Es hätte, wer weiß was, passieren können.«

Dass Irene gute Gründe gehabt hatte, sich nicht an Dr. Etienne, den bekannten Weißenburger Arzt für Frauenheilkunde zu wenden, konnte Rosa nicht ahnen. Denn seinerzeit war er es gewesen, der die illegale Abtreibung Fränzels vornehmen wollte, für die Wilhelm Gerban, Irenes Vater, den korrupten Mediziner fürstlich entlohnt hatte. Und eigens einen Arzt aus Landau kommen zu lassen war Irene zu aufwendig erschienen.

»Lassen Sie es gut sein, Rosa!«, beschwichtigte Pauline daher auch ihre ehemalige Wärterin aus der Anstalt in Klingenmünster. Aufgrund ihrer Loyalität in der letzten Zeit ihres Aufenthalts hatte Pauline Rosa nach ihrer Entlassung als Zofe mit nach Schweighofen genommen. Und auch deshalb, weil die durch Blattern entstellte Frau dort nicht weiter beschäftigt worden wäre. »Alles ist gut gegangen. Und nun helfen Sie dabei, die Kleinen zu baden, damit Irene sie anlegen kann, bevor sie sich erst einmal ausschlafen muss.« Rosa hatte zwar geknurrt, sich dann aber gefügt.

Es schien, als ob die kleinen Mädchen von ihrem ersten Lebensmoment an geradezu gegensätzlich wären. Während Sophia kräftig geschrien und sofort gierig getrunken hatte, gab Klara nur ein leises Wimmern von sich und saugte eher zaghaft an der ihr dargebotenen Brust.

Auch äußerlich glichen sich die beiden von Anfang an nur wenig. Sophia war schon bei der Geburt beträchtlich größer und schwerer gewesen als Klara. Heute mit drei Jahren überragte sie ihre Schwester um fünf Zentimeter, wenn man die vor ein paar Jahren in der bayerischen Pfalz eingeführten Längenmaße zugrunde legte.

Zwar hatten beide dunkle Haare, doch Sophia hatte die Locken ihres Vaters geerbt, dazu Irenes dichten Schopf. Klaras Haare waren dagegen dünn und ließen sich nur schwer zu Zöpfen flechten. Als ob die Natur dafür einen Ausgleich schaffen wollte, waren Klaras Augen von dem gleichen intensiven Saphirblau wie die ihrer Mutter. Sophias Augen hatten zu Irenes Verdruss dagegen die gleiche Bernsteinfarbe wie die ihrer ungeliebten Tante Ottilie.

Charakterlich unterschieden sich die Mädchen noch mehr als äußerlich. Sophia war wie Fränzel eher draufgängerisch veranlagt, obwohl Irene ihren Sohn aus seinen ersten Lebensjahren als meist ruhiges Kind in Erinnerung hatte. Wahrscheinlich spürte der Kleine damals, wie oft ich am Rand meiner Kräfte war, dachte Irene oft, wenn sie Fränzels heutigen Tatendrang wieder einmal bändigen musste.

Jedenfalls waren ihre beiden Ältesten aufgeweckt und für ihr Lebensalter ausnehmend altklug. Ab und an sogar vorlaut.

Klara blieb dagegen das kleine zarte Geschöpf, das sie schon am Tag ihrer Geburt gewesen war. Zögerlich, ängstlich und häufig weinerlich. »Als ob Sophia ihr schon im Mutterleib die Energie streitig gemacht hätte«, pflegte Franz zu sagen.

Eine ganz andere Erklärung für die Wesensart der Zwillinge hatte ihre Schwiegermutter Pauline. »Für mich spiegelt sich der Charakter deiner Mutter Sophia in den beiden wider. Das junge Mädchen, das ich vor der Schwangerschaft kannte, strotzte nur so vor Lebensfreude und Energie. Erst als sie aus der Gebäranstalt heimkehrte, war sie oft traurig und ohne jeden Lebensmut.«

Sogar die Namen der Zwillingsmädchen spiegelten diesen Gegensatz wider. Von vorneherein war klar gewesen, dass eine Tochter nach Irenes Mutter Sophia heißen sollte. Als dann das zweite Kindchen dazukam, nannte Irene es spontan Klara. So hatte der Deckname ihrer Mutter in der Gebäranstalt gelautet, wie sie bei einem Besuch im Heidelberger Waisenhaus von Schwester Agnes, der heutigen Leiterin, erfuhr.

Trotz ihrer Unterschiedlichkeit liebten Franz und Irene jedes ihrer Kinder von ganzem Herzen. Fränzel besuchte seit Ostern mit großem Erfolg die Altenstädter Volksschule. »Es wird keine vier Jahre dauern, bis Sie ihn in ein Internat geben können«, prophezeite der Lehrer. »Wenn er weiter so rasch lernt, kann er schon nach drei Schuljahren aufs Gymnasium gehen.«

Irene dachte mit sehr gemischten Gefühlen an diese bevorstehende Zeit der Trennung. Schon jetzt hatte sie nicht einmal in den aufgrund der Weinlese herrschenden Ferien viel von Fränzel. Dauernd war er mit den Landarbeiterkindern unterwegs und interessierte sich für jeden Vorgang auf dem Weingut. Sehr zu Franz’ Freude.

Irene spürte dagegen häufig eine gewisse Wehmut. Die Kinder wurden so schnell groß. Zumal wohl auch keine weiteren dazukommen würden, hatte der Landauer Arzt für Frauenheilkunde ihr vor einem Jahr erklärt, als sie ihn deshalb aufsuchte. Nach Zwillingsgeburten sei dies sogar recht häufig der Fall.

Nun zupfte Sophia energisch an ihrem Rock. »Gehen wir jetzt weiter?«, quengelte sie. »Wir wollten doch in die Stallungen.«

Gerade als sich Irene aus der unbequemen Hocke erhoben hatte und die schmerzenden Glieder streckte, sah sie den Verwalter Nikolaus Kerner auf sich zukommen.

»Wissen Sie vielleicht, wo sich Fränzel schon wieder herumtreibt?«, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf.

Kerner schüttelte den Kopf. »Zuletzt habe ich ihn im großen Weinkeller gesehen. Aber das ist mindestens zwei Stunden her.«

Irene spürte ein leichtes Ziehen in der Magengrube. »Also ist er nicht mit der Lesekolonne mitgegangen?«

»Ich glaube nicht. Aber machen Sie sich mal keine Sorgen. Bengel in diesem Alter treiben sich überall herum. Fränzel passiert schon nichts. Aber es ist gut, dass ich Sie gerade antreffe. Ihr Gatte möchte Sie gerne zu unserer Besprechung bitten.«

»Oh nein!«, jammerte Sophia.

»Was ist denn, mein kleines Fräulein?«

Irene seufzte. »Ich hatte den Mädchen versprochen, mit ihnen in die Stallungen zu gehen. Dort soll es neugeborene Kaninchen geben.«

Kerner lächelte. »Das ist wahr, Frau Gerban. Doch ich habe eine Idee«, wandte er sich an Sophia und ging nun seinerseits in die Hocke. »Was hältst du davon, wenn ich Albert, den Stallburschen, bitte, euch die Kaninchen zu zeigen? Dann kann eure Mama an unserem Treffen teilnehmen.«

»Eine wunderbare Idee«, stimmte Irene zu. Auch Sophias Miene hellte sich sofort auf.

»Worum geht es denn?«, fragte sie Kerner wenig später, während sie den Mädchen nachsah, die sich an Alberts Seite zu den Stallungen aufmachten.

»Ihr Gatte hat wohl erst heute Morgen per Telegramm erfahren, dass er nach seiner Reise nach Hamburg gleich noch nach Berlin weiterfahren muss. Dort hat man ihm einen sehr lukrativen Geschäftskontakt zu einem örtlichen Weingroßhändler vermittelt, der sogar den Kaiserhof beliefert. Er wird wahrscheinlich erst zum Lesefest zurückkehren können und wünscht deshalb, dass Sie in seiner Abwesenheit in alles eingeweiht sind, was währenddessen hier zu tun ist.«

Falls sich Nikolaus Kerner darüber ärgerte, dass Franz ihm diesbezüglich nicht genügend zu vertrauen schien, ließ er sich das nicht anmerken.

Aber vielleicht ahnt Kerner ja auch, worum es Franz dabei wirklich geht, sinnierte Irene auf dem Weg ins Kelterhaus, wo die Besprechung stattfinden sollte. Er merkt, dass ich mich zunehmend unausgefüllt fühle und mich beschäftigen möchte, da Franz so oft auf Reisen ist. Gleichzeitig weiß er, dass ich mich nicht in die betrieblichen Angelegenheiten des Weinguts einmischen will. Das habe ich bei vorangehenden Besprechungen ja schon oft genug deutlich gemacht.

»Ich brauche natürlich noch einen zweiten Mustersatz mit Probefläschchen. Können Sie das bitte veranlassen, Hager?«

Der Schweighofener Kellermeister nickte. »Das versteht sich von selbst, Herr Gerban. Ich werde die Proben nach unserer Besprechung eigenhändig abfüllen.«

»Gut, denn ich würde gerne den Nachtzug nach Hamburg nehmen. Um ihn in Landau erreichen zu können, muss ich spätestens um vier Uhr nachmittags hier abfahren.« Franz zückte seine Taschenuhr und warf einen ungeduldigen Blick darauf. »Wenn ich den Weißenburger Zug verpasse, erreiche ich auch den Nachtzug in Landau nicht mehr. Wo bleiben sie denn nur?«

»Es ist erst elf Uhr«, beschwichtigte ihn der Kellermeister. »Ich bin sicher, sie werden jeden Moment eintreffen.«

Tatsächlich öffnete Nikolaus Kerner Irene gerade in diesem Moment die Tür zum Kelterhaus. Es war kühl hier drinnen, und Irene zog ihr Umschlagtuch fester um die Schultern. Franz trat auf sie zu und küsste sie flüchtig auf die Wange.

»Ich danke dir, dass du gleich mitgekommen bist. Leider muss ich früher als gedacht abreisen, nämlich schon heute Nachmittag. Trägst du bitte Sorge dafür, dass meine Sachen rechtzeitig gepackt sind?«

»Natürlich. Ich werde Frau Burger unmittelbar nach meiner Rückkehr ins Gutshaus davon unterrichten.« Die ehemalige Hausdame im Altenstädter Herrenhaus hatte bereits vor zwei Jahren darum gebeten, nach Schweighofen wechseln zu dürfen. Seither leitete sie den dortigen Haushalt mit ihrer bewährt umsichtigen Routine.

Vor dem Gutspersonal verzichtete Irene auf jeden weiteren Kommentar. An ihrer umwölkten Stirn erkannte Franz jedoch, dass sie verstimmt war.

»Es hat sich eine unverhoffte Gelegenheit ergeben«, erläuterte er daher, als er seine Frau zu ihrem Platz auf der groben Holzbank geleitete, auf die Hager einige Kissen gelegt hatte. An dem fast zehn Meter langen Tisch nahm das in Zeiten der Weinlese durch Fremdarbeiter ergänzte Hofgesinde seine Mittagsmahlzeit ein, da die Räume im Gutshaus für die Menge der Helfer zu klein waren. Auch das große Buffet für das Lesefest, das man nach Abschluss der Ernte jährlich feierte, würde in diesem Raum aufgestellt werden.

Es roch durchdringend nach Maische. Längs der Wände standen riesige abgedeckte Holzbütten, in denen die ausgepressten Rotweintrauben lagen. Anders als Weißweine mussten sie mehrere Wochen darin gären, damit der Wein seine dunkelrote Farbe aus den Beerenschalen gewann. Erst danach wurde die Maische gekeltert.

Nachdem Irene Platz genommen hatte, fuhr Franz fort. »Gegen eine geringe Provision, die außerdem nur bei einem Geschäftsabschluss zum Tragen kommt, hat mir Meisel« – Irene war der Name von Franz’ Hamburger Geschäftspartner bekannt – »einen Kontakt zu Blauberg und Söhne nach Berlin vermittelt. Das ist einer der bedeutendsten Weinhändler der Hauptstadt. Er beliefert sogar den Kaiserhof.«

Irene nickte. »Das hat mir Kerner bereits mitgeteilt«, unterbrach sie Franz mäßig begeistert.

»Gut, dann kannst du ja ermessen, was diese Chance für uns bedeutet.« Franz bemühte sich, Irenes mangelnden Enthusiasmus zu ignorieren. »Gelingt es mir, auch mit Blauberg ins Geschäft zu kommen, können wir endgültig beruhigt in die Zukunft blicken. Die Krise, die mein Vater selig zu verantworten hat, dürfte dann ein für alle Male überwunden sein.«

Irene nickte wieder. Doch im Gegensatz zu Nikolaus Kerner, dem Verwalter, und Johann Hager, dem Kellermeister, die beide über das ganze Gesicht strahlten, wirkte ihr Lächeln gezwungen.

Franz deutete das Zeichen richtig und bemühte sich, seinen Ärger hinunterzuschlucken. Es war nicht so, dass Irene Franz seinen Erfolg nicht gönnte, zumal sie ja alle davon profitierten. Bereits im Jahr ihrer Hochzeit hatte er begonnen, sich selbst um den Weinhandel zu kümmern, zumal er Kerner und Hager auf dem Weingut vorbehaltlos vertraute. Anders als seinem Onkel Gregor, der die Weingeschäfte nach Wilhelm Gerbans Tod interimsweise geleitet und den Franz mit einer großzügigen Pension endgültig in den Ruhestand geschickt hatte.

Von Anfang an sah sich Franz auf dem Weinmarkt um und verließ schnell die zwar bewährten, aber ausgetretenen Pfade seines Ziehvaters. Jetzt belieferte die Weinhandlung Gerban nur noch die Hälfte ihrer ehemaligen Endkunden, und Ladengeschäfte unterhielt sie nur noch in Weißenburg und Landau.

Stattdessen hatte Franz auch im Deutschen Reich die Methode übernommen, die sein Vater ehemals nur für seine Geschäfte in Europa und Übersee gewählt hatte: Er belieferte sowohl mit seinen Fass- als auch mit den immer noch raren, in Flaschen abgefüllten Weinen Großhändler in allen Bundesstaaten. Nach wie vor gehörten auch die im Elsass stationierten reichsdeutschen Truppen zu seinen Kunden, ebenso wie die bayerische Garnison in Landau.

Der Umsatz des Weinguts hatte sich auf diese Weise bereits in den wenigen Jahren seit Wilhelms Tod verdoppelt. Und auch in anderer Hinsicht hatte sich Franz als kluger Geschäftsmann erwiesen: Anstatt seinen Schuldnern, den Straßburger Cousins und seiner französischen mütterlichen Freundin Marianne Serge die Kredite zurückzuzahlen, die ihm 1873 geholfen hatten, die schlimmsten Folgen der fehlgeschlagenen Immobilienspekulationen seines Ziehvaters zu verhindern, hatte er ihnen eine Gewinnbeteiligung angeboten, wenn sie ihre Gelder weiterhin in seinem Geschäft beließen. Alle Parteien hatten sich darauf eingelassen und würden in diesem Geschäftsjahr erstmals mit einer Rendite rechnen können.

Besonders stolz war Franz darauf, dass er trotz der Unwetterschäden von vor vier Jahren auch die dafür benötigte Menge Wein, insbesondere der Spitzenweine, erzeugen konnte. Hier hatte sich Johann Hagers Idee, sortenreine Spitzenwein-Cuvées aus Schweighofener und dazu gekauften Südpfälzer Trauben herzustellen, als unschlagbar erwiesen. Vor allem der Jahrgang 1873, in dem etliche Weingüter in der Südpfalz schwere Ernteeinbußen durch Unwetter in Kauf hatten nehmen müssen, war wegen der geringen und daher heiß begehrten Menge für die Gerbans zur Goldgrube geworden. Man riss ihnen ihre Riesling- und Spätburgunderweine nahezu aus den Händen. Doch selbst weniger populäre Sorten wie Gewürztraminer, Grau- und Weißburgunder, Silvaner und der rote Portugieser hatten Spitzenpreise am Markt erzielt.

Schon im nachfolgenden Jahr hatte sich Franz zudem entschlossen, die Eisweinproduktion auszubauen. Er kaufte mit dem Gewinn des Jahrgangs 1873 jede Rieslinglage, die er im Umkreis von Schweighofen erstehen konnte, und ging ein Jahr später das ungeheure Risiko ein, deren Trauben bis zum Januar hängen zu lassen. Und wieder war ihm Fortuna hold und belohnte ihn mit einem der strengsten Winter der letzten Jahrzehnte. Durch diesen exquisiten und so seltenen Eiswein waren wiederum die ersten reichsdeutschen Großhändler auf die Weinhandlung Gerban aufmerksam geworden und hatten ihrerseits Referenzen für deren Spitzenweine innerhalb der Branche ausgesprochen.

Doch natürlich gab es auch einen Wermutstropfen, der Franz ab und an die Freude über seinen Erfolg vergällte. Er war jetzt nahezu jeden Monat für mehrere Tage auf Reisen, unterwegs im ganzen Reich und mittlerweile sogar im benachbarten Ausland, unter anderem in Belgien, den Niederlanden und Österreich. Dort besuchte er Weinmessen oder interessierte Großhändler und weitete seine Geschäfte immer mehr aus.

Kam er dann zurück, musste er oft bis spät in die Nacht aufarbeiten, was im Weißenburger Kontor an geschäftlichen Vorgängen liegen geblieben war, und hatte immer weniger Zeit für Irene und seine Familie. Das bedauerte Franz sehr, war jedoch ohne rechte Idee, wie er es ändern könnte. Denn noch waren die Häuser in Altenstadt und Schweighofen mit den Hypotheken belastet, die sein Ziehvater seinerzeit aufgenommen hatte. Franz konnte zwar die vergleichsweise niedrigen Zinsen dafür problemlos aufbringen, wollte aber auch die gesamte Schuld so schnell wie möglich tilgen.

Irene war, wie auch heute, dagegen zunehmend verstimmt wegen seiner häufigen Abwesenheit. Leider zeigte sie darüber hinaus aber auch nicht die geringste Lust, ihn beim Weinhandel zu unterstützen. Im Gegenteil mied sie das Weißenburger Kontor, soweit sie nur konnte. Denn dort hatte Wilhelm Gerban sie seinerzeit mehrere Wochen lang eingesperrt, um sie zur Abtreibung von Fränzel zu zwingen.

Auch im Schweighofener Haushalt fand sich keine rechte Beschäftigung für sie. Denn selbstverständlich hatte Franz’ Mutter Pauline die Haushaltsführung während Irenes beschwerlicher Zwillingsschwangerschaft übernommen. Seitdem dann noch Frau Burger vor zwei Jahren dazugestoßen war, bildeten die beiden wieder das perfekt aufeinander eingespielte Duo, das einst auch den Haushalt in Altenstadt während Franz’ Kindheit und Jugend geräuschlos und hoch professionell geleitet hatte.

So blieben Irene als eigene Aufgabe nur die drei Kinder. Sie weigerte sich erwartungsgemäß, ein Kindermädchen zu engagieren, und kümmerte sich selbst um die Belange der Kleinen. Aber das füllte sie mittlerweile längst nicht mehr aus, zumal Fränzel häufig auf dem Weingut unterwegs war, wo er mit seinen Schulkameraden unter den Landarbeiterkindern spielte.

Auch Sophia wurde immer selbstständiger und bat Fränzel oft, sie mitzunehmen, wenn er draußen unterwegs war. An anderen Tagen half sie mit ihren kindlichen Kräften im Stall oder in der Küche, wobei sie ohne ihr Wissen zwar allen im Wege stand, man sie aber aufgrund ihres Charmes lächelnd gewähren ließ. Lediglich Klara hing noch immer stark am Rockzipfel ihrer Mutter. Irenes Tatendrang brauchte dringend ein Ventil, das wurde Franz von Tag zu Tag klarer. Deshalb verfolgte er in jüngster Zeit die Idee, wie er sie dazu bewegen könnte, sich mehr um die Belange des Weinguts zu kümmern, und zwar auf Dauer, nicht nur in seiner Abwesenheit.

Wenn sich Hansi Krüger weiterhin so gut entwickelt, könnte ich Kerner in diesem Fall zum lokalen Geschäftsführer der Weinhandlung bestellen. Das gäbe mir die Möglichkeit, unsere Geschäfte noch weiter auszudehnen.

Bislang reagierte Irene jedoch zurückhaltend auf seine Bemühungen, sie mit Angelegenheiten des Weinguts zu betrauen, auch wenn sie alle ihr übertragenen Aufgaben gewissenhaft erfüllte. Nun, sein heutiger Versuch hatte mehr Gewicht als seine früheren. Er wollte Irene während der wichtigsten Zeit des Jahres, der Weinlese, mit in die Verantwortung für ein erfolgreiches Gelingen nehmen. Vielleicht würde ja dadurch der Funke endlich überspringen.

»Also, wir haben große Pläne mit diesem Jahrgang!« Herausfordernd sah Franz in die Runde. »Ich möchte ein weiteres Experiment wagen.«

Johann Hager, mit dem Franz seine Idee bereits erörtert hatte, lächelte. Irene und Kerner wirkten gespannt.

»Bislang wurden nur die Traubensorten für unsere Spitzenweine vor dem Keltern abgebeert. Nun möchte ich den Versuch unternehmen, auch Grauburgunder und Gewürztraminer auf diese Weise zu veredeln.«

Irene ging ein Licht auf. »Ach, deshalb stehen noch einige Mostfässer-Wagen im Schuppen. Ich hatte mich schon gewundert.«

Franz nickte lächelnd. »Ja, ich lasse heute nur die Silvaner- und Weißburgundertrauben gleich vor Ort zu Most verarbeiten. Das übrige Lesegut wird am frühen Nachmittag angeliefert, hier vor Ort abgebeert und gepresst und ein paar Stunden danach gekeltert.«

Das sogenannte Abbeeren, nämlich die Trauben von den Stielen zu lösen, war eine mühsame Arbeit. Sie lohnte sich allerdings, weil dadurch vermieden wurde, dass sich die Bitterstoffe in den Stielen und vor allem in den Blättern und anderen Fremdkörpern im Lesegut in den Most mischen konnten, was dem Geschmack des Weins natürlich sehr förderlich war.

»Ich habe eigens fünf weitere Arbeiterinnen angeworben, die beim Abbeeren helfen werden.« Er lächelte Irene zu. »Auch Fränzel will mithelfen. Ich habe ihm fünf Pfennige Tageslohn versprochen.« Seit einiger Zeit galt auch in Rheinbayern, wie man die Pfalz nannte, und dem Elsass die neue deutsche Währung in Mark und Pfennig, welche Gulden und Kreuzer abgelöst hatte.

»Wo ist Fränzel denn? Hast du ihn irgendwo gesehen?« Irene klang aufgeregt.

Franz runzelte die Stirn und überlegte. »Nach dem Frühstück hat er mir gesagt, dass er beim Fässerreinigen zusehen wollte. Mehr weiß ich nicht.«

»Da war er auch«, bestätigte Kerner. »Ich habe Fränzel heute Morgen im großen Weinkeller gesehen.«

»Ich sehe gleich nach der Besprechung noch mal nach ihm«, beruhigte der Verwalter Irene. »Wenn ihm etwas passiert wäre, wüssten wir es schon längst.«

Franz warf einen weiteren Blick auf seine Taschenuhr. »Lasst mich jetzt bitte fortfahren. Auf herkömmliche Weise werden in diesem Jahr nur noch die Silvaner-, Weißburgunder- und Portugiesertrauben gelesen. Sie werden gleich in den Weinbergen in den Traubenmühlen vorgepresst, der Most in die Fässer gefüllt und hierhertransportiert. Dann werden Maische und Most gekeltert und zum Gären in die großen Holzfässer abgefüllt. Bis auf den Portugieser natürlich. Der muss auf der Maische gären.«

Der Kellermeister Johann Hager hob die Hand. »Darf ich dazu auch einen Vorschlag machen, Herr Gerban?«

Franz wirkte zwar überrascht, stimmte aber zu. »Natürlich, Hager. Bislang haben sich all Ihre Vorschläge bewährt.«

»Was halten Sie denn von einem weiteren Experiment mit den Portugiesertrauben?«

»Was für ein Experiment soll das sein?«

»Nun, eines Tages kam es auf dem Weingut, auf dem ich vor meiner Schweighofener Zeit beschäftigt war, zu einer Panne. Ein ungebildeter Erntehelfer füllte die gepressten Portugiesertrauben schon nach wenigen Stunden in die Kelter, wie er es von den Weißweintrauben gewohnt war. Heraus kam schließlich ein hellroter Most. Der Weingutsbesitzer tobte und wollte den Most wegschütten. Schließlich ließ er ihn wie Tresterwein als Haustrunk verarbeiten.«

Hager machte eine kleine Pause.

»Na und?« Franz schwante plötzlich, worauf Hager hinauswollte. »Nun sagen Sie nicht, das Gebräu hätte auch noch geschmeckt.«

»Doch. Am Ende hatte man einen frischen, leichten roséfarbenen Wein gewonnen«, bestätigte Hager. »Ich mochte ihn gern, und vor allem meine Frau schwärmt noch heute davon.«

»Und nun wollen Sie mir vorschlagen, einen solchen Pannenwein zu produzieren? Mit dem Siegel des bekannten Weinguts Gerban?«

»Es wäre einen Versuch wert. Wir könnten ja zunächst nicht mehr als einen halben Fuder herstellen. Taugt der Wein nicht, haben wir keinen großen Verlust. Schmeckt er jedoch, hätten Sie im nächsten Jahr eine weitere Novität.«

»Und wie soll ich einen solchen Wein anpreisen? Als Experiment oder als Fehler bei der Rotweingärung?« Franz blieb skeptisch.

»Als altes Rezept aus französischen Klöstern. Dort wurde ein solcher Wein wahrscheinlich schon im Mittelalter hergestellt. Ich habe mich sachkundig gemacht.«

Franz begann, freudig zu grinsen. »Dann versuchen wir es wie von Ihnen angeraten. Ich denke, wir nehmen die Portugieserlage bei Schweigen dafür.«

»Die ganze Lage?«, fragte Kerner ungläubig. »Das sind mindestens drei Fuder Wein. Eher mehr.«

Franz nickte. »So machen wir es. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Aber wir brauchen natürlich neue Fässer dafür. Gibt es noch welche?«

Kerner nickte. »Fünf Fuder-Fässer hätten wir noch in Reserve. Aber danach müssten wir sofort neue bestellen.«

Franz wandte sich an Irene. »Würdest du das übernehmen, mein Liebes? Du könntest mit Hansi Krüger zu Minnas Mann Otto nach Schweigen fahren und dabei auch gleich deine alte Freundin besuchen.«

Zum ersten Mal während der Besprechung wurde Irenes Lächeln herzlich. »Das mache ich natürlich sehr gerne und nehme die Mädchen auf diesen Ausflug mit. Sophia liebt ihre Patentante heiß und innig. Auch Klara ist sehr gern dort.«

Die restlichen Punkte hakte Franz so schnell wie möglich ab, zum einen, da er vor seiner Abfahrt nach Hamburg noch einiges zu erledigen hatte, zum anderen, weil er frustriert bemerkte, dass Irene das Interesse gleich wieder verlor. Immerhin erfuhr er noch, dass die Menge und Qualität der Trauben aus den Weinbergen, die nach dem Unwetter vor vier Jahren neu bepflanzt worden waren, schon überraschend gut ausfiel. Wie auch der Most aller alten Lagen, die bereits gelesen waren, eine gute bis sehr gute Süße aufwies. Johann Hager legte Franz die aktualisierte Tabelle mit den Mostgewichten vor, die er gerade erst am Morgen mit der Oechslewaage selbst ermittelt hatte.

»Bitte besprechen Sie sich alle drei regelmäßig über die Fortschritte und erstatten mir telegrafisch Bericht. Besonders, wenn es unvorhergesehene Probleme geben sollte«, schloss Franz die Diskussion über seine Tagesordnungspunkte schließlich ab. Dabei verzichtete er darauf, Irene explizit mit dieser Berichterstattung zu betrauen, was er ursprünglich vorgehabt hatte.

Nur beim letzten Thema, das er sich dafür eigens aufgespart hatte, richtete er das Wort wieder direkt an seine Frau. »Ich werde erst kurz vor dem Lesefest zurückkehren, meine Liebe. Würdest du dich mit meiner Mutter und Frau Burger um die nötigen Vorbereitungen kümmern?«

»Selbstverständlich«, stimmte Irene zu, diesmal ohne ein Lächeln. »Sofern die beiden mir noch etwas zu tun übrig lassen.«

Keinem der Männer am Tisch entging der bittere Unterton in ihrer Stimme.

Mit Johann Hager an ihrer Seite eilte Irene wenig später besorgt über den Hof des Weinguts. Sie hatte sich zunächst kurz davon überzeugt, dass der Stallbursche die Zwillinge längst zurück in Paulines Obhut gebracht hatte. Dabei erfuhr sie auch, dass es von Fränzel immer noch keine Spur gab. Ihre Unruhe stieg, als die ersten Leserinnen zum Abbeeren der geernteten Trauben zum Gut zurückkehrten und nochmals bestätigten, dass Fränzel heute nicht mit in die Weinberge gefahren war.

»Wo kann er nur sein? Vielleicht ist er gestürzt und hat sich verletzt!«

»Das müsste ja dann im großen Weinkeller geschehen sein und wäre sofort bemerkt worden. Schließlich wurden die Fässer heute Morgen gereinigt«, entgegnete Hager. »Aber ich begleite Sie jetzt selbstverständlich dorthin, um einmal nach dem Rechten zu schauen«, kam er Irenes Bitte zuvor.

Auf der glitschigen, nur von ein paar Petroleumlampen beleuchteten Treppe, die in den unterirdisch liegenden, größten Weinkeller des Gutes führte, reichte er Irene hilfreich die Hand. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit.

Im vorderen Teil des Kellers herrschte lebhaftes Treiben, das Irene nicht gleich einordnen konnte. Vor zwei der riesigen Fässer standen halbwüchsige Burschen, fast noch Kinder, und reichten immer wieder etwas in deren Inneres hinein. Beim Näherkommen erkannte Irene, dass es Schwämme und ausgewrungene Tücher waren.

»Was geschieht denn da?«, fragte sie den Kellermeister.

»Die Fässer müssen von innen gereinigt werden, bevor wir sie mit dem frischen Most füllen können.«

»Von innen? Wie geht das denn vonstatten?«

Hager winkte sie näher an das erste Fass heran, das gerade bearbeitet wurde. »Da drinnen befindet sich ein Knabe, der durch diese enge Öffnung dort geschlüpft ist, und macht sauber. Ein erwachsener Mann würde gar nicht hineinpassen.« Tatsächlich erschien in diesem Moment der blonde Schopf von einem der beiden Jungen, die Irene am Morgen nach Fränzel gefragt hatte, vor dem Loch, das durch einige herausgenommene Fassdauben entstanden war.

»Kinder?«, fragte sie ungläubig. »Wir beschäftigen auf unserem Weingut Kinder mit solchen Arbeiten?« Sie ärgerte sich über sich selbst, weil ihr das bislang offensichtlich entgangen war.

Hager sah Irene überrascht an. »Kinder helfen seit jeher bei der Lese mit, Frau Gerban. Das ist überall in der Pfalz so. Dafür gibt es ja eigens Schulferien.«

»Ja, das weiß ich«, fiel ihm Irene ins Wort. »Aber ich dachte, Kinderarbeit wäre auf die Weinlese beschränkt.«

»Wir beschäftigen in dieser Zeit auch einige ältere Knaben mit der Fassreinigung«, fuhr Hager unbeirrt fort. »Auch das ist Sitte und Brauch seit alters her.«

Irene ließ das auf sich wirken. Es erinnerte sie unangenehm an ihre Fabrikzeit, wo Kinder unter anderem dazu herangezogen worden waren, das Innere der Heizöfen, mit denen die Dampfmaschinen angetrieben wurden, zu reinigen.

»Aber ich hoffe, die Kinder werden bei allen Tätigkeiten nicht über Gebühr beansprucht«, wandte sie ein.

»Das versteht sich von selbst«, antwortete Hager. »Jedes Kind hilft nur gemäß seinen Fähigkeiten mit. Die kleinsten heben bei der Ernte zu Boden gefallene Trauben auf oder helfen beim Abbeeren. Die größeren lesen mit. Die Fässer-Reinigung ist bei den Knaben sogar die beliebteste Tätigkeit. Und auch die lukrativste. Ihr Gatte zahlt zehn Pfennig pro sauberes Fass.«

Bevor Irene etwas erwidern konnte, war der blonde Knabe aus seinem Fass geklettert. »Heda, Konrad! Komm einmal her!«, rief Hager ihn an.

Der Junge näherte sich zögernd. Seine Miene wirkte im Schein der Lampen wie das personifizierte schlechte Gewissen. »Weißt du, wo Fränzel sein könnte?«

Der Junge wies in Richtung der langen Fassreihe, die sich im Dunkel des hinteren Weinkellers verlor. »Da habe ich ihn heute Früh zuletzt gesehen.« Seine Stimme klang piepsig.

Auch Hager wurde nun misstrauisch und fasste den Bengel am Ohr. »Wo genau war das? Zeig es uns!«

Irene hatte schon eine der am Boden vor dem Fass stehenden Lampen ergriffen und eilte voraus. Plötzlich hörte sie aus der Ferne ein leises Klopfen. Als sie näher kam, konnte sie Fränzel nirgends erblicken; das Klopfen wurde jedoch immer lauter, und schließlich vernahm sie auch ein leises Schluchzen. Es schien aus dem Inneren eines der großen Fässer zu kommen.

»Verdammt!«, fluchte Hager entgegen seiner sonstigen Höflichkeit in Gegenwart von Damen. Dann schüttelte er den Jungen, den er am Arm hinter sich hergezerrt hatte. »Habt ihr Fränzel etwa da eingesperrt?« Das Kind nickte furchtsam.

»Bleib hier stehen und rühre dich nicht von der Stelle!«, befahl Hager, kniete sich bereits vor das Fass und löste einige Dauben im unteren Bereich. Wenig später schloss Irene ihren zitternden und schluchzenden Sohn in die Arme.

»Was ist denn passiert, mein Schatz?«, fragte sie sanft, als sich Fränzel wieder ein wenig beruhigt hatte.

Ihr Sohn zog die Nase hoch. »Ich wollte auch einmal wissen, wie es in so einem Fass aussieht. Da haben Konrad, Martin und noch ein paar andere mich hier reingelassen, aber danach das Loch wieder zugemacht.«

Hager schoss zu Konrad herum und gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Ja, seid ihr denn völlig verrückt geworden? Fränzel hätte da drin ersticken können!«, brüllte er.

»Es war Martins Idee«, jammerte der Junge und hielt sich die Wange, auf der sich alle fünf Finger von Hagers Hand abzeichneten. »Wir wollten den Fränzel spätestens nach dem Mittagessen wieder rauslassen.«

Hager hob erneut die Hand, aber Irene, die sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte, fiel ihm in den Arm. Dann beugte sie sich zu Konrad hinunter.

»Warum habt ihr Fränzel denn eingesperrt?«

Erst jetzt fing Konrad an zu weinen. Dicke Tränen rollten ihm übers Gesicht. »Der Martin hat sich darüber geärgert, dass der Fränzel mit seinem Lohn geprahlt hat. Er hat behauptet, er kriegt fünf Pfennig pro Tag, wenn er beim Abbeeren hilft. Damit kann er dann machen, was er will, hat er gesagt. Sich Spielsachen oder Naschereien kaufen. Wir kriegen aber gar nichts für unsere Arbeit, weil die Eltern unseren Lohn behalten. Dabei ist der Fränzel doch sowieso reich, und wir haben nichts.«

Trotz ihrer Empörung über den Streich, den die Buben Fränzel gespielt hatten, war Irene betroffen. Auch wenn die Landarbeiter auf dem Weingut Gerban dank Franz’ Initiative über bessere Wohnungen und einen höheren Lohn verfügten als auf anderen Gütern, waren die Familien immer noch bitterarm. Zumal wenn sie kinderreich waren.

Plötzlich kam ihr eine Idee. »Ich möchte, dass alle Kinder, die heute bei der Lese und auf dem Gut mitgeholfen haben, heute um sechs Uhr abends ins Kelterhaus kommen.«

Auf dem Rückweg zum Gutshaus überschlug sie im Geiste ihre Vorräte. Zumindest für heute dürften sie reichen. Franz hatte ihr genug von seinen zahlreichen Reisen mitgebracht.

»Ich möchte mich bei allen entschuldigen, die ich heute Morgen mit meiner Angeberei gekränkt habe. Das wird nicht wieder vorkommen.«

Gerührt betrachtete Irene ihren bald siebenjährigen Sohn, der sich nach einem langen Gespräch mit ihr dazu bereit erklärt hatte, diese kleine Ansprache zu halten.

Dann trat sie selbst vor die Kinderschar. Sie bestand aus ungefähr zwanzig Jungen und Mädchen in abgetragenen, vielfach geflickten Kitteln oder Schürzen und Holzpantinen. Die jüngsten mochten kaum so alt sein wie Fränzel, die ältesten ungefähr elf oder zwölf Jahre alt wie Martin, der Rädelsführer des Streichs, den man ihrem Sohn gespielt hatte. Er wippte nervös mit den Füßen auf und ab.

»Trotzdem finde ich es nicht gut, dass einige von euch Fränzel in ein Fass gesperrt haben, in dem wir ihn erst nach Stunden fanden. Er selbst und auch ich als seine Mutter haben große Ängste ausgestanden. Ich erwarte daher auch von den Verantwortlichen eine Entschuldigung.«

Sie blickte Martin auffordernd an, der zögernd nach vorn trat, gefolgt von Konrad und drei weiteren Knaben. »Es tut mir leid.« Martin klang ehrlich zerknirscht. »Wir wussten nicht, dass man in einem Fass irgendwann keine Luft mehr bekommt.« Er sah Fränzel an und verbeugte sich. »Ich bitte dich um Entschuldigung.«

Fränzel nickte und suchte Irenes Blick. »Nimmst du Martins Entschuldigung an?« Fränzel nickte ein weiteres Mal. »Dann reich ihm die Hand!«

Als sich auch die weiteren Knaben für ihren Streich entschuldigt und Fränzel jedem die Hand gegeben hatte, griff Irene hinter sich in einen Henkelkorb.

»Ich weiß, dass ihr alle kein Geld für eure Mithilfe bei der Lese bekommt, weil eure Eltern den Lohn brauchen, um Essen und Kleidung für euch zu bezahlen. Deshalb dürft ihr euch jetzt jeden Abend nach der Arbeit hier einfinden, um euch eine Süßigkeit abzuholen. Heute habe ich Schokolade für euch. Für jedes Kind gibt es einen Riegel.«

Strahlend traten die Kinder vor, um die ungewohnte Leckerei in Empfang zu nehmen. »Ich habe noch nie Schokolade gegessen«, piepste ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen. Es stellte sich schnell heraus, dass sie nicht die Einzige war.

»So lasst euch die Süßigkeit schmecken. Mit herausnehmen dürft ihr sie nicht. Ihr müsst sie hier essen«, hielt Irene einen Jungen zurück, der sich bereits zur Tür wenden wollte.