KaDeWe. Haus der Träume - Marie Lacrosse - E-Book
SONDERANGEBOT

KaDeWe. Haus der Träume E-Book

Marie Lacrosse

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Berlin, Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Kaufhaus KaDeWe erstrahlt in Glanz und Luxus – eine Welt, die Judith Bergmann wohl vertraut ist. Denn die Tochter des KaDeWe-Justiziars soll Harry Jandorf heiraten, den einzigen Sohn des Kaufhausgründers. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Rieke Krause hingegen ist von der Pracht des Kaufhauses schier überwältigt, als sie dort eine Stelle als Verkäuferin antritt. Schon bald verliebt sie sich in ihren Kollegen Hermann. Doch in den Wirren des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit werden die Lebenspläne von Judith und Rieke gewaltig durcheinandergewirbelt. Und auch das KaDeWe und sein Eigner Adolf Jandorf stehen vor großen Herausforderungen ….

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 946

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Berlin, Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Kaufhaus KaDeWe erstrahlt in Glanz und Luxus – eine Welt, die Judith Bergmann wohl vertraut ist. Denn die Tochter des KaDeWe-Justiziars soll Harry Jandorf heiraten, den einzigen Sohn des Kaufhausgründers. Die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Rieke Krause hingegen ist von der Pracht des Kaufhauses schier überwältigt, als sie dort eine Stelle als Verkäuferin antritt. Schon bald verliebt sie sich in ihren Kollegen Hermann. Doch in den Wirren des Ersten Weltkriegs und der Nachkriegszeit werden die Lebenspläne von Judith und Rieke gewaltig durcheinandergewirbelt. Und auch das KaDeWe und sein Eigner Adolf Jandorf stehen vor großen Herausforderungen …

Autorin

Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitete viele Jahre hauptberuflich als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Ihre Autorentätigkeit begann sie unter ihrem wahren Namen Marita Spang und schrieb erfolgreich historische Romane. Heute konzentriert sie sich fast ausschließlich aufs Schreiben. Ihre Trilogie »Das Weingut « wurde ebenso zu einem großen SPIEGEL-Bestseller wie die »Kaffeehaus«-Saga. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort. Weitere Romane der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.

Mehr Informationen unter www.marielacrosse.de

Marie Lacrosse

KaDeWeHaus der Träume

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Oktober 2022

Copyright © 2022 by Marie Lacrosse

Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Ildiko Neer/ Arcangel Images; The History Collection / Alamy Stock Photo; AKG-Images ; FinePic® München

Redaktion: Marion Voigt

BH · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28914-0V001www.goldmann-verlag.de

Den Menschen in der Ukraine gewidmet,die einen Krieg erleiden müssen, wie ich ihn längst in der Mottenkiste der Geschichte wähnte.

Wat een juter Standort is, bestimme ick.

Adolf Jandorf zugeschriebene Reaktion auf Zweifel am Standort des KaDeWe im Berliner Westen

Adolf Jandorf ist der Typ des modernen, sehnigen, widerstandskräftigen Selfmademan von einer kolossalen Energie, verbunden mit schneller Auffassungsgabe und leichter Anpassungsfähigkeit in seinen geschäftlichen Entschlüssen.

Der Publizist Leo Colze im Jahr 1908 über Adolf Jandorf

Dramatis Personae

Es werden nur die für die Handlung bedeutsamen Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Rieke Krauses Familie

Rieke Krause,älteste Tochter

Käthe Krause, ihre Mutter, Leiterin der Reinigungskolonne im KaDeWe

Otto Krause, ihr Vater

Robert, ihr älterer Bruder, Tischlerlehrling im KaDeWe

Susanne, genannt Sanni,ihre jüngere Schwester, Verkäuferin im KaDeWe

Judith Bergmanns Familie und Hauspersonal

Judith Bergmann,einzige Tochter, Schülerin an der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon

Paul Bergmann, ihr Vater, Konzernjustiziar bei Jandorf

Rebekka Bergmann, ihre Mutter

Johannes Bergmann, ihr älterer Bruder, Einkäufer im KaDeWe

Benjamin Bergmann, ihr verstorbener jüngerer Bruder

Martha,Köchin

Lisa,Hausmädchen

Adolf Jandorfs Familie

Adolf Jandorf*,Familienpatriarch und Besitzer von sieben Berliner Warenhäusern, darunter das KaDeWe

Margarete Jandorf*, seine Ehefrau

Harry Jandorf*, sein einziger Sohn

Handlungstragende fiktive Personen

Gunter Perl, Leiter des Warenhauses am Weinberg; später Textileinkäufer im KaDeWe

Peter Hauser, Riekes Verehrer und Kollege von Robert

Sebastian Häfner,Freund und Geliebter von Johannes Bergmann

Hermann Wolters, Riekes ehemaliger Verlobter; ehemals Verkäufer im KaDeWe

Berti Schubert, Sannis Freund

Fritz Zimmer, Lebensgefährte von Käthe Krause nach dem Tod ihres Ehemanns Otto

Alfred, späterer Geliebter von Johannes Bergmann

Personal im KaDeWe

Fräulein Sigismund, Erste Verkäuferin in der Damenkonfektion des KaDeWe

Frau Liebermann,Aufsichtsdame in der Damenkonfektion des KaDeWe

Herr Kreutzfeld, Einkäufer und Abteilungsleiter der Damenkonfektion des KaDeWe

Herr Hofer, kaufmännischer Direktor des KaDeWe

Gregor Eckstein,Hausdetektiv im KaDeWe

Else Lemke,Lehrmädchen

Erwin Lemke, ihr Vater und Leiter der Poststelle im KaDeWe

Frau Maurer, Nachfolgerin von Fräulein Sigismund als Erste Verkäuferin in der Damenkonfektion

Im Roman erwähnte historische Persönlichkeiten

(in alphabetischer Reihenfolge)

Chulalongkorn*, auch Rama V. genannt, König von Siam (heute Thailand) von 1868 bis 1910

Isadora Duncan*, amerikanische Ausdruckstänzerin

Friedrich Ebert*, erster Reichspräsident der Weimarer Republik

Joseph Goebbels*, Gauleiter der Nazis in Berlin-Brandenburg ab 1926

August Hajduk*,österreichischer Grafiker im Auftrag des KaDeWe

Paul von Hindenburg*, oberster deutscher Heerführer im Ersten Weltkrieg; später zweiter Reichspräsident der Weimarer Republik

Adolf Hitler*, Begründer und Führer der NSDAP

Traugott von Jagow*, Polizeipräsident Berlins von 1908 bis 1916

Eglantyne Jebb*,britische Kinderrechtlerin, Gründerin der Hilfsorganisation »Save the Children«

Karl Liebknecht*,Arbeiterführer und Gründer der KPD

Erich Ludendorff*, General und Mitglied der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg

Rosa Luxemburg*,Arbeiterführerin und Mitbegründerin der KPD

Wladimir Wladimirowitsch Majakowski*, russischer Revolutionsdichter

Walther Rathenau*, Außenminister der Weimarer Republik ab Januar 1922

Alice Salomon*, Gründerin der ersten Sozialen Frauenschule und Frauenrechtlerin

Philipp Scheidemann*,Ministerpräsident der ersten frei gewählten Regierung der Weimarer Republik

Max Sering*,Professor für Staatswissenschaften an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin

Georg Tietz*,anfangs Juniorchef, später Geschäftsführer der Hermann Tietz OHG

Martin Tietz*, Mitgeschäftsführer der Hermann Tietz OHG; jüngerer Bruder von Georg Tietz

Georg Wertheim*, Geschäftsführer und Besitzer des Warenhauskonzerns Wertheim

Kaiser Wilhelm II.*,letzter Kaiser des Deutschen Reichs bis November 1918

Marina Zwetajewa*,emigrierte russische Dichterin

Adriana Zwetajewa*, ihre neunjährige Tochter

Prolog

Im KaDeWe

8. August 1907, kurz vor sieben Uhr am Morgen

Rieke Krause kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, als sie an der Hand ihrer Mutter die prächtige Eingangshalle des Kaufhauses des Westens betrat. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie den pompösen Raum, der, an beiden Seiten flankiert von Treppen, zwei Stockwerke hoch war.

Auch wenn Rieke mit ihren gerade einmal zehn Jahren noch zu jung war, um den Wert der kostbaren Hölzer, mit denen die Wände verkleidet waren, oder der kunstvollen Gitter an den Treppengeländern und Kundenfahrstühlen zu ermessen, verglich sie unwillkürlich die Pracht der Ausstattung mit ihrer ärmlichen Wohnung in der großen Mietskaserne Meyers Hof im Wedding. Sicherlich hätte die düstere Behausung, in der Rieke mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern lebte, allein von der Fläche her ungefähr fünfzigmal in diese Eingangshalle des Luxuskaufhauses gepasst, in dem ihre Mutter Käthe als Leiterin der Putzkolonne beschäftigt war.

»Nu komm schon, Rieke«, drängte Käthe sie nicht zum ersten Mal an diesem ereignisreichen frühen Morgen. »Ick hab’s eilig.« An diesem besonderen Tag würde Käthe im KaDeWe besonders viel zu tun haben.

Diese Abkürzung für das Kaufhaus des Westens hatten sich die Berliner mit ihrer Neigung zur Verballhornung schon kurz nach der Eröffnung des neuen Warenhauses ausgedacht.

Dass sie es eilig habe, hatte Käthe Krause auch schon betont, als Rieke zögerte, in die elektrische Hoch- und Untergrundbahn einzusteigen, die mit mächtigem Getöse in den Bahnhof am Potsdamer Platz einfuhr. Bis dorthin waren sie vom Wedding aus mit dem Bus gefahren. Ängstlich klammerte sich Rieke an die Hand ihrer Mutter, als die Bahn die Station verließ und ab dem Nollendorfplatz sogar durch einen stockdunklen Tunnel brauste, bis sie schließlich die Station am Wittenbergplatz erreichte, wo sie aussteigen mussten. Noch nie zuvor war Rieke mit diesem Verkehrsmittel gefahren, das es in Berlin erst seit fünf Jahren gab.

»Dit is der Grund, warum das KaDeWe jwd liegt«, erklärte ihr Käthe während der rasenden Fahrt. »Jwd« war die Berliner Abkürzung für »janz weit draußen«. »Die U-Bahn bringt die Kundschaft aus der Stadt janz bequem zum Einkaufen her.«

Ganz so bequem war die tägliche Anfahrt für Riekes Mutter jedoch nicht. Sie hatte als einfache Putzfrau im Warenhaus am Weinberg an der Ecke Brunnenstraße/Veteranenstraße begonnen, das wie das KaDeWe zu den Warenhäusern von Adolf Jandorf gehörte.

Allerdings lag das Warenhaus am Weinberg nicht weit von ihrer Mietskaserne in der Ackerstraße im Wedding entfernt. Ihren damaligen Arbeitsplatz als Putzfrau hatte Käthe fußläufig erreichen können. Und daher zunächst gezögert, als Adolf Jandorf ihr zu Beginn des Jahres den Vorschlag machte, als Leiterin der Putzkolonne ins KaDeWe überzuwechseln.

Letztlich hatte Jandorf jedoch die besseren Argumente gehabt: Er bot Käthe mit siebzig Mark im Monat das Gehalt einer Verkäuferin an, das sie als einfache Reinemachefrau nicht einmal zur Hälfte verdient hatte. Doch eines Tages hatte Jandorf seine goldene Taschenuhr auf dem Schreibtisch seines Kontors im Warenhaus am Weinberg liegen lassen. Käthe fand die Uhr beim Saubermachen, nahm sie über Nacht in Verwahrung und überreichte Jandorf das wertvolle Schmuckstück am nächsten Tag persönlich. Seither genoss sie sein unbegrenztes Vertrauen.

»Ich glaubte die Uhr schon verloren, weil ich sie heute Morgen nicht mehr hier gefunden habe«, erklärte der Warenhauseigner damals. »Und bin sehr erleichtert darüber, dass Sie sie für mich aufbewahrt haben. Die Uhr ist nämlich ein Geschenk meiner Gattin zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag.«

Schon im Warenhaus am Weinberg hatte Jandorf Käthe kurz nach diesem Vorfall zur Vorgesetzten der Putzfrauen befördert und ihr Gehalt erhöht. Und da er ihr nach der Fertigstellung seines neuen Luxuskaufhauses außer der erneuten großzügigen Gehaltsaufstockung zusätzlich anbot, ihr die Fahrtkosten mit Bus und U-Bahn zum Wittenbergplatz zu erstatten, nahm Käthe sein Angebot schließlich an.

Daher war sie heute beim wichtigsten Ereignis, das das erst Ende März 1907 eröffnete Kaufhaus des Westens bislang erlebt hatte, mehr denn je dafür verantwortlich, dass die vier der fünf Stockwerke des riesigen Gebäudes, in denen die Waren präsentiert wurden, vor Sauberkeit nur so glänzten. Denn schon den zweiten Tag in Folge erwartete Adolf Jandorf den Besuch des siamesischen Königs Chulalongkorn, auch Rama V. genannt, was für seine deutschen Gastgeber sehr viel leichter auszusprechen war.

Der König befand sich bereits zum zweiten Mal auf einer ausgedehnten Europareise und hatte anlässlich seines Aufenthalts in Berlin gestern das Kaufhaus des Westens besucht. Dort hatte er etliche Einkäufe getätigt und im Fürstenzimmer feudal zu Mittag gespeist. Da die Warenvielfalt des KaDeWe ihn begeisterte und ihm vor allem das in der Küche des Kaufhauses zubereitete Festmahl viel besser schmeckte als das Essen in seinem vornehmen Hotel Kaiserhof, hatte der König angekündigt, am heutigen Tage noch einmal wiederkehren zu wollen.

Seit Käthe daheim vom bevorstehenden Besuch des Königs erzählt hatte, bettelte Rieke ununterbrochen darum, sie an diesem Tag ins KaDeWe begleiten zu dürfen. Gestern früh hatte ihre Mutter Riekes Ansinnen noch ein letztes Mal abgelehnt, ihr aber in Aussicht gestellt, sie mitzunehmen, falls der König während seines Aufenthalts in Berlin ein weiteres Mal ins KaDeWe kommen würde.

Als hätte sie geahnt, dass dies schon am nächsten Tag der Fall sein würde, brachte Rieke die ganze Wohnung auf Hochglanz und putzte sogar freiwillig den meist ziemlich schmutzigen Gemeinschaftsabtritt auf dem Treppenabsatz der Etage, obwohl die Krauses turnusmäßig noch gar nicht an der Reihe waren. Deshalb hatte Käthe Rieke gestern Abend erlaubt, sie heute zu begleiten. Zumal Rieke gerade Schulferien hatte.

Am Morgen war sie in aller Herrgottsfrühe mit ihrer Mutter aufgestanden, hatte ihr Sonntagskleid angezogen und konnte ihre Neugier und Ungeduld auf all das, was sie heute im Lauf des Tages erwarten mochte, kaum bezähmen.

Zunächst musste Rieke jedoch eine gelinde Enttäuschung hinnehmen. Über dem Haupteingang des Kaufhauses in der Tauentzienstraße befand sich eine riesige Bronzeuhr. Zu jeder vollen Stunde öffneten sich Flügel zu beiden Seiten der Uhr. Dann drehte eine bronzene Handelskogge, die Jandorf zum Signet des KaDeWe erkoren hatte, mit geblähten Segeln eine stolze Kurve.

Natürlich hatte Rieke gehofft, sich diese Spieluhr einmal ansehen zu können. Doch dafür blieb keine Zeit, erklärte ihr die Mutter. Ebenso wenig wie für die Betrachtung des mit Figuren und zahlreichen Ornamenten geschmückten schmiedeeisernen Gitters, das noch vor dem Eingangsportal hochgefahren war. Zu gern hätte Rieke gefragt, was es mit der Frau auf sich hatte, um deren halb nackten Körper sich eine Schlange wand. Doch schon schlüpfte Käthe durch eine Seitenpforte ins Gebäude und zog Rieke hinter sich her. Umso mehr entschädigte sie nun der Anblick der prächtigen Eingangshalle.

Hier wartete schon das nächste Abenteuer auf sie: ihre erste Fahrt mit einem Aufzug. Es war natürlich keiner der Fahrstühle für die Kundschaft mit den wunderschönen Gittern, sondern nur der Lastenaufzug, den auch das Personal benutzte. Ohnehin befanden sich um diese frühe Uhrzeit noch keine Kunden im KaDeWe. Es war kurz vor sieben Uhr. Das Kaufhaus würde erst in einer Stunde öffnen.

Doch zu ihrer nächsten Enttäuschung brachte der Aufzug Rieke nicht in die höheren Stockwerke mit ihrem riesigen Warenangebot, sondern ins Souterrain. Dort traf Käthe die ihr untergebenen Reinemachefrauen und erteilte ihnen genaue Anweisungen, auf was sie bis zum Eintreffen des Königs, der gegen elf Uhr erwartet wurde, achtzugeben hätten.

Nachdem sie gestern nach Ladenschluss alles sorgsam geputzt hatten, trugen die Frauen zur Feier des Tages nicht ihre unförmigen Kittel, sondern sahen mit blütenweißen Latzschürzen über schwarzen Baumwollkleidern und weißen Häubchen auf dem ordentlich frisierten Kopf eher wie Zofen aus. Diese Tracht war an gewöhnlichen Tagen den ausgewählten Reinigungskräften vorbehalten, die tagsüber in den Verkaufsräumen tätig wurden, um ein Malheur zu beseitigen, das einem Kunden oder Angestellten passiert war, oder bei schlechtem Wetter die Fußspuren auf den Marmorböden wegzuwischen. Die Augen der solventen Kundschaft sollten nicht durch schäbig gekleidete Putzfrauen beleidigt werden.

Sobald jedoch der Besuch von Rama V. feststand, hatte Adolf Jandorf sämtlichen Reinemachefrauen eine solche Tracht aushändigen lassen und angeordnet, dass die ganze Putzkolonne tagsüber bereitzustehen und selbst den geringsten Schmutz sofort zu beseitigen habe. Auch Käthe kleidete sich jetzt im Umzugsraum für Frauen in ihr schwarzes hochgeschlossenes Gewand aus feinem Leinen, in dem sie während der Öffnungszeiten als Aufseherin der Reinigungskolonne auftrat.

Bevor sie danach zu ihrem Inspektionsrundgang durch die einzelnen Stockwerke aufbrach, gebot sie Rieke, während dieser Zeit in der bereits geöffneten Personalkantine, in der schon einige Angestellte frühstückten, auf sie zu warten.

»Kann ick nich mitkommen?«, bettelte Rieke. »Ick kann euch doch helfen, wenn’s wat zu tun jibt.«

»In deinem besten Kleid?«, spöttelte Käthe. »Wenn du dich einsaust, kannste gleich janz hierbleiben.« Immerhin spendierte sie Rieke ein Hörnchen und eine Tasse Schokolade, in der Familie Krause durchaus nicht alltägliche Köstlichkeiten.

»Ick hol dir hier gegen zehne ab«, kündigte die Mutter an. »Dann kannste mit ins Fürstenzimmer kommen und dir sogar alles ankieken, wat der König bisher jekooft hat«, versprach sie Rieke zum Trost für die lange Wartezeit. Danach eilte sie den bereits ausgeschwärmten Putzfrauen nach.

Ungefähr vier Stunden später gegen elf Uhr

»Und, lieber Papa, wie sehe ich aus?«

Judith Bergmann fasste den Rock ihres hellblauen, mit cremefarbenen Spitzen besetzten Seidenkleids mit beiden Händen und drehte sich mit wehenden Haaren einmal um die eigene Achse. Dazu trug sie weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe mit Riemchen.

»Wunderhübsch siehst du aus, mein Schatz!«, gab ihr Paul Bergmann die erhoffte Antwort. Tatsächlich betonte die Farbe des Kleids Judiths dunkelblaue Augen, die in reizvollem Kontrast zu ihren fast schwarzen, von einem blauen Seidenband aus der Stirn gehaltenen Locken standen.

Trotz des Kompliments verzog Judith die Lippen zu einem Schmollmund. »Mama sagt, ich hätte ein weißes Kleid anziehen sollen. Alle Mädchen trügen diese langweilige Farbe.«

»Nun, ich will deiner Mama nicht widersprechen«, schmunzelte Bergmann. »Aber mir gefällst du in dieser Aufmachung jedenfalls ausgesprochen gut.«

»Meinst du, ich werde auch dem König gefallen?« Judith errötete.

»Ganz sicher wirst du das«, bekräftigte ihr Vater aufs Neue.

»Dann will ich jetzt noch einmal ein paar englische Vokabeln wiederholen«, erklärte Judith und zog ihr Lehrbuch aus der mitgebrachten Schultasche. »Viel werde ich ja noch nicht verstehen können. Aber ich möchte den König zumindest auf Englisch begrüßen, wenn ich ihm vorgestellt werde.«

Lächelnd betrachtete Paul Bergmann seine Tochter, die sich sofort in ihr Buch vertiefte und beim stillen Wiederholen der Vokabeln die Lippen bewegte. Judith hatte trotz ihrer inzwischen zehn Jahre zu Ostern erst die dritte Grundschulklasse abgeschlossen, da sie mit sechs Jahren kurz vor dem damals vorgesehenen Schulbeginn schwer an Diphtherie erkrankt war. Zum Glück hatte sie die Krankheit überstanden und war wieder völlig gesund geworden. Anders als ihr jüngerer Bruder Benjamin, den die Familie nach bangen Tagen voller Angst im Alter von nur drei Jahren verloren hatte.

Den um ein Jahr verspäteten Schuleintritt versuchte Judith von vornherein mit großem Ehrgeiz zu kompensieren. Aus unerfindlichen Gründen hatte sich seine Tochter bereits in diesem zarten Alter in den Kopf gesetzt, wie ihr sechs Jahre älterer Bruder Johannes einmal Abitur zu machen und später vielleicht sogar zu studieren. Obwohl eine solche Laufbahn für Mädchen im wilhelminischen Kaiserreich äußerst ungewöhnlich war.

Doch während ihre Mutter Rebekka diese Gedanken ihrer Tochter für kindliche Flausen hielt, förderte Paul Judith in ihrem Bestreben nach Bildung. Deshalb hatte er ihr schon vor dem Eintritt in die Höhere Mädchenschule, die Judith seit einigen Monaten besuchte, auf ihre Bitte hin Privatlektionen in Englisch erteilen lassen. Als gestern feststand, dass der König auch heute wieder ins KaDeWe kommen würde, erlaubte Paul Judith nach Rücksprache mit Adolf Jandorf sogar, Rama V. persönlich vorgestellt zu werden und am Festmahl teilzunehmen.

Sehr zum Unmut seiner Gattin Rebekka, die erst zum Mittagessen hinzustoßen würde und Paul einmal mehr vorwarf, Judith nach Strich und Faden zu verwöhnen. Aber seit er auch noch seine einzige Tochter fast an diese tückische Kinderkrankheit verloren hätte, war und blieb sie sein Augenstern. Zumal sein älterer Sohn Johannes viel zurückhaltender war als die lebhafte Judith. Johannes zog sich mit seinen nunmehr sechzehn Jahren immer mehr in sich zurück und nahm kaum noch am Familienleben teil.

Zwar war auch Paul Bergmann im Grunde seines Herzens davon überzeugt, dass Judith einmal heiraten und Kinder bekommen würde, anstatt ein Blaustrumpf mit akademischer Bildung zu werden. Aber warum sollte er Judith die Freude am Lernen schon heute verderben? Denn jeder gebildete Mann konnte sich doch glücklich schätzen, eine Frau zu ehelichen, deren Interessen über Kinder, Küche und Kirche hinausgingen.

Möglicherweise war ein solcher Heiratskandidat sogar schon in Sicht. Es war Harry, Jandorfs einziges Kind und nur ein Jahr älter als Judith.

Paul Bergmann hatte Adolf Jandorf vor einigen Jahren im Rahmen seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt für den Verband Deutscher Waren- und Kaufhäuser kennengelernt, deren Mitglied Jandorf war. Schnell war Adolf sein bester Freund geworden. Nur zu gern hatte sich Paul deshalb vor zwei Jahren als Justiziar für Jandorfs Warenhauskonzern abwerben lassen. Schon bald danach träumten Rebekka und Jandorfs Ehefrau Margarete von einer zukünftigen Hochzeit ihrer Kinder.

Ein heftiges Klopfen an der Kontortür ließ sowohl Bergmann als auch Judith aufschrecken. Ohne auf ein Zeichen zu warten, stürmte Adolf Jandorf herein. Obwohl von kleiner Statur, sodass nicht nur Bergmann, sondern die meisten seiner Angestellten ihn mindestens um Haupteslänge überragten, dominierte er, wie üblich, mit seiner Persönlichkeit sofort den Raum.

Auch Adolf war wie Paul in einen schwarzen Maßanzug mit blütenweißem Hemd, steifem Kragen und schwarzer Seidenkrawatte gekleidet. Lange hatte man vor dem Besuch des Königs überlegt, zur Feier des Tages sogar im Frack aufzutreten. Da der König gestern jedoch selbst nur einen schlichten Anzug, wenn auch aus teurem Stoff, getragen hatte, waren Adolf und Paul im Nachhinein froh gewesen, nur ihre Sonntagskleidung angelegt zu haben.

»Rama ist bereits eingetroffen«, rief Jandorf jetzt aufgeregt ohne jegliche Begrüßung. »Eine geschlagene Viertelstunde früher als angekündigt. Sein Wagen ist gerade vor dem Haupteingang vorgefahren.«

Kurz darauf eilten Paul Bergmann und Judith hinter Adolf Jandorf durch die Halle zum Haupteingang in der Tauentzienstraße. Gerade noch rechtzeitig, bevor der König die Eingangshalle betrat, war der rote Teppich ausgerollt worden, den man ihm zu Ehren schon gestern ausgelegt hatte.

»Ich hoffe, jeder Abteilungsleiter ist schon an seinem Platz«, knurrte Jandorf leise, bevor er auf den siamesischen König zutrat. Er verbeugte sich formvollendet vor dem Herrscher und ergriff danach freudig beide Hände, die Rama ihm entgegenstreckte.

Dann winkte er Bergmann und Judith näherzutreten. »Meinen lieben Konzernjustiziar und Freund Paul Bergmann haben Eure Hoheit ja bereits gestern kennengelernt«, sprach er den König in perfektem Englisch an. Diese Sprache hatte Jandorf als junger Mann während eines einjährigen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten erlernt und sprach sie noch heute fließend.

Auch Bergmann trat nun vor und begrüßte Chulalongkorn ebenfalls mit einer tiefen Verbeugung, der ein kräftiger Händedruck folgte. Danach zog er Judith nach vorn, die sich plötzlich sehr unbeholfen vorkam.

»Darf ich Eurer Hoheit meine Tochter Judith vorstellen? Sie wollte unbedingt einmal einen leibhaftigen König kennenlernen.«

Schon gestern hatte sich herausgestellt, dass Chulalongkorn im Umgang mit seinen Gastgebern kaum Wert auf Förmlichkeiten legte, sodass sich Bergmann diese etwas unkonventionelle Rede erlauben konnte. Natürlich wäre Gleiches bei Kaiser Wilhelm II. undenkbar gewesen.

Tatsächlich lächelte der König Judith herzlich an, was sie nur flüchtig wahrnahm, bevor sie in einen tiefen Knicks versank. »Thank you very much for this great honour, Your Royal Highness«, stammelte sie. Und hoffte inständig, dass sie nicht allzu viele Fehler bei Grammatik und Aussprache gemacht hatte.

»What a nice little girl!« Diese Worte, mit denen sich Rama an ihren Vater wandte, verstand Judith noch. Allerdings nicht, was der König als Nächstes sagte. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, dass Adolf Jandorf die Stirn runzelte.

Es folgte ein weiterer kurzer Wortwechsel auf Englisch. Dann wandte sich Paul Bergmann an seine Tochter. »Seine Majestät möchte, dass du uns durch das Warenhaus begleitest«, eröffnete er Judith zu deren großer Überraschung. Denn eigentlich war vorgesehen gewesen, dass sie nach der Begrüßung bis zum Beginn des Festessens in Begleitung des Dienstmädchens, das sie heute Morgen ins KaDeWe gebracht hatte, im Kontor ihres Vaters warten sollte.

»Seine Majestät möchte nämlich Kleider und Spielsachen für seine Töchter erwerben«, erläuterte ihr Vater. »Dabei sollst du ihn beraten.«

Zunächst sprachlos vor Staunen folgte Judith den Männern durch die einzelnen Abteilungen des Warenhauses. In Chulalongkorns Begleitung waren noch einige siamesische Diplomaten, die der Botschaft in Berlin angehörten, wie Judith später erfuhr. Außerdem stieß Herr Hofer, der kaufmännische Leiter des KaDeWe, zu ihnen, der persönlich den Rollwagen schob, auf dem die Einkäufe des Königs gestapelt wurden. Zunächst folgte Judith den Männern schweigend.

In den ersten Abteilungen, in denen der König Waren einkaufte, war ihr Rat auch noch gar nicht gefragt. Doch Geld spielte für Rama offensichtlich keine Rolle. Ohne zu zögern, zeigte er auf mehrere farbenfrohe Perserteppiche, die im Erdgeschoss ausgestellt waren. Auch an der Schmuckabteilung ging Rama nicht vorbei, ohne mehrere Brillantcolliers, -armbänder und -broschen zu erstehen. Ab und zu erhaschte Judith einen Blick auf die Preisschilder der Waren. Dann stockte ihr jedes Mal der Atem. Obwohl ihre Familie durchaus wohlhabend war, wurde ihr rasch klar, dass der König dabei war, im KaDeWe ein Vermögen auszugeben.

Tatsächlich hätte ihr Vater ihr später sagen können, dass der Wert von Chulalongkorns Einkäufen sein eigenes, durchaus beträchtliches Jahresgehalt von fünfzigtausend Mark in Summe schließlich um das Fünffache überstieg. Am Ende hatte der König ungefähr zweihundertfünfzigtausend Mark ausgegeben.

Doch noch war es nicht so weit. Schon während der König die Lederwaren-, die Parfümerie- und die Weißwarenabteilung durchschritt, füllte der Rollwagen sich rasch. In der Stoffabteilung musste das Gefährt zum ersten Mal ausgetauscht werden, weil Rama fast jeden der kostbaren Seidenstoffe, die zur Auswahl standen, gleich ballenweise erwarb. In den höheren Stockwerken kaufte er zwei der modernsten Fotoapparate sowie Operngläser, eine Kuckucksuhr und viele weitere Gegenstände. Er ließ sogar ein Mikroskop auf den Rollwagen laden. Im vierten Stock, wo sich auch die Spielwaren befanden, erstand er schließlich ein mit zarten Blumenmotiven bemaltes einhundertzwanzigteiliges Service aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur.

Dann erreichte man endlich die Spielzeugabteilung. Rama winkte Judith zu sich heran.

Mit einer Mischung aus Stolz und leiser Beunruhigung beobachtete Paul seine Tochter, die gerade mit dem König von Siam über Puppen diskutierte. Während Paul dolmetschte, spürte er, dass Adolf Jandorf alle Mühe hatte, seinen Unmut darüber, nicht mehr im Vordergrund zu stehen, zu zügeln. Zwar standen die Abteilungsleiter in jedem Rayon nahezu stramm, wenn sich der König näherte. Doch Adolf Jandorfs Persönlichkeit hatte die Einkaufstour bislang eindeutig dominiert.

Wieder einmal hatte sich Paul darüber gewundert, welche Ausstrahlung dieser Mann trotz seiner geringen Körpergröße besaß. Er schien jeden Raum mit seiner Präsenz vollständig auszufüllen, selbst wenn er so weitläufig war wie ein Stockwerk des KaDeWe. Doch hier, in der Spielzeugabteilung, galt Chulalongkorns Aufmerksamkeit vollkommen Pauls Tochter Judith.

Gerade zeigte diese mit neu erwachtem Selbstbewusstsein auf vier sehr teure Puppen mit Porzellanköpfen und rüschenbesetzten Kleidern. »Ich würde Eurer Majestät diese Modelle empfehlen«, übersetzte Paul die Worte seiner Tochter. »Schließlich ist für Prinzessinnen nur das Allerbeste gut genug.«

Paul verkniff sich ein Schmunzeln. Tatsächlich kostete jede der Puppen fast zweihundert Mark. Doch der König zögerte keinen Augenblick und zeigte auf die Ware, die sofort vom Abteilungsleiter auf den Rollwagen gelegt wurde, den der kaufmännische Leiter, immerhin nach Adolf Jandorf der wichtigste Vorgesetzte des KaDeWe, nunmehr seit Stunden durch das Kaufhaus schob. War der Rollwagen voll, winkte Herr Hofer einem Abteilungsleiter, der den Wagen in einen Nebenraum des Fürstenzimmers brachte, in dem die erstandenen Waren seit gestern Vormittag gesammelt wurden.

In der Spielwarenabteilung erstand Rama mit Judiths Hilfe des Weiteren ein vollständig eingerichtetes Puppenhaus, natürlich ebenfalls das teuerste der angebotenen Modelle, zwei Puppenwagen aus Korbgeflecht, einen ganzen Spielzeugkoffer voll Puppenkleider sowie Stofftiere aller Art.

Schließlich ließ sich Chulalongkorn sogar von Judith dabei beraten, welches Spielzeug er seinen noch kindlichen Söhnen mitbringen solle, und erstand unter anderem eine ganze Armee von Zinnsoldaten und mehrere Spielzeugschiffe.

Paul Bergmann kannte inzwischen die Anlässe dieser Einkäufe. Obwohl Rama V. als sehr moderner Herrscher galt, der zudem diplomatisch so geschickt war, dass Siam das einzige südostasiatische Land ohne europäische Kolonialherrschaft war, hing er in seiner Heimat noch den uralten Traditionen der Königsfamilie an. Gestern Abend hatte Adolf Jandorf Paul erklärt, der König habe sage und schreibe einhundertdreiundfünfzig Ehefrauen, wobei er allerdings nur mit fünfunddreißig von ihnen geschlechtlich verkehren würde. Diese hätten ihm insgesamt sechsundsiebzig Kinder geboren, von denen viele noch nicht erwachsen seien.

Schließlich kehrte der König in die Abteilung für Kinderkleidung im ersten Stock zurück und erstand zum Abschluss seiner Einkaufstour mindestens drei Reisekoffer voll Kleidungsstücken aller Art für Mädchen und Jungen im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren. Auch hierbei zog er immer wieder Judith zurate.

Nach dem nahezu zweistündigen Gang durch das KaDeWe waren jetzt alle erschöpft. Deshalb wirkte sogar Adolf Jandorf erleichtert, als Chulalongkorn schließlich nach dem angekündigten Mittagessen fragte. Tatsächlich war es jetzt kurz vor ein Uhr, und der König hatte bereits angekündigt, am Nachmittag weitere ärztliche Termine wahrnehmen zu müssen.

Denn der Grund für seine zweite Europareise war nicht wie vor zehn Jahren die Diplomatie, sondern Chulalongkorns angeschlagene Gesundheit. Von der Behandlung durch europäische Ärzte versprach sich der König eine rasche Besserung seiner diversen Leiden, wenn nicht sogar völlige Genesung.

Doch das zwölfgängige Mittagsmenü würde mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Stunden in Anspruch nehmen. Und es wäre doch jammerschade, wenn der krönende Abschluss von Ramas Besuch im KaDeWe durch seinen überhasteten Aufbruch vorzeitig beendet werden müsste.

Im Vorraum zum Fürstenzimmer des KaDeWe

Ungefähr eineinhalb Stunden früher, gegen halb zwölf Uhr

Behutsam strich Riekes Mutter Käthe mit einem aus Schwanenfedern bestehenden Staubwedel über die Einkäufe, die der siamesische König bislang getätigt hatte und die sich in einem der Nachbarräume des Fürstenzimmers, wie man den Speisesaal nannte, mittlerweile fast bis unter die Decke stapelten. Obwohl Rieke ihrer Mutter erneut ihre Hilfe angeboten hatte, lehnte Käthe dies ab. Zu groß war ihre Sorge, dass Rieke einen der kostbaren Gegenstände beschädigen könnte. Deshalb beschäftigte sich Rieke mit dem Betrachten der königlichen Einkäufe.

Seit sie sich in diesem Teil des ersten Stockwerks des KaDeWe aufhielt, der weder der Öffentlichkeit noch dem Großteil des Personals zugänglich war, schoben grimmig dreinblickende Männer in steifen schwarzen Anzügen ungefähr alle zwanzig Minuten einen Rollwagen mit weiteren Waren herein. Mittlerweile war nur noch ein schmaler Pfad zwischen den Bergen der Einkäufe des Königs frei geblieben.

Die beiden Reinemachefrauen, die unter Käthes Aufsicht die Fenster des Fürstenzimmers noch einmal geputzt und den Parkettboden gebohnert hatten, waren schon seit einer halben Stunde mit ihrer Arbeit fertig und hatten den Raum mittlerweile verlassen. Die Möbel im Speisesaal hatte Käthe selbst abgestaubt, nachdem sie sich eine weiße, mit Spitzen besetzte Halbschürze über ihr schwarzes Kleid gezogen hatte. Zur Einrichtung gehörte der große rechteckige Tisch aus glänzendem Mahagoniholz, um den mit Brokat bezogene Stühle für vierundzwanzig Personen gruppiert waren. Außerdem zwei geschnitzte Anrichten und mehrere Vitrinen mit wunderschönem Geschirr, die an den mit grünem Seidenstoff bespannten Wänden standen.

Nach Riekes Ansicht waren all diese Putzarbeiten völlig überflüssig gewesen. Weder die Fenster noch der Parkettboden wiesen auch nur den geringsten Schmutzfleck auf, bevor sie erneut gereinigt wurden. Denn schon nach dem Ende des gestrigen Festessens hatte man den Raum unter Käthes Aufsicht von oben bis unten geputzt. Doch das schien keine Rolle zu spielen, wenn ein leibhaftiger König erwartet wurde. Alles musste perfekt sein.

Dies galt natürlich auch für die Waren, die aus den verschiedenen Abteilungen des Kaufhauses hereingebracht wurden. Auch sie wiesen kein Stäubchen auf, bevor Käthe trotzdem mit dem Schwanenfederwedel darüberfuhr.

Schon als Rieke den Raum kurz nach zehn Uhr betreten hatte, stapelten sich Hutschachteln und Schuhkartons in mehreren Reihen hintereinander fast bis zur Decke. Auf einem Kleiderständer, der sich über eine ganze Längswand hinzog, hing Damen- und Herrengarderobe aller Art. Rieke, der ihre Mutter streng verboten hatte, irgendetwas anzufassen, vertrieb sich die Zeit mit dem Zählen der Kleider. Sie kam allein auf fünfundsiebzig Damenroben in allen Farben des Regenbogens.

»Das sind Ballkleider«, erklärte Käthe kurz angebunden, als Rieke sie nach dem Zweck einiger besonders aufwendiger Gewänder fragte, deren Stoffe im Sonnenlicht glänzten, das durch das kleine Fenster hereinfiel. Die Roben waren mit allerlei Zierrat geschmückt, den Rieke nur vom Hörensagen kannte. Denn die Bewohnerinnen im ärmlichen Meyers Hof trugen weder kostbare Stickereien noch Fransen oder Volants an ihren einfachen Waschkleidern.

»Dit Kleid dort jefällt mir besonders jut.« Rieke zeigte auf ein goldfarbenes Gewand mit Schleppe, das über und über mit schwarzen Ranken und Blumenmotiven bestickt war. Im Vorbeihasten warf Käthe einen flüchtigen Blick auf das Preisschild, das an dem Kleid befestigt war.

Dann schürzte sie verächtlich die Lippen. »Dit is ooch keen Wunder. Dit Kleid kostet zweitausend Mark.«

Rieke schnappte nach Luft. Zweitausend Mark? So ein König musste wirklich unendlich reich sein, dachte sie bei sich. Denn das Kleid war ja nur eines von den zahlreichen, die dort auf dem Ständer hingen.

Was tun die mit so viel Anziehsachen?, lag es ihr schon auf der Zunge. Sie selbst besaß außer ihrem Sonntagskleid nur noch zwei andere, je eines für Sommer und Winter. Dazu ein paar verschlissene Röcke und Blusen. Doch gerade wurde ein neuer Rollwagen hereingeschoben, sodass Rieke ihre Frage vergaß.

Diesmal schloss der Herr, der ihn gebracht hatte, einen Schrank auf und verstaute eine Reihe von Schachteln darin. Fotoapparat von Kodak, las Rieke aus der Ecke, in die sie sich zurückzog, wenn ein neuer Rollwagen kam, die Aufschrift auf einem der Kartons. Opernglas, las sie auf einer anderen Schachtel, konnte mit dem Begriff jedoch nichts anfangen. Auf jeden Fall musste alles, was in diesem Schrank aufbewahrt wurde, besonders wertvoll sein, vermutete sie. Denn schon vorher hatte man kleine, mit rotem oder blauem Samt bezogene Behälter darin verstaut, die wahrscheinlich Schmuck enthielten, wie Käthe Rieke erklärte.

Einige Zeit nachdem der Mann den Raum verlassen hatte, öffnete sich die Tür erneut. Die Gegenstände, die diesmal hereingebracht wurden, ließen Riekes Herz noch höherschlagen als die kostbaren Gewänder. Es waren Puppen dabei, so schön, wie sie noch keine gesehen hatte. Sie selbst besaß nur eine einzige, mittlerweile arg zerfledderte Puppe, deren Stoffkörper mit Stroh gefüllt war und deren Schürzenkleid mehrere Risse aufwies, die Rieke notdürftig geflickt hatte.

»Dass du mir ja nichts anrührst«, schnauzte der Herr, der den Rollwagen gebracht hatte, Rieke an, als die unwillkürlich einen Schritt näher trat.

Sie knickste erschrocken. »Nein, mein Herr, ick fass schon nüscht an«, versprach sie.

Draußen schlug eine Uhr gerade die Mittagsstunde. »Was hast du überhaupt hier zu suchen, du Gör?« Offensichtlich misstraute der Mann Rieke trotz ihrer Zusicherung.

Glücklicherweise kam ihre Mutter gerade aus dem Speisesaal herein. »Das ist meine Tochter«, erklärte sie. »Ich pass schon auf sie auf.« Käthe bemühte sich nun, alles Berlinerische aus ihrer Aussprache zu verbannen, wie immer, wenn sie mit höhergestellten Personen aus dem KaDeWe sprach.

»Das will ich Ihnen auch geraten haben«, knurrte der Mann, bevor er den Raum verließ.

»Jetz kommste besser mit mir, Rieke!«, befahl ihr die Mutter. »Gleich sind ooch die Lakaien wieder da, die beim Essen bedienen.«

Tatsächlich ertönten genau in diesem Moment Stimmen aus dem Fürstenzimmer. Als Rieke ihrer Mutter hineinfolgte, erblickte sie vier Männer im Raum. Sie trugen glänzende rote Anzüge, die Rieke an Uniformen erinnerten. Allerdings reichten die Hosen den Herren nur bis zu den Knien, darunter trugen sie weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe. Ihre Jacken waren mit goldenen Knöpfen und Schnüren besetzt. Die Haare hatten die vier mit seltsamen gepuderten Perücken bedeckt.

Das mussten die kaiserlichen Diener sein, von denen ihre Mutter Rieke erzählt hatte. Zwar lieferte die Küche des KaDeWe das Festessen. Kaiser Wilhelm hatte jedoch angeordnet, dass Bedienstete aus seinem Hof dem königlichen Gast aufwarten sollten.

»Sie können jetzt gehen«, beschied einer der Lakaien, offensichtlich der Anführer, Käthe zu Riekes Entsetzen. »Zum Tischeindecken werden Sie nicht mehr gebraucht.«

In diesem Augenblick ertönte aus einem Nebenraum am Kopfende des Fürstenzimmers ein Klirren, gefolgt von einem heftigen Fluch. Alarmiert stürzte der oberste Lakai hinein, nur um im nächsten Augenblick Käthe herbeizuwinken. »Da ist gerade ein Malheur passiert. Dieser Idiot hat eine Flasche Spätburgunder fallen lassen. Sputen Sie sich, damit alles tadellos aufgewischt ist, wenn das Festessen beginnt!«

»Dazu muss ich mir erst mal Eimer und Lappen besorgen«, hörte Rieke ihre Mutter sagen. »Denn eigentlich waren wir mit dem Reinemachen schon fertig.«

»Dann machen Sie hin!«, befahl ihr der oberste Lakai in barschem Ton. »Und rasch, damit Sie hier raus sind, bevor die Herrschaften eintreffen!«

In ihrer Ecke hörte Rieke die Ankündigung des kaiserlichen Dieners. Würde sie den siamesischen König etwa gar nicht zu Gesicht bekommen?, dachte sie mit einem Anflug von Verzweiflung.

Anfangs fühlte sie sich wie gelähmt vor Enttäuschung. Doch dann fasste sie einen kühnen Entschluss. Sie wollte den König sehen, koste es, was es wolle. Und gerade war die Gelegenheit günstig. Niemand außer ihr war im Speisesaal.

Die hohen Fenster des Fürstenzimmers wurden von schweren dunkelgrünen Samtportieren umrahmt. Geschwind schlüpfte Rieke hinter zwei davon, die genau nebeneinanderhingen.

»Rieke! Rieke, wo bist du denn nur?«

Mit schlechtem Gewissen, aber mehr denn je entschlossen, ihr Versteck nicht zu verlassen, hörte Rieke ihre Mutter ungefähr zwanzig Minuten später nach ihr rufen. Vorsichtig lugte sie durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Käthes Tracht hatte die Beseitigung des Rotweins nicht unbeschadet überstanden. Ihre weiße Spitzenschürze war mittlerweile mit roten Flecken gesprenkelt.

»Rasch, machen Sie sich von hinnen, gute Frau!«, drängte sie der oberste Diener. »Die Herrschaften kommen schon bald. Denen dürfen Sie nicht unter die Augen kommen, zumal mit dieser schmutzigen Schürze! Außerdem stehen Sie uns hier nur im Weg herum.«

Rieke rührte sich nicht in ihrem Versteck. »Na warte, die Jöre kann wat erleben!«, hörte sie ihre Mutter noch murmeln, bevor der Lakai Käthe am Arm packte und unsanft aus dem Fürstenzimmer schubste.

Erst nach längerer Zeit, während der die Diener, dem Geklapper und Geklirr nach zu urteilen, den Tisch deckten, wagte Rieke es ein weiteres Mal, vorsichtig durch den Spalt zwischen den beiden Portieren zu spähen. Tatsächlich war das glänzende Holz des Tischs mittlerweile unter einem weißen Tafeltuch verschwunden. Vor jedem Platz stand ein Gedeck des mit bunten Vögeln und Blumen bemalten Geschirrs mit Goldrand, das Rieke bereits in den Vitrinen des Fürstenzimmers bewundert hatte. Dazu viele funkelnde Gläser in verschiedenen Größen und zu beiden Seiten der Teller eine ganze Reihe silberglänzendes Besteck.

Rieke wunderte sich, wozu dies wohl alles gebraucht würde. Bei ihr zu Hause aß man die einfachen Mahlzeiten von oft angeschlagenen irdenen Tellern oder ausgebleichten Holzbrettchen und benutzte dazu Löffel, Gabeln und Messer aus einfachem Blech. Wobei das Besteck nicht einmal für alle reichte, wenn die ganze Familie rund um den weiß gescheuerten Küchentisch aus grobem Fichtenholz saß. Gläser gab es im ganzen Haushalt nur zwei, die Käthe wie ihren Augapfel hütete. Man trank aus Ton- oder Holzbechern, der Vater das Bier meistens gleich aus der Flasche.

Und mit diesen merkwürdig gefalteten weißen Tüchern, die auf den Tellern drapiert waren, konnte Rieke schon gar nichts anfangen.

Plötzlich hörte sie Stimmen aus dem Flur, der zum Fürstenzimmer führte. Mehrere Männer betraten den Raum, einige mit elegant gekleideten Frauen am Arm. Vornweg schritt ein kleiner, etwas dicklicher Mann mit einer fliehenden Stirn und einem schlichten Schnauzbart, der ihm zu beiden Seiten des Munds bis zum halben Kinn reichte. Ihm folgte der Eigner des Kaufhauses, den Rieke nach einer Fotografie erkannte, die ihre Mutter ihr einmal gezeigt hatte. Die Frau an seinem Arm war wahrscheinlich seine Gattin.

Ganz zuletzt kamen drei Personen herein, ein schlanker Herr, umrahmt von einer Dame in einem wunderschönen roten Kleid und zu Riekes Erstaunen von einem Mädchen, das er an der rechten Hand führte und das Rieke nicht älter schätzte als sich selbst. Alle drei nahmen am unteren Ende der Tafel Platz, das Mädchen unmittelbar vor Riekes Versteck.

Unwillkürlich senkte Rieke den Kopf, was eine Bewegung hinter den Vorhängen erzeugte, die zum Glück offenbar niemand bemerkte. Sie verglich ihr eigenes Sonntagskleid mit dem prächtigen Kleid ihrer Altersgenossin. Bislang war sie überaus stolz auf das dunkelblaue Matrosenkleid mit dem weißen Kragen und den gleichfarbigen Manschetten gewesen, das sie erst kürzlich zum zehnten Geburtstag erhalten hatte. Im Vergleich zum hellblauen schimmernden Kleid des Mädchens kam es ihr jetzt billig und gewöhnlich vor.

Wo bleibt denn der König nur?, dachte sie immer wieder bei sich, als alle Herrschaften rund um den Tisch Platz genommen hatten. Jetzt wurde der erste Gang serviert, flache graue Muscheln mit einer Scheibe Zitrone. Der kleine Herr im schwarzen Anzug, der am Kopfende der Tafel Platz genommen hatte, wurde vom obersten Lakaien zuerst bedient, verbunden mit einer tiefen Verbeugung. Erst jetzt begann es Rieke zu dämmern, dass dies der siamesische König sein musste. Zumal der Herr tatsächlich fremdländisch aussah.

Natürlich hatte sie einen Herrscher in einem prächtigen goldenen Gewand erwartet, der einen mit weißem Pelz besetzten dunkelroten Samtmantel und eine Krone auf dem Kopf trug. So sahen jedenfalls die Könige in ihrem Schulbuch aus.

Ihr Verdacht verdichtete sich zur Gewissheit, als die gesamte Tafelgesellschaft wartete, bis der Mann am Kopfende zu essen begann. Er träufelte ein wenig Zitronensaft über die graue Muschel und schlürfte den Inhalt deutlich hörbar aus der Schale. Wenn sich Rieke beim Essen in der elterlichen Wohnküche ähnlich benommen hätte, hätte es ihr eine Kopfnuss eingetragen.

Zunehmend fühlte sie sich um die Sensationen betrogen, die sie anlässlich des Besuchs des siamesischen Königs erwartet hatte. Erschwerend kam hinzu, dass sie kaum etwas von der Unterhaltung verstand, die überwiegend in einer fremden Sprache geführt wurde.

Außerdem begann ihr der Magen bei jedem weiteren Gericht, das nach den Muscheln aufgetragen wurde, stärker zu knurren. Die nächsten Speisen rochen recht köstlich. Doch das meiste davon konnte Rieke gar nicht benennen. Bei ihnen daheim gab es hauptsächlich grobes Roggenbrot, bestrichen mit Margarine und Marmelade oder mit billigem Käse belegt. Als warmes Essen kochte Käthe meistens Eintöpfe mit Graupen und getrockneten Erbsen oder Bohnen. War genug Geld da, auch einmal mit etwas Speck oder Räucherwurst. Diese Leute hier verschlangen bei einer einzigen Mahlzeit mehr Essen, als es bei den Krauses in drei Tagen gab.

Während des schier endlosen Festmahls wurde Rieke die Zeit immer länger. Schließlich fragte sie sich, ob dieses Erlebnis das Donnerwetter, das sie zweifellos später von ihrer Mutter zu erwarten hätte, überhaupt wert gewesen war.

Auch Judith begann, sich im Lauf des Festessens immer stärker zu langweilen. Dies hatte zwei Gründe:

Zum einen waren ihr die zwölf Gänge, die zum heutigen Menü gehörten, viel zu viel. Vor den Austern, die als erste Vorspeise gereicht wurden, ekelte sie sich sogar und überließ sie nur zu gern ihrem Vater. Die nachfolgende Rindfleischsuppe mochte sie, ebenso wie die geräucherten Forellenfilets, wobei sie die dazugehörige Meerrettichsahne wegließ. Am besten mundete ihr das Erdbeersorbet, das man als Zwischengang reichte. Schon nach dem ersten Hauptgang, einem Kalbsfrikassee mit Reis, war sie völlig gesättigt. Von den restlichen Gängen, darunter ein Hühnersalat, ein Wildgericht und ein Lammbraten, ließ sie sich erst gar nichts mehr vorlegen.

Selbst die Bayerische Creme, eines ihrer Lieblingsdesserts, musste sie nach nur einem Löffel fast unberührt abräumen lassen. Deshalb war sie von Herzen froh, als endlich der Kaffee serviert wurde. Auch von dem in buntes Glanzpapier eingepackten Konfekt, das dazu aufgetragen wurde, nahm sie kein einziges Stück.

Schwerer im Magen als das Essen lagen Judith jedoch die vorwurfsvollen Blicke ihrer Mutter Rebekka, die diese ihr über den Tisch hinweg immer wieder zuwarf. Für Judith lag es auf der Hand, dass man ihre Eltern nur ihretwegen ganz ans Ende der Tafel platziert hatte. Wie alle Paare saßen sie einander gegenüber.

Wahrscheinlich war auch Adolf Jandorf nicht sehr begeistert darüber gewesen, dass Judith am heutigen Bankett für den König teilnehmen sollte, hatte seinem Freund Paul dessen Bitte aber nicht abschlagen wollen. Rebekka schien die Situation ebenfalls auf den Magen zu schlagen. Wie Judith nahm auch sie gegen Ende des Festmahls kaum noch etwas zu sich.

Plötzlich ertönte ein leises Klingeln. Als Judith aufsah, war König Rama bereits aufgestanden und schlug mit seinem silbernen Mokkalöffelchen gegen eines der Kristallgläser. Zu ihrem Erstaunen sprach der König im Anschluss einige Sätze in gebrochenem Deutsch.

»Ich mich bedanken sehr für Gastfreundschaft, verehrter Herr Jandorf.« Er wandte sich dem Besitzer des KaDeWe zu und bedeutete ihm mit einer Geste, sich ebenfalls zu erheben. »Deshalb ich dem ehrenwerten Herrn Jandorf verleihe Orden vom Weißen Elefanten, 5. Klasse.«

Ein Raunen lief durch den Saal, während Chulalongkorn einem der Diplomaten, die ebenfalls am Festessen teilgenommen hatten, einen Wink gab. Auch der stand nun auf, zog eine kleine rote Schachtel aus der Innentasche seines Jacketts und öffnete sie. Dann zeigte er deren Inhalt mit erhobener Hand herum.

Von ihrem Platz am Ende der Tafel konnte Judith nur die silberne Form des Ordens in Gestalt eines vielzackigen Sterns erkennen sowie einen Teil des roten Bandes, an dem er befestigt war. »Das ist die höchste Auszeichnung des siamesischen Königreichs«, flüsterte ihr der Vater ins Ohr.

»Warum heißt der Orden so merkwürdig?«, wisperte sie zurück.

»In der Mitte des Sterns befindet sich ein weißer Elefant aus Emaille. Weiße Elefanten sind überaus selten. Auch in Siam, wo diese Tiere ja heimisch sind. Für Adolf Jandorf ist diese Auszeichnung eine überaus große Ehre.«

In der Tat war Jandorf mittlerweile vor Freude errötet. Nun streckte Chulalongkorn die Hand aus und ließ sich den Orden an seinem roten Band reichen. Dann trat er vor Adolf Jandorf, der rechts neben ihm am Tisch gesessen hatte, und befestigte die Auszeichnung an der linken Brustseite seines Jacketts.

Spontan sprang Paul Bergmann auf und klatschte laut in die Hände. Sofort tat es ihm der Rest der Tischgesellschaft nach. Unter den lauten Hochrufen seiner Gäste verneigte sich Jandorf nach allen Seiten.

Dann hob er die Hand. Erst als wieder Schweigen rund um die Tafel eingekehrt war, begann er mit zitternder Stimme zu sprechen. Er brauchte drei Anläufe, bis er sich klar artikulieren konnte. Jedes Mal verbeugte er sich zuvor tief vor dem König.

»Es ist eine außerordentlich hohe Gnade, die Sie mir zuteilwerden lassen, Eure Majestät. Mein ewiger Dank ist Ihnen gewiss. Ich hoffe, Eure königliche Hoheit bald wieder in Berlin und in meinem Haus begrüßen zu dürfen.«

In seiner Aufregung sprach Adolf Jandorf Deutsch, sodass auch Judith die Worte diesmal verstand. Als er seinen Irrtum bemerkte, setzte Jandorf noch einmal in Englisch zum Sprechen an, wurde jedoch durch eine Geste Ramas daran gehindert. Offensichtlich hatte der König auch so begriffen, dass Adolf Jandorf seinen Dank zum Ausdruck gebracht hatte.

Sofort nach der Zeremonie brach Chulalongkorn überhastet auf. Er verabschiedete sich nicht einmal von allen Teilnehmern des Festmahls, sondern hauchte nur einen angedeuteten Kuss auf die Hand von Jandorfs Gattin und schüttelte ihm zum Abschied kräftig die Rechte. Dann winkte er in die Runde und eilte hinaus.

»Es ist schon beinahe vier Uhr«, erklärte Paul seiner erneut enttäuscht wirkenden Gattin Rebekka. »Wahrscheinlich kommt Rama viel zu spät zu seinem Termin in der Charité.«

»Ist der König denn krank?«, fragte Judith erschrocken.

Paul Bergmann zuckte mit den Schultern. »Angeblich hat er ein Augen- und ein Nierenleiden. Genaueres weiß ich darüber nicht. Aber nun wird es Zeit für dich, nach Hause zu gehen, Judith. Sicherlich bist du mittlerweile recht müde.«

Sobald der letzte Gast den Raum verlassen hatte, wartete Rieke auf eine günstige Gelegenheit, um aus ihrem Versteck hinter den Vorhängen zu kommen und sich unbemerkt aus dem Fürstenzimmer zu stehlen. Zum Glück begaben sich die vier Lakaien, beladen mit einem Teil des zuletzt gebrauchten Geschirrs, schon nach wenigen Minuten ins Nebenzimmer. Rieke hörte sie dort herumhantieren und ergriff die Chance beim Schopf.

Rasch schlüpfte sie hinter den Samtportieren hervor und schlich auf Zehenspitzen zur Tür, die in den Flur führte. Als sie gerade nach dem Knauf griff, öffnete sich die Tür von der anderen Seite.

Zu Riekes Entsetzen stand das andere Mädchen davor. Auch es erstarrte einen Moment lang vor Schreck. Dann begann sie zu Riekes Verwunderung plötzlich zu lächeln.

»Dann hatte ich also doch recht«, sagte sie. Als Judith Riekes verständnislosen Blick sah, fügte sie hinzu: »Ich hatte die ganze Zeit den Eindruck, dass mich irgendjemand in meinem Rücken beobachtet.«

In der Tat hatte Rieke ja genau hinter Judiths Stuhl gestanden, nur ungefähr einen Meter von ihr entfernt.

»Hast du dich hinter dem Vorhang versteckt?«, traf Judith ins Schwarze.

Rieke nickte verlegen und senkte den Blick. »Ja«, gab sie zu, was ohnehin auf der Hand lag. »Ich wollte so gerne einmal einen richtigen König sehen.« Unbewusst ahmte sie ihre Mutter nach und sprach Hochdeutsch mit Judith.

Jetzt wurde deren Lächeln herzlich. »Und? Hat er dir denn gefallen?«

Angesichts Riekes verlegener Miene begann Judith jetzt sogar zu lachen. »Er ist sehr nett und freundlich«, sagte sie. »Aber einen richtigen König, zumal einen derart sagenhaft reichen, hätte ich mir auch imposanter vorgestellt.«

Genau in diesem Moment kam der oberste Lakai aus dem Nebenraum, um weiteres Geschirr zu holen. Sobald er Riekes ansichtig wurde, verzog sich seine Miene vor Zorn. »Was hast du denn hier zu suchen?«, schnauzte er sie an. »Deine Mutter hat dich schon vor Stunden vermisst. Warst du etwa die ganze Zeit hier drin?« Drohend machte er zwei Schritte auf Rieke zu, die unwillkürlich zurückstolperte.

Da trat Judith vor, hob den Kopf und schaute dem Lakaien trotzig in die Augen. »Dieses Mädchen ist meine Freundin«, sagte sie so bestimmt, dass der Diener keine Widerrede wagte. »Ich wollte ihr einmal das Fürstenzimmer zeigen. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

Der Lakai zögerte einen Moment lang, entschied sich dann aber für die pragmatische Lösung, mit der er im Umgang mit hochgestellten Persönlichkeiten noch immer die besten Erfahrungen gemacht hatte.

Er verbeugte sich knapp. »Wenn das gnädige Fräulein dies so sagt, wird es schon seine Richtigkeit haben.«

Er verneigte sich noch einmal und deutete dann zur Tür. »Doch jetzt möchte ich die jungen Damen bitten, den Raum zu verlassen. Er muss noch aufgeräumt und gereinigt werden.«

Judith neigte huldvoll den Kopf. Sie schickte sich schon an, der Aufforderung des Lakaien Folge zu leisten, als sie sich plötzlich noch einmal umdrehte und mit beiden Händen in die Konfektschale griff, die noch nahezu unberührt auf dem Tisch stand. Kaum waren sie in den Vorraum getreten, steckte sie Rieke die Süßigkeiten in die Taschen ihres Matrosenkleids. »Als kleine Erinnerung an den König«, raunte sie ihr zu. Dann stutzte sie. »Wie heißt du eigentlich? Ich bin Judith.«

»Ich heiße Rieke.« Fassungslos zog sie ein Stück des in rotes Papier gewickelten Konfekts aus der Tasche und starrte darauf. »So etwas habe ich noch nie gegessen.«

»Dann lass es dir schmecken, Rieke!« In Unkenntnis dessen, dass Rieke solche Süßigkeiten kaum kannte, fügte Judith hinzu: »Wahrscheinlich ist es sowieso nur Schokolade.« Bevor Rieke ihr danken konnte, schlug sie sich an die Stirn.

»Ach herrje!«, rief sie. »Jetzt hätte ich meine Handtasche ja fast zum zweiten Mal vergessen.«

Während Judith zurück ins Fürstenzimmer eilte, beschloss Rieke, sich rasch aus dem Staub zu machen. Vor dem Trakt des KaDeWe, zu dem das Fürstenzimmer gehörte, lief sie allerdings geradewegs ihrer Mutter in die Arme. Käthe hatte ihr schwarzes Leinenkleid mittlerweile wieder mit einer Kittelschürze vertauscht und wartete mit zwei ihrer Untergebenen auf den Abzug der Lakaien, um drinnen zu spülen und sauber zu machen.

Die Ohrfeige, die sie Rieke verpasste, als sie sie erblickte, war die heftigste, die Rieke jemals von ihrer Mutter bekommen hatte.

Kapitel 1

Wohnung der Familie Krause in Meyers Hof

Mai 1914

Als Rieke aufwachte, dachte sie anfangs, das leise Schnarchen ihres Bruders Robert oder der Druck auf ihre Blase habe sie geweckt. Noch schlaftrunken warf sie einen Blick auf den kleinen Wecker neben dem Bett. Erst viertel nach fünf. Eine ganze Stunde zu früh zum Aufstehen.

Dann hörte sie wieder das Poltern, begleitet vom wütenden Knurren ihres Vaters und gefolgt von einem gedämpften Aufschrei ihrer Mutter. Die Geräusche mussten aus der Wohnküche kommen, die ihrer Schlafstube gegenüberlag, und waren wahrscheinlich der eigentliche Grund, dass sie vorzeitig aufgewacht war.

Vorsichtig, um ihre vier Jahre jüngere Schwester Sanni, mit der sie sich das Bett teilte, nicht zu wecken, schälte sich Rieke aus den Laken. Dann öffnete sie die Kammertür und lugte hinaus. Zu dieser frühen Tageszeit war noch kein anderer Bewohner ihrer Etage im dritten Stock des vierten Hinterhauses von Meyers Hof unterwegs. Denn der fensterlose Gang, der die Zweizimmerwohnung der Familie Krause wie alle anderen gleichartigen Wohnungen dieser Mietskaserne durchschnitt, war ein Gemeinschaftsflur.

Die Hand schon auf dem Knauf, verharrte Rieke einen Augenblick lang unschlüssig vor der Küchentür. Dann beschloss sie widerstrebend, zunächst den Gemeinschaftsabort aufzusuchen, der auf dem Treppenabsatz zwischen der dritten und vierten Etage lag. Er wurde von allen Bewohnern des dritten Stockwerks benutzt und war daher häufig ekelerregend schmutzig.

Auch jetzt erkannte Rieke im fahlen Morgenlicht, das durch das Fensterchen fiel, dass sich die letzten Benutzer nach ihrem Toilettengang nicht die Mühe gemacht hatten, das Klosett zu reinigen. Nicht einmal den Holzdeckel hatten sie geschlossen. Es stank zum Gotterbarmen in dem winzigen Kabuff.

Wenigstens war ausreichend Zeitungspapier vorhanden. Mit spitzen Fingern ergriff Rieke eines der Blätter und wischte damit über die Brille. Dann hockte sie sich darüber, ohne die Brille zu berühren, und erleichterte sich.

»Nu stell dir nich so an, Rieke«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. »Früher war’n die Klos im Hof. Sie wurden nur zweemal am Tag jespült, mit Wasser aus ’ner Dachzisterne. Wat meinste wohl, wie’s da erst ausjeseh’n und jerochen hat?«

Rieke, die die früheren Klosetts nicht kannte, weil deren Nachfolgemodelle 1897, im Jahr ihrer Geburt, in Meyers Hof installiert worden waren, war das herzlich egal. Sie verglich die Klos in der Mietskaserne mit den Personaltoiletten im KaDeWe, wo sie seit fast zwei Jahren als Kassenmädchen beschäftigt war. Schon zwischen den reinlichen weiß gekachelten Kabinen für die Angestellten und den stinkenden Löchern in Meyers Hof gab es einen himmelweiten Unterschied. Gar nicht zu reden von den mit Marmor verkleideten Kundentoiletten, die Rieke zwar nicht benutzen durfte, aber in die sie ab und zu einen Blick werfen konnte, wenn sie ihre Mutter nach Dienstschluss noch auf deren abendlichem Inspektionsgang begleitete.

Erst als jemand hart an die Holztür hämmerte, wurde Rieke bewusst, dass sie sich trotz des Gestanks schon länger auf dem Abtritt aufhielt, als es nötig gewesen wäre. Sie huschte in ihrem weißen Nachthemd an dem grobschlächtigen Nachbarn, der Einlass begehrt hatte, vorbei und spürte ihr Herz vor Angst heftig pochen. Was mochte sie wohl in der Küche erwarten?

Die Wohnküchen der Zweizimmerwohnungen in Meyers Hof waren die größeren der beiden Räume. Dort spielte sich das gesamte Familienleben ab. Es wurde gekocht, gewaschen und Heimarbeit verrichtet, wenn es denn welche gab. Wie Riekes Eltern, die sich ein ausziehbares Sofa als Bett teilten, schlief ein Teil der Familie auch darin.

Rieke pochte zaghaft an die Tür. Zu ihrer Erleichterung waren die auf einen Streit hindeutenden Geräusche mittlerweile verstummt. Da sie von drinnen kein Zeichen erhielt, einzutreten, öffnete sie schließlich vorsichtig die Tür.

Ihre Mutter Käthe stand am Ausguss und kühlte mit Wasser ihre nackten Arme, auf denen sich blaue Flecken abzuzeichnen begannen. Riekes Vater Otto lag dagegen bäuchlings auf der Liege, die ihren Eltern als Bett diente, und schnarchte mit offenem Mund. Offensichtlich hatte er ihre Mutter wieder geschlagen. Und ebenfalls offensichtlich war dies wieder im Suff geschehen, dem sich ihr Vater zunehmend ergab. Eine halb volle Schnapsflasche stand auf dem Küchentisch.

»Wat willste denn schon hier, Rieke?« Ihre Mutter drehte sich zu ihr um. Erleichtert konstatierte Rieke, dass Käthes Gesicht unversehrt war. Zumindest hielt sich ihr Vater an das Versprechen, seine Frau nicht mehr ins Gesicht zu schlagen, seit ihm Käthe damit gedroht hatte, sie würde sonst ihre Stellung im KaDeWe verlieren. Denn ihr Chef Adolf Jandorf würde keine Angestellte in der Öffentlichkeit seines Warenhauses dulden, die regelmäßig Spuren von Misshandlungen durch ihren Ehemann aufwies.

»Dit is der Kundschaft nich zuzumuten, würd er sagen«, erklärte Käthe. »Ick muss tagsüber präsentabel ausseh’n, wenn’s was zu putzen jibt.«

Rieke wusste bis heute nicht, ob dies eine Finte ihrer Mutter gewesen war oder der Wahrheit entsprach. Aber selbst ihr verkommener Vater wusste, dass die ganze Familie endgültig im Elend versinken würde, falls Käthe ihre gut bezahlte Stellung im KaDeWe verlor. Dabei war genau diese gut bezahlte Stelle immer öfter der Auslöser für die heftigen Streitigkeiten ihrer Eltern. Denn Otto war neidisch auf seine Frau, erst recht, seitdem er seinen eigenen Arbeitsplatz verloren hatte.

Dass Otto für ihre Mutter einst der Mann ihrer Träume gewesen war, wie Käthe ihr einmal in einer schwachen Stunde verraten hatte, konnte Rieke heute kaum glauben. Doch der zehn Jahre ältere Otto war einst der schniekste Frauenheld im ganzen Viertel gewesen. Und die damals nicht einmal zwanzigjährige Käthe nur zu stolz darauf, dass er ausgerechnet sie zu seinem Liebchen erwählt hatte.

Als sie schließlich merkte, dass sie mit Otto doch nicht das große Los gezogen hatte, war es zu spät. Käthe war bereits mit Riekes älterem Bruder Robert schwanger. Also hatten ihre Eltern geheiratet, und damit schien die ganze Misere begonnen zu haben.

Lange hatte Otto in der nahe der Ackerstraße gelegenen Apparatefabrik der AEG eine gute Stelle als Lagerarbeiter innegehabt. Doch immer häufiger kam es vor, dass er seinen gesamten Wochenlohn vertrank und Käthe nicht wusste, wovon sie die größer werdende Familie ernähren, geschweige denn die Miete bezahlen sollte.

Eine Weile half ihr Ottos Vorarbeiter Fritz, der sich ehemals selbst um Käthe bemüht, damals aber den Kürzeren gezogen hatte. Er traf die Übereinkunft mit ihr, dafür zu sorgen, dass Otto nur die Hälfte seines Lohns ausbezahlt wurde. Die andere Hälfte händigte er Käthe aus. Da Fritz Otto immer wieder deckte, wenn er angetrunken am Arbeitsplatz erschien, ließ der sich das nach anfänglichem Protest schließlich mürrisch gefallen.

Trotzdem reichte das Geld hinten und vorn nicht. Als Riekes kleine Schwester Sanni aus dem Gröbsten heraus war, nahm Käthe daher die Stellung als Putzfrau in Adolf Jandorfs Warenhaus am Weinberg an, der sie danach ihren raschen Aufstieg verdankte. Da Käthe durch ihren Wechsel ins KaDeWe sogar die beträchtliche Summe von siebzig Mark Lohn pro Monat erhielt, ging es der Familie eine kurze Zeit lang sogar verhältnismäßig gut. Wenn man einmal davon absah, dass Otto, der ehemals selbst nur fünfzehn Mark mehr verdient hatte, Käthe ihren Aufstieg nicht gönnte und dies immer häufiger zu Streitigkeiten und schließlich zu Gewalttätigkeiten führte.

Dann brach vor drei Jahren im Frühjahr 1911 das Unglück über die Familie herein. Otto war wieder einmal betrunken zu seiner Schicht im Lager der Fabrik erschienen. Deshalb vergaß er, Bremsklötze unter die Räder eines mit schwerem Gerät beladenen Rollwagens zu legen. Der Wagen setzte sich in Bewegung und gewann auf der leicht abschüssigen Bahn der Lagerhalle immer rascher an Fahrt. Zuerst brach sich Otto beim vergeblichen Versuch, den Wagen zu stoppen, den linken Arm. Dann traf das Gefährt mit voller Wucht einen seiner Arbeitskollegen in den Rücken. Der Mann brach sich dabei die Wirbelsäule und war seither von der Hüfte an abwärts gelähmt.

»Nu kann ooch ick nüscht mehr für dein Otto tun«, bedauerte der Vorarbeiter Fritz gegenüber Käthe dessen unmittelbar darauffolgende fristlose Entlassung. Dabei konnte Otto noch von Glück sagen, dass die Fabrik ihn nicht auf Schadenersatz für die beschädigte Fracht des Rollwagens verklagte und dem verletzten Kollegen freiwillig eine Invalidenrente zahlte.

Doch Ottos Beitrag zum Familieneinkommen, der schon vorher aufgrund seiner Trunksucht überschaubar gewesen war, sank nun nahezu gegen null. Wenn überhaupt, nahm er ab und zu auf wenige Tage befristete Gelegenheitsarbeiten am Bau oder bei Umzügen an. Käthe musste das bisschen vorhandene Geld noch vor ihm verstecken, damit er es nicht in die verkommenen Kneipen trug, von denen es im Arbeiterviertel Wedding nur so wimmelte.

In ihrer Not blieb Käthe daher nichts anderes übrig, als die Stube, in der ihre drei Kinder schliefen und in die gerade einmal zwei schmale Betten passten, tagsüber an Schlafburschen zu vermieten. Das waren alleinstehende Arbeiter, die sich keine andere Bleibe leisten konnten und nach ihrer Nachtschicht dort Quartier bezogen. Es brachte immerhin fast die Hälfte der fünfundzwanzig Mark Miete im Monat ein, die die Wohnung kostete. Doch seither war die Stube tagsüber für die Familie nicht mehr zu gebrauchen. Auch die Kinder hatten keine Möglichkeit mehr, ihrem betrunkenen Vater aus dem Weg zu gehen.

»Also, wat willste schon?«, wiederholte Käthe jetzt ihre Frage.

»Jeht’s dir jut, Mutter?«, fragte Rieke schüchtern.

Käthe nickte unwillig. »Kümmer dir nich um mich!«, befahl sie barsch. Noch immer versuchte sie, ihre Eheprobleme so gut wie möglich vor ihren Kindern zu verbergen.

Dann wies sie auf eine verbeulte Blechkanne. »Willste ’ne Tasse Muckefuck?«, fragte sie etwas freundlicher.

Rieke nickte und kam erst jetzt ganz in die Küche hinein. Den Kaffeeersatz aus Zichorienwurzeln hatte Käthe gerade frisch aufgebrüht. Er war heiß und schmeckte Rieke gut, die bislang noch nie echten Bohnenkaffee getrunken hatte. Außerdem weckte er ihre Lebensgeister.

»Soll ick schon mal dit Frühstück für Sanni und Robert machen?«, bot sie an. Ihre kleine Schwester ging noch in die Volksschule. Robert dagegen stand kurz vor dem Abschluss seiner Lehre als Tischler, die ihm Käthe im KaDeWe besorgt hatte. Wie Rieke selbst würden Sanni und Robert erst eine Stunde nach ihrer Mutter die Wohnung verlassen müssen. Denn Käthes Dienst im KaDeWe begann morgens bereits um sieben Uhr, und damit eine Stunde früher als Roberts und Riekes Tätigkeit.

»Dit wär jut«, stimmte Käthe zu. »Denn ick muss jetz los.«

Unwillkürlich warf Rieke einen Blick auf die kleine Küchenuhr an der Wand. Es war erst zwanzig vor sechs, eigentlich noch viel zu früh für ihre Mutter, um aufzubrechen. Aber Rieke konnte sich denken, dass Käthe noch eine Weile für sich sein wollte, um sich nach dem morgendlichen Streit mit Otto für ihre Tätigkeit im KaDeWe zu sammeln. Denn dort sollte niemand etwas von ihrer elenden familiären Situation mitbekommen.

Während Rieke Stullen mit Marmelade und Rübenkraut schmierte, warf sie immer wieder ängstliche Blicke auf ihren Vater, der zum Glück jedoch nicht erwachte. Um sechs Uhr weckte sie Sanni und Robert, schickte sie zum Frühstück hinüber und wusch sich derweil flüchtig mit Wasser, das sie zuvor aus dem Hahn in der Küche in die Waschschüssel gezapft hatte. Auch fließendes Wasser in jeder Wohnung war ein noch gar nicht so alter Luxus, wie Käthe Rieke immer wieder erzählte. Zu der Zeit, als die Abtritte noch im Hof gewesen waren, gab es auf jedem Flur nur einen einzigen Wasserhahn für alle Familien, die dort wohnten.

Schließlich warf Rieke hastig ihre Kleider über. Zum Schluss wechselte sie noch den Kopfkissenbezug ihres Betts aus. Es gab weder genug Zeit noch genug Geld, um die Bettwäsche häufig zu waschen. Also benutzten die Schlafburschen wochenlang die gleichen Laken und Zudecken wie die Krause-Kinder. Doch wenigstens ihren Kopfkissenbezug wollte Rieke nicht mit dem unreinlichen Schlafburschen teilen, dessen schwere Schritte sie jetzt schon auf dem Flur hörte.

Auf dem Weg zum KaDeWe war Rieke schweigsam und sprach kaum ein Wort mit ihrem Bruder Robert. Erst gestern hatte sie Hermann lachend einen Korb gegeben, als er ihr sein Angebot machte. Sie war sogar davon ausgegangen, dass er es nicht einmal ernst damit meinte.