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Berlin Mitte der 20er Jahre: In der Stadt tobt das Leben, die Strenge des Kaiserreichs ist passé, und Frauen eröffnen sich nie dagewesene Chancen. Im KaDeWe hat sich die Verkäuferin Rieke Krause zur Abteilungsleiterin emporgearbeitet. Währenddessen macht Judith Bergmann Karriere an der Universität und ist mit einem der neuen Geschäftsführer liiert. Rieke und Judith haben noch viele Pläne. Doch dann ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Die neuen Machthaber versuchen, die jüdischen Eigentümer des KaDeWe aus dem Unternehmen zu drängen. Und auch auf Rieke und Judith kommen schwere Zeiten zu ...
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Seitenzahl: 920
Buch
Berlin, Mitte der 20er Jahre: In der Stadt tobt das Leben, die Strenge des Kaiserreichs ist passé, und Frauen eröffnen sich nie dagewesene Chancen. Im KaDeWe hat sich die Verkäuferin Rieke Krause zur Abteilungsleiterin emporgearbeitet. Währenddessen macht Judith Bergmann Karriere an der Universität und ist mit einem der neuen Geschäftsführer liiert. Rieke und Judith haben noch viele Pläne. Doch dann ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. Die neuen Machthaber versuchen, die jüdischen Eigentümer des KaDeWe aus dem Unternehmen zu drängen. Und auch auf Rieke und Judith kommen schwere Zeiten zu …
Autorin
Marie Lacrosse hat in Psychologie promoviert und arbeitete viele Jahre hauptberuflich als selbstständige Beraterin überwiegend in der freien Wirtschaft. Ihre Autorentätigkeit begann sie unter ihrem wahren Namen Marita Spang und schrieb erfolgreich historische Romane. Heute konzentriert sie sich fast ausschließlich aufs Schreiben. Ihre Trilogie »Das Weingut « wurde ebenso zu einem großen SPIEGEL-Bestseller wie die »Kaffeehaus«-Saga. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in einem beschaulichen Weinort. Weitere Romane der Autorin sind bei Goldmann in Vorbereitung.
Mehr Informationen unter www.marielacrosse.de
Marie Lacrosse
Roman
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Originalausgabe Juni 2023
Copyright © 2023 by Marie Lacrosse
Copyright der deutschsprachigen Erstausgabe © 2023 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Joanna Czogala/ Arcangel Images; The History Collection / Alamy Stock Photo; AKG-Images; FinePic®, München
Redaktion: Marion Voigt
BH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28915-7V001
www.goldmann-verlag.de
Meinem 86-jährigen Vater gewidmet, einem der ersten Leser von KaDeWe Band 1, Haus der Träume
Was in allen Stockwerken des Kaufhauses den imponierenden Eindruck hervorruft: die Überfülle der wie aus einem unerschöpflichen Zauberkasten hervorquellenden Waren ähnlicher Art und tausendfacher Nuancierung.
Max Osborn in seiner Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des KaDeWe im Jahr 1932
In Scharen strömen die Käufer […] hinein, lassen sich von all dem falschen Glanze blenden und vom Juden betrügen. Der deutsche Kaufmann aber, dessen langjährige Erfahrung für gute Ware bürgt, verhungert langsam, weil er niemand bemogeln will.
Völkischer Beobachter über Warenhäuser in jüdischem Besitz, am 13. Juli 1928
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Aus dem Theaterstück Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui von Bertolt Brecht, 1941
Es werden nur die für die Handlung bedeutsamen Figuren aufgeführt. Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.
Rieke Krause, älteste Tochter
Peter Hauser, ihr Verlobter
Käthe Krause, ihre Mutter
Otto Krause,ihr verstorbener Vater
Susanne, genannt Sanni,ihre jüngere Schwester
Fritz Zimmer, Lebensgefährte von Käthe Krause
Judith Bergmann,einzige Tochter
Paul Bergmann, ihr Vater, kaufmännischer Leiter des KaDeWe
Rebekka Bergmann, ihre Mutter
Johannes Bergmann, ihr verstorbener Bruder
Martha,Köchin
Lisa,Hausmädchen
Adolf Jandorf*,ehemaliger Besitzer des KaDeWe
Helene Lehmann*, seine Verlobte und spätere zweite Ehefrau
Harry Jandorf*, sein einziger Sohn
Oscar Tietz*,1923 verstorbener Gründer der Hermann Tietz OHG
Betty Tietz*, Ehefrau von Oscar Tietz und stille Teilhaberin der OHG
Hermann Tietz*,Onkel von Oscar Tietz; Mitbegründer und Namensgeber der Firma
Georg Tietz*,ältester Sohn undleitender Geschäftsführer der OHG
Martin Tietz*, jüngerer Bruder von Georg Tietz; Mitgeschäftsführer der OHG und Leiter des KaDeWe nach dem Verkauf durch Jandorf
Dr. Hugo Zwillenberg*,Mitgeschäftsführer der OHG; Schwager von Georg und Martin Tietz
Elise Zwillenberg*, geborene Tietz, Ehefrau von Hugo und stille Teilhaberin der OHG
Gunter Perl, leitender Textileinkäufer im KaDeWe, später für den ganzen Konzern
Esther Weinberg,Erste Verkäuferin in der Damenkonfektion
Eva Sperber,Verkäuferin in der Damenkonfektion
Else Lemke,Erste Verkäuferin in der Damenwäscheabteilung
Erika Dehner, Erste Verkäuferin in der Damenschuhabteilung
Gitta Lenz,verheiratete Schubert, Erste Verkäuferin bei den Damenaccessoires
Marianne Böhmer, ihre Nachfolgerin
David Loewenberger*, Abteilungsleiter der Damenmode
(in alphabetischer Reihenfolge)
Anni Böning*,Model
Heinrich Brüning*,Reichskanzler des ersten Präsidialkabinetts von 1930 bis 1932
Charlotte Dietrich*, ab 1927 Leiterin der Sozialen Frauenschule
Marlene Dietrich*,Schauspielerin; Durchbruch im April 1930 mit dem Tonfilm Der blaue Engel
Klara Engwicht*,Bewohnerin von Meyers Hof
Harald Frowein*,Textilfabrikant aus Elberfeld
Greta Garbo*, Schauspielerin und Kundin im KaDeWe
Joseph Goebbels*, Gauleiter der Nazis in Berlin-Brandenburg ab 1926; nach der Machtübernahme Propagandaminister
Paul von Hindenburg*, Reichspräsident der Weimarer Republik
Adolf Hitler*, Begründer und Führer der NSDAP
Dr. Hilde Lion*,jüdische Wissenschaftlerin und Leiterin der von Alice Salomon gegründeten Frauenakademie
Marinus van der Lubbe*, angeblicher Brandstifter des Reichstages im Februar 1933
Dr. Alice Salomon*, Gründerin der ersten Sozialen Frauenschule in Deutschland und der Deutschen Akademie für Soziale und Pädagogische Frauenarbeit, der ersten Frauenhochschule
Prof. Max Sering*,Professor für Staatswissenschaften an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin
Alexander Tumarkin*, Vermieter von Meyers Hof ab Januar 1930
Horst Wessel*,Sturmführer der SA; Dichter des Horst-Wessel-Lieds
Elsbeth Zander*,Gründerin des Deutschen Frauenordens, einer später in der NS-Frauenschaft aufgegangenen nationalsozialistischen Frauenorganisation
Frau von Auer, ostpreußische Gutsbesitzersfrau und Kundin im KaDeWe
Gregor Eckstein,Mitglied der SA;ehemals Hausdetektiv im KaDeWe
Max Köhler,Sprecher des Mieterrats von Meyers Hof
Melchior Rühl,Mitglied des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes
Daniel Wilson,englischer Journalist
Hermann Wolters, Sturmführer der SA; ehemals Verkäufer im KaDeWe
»Es freut mich außerordentlich, gnädige Frau, dass wir etwas Passendes für Sie gefunden haben.«
Während sich Frau Kommerzienrat Berlach, eine langjährige, zahlungskräftige Kundin, aufs Neue von allen Seiten in einem der goldumrahmten Spiegel des Anprobesalons in der Damenkonfektion betrachtete, warf Rieke einen verstohlenen Blick auf die Uhr.
Mittlerweile war es kurz vor acht. In weniger als einer Viertelstunde würde das KaDeWe schließen. Dann sollte Rieke offiziell in ihre neue Position als Aufsichtsdame eingeführt werden. Nicht nur ihre Vorgesetzten, sondern die gesamte Belegschaft der Rieke unterstellten Abteilungen würden an der Zeremonie teilnehmen.
»Oder entscheide ich mich doch für das dunkelblaue Modell?«, wandte sich Frau Berlach zu Riekes nicht gelindem Entsetzen an ihre Tochter, die sichtlich gelangweilt in einem der mit dunkelrotem Samt bezogenen Sessel herumrutschte.
»Oh Gott, Mutter, nein«, antwortete die junge Frau. »Du hast jetzt fast eine Stunde lang mindestens ein Dutzend Abendkleider anprobiert. Und wir waren uns doch bereits einig, dass dir dieses dunkelgrüne am besten zu Gesicht steht. Es passt wunderbar zu deinen grünen Augen und betont deine Figur vorteilhaft.«
»Dieser Meinung Ihres Fräulein Tochter kann ich nur zustimmen, gnädige Frau«, sagte Rieke. Sie war dankbar dafür, dass die Tochter nicht erneut auf das »Hüftgold« ihrer Mutter hingewiesen hatte. Denn diesem Argument hätte sie aus Respekt für die Kundin widersprechen müssen.
Nun hoffte sie, dass man ihr die zunehmende Nervosität nicht anmerkte. Schließlich hatte sie die Frau Kommerzienrat in ihrer bisherigen Stellung als Erste Verkäuferin der Damenkonfektion stets persönlich bedient. Nur aus diesem Grund hatte sich Rieke auch heute bereitgefunden, die Dame selbst zu beraten. Natürlich ohne zu ahnen, dass sie deshalb womöglich noch zu spät zu ihrer Einführungszeremonie kam.
Dies muss sich in Zukunft ändern, nahm Rieke sich vor. Sie spürte, dass ihre Mundwinkel von ihrem aufgesetzten Lächeln bereits zu schmerzen begannen. Verkaufen gehört nicht mehr zu meinen eigentlichen Aufgaben als Aufsichtsdame.
»Ich bin sicher, auch Papa wird das Modell gefallen«, insistierte Frau Berlachs Tochter. Im Gegensatz zu Rieke gab sie sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. »Außerdem macht das Kaufhaus in wenigen Minuten zu. Du hast gar keine Zeit mehr, das Dunkelblaue noch einmal anzuziehen. Also spute dich! Die Verkäuferinnen möchten bald Feierabend machen.«
Besser hätte Rieke ihre eigenen Gedanken nicht ausdrücken können. Aber das hätte ihr nicht einmal in ihrer neuen Vorgesetztenfunktion zugestanden. »Die Wünsche der Kunden stehen immer im Mittelpunkt unserer Aktivitäten«, erinnerte sie sich an den Leitspruch, den sie schon vor vielen Jahren zum ersten Mal gehört hatte, als sie als einfaches Kassenmädchen ins KaDeWe gekommen war.
Einen Moment lang sah es trotzdem so aus, als ob Frau Berlach ihrer Tochter widersprechen wollte. Dann gab sie mit einem tiefen Seufzer nach. »Na gut, Klara. Ich hoffe, dass du recht behältst. Morgen will ich das neue Abendkleid im Opernhaus tragen. Dann werde ich ja sehen, was man davon hält.«
»Ich glaube, damit wirst du die Sensation des Abends«, versicherte ihr Klara. Und Rieke fügte hinzu: »Sie können das Modell selbstverständlich umtauschen, gnädige Frau, wenn Sie im Nachgang doch nicht damit zufrieden sind.«
Zum Glück war sie als Aufsichtsdame befugt, einer solventen Kundin ein solch großzügiges Angebot zu machen. Denn in der Regel konnte man bereits getragene Kleidung nur dann umtauschen, wenn sie einen während des Verkaufs unbemerkten Mangel aufwies.
Jetzt endlich begab sich Frau Berlach in die Umkleidekabine und zog den rotseidenen Vorhang zu. Fünf Minuten später, die Rieke wie eine Ewigkeit vorkamen, kam sie in ihrem schicken dunkelbraunen Wollkostüm wieder heraus. Es stammte ebenfalls aus dem KaDeWe.
Rieke begleitete Frau Berlach noch zur nächstgelegenen Registrierkasse und verabschiedete sich von ihr. Dann ging sie so rasch, wie es ihr ihre neue Würde erlaubte, die rechte Marmorfreitreppe mit dem grazilen Bronzegeländer ins Erdgeschoss hinab. Dort schlüpfte sie durch die unauffällige Personaltür, um sich im Souterrain für die bevorstehende kleine Feier noch etwas zurechtzumachen.
Wenig später schlug Rieke das Herz bis zum Hals, als sie sich im Damenumkleideraum des KaDeWe ein letztes Mal im Spiegel betrachtete. Sie biss sich leicht auf die Lippen und kniff sich in die Wangen, um etwas Farbe hineinzubekommen.
Obwohl sie keinen Gebrauch von dem »Beruhigungsmittel« gemacht hatte, das ihr Fritz Zimmer, der Lebensgefährte ihrer Mutter Käthe, am Vorabend zugesteckt hatte, zerbiss sie ein Pfefferminzbonbon, um ihren Atem aufzufrischen. Den Flachmann mit dem Branntwein verwahrte sie in ihrem Spind, sie wollte ihn Fritz unberührt zurückgeben.
Zwar nahm sie ihre neue Rolle als Aufsichtsdame nach dem Ausscheiden ihrer Vorgängerin Frau Liebermann schon seit Jahresbeginn ein. Am Monatsende würde sie auch mit dem dazugehörigen stattlichen Gehalt entlohnt werden. Es hatte sich allerdings hingezogen, bis die Umverteilung aller neuen Posten im KaDeWe abgeschlossen war. Dazu gehörte zuoberst die Aufnahme von Dr. Hugo Zwillenberg in den Kreis der Geschäftsführer. Als ausgebildeter Jurist übernahm er auch für die ehemaligen Jandorf-Kaufhäuser die Aufgaben des Konzernjustiziars, wie Rieke von Judith Bergmann bei ihrem letzten Treffen erfahren hatte.
»Mein Vater bekommt also eine neue Position«, erzählte Judith. »Auf Empfehlung von Adolf Jandorf wird ihm die kaufmännische Leitung des KaDeWe übertragen. Sein Vorgänger ist mit sofortiger Wirkung freigestellt, erhält jedoch sein volles Gehalt bis zum offiziellen Beginn seines Ruhestands.«
»Das ist aber sehr großzügig«, freute sich Rieke.
»Auch hierfür zeichnet Adolf Jandorf verantwortlich«, erklärte Judith. »Mein Vater hat mir gesagt, dass Jandorf die Hälfte der dadurch entstehenden Unkosten aus seinem Privatvermögen tragen wird. Wusstest du eigentlich, dass Gunter Perl auf den Posten des kaufmännischen Leiters gehofft hat und nun leer ausgeht?« Die Schadenfreude in Judiths Stimme war deutlich.
Rieke schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar einige Gerüchte gehört, aber nichts darauf gegeben«, gab sie zu.
Judith grinste. »Martin Tietz hat mir im Vertrauen gesagt, dass Gunter diesbezüglich sogar bei ihm und seinem Bruder Georg vorstellig geworden ist. Doch nach Rücksprache mit Adolf Jandorf hat man sich dann für meinen Vater entschieden. Und Martin wird der neue Leiter des KaDeWe«, hatte sie Rieke bei dieser Gelegenheit gleich mit informiert.
Die Verzögerung, mit der Rieke offiziell als Aufsichtsdame eingeführt wurde, lag jedoch nicht daran, dass man die neuen Leitungsfunktionen im KaDeWe erst bekannt machen musste. Dies war bereits in der ersten Geschäftswoche des neuen Jahres geschehen.
Doch wie schon aus dem gemeinsamen Kommuniqué von Jandorf und Tietz hervorgegangen war, mit dem sie Anfang Dezember den Verkauf des Jandorf-Imperiums an die Hermann Tietz OHG veröffentlicht hatten, erhoffte man sich von der Zusammenlegung der Geschäfte natürlich auch Einspar- und Rationalisierungsmöglichkeiten. Deshalb würde Rieke heute nicht nur als neue Aufsichtsdame der Damenkonfektion und der Damenwäscheabteilung vorgestellt werden.
Ausgerechnet Gunter Perl hatte, möglicherweise um sich zu profilieren, bereits kurz nach Bekanntgabe des Kommuniqués vorgeschlagen, auch die Abteilungen für Damenaccessoires aller Art aus dem gehobenen Preissegment und sogar die Damenschuhabteilung unter die Leitung einer einzigen Aufsichtsdame zu stellen. Rieke hatte er dabei allerdings wohl nicht im Auge gehabt.
Deren neuer Verantwortungsbereich erstreckte sich nun fast über das ganze erste Stockwerk. Die Umstrukturierung samt dem damit verbundenen Umzug von feinen Lederwaren, Seidenschals und ähnlichen Luxusartikeln aus dem Erdgeschoss hatte sich auch dadurch angeboten, dass Harry Jandorf als Abteilungsleiter der Strumpfwaren zum 1. Januar ausgeschieden war. Das gehörte zu den Vertragsbedingungen von Tietz. Alle Mitglieder der Familie Jandorf hatten nach dem Verkauf ihre Posten aufgegeben.
Im Erdgeschoss waren jetzt nur noch Artikel für die weniger solvente weibliche Kundschaft verblieben. Dazu zählten Kittelschürzen, Wollstrümpfe und einfache Baumwollkleider. Als Erste Verkäuferin für diese ebenfalls neu gebildete Abteilung hatte Gunter Perl perfiderweise ausgerechnet Esther Weinberg empfohlen. Das war Riekes tüchtigste Verkäuferin. Sie hatte sie eigentlich für ihre eigene Nachfolge in dieser Position in der Damenkonfektion im Sinn gehabt. Doch als leitender Textileinkäufer war Perl weiterhin Riekes direkter Vorgesetzter und hatte das Sagen.
Obwohl Esthers bereits erfolgte Versetzung ihre Sorge verstärkte, der erweiterten Verantwortung in ihrer neuen Position nicht gewachsen zu sein, freute Rieke sich für ihre jüdische Kollegin. Deren Ehemann hatte nämlich gerade aufgrund der antisemitischen Einstellung seines Arbeitgebers seine Stelle in einer Anwaltskanzlei verloren. Esthers mit der Beförderung verbundene Gehaltserhöhung konnte das Ehepaar daher gut gebrauchen.
Noch einmal warf Rieke einen nervösen Blick in den Spiegel ihres Spinds und danach auf ihre Armbanduhr. Es war jetzt zwanzig nach acht. Die feierliche Einführung war für Punkt halb neun Uhr anberaumt. Dem Personal war eine Anwesenheitspflicht auferlegt worden, sodass alle die Überstunden vergütet bekamen.
Da öffnete sich die Tür zum Umkleideraum. Das neue Lehrmädchen hastete herein.
»Fräulein Krause«, keuchte sie außer Atem. »Gut, dass ich Sie endlich gefunden habe. Herr Bergmann bittet Sie, noch einmal kurz in seinem Kontor vorbeizuschauen, bevor die Feier beginnt.«
Paul Bergmann musterte Rieke freundlich, als sie sein Büro betrat. Als langjähriger Personalleiter des KaDeWe hatte er ihre Karriere fast von Anfang an verfolgt. Es hatte ihm immer imponiert, wie fleißig Rieke war und mit welchem Durchhaltevermögen sie auch die widrigsten Umstände überwand. Nun hatte sie sich aus ihren ehemals ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet und konnte wahrlich stolz auf sich sein.
Darüber hinaus hatte sie sich im Lauf der Jahre vom grauen Mäuschen zu einer attraktiven Frau entwickelt. Der hellblonde Bubikopf stand ihr gut, ihre dunkelbraunen Augen bildeten einen attraktiven Kontrast dazu. Sie trat heute weitaus selbstbewusster auf als in früheren Zeiten. Das konservative schwarze Kleid, das jede Aufsichtsdame im KaDeWe tragen musste, konnte ihrer Erscheinung daher keinen Abbruch tun. Selbst jetzt nicht, wo ihr flackernder Blick eine gewisse Nervosität verriet.
»Sie wollten mich sprechen, Herr Bergmann?« Auch ihre Stimme zitterte leicht.
Paul stand auf, reichte Rieke die Hand und wies ihr einen Platz in seiner Besprechungsecke zu. »Ich wollte nur noch kurz den Ablauf der bevorstehenden Zeremonie mit Ihnen durchgehen, Fräulein Krause. Ich werde zuerst eine Laudatio auf Ihre bisherigen Verdienste halten, die Ihrem zukünftigen Personal – das sind ja nun immerhin fast fünfzig Bedienstete – verdeutlicht, warum Sie diesen wichtigen Posten erhalten haben. Denn für eine Aufsichtsdame, zumal eine Vorgesetzte von gleich vier großen Abteilungen, sind Sie noch recht jung. Und einige Ihrer zukünftigen Untergebenen kennen Sie noch kaum.«
Paul hatte sich im Vorfeld noch einmal ausführlich mit Riekes Personalakte beschäftigt und wusste, dass sie erst im kommenden Sommer dreißig Jahre alt würde. Normalerweise waren Aufsichtsdamen mindestens zehn Jahre älter.
Zu seinem gelinden Amüsement färbten sich Riekes bleiche Wangen rosa. »Ich bin mir dieser Ehre sehr bewusst, Herr Bergmann. Und werde alles in meiner Macht Stehende tun, um mich des Vertrauens würdig zu erweisen, das Sie und die Geschäftsführung des KaDeWe in mich setzen.«
»Das bezweifle ich nicht, Fräulein Krause. Sobald ich meine Einführungsrede beendet habe, möchte ich Ihnen das Wort erteilen, damit auch Sie einige Worte an Ihre Mitarbeiterinnen richten können. Mit etwas Glück ist dann auch schon unser Geschäftsführer Martin Tietz zu uns gestoßen.«
»Herr Tietz wird ebenfalls anwesend sein?« Nun schwang ein Unterton von Panik in Riekes Stimme mit.
»Natürlich, sofern es ihm seine anderen Verpflichtungen erlauben. Schließlich sind Sie eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Aufsichtsdame im KaDeWe. Dass auch Sie eine kleine Rede halten sollen, war Ihnen doch sicherlich bewusst, Fräulein Krause?«, fragte er angesichts von Riekes ängstlichem Blick.
Sie nickte und knetete dabei nervös ihre Hände. »Ich war ja bereits bei der Verabschiedung von Frau Liebermann dabei, die ebenfalls einige Worte zu uns sprach. Insofern wusste ich es zwar nicht genau, aber es trifft mich auch nicht unvorbereitet.«
Paul schwankte innerlich zwischen Ärger auf Gunter Perl und Bewunderung für Rieke. Er hatte Perl ausdrücklich angewiesen, mit Rieke über ihre Einführung zu sprechen. Wie gut, dass er sich heute noch einmal rückversichert hatte, ob sie über alles im Bilde war. Als sich ein verschmitztes Lächeln um Riekes Mundwinkel stahl, gewann seine gute Laune angesichts ihrer nächsten Worte wieder die Oberhand.
»Gestern Abend habe ich diese kleine Rede sogar zu Hause geprobt«, sagte sie. »Meine Familie war jedenfalls davon angetan. Trotzdem hat mir der Mann meiner Mutter sogar einen Flachmann mit Branntwein mitgegeben, um mich zu beruhigen. Ich habe natürlich keinen Gebrauch davon gemacht«, beeilte sie sich hinzuzufügen.
Paul verbiss sich ein Lachen. »Ich bin sicher, Sie werden die Situation hervorragend meistern. Einen Hinweis möchte ich Ihnen trotzdem noch geben. Nach Ihnen werde ich auch Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten, Herrn Gunter Perl, das Wort erteilen. Aus mir unerfindlichen Gründen scheint er mir mit Ihrer Berufung nicht ganz einverstanden zu sein. Können Sie sich einen Reim darauf machen?«
Rieke schüttelte etwas zu schnell den Kopf, was Paul nicht entging. Doch da die Zeit bereits fortgeschritten war, wollte er nicht weiter in sie dringen. »Dann lassen Sie uns jetzt aufbrechen, Fräulein Krause. Draußen wartet noch eine Überraschung auf Sie.«
»Ich versichere, dass ich Ihnen allen jederzeit eine gerechte und aufmerksame Vorgesetzte sein werde. Wenn Ihnen etwas auf dem Herzen liegt, scheuen Sie sich nicht, sich an mich zu wenden. Ich werde mich nach Kräften bemühen, für jedes Problem eine gute Lösung zu finden. Und nun wünsche ich uns eine erfolgreiche Fortsetzung unserer bereits so gut begonnenen Zusammenarbeit.«
Sobald Rieke gemerkt hatte, dass ihre Worte Anklang bei der Zuhörerschaft fanden, wobei sowohl Paul Bergmann als auch Martin Tietz ihr einige Male anerkennend zugenickt hatten, war ihre Stimme immer fester geworden. Zum Schluss hatte sie sich nicht einmal mehr an ihre mühsam auswendig gelernte Rede gehalten, sondern frei heraus gesprochen.
Beifall brandete auf. Rieke sah zuerst zu Judith Bergmann hinüber, die begeistert mitklatschte und den rechten Daumen zum Zeichen der Zustimmung hob. Judiths Teilnahme an dieser kleinen Feier war die Überraschung, die ihr Vater Rieke angekündigt hatte. Es tröstete sie darüber hinweg, dass Peter Hauser, mit dem sie sich an Silvester verlobt hatte, nicht anwesend war.
Rieke hatte nicht gewagt, Gunter Perl um Peters Teilnahme zu bitten. Peter war Tischlermeister und leitete die hauseigene Schreinerei des KaDeWe, die unter anderem für die Anfertigung von Hilfsmitteln zur Dekoration zuständig war. Zwar hatte er in diesem Zusammenhang oft in der Damenkonfektion zu tun und in den übrigen Abteilungen, für die Rieke jetzt zuständig war. Aber sie hätte ihre private Beziehung zu Peter offenlegen müssen, um den Wunsch nach seiner Teilnahme gegenüber Perl zu begründen, und war davor zurückgescheut.
Denn die Verlobung war für Rieke zunächst nur das Signal an Peter gewesen, dass sie aus ganzem Herzen beabsichtigte, mit ihm zusammenzubleiben. Eine schnelle Hochzeit zog sie allerdings nicht in Betracht, was Peter zwar bedauerte, aber mittrug. Das konnte sie Perl natürlich nicht mitteilen.
Deshalb befürchtete sie, dass Perl, wenn er von der Verlobung erführe, sie in der Erwartung einer baldigen Heirat und darauffolgenden Schwangerschaft als Aufsichtsdame von Anfang an nicht ernst nehmen würde. Denn nach den Konventionen des KaDeWe musste jede schwangere Mitarbeiterin im Verkauf ausscheiden, sobald die ersten Anzeichen dafür sichtbar wurden.
Jetzt ließ Rieke ihren Blick über die Gruppe ihrer Verkäuferinnen schweifen. Jedes Gesicht wirkte entspannt und freundlich auf sie. Ihre langjährigen Kolleginnen aus der Damenkonfektion und -wäscheabteilung lächelten ihr sogar herzlich zu.
Als der Beifall verebbte, ergriff Martin Tietz das Wort. »Auf Ihre wunderbare Rede sollten wir zuerst das Glas erheben«, schlug er zu Riekes Überraschung vor. Zwar stand der Sekt schon bereit, er sollte aber eigentlich erst nach der Rede von Gunter Perl ausgeschenkt werden. Der blickte entsprechend säuerlich drein, während zwei Servierkräfte aus dem Erfrischungsraum die Gläser füllten und herumreichten.
Rieke nahm einen tiefen Schluck, nachdem Martin Tietz persönlich einen Toast auf sie ausgebracht und alle Versammelten ihr zugeprostet hatten. Bis auf Gunter Perl. Der trank zwar, hatte aber vorher sein Glas demonstrativ nicht erhoben. Ob das noch jemandem außer ihr selbst aufgefallen war, wusste Rieke nicht. Aber sie verspürte erneut einen Anflug von Beklemmung. Leicht würde Gunter Perl es ihr als Vorgesetzter auch ohne Kenntnis ihrer Verlobung nicht machen. Das wurde ihr wieder einmal mit aller Deutlichkeit bewusst.
Auf ein Zeichen des Geschäftsführers trat Perl vor. Seine Rede war im Gegensatz zu der von Paul Bergmann denkbar kurz gehalten.
»Auch ich gratuliere Ihnen zu Ihrer neuen Position, Fräulein Krause, und ich hoffe, dass Sie den vielfältigen Aufgaben, die jetzt auf Sie zukommen, trotz Ihrer noch jungen Jahre gewachsen sein werden.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Rieke, dass Bergmann die Stirn runzelte. Aber er wahrte die Form und unterbrach Gunter Perl nicht. Judith, die neben ihrem Vater stand, zog eine missbilligende Schnute.
Dann wandte sich Perl an die Belegschaft. »Meine Damen, auch Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihre Zusammenarbeit mit Fräulein Krause. Und sollten Sie einmal etwas zu beanstanden haben, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Scheuen Sie sich nicht, davon Gebrauch zu machen!«
Damit trat Perl einen Schritt zurück, um anzuzeigen, dass er mit seiner Ansprache fertig war.
Während Riekes Beklemmung wuchs, sah Bergmann sich jetzt offenbar doch genötigt einzugreifen und trat vor. »Ich bin sicher, das wird nie notwendig werden, Herr Perl«, betonte er ausdrücklich. »Fräulein Krause besitzt unser volles Vertrauen, sonst hätten wir uns ja nicht für sie entschieden.« Dann winkte er den Servierdamen, die zwischenzeitlich geleerten Gläser erneut zu füllen. »Deshalb lassen Sie uns noch einmal auf das Wohl von Fräulein Krause trinken und hernach entspannt in unseren Feierabend auseinandergehen.«
»Deine Rede hat mir sehr gut gefallen«, lobte Judith, als sich die Menge der Verkäuferinnen zerstreut hatte. »Und lass dich von Gunter Perl nicht ins Bockshorn jagen! Mein Vater wird notfalls seine schützende Hand über dich halten und den Kerl in seine Schranken weisen.«
Rieke seufzte. »Das Leben könnte so wunderbar sein, wenn es nicht immer wieder solche Hemmnisse gäbe. Aber dein Vater weiß noch immer nichts über die Intrige, die zum Tod deines Bruders geführt hat?«, vermutete sie.
Judith schüttelte den Kopf. »Nein. Und so soll es auch bleiben. Wir sind schon genug damit gestraft, dass meine Mutter einfach nicht über Johannes’ Selbstmord hinwegkommt.«
Rieke legte Judith spontan die Hand auf den Arm. »Das tut mir sehr leid für euch. Man sagt doch, die Zeit heile alle Wunden.«
Judith zuckte mit den Schultern. »In diesem Fall nimmt sich die Zeit sehr viel Zeit«, antwortete sie. »Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben.« Sie blickte sich um. »Nun entschuldige mich bitte, meine Liebe. Ich habe Martin Tietz noch gar nicht begrüßt und möchte ein paar Worte mit ihm wechseln.«
Rieke sah Judith nach, die mit strahlendem Gesicht auf Martin zutrat, der ihr Lächeln erwiderte. Nach der furchtbaren Erfahrung mit Gunter Perl wäre ihr ein neues Glück wirklich zu gönnen, dachte sie. Hoffentlich ist ihr die Liebesgöttin dabei holder als in der Beziehung zu diesem Schuft.
Missmutig packte Gunter Perl einige Unterlagen in seine lederne Aktenmappe. Dass Bergmann ihn in aller Öffentlichkeit in die Schranken gewiesen hatte, stieß ihm gewaltig auf.
Es würde ihn jedoch nicht davon abhalten, Rieke Krause scharf im Auge zu behalten und ihr nicht die kleinste Verfehlung durchgehen zu lassen. Schließlich war er selbst nicht nur mit ihrer Berufung keineswegs einverstanden gewesen. Sondern er verdächtigte Rieke schon lange, über seine Machenschaften um den verstorbenen Bruder seiner ehemaligen Verlobten Judith Bergmann Bescheid zu wissen.
Gunter hatte seinen damaligen Rivalen Johannes mit dessen Homosexualität erpresst, um ihn dazu zu nötigen, den Posten als Einkäufer der Damenkonfektion im KaDeWe aufzugeben und Gunter den Vortritt zu lassen.
Dass der Bursche sich daraufhin feige das Leben nehmen würde, hatte Perl zwar nicht einkalkuliert. Es war ihm jedoch durchaus recht gewesen. Immerhin war er dadurch zum alleinigen Textileinkäufer im KaDeWe geworden. Zu seinem großen Ärger war er unter der Ägide von Adolf Jandorf jedoch nicht mehr weiter aufgestiegen. Auch nach dem Wechsel der Geschäftsführung war er erst einmal leer ausgegangen, was er wahrscheinlich ebenfalls Jandorf verdankte.
Gunter verließ gerade sein Kontor, das gegenüber dem der Geschäftsleitung lag, als auch Martin Tietz aus seinem Büro trat. Er war allein, weder Judith noch Paul Bergmann begleiteten ihn. Gunter überlegte noch hektisch, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, um Tietz anzusprechen, als der schon von sich aus das Wort ergriff.
»Was ist Ihnen denn für eine Laus über die Leber gelaufen, Herr Perl?«, fragte er schnörkellos. »Was haben Sie gegen Rieke Krause als Aufsichtsdame einzuwenden?«
Gunter spürte zu seinem Ärger, dass er errötete. Er nahm Ausflucht zu einer Halbwahrheit. »Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Herr Tietz«, versicherte er. »Meine Irritation rührt daher, dass Herr Jandorf mich in seine Entscheidung, Fräulein Krause für diese Position zu empfehlen, nicht einbezogen hat.«
Martin Tietz runzelte die Stirn. »Ja, hätten Sie denn etwas dagegen gehabt, Herr Perl? Halten Sie Fräulein Krause für ungeeignet für diesen verantwortungsvollen Posten?«
Die Gedanken rasten durch Gunters Kopf. Sein Instinkt riet ihm, jetzt nicht über Rieke Krause herzuziehen, da er sich dadurch möglicherweise in Misskredit bringen könnte. Schließlich hatte Martin Tietz ihrer Beförderung zugestimmt.
»Fräulein Krause ist noch sehr jung«, wich er aus. »Ob sie ihrer Stellung gewachsen ist, wird erst die Zeit zeigen.«
Martin Tietz grinste spöttisch. »Meines Wissens ist Fräulein Krause nur ungefähr zwei Jahre jünger als ich«, antwortete er. »Und kennt das KaDeWe schon als Kassenmädchen seit ihrer Jugend. Während ich gerade erst die Leitung dieses in aller Welt berühmten Kaufhauses übernommen habe. Ich hoffe doch sehr, Sie halten mich ob meines Alters dafür nicht ebenfalls für ungeeignet.«
Ein rascher Blick zeigte Gunter, dass Tietz seine Worte zum Glück nicht ganz ernst zu meinen schien.
»Ich wäre nur sehr gern ebenfalls nach meiner Meinung gefragt worden«, räumte er ein. Dann entschloss er sich zur Flucht nach vorn. »Und Sie wissen ja, dass ich mir auch selbst erhofft hatte, nach der Übernahme der Jandorf-Kaufhäuser durch Hermann Tietz weiter aufsteigen zu können.«
»Sie bekleiden einen der wichtigsten Posten als Einkäufer im gesamten Konzern«, hielt Martin Tietz ihm entgegen. »Und haben ihn erst seit wenigen Jahren inne, soweit ich unterrichtet bin. Ein weiterer Aufstieg zum kaufmännischen Leiter, wie Sie ihn sich gewünscht haben, hielten wir vonseiten der Geschäftsführung daher für verfrüht.«
Gunter riss sich zusammen. Martin Tietz in dieser Hinsicht zu widersprechen, kam ihm nicht opportun vor. Denn schon aufgrund seiner Seniorität, erst recht wegen seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Personalleiter und Konzernjustiziar im Jandorf-Imperium, musste den neuen Geschäftsführern der mittlerweile fast sechzig Jahre alte Paul Bergmann zwangsläufig als die geeignetere Person für diese Position erschienen sein. Perl war fast genau zwanzig Jahre jünger.
Während er noch überlegte, was er antworten sollte, fuhr Tietz fort. »Dass Sie ein überaus großes Talent als Einkäufer haben, wurde mir bereits vor einigen Monaten bewusst. Sie erinnern sich doch an unser Treffen in Dahlem?«
»Ich erinnere mich«, bestätigte Perl. Im Herbst des vergangenen Jahres hatte er gemeinsam mit Adolf Jandorf an einem großen Geschäftsessen teilgenommen. Nach seiner Diskussion mit einem Lieferanten hatte dieser einer erheblichen Preisreduktion zugestimmt. Danach hatte sich Martin sehr lobend über Gunter geäußert.
»Ich bin daher sicher, dass Sie Ihren Weg im Unternehmen Hermann Tietz gehen werden.« Martins Tonfall bekam jetzt etwas Endgültiges. Gunter erinnerte sich daran, über den jüngsten Geschäftsführer des neuen Eigners gehört zu haben, dass er bei Themen, die ihn nicht persönlich berührten, rasch die Geduld verlor. Leider traf dies offenbar auch auf Gunters Aufstiegswünsche zu.
Tatsächlich wandte Martin sich bereits zum Gehen. »Kommt Zeit, kommt Rat, Herr Perl. Seien Sie versichert, ich werde Sie im Auge behalten und für Ihren nächsten Karriereschritt zu gegebener Zeit auf Sie zukommen. Und nun wünsche ich Ihnen einen geruhsamen Feierabend. Ich bin etwas in Eile, denn ich habe noch eine Verabredung.« Diese Worte sprach Martin schon über seine Schulter hinweg, ohne Gunter zum Abschied die Hand zu reichen.
Ob er merkte, dass er seinen leitenden Textileinkäufer frustriert zurückließ, konnte Gunter nicht einschätzen. Vielleicht war es Martin Tietz aber auch völlig gleichgültig.
Als Judith das Themenrestaurant Rheinterrasse im Vergnügungspalast Haus Vaterland am Potsdamer Platz an der Seite von Martin Tietz betrat, fiel ihr angesichts der Kulisse erst einmal ein kleiner Stein vom Herzen.
Nur zu gut war ihr noch der peinliche Besuch im Etablissement Himmel und Hölle in Erinnerung. Im Höllegenannten Restaurantteil war sie vor einigen Jahren mit Gunter Perl gewesen. Dessen Ausstattung war einer mittelalterlichen Version dieses Orts der Verdammnis nachempfunden, was sie anfangs noch amüsiert hatte. Doch die dem Abendessen folgende Nacktrevue nach Motiven des Marquis de Sade hatte sie zutiefst abgestoßen. Zumal sie bei dieser Gelegenheit auch noch Rieke Krauses Schwester Sanni als Nacktdarstellerin erkannt hatte. Seither mied Judith solche Lokalitäten tunlichst.
Als Martin Tietz sie vor einigen Tagen eingeladen hatte, seinen Geburtstag mit ihm am heutigen Abend im Haus Vaterland nachzufeiern, reagierte sie daher mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute sie sich sehr darüber. Denn bislang war sie Martin, von dem sie sich durchaus angezogen fühlte, nur in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen begegnet.
Auch die Feier zu seinem gestrigen zweiunddreißigsten Geburtstag, an der sie gemeinsam mit ihrem Vater teilgenommen hatte, war dabei keine Ausnahme gewesen. Obwohl Martin ihr mehr Zeit gewidmet hatte als der Vielzahl seiner anderen Gäste, hatten sich ihre Kontakte vor den neugierigen Augen der Festgesellschaft abgespielt. Heute jedoch würden Judith und Martin zum ersten Mal allein sein, wenn auch der Schicklichkeit halber ebenfalls an einem öffentlichen Ort.
Andererseits hatte Judith auch eine leichte Beklemmung gespürt, nachdem Martin seine Einladung ausgesprochen hatte. Zum Glück hatte er ihr ein Prospekt von Haus Vaterland in die Hand gedrückt und ihr die Auswahl des Themenrestaurants überlassen, in dem sie zunächst zu Abend essen wollten.
Er selbst hatte die Spanische Bodega oder das ungarische Czardas-Restaurant vorgeschlagen. Dort gab es offenbar jedoch leicht bekleidete Animierdamen, die gegen eine Gebühr mit den männlichen Besuchern tanzten. Beide Örtlichkeiten kamen für Judith daher nicht infrage.
Der sichtlich enttäuschte Martin hatte ihr daraufhin den bayerischen Löwenbräu-Biergarten nahegelegt. Judith, die kein Bier mochte, sagte der ebenfalls nicht zu. So war es dann schließlich die Rheinterrasse geworden.
Jetzt blickte sie sich erleichtert um. Die Ausstattung dieses Restaurants war durchaus attraktiv, mit der ansprechenden Darstellung einer rheinischen Landschaft und Protagonisten, die in keiner Weise anzüglich wirkten.
»Ich wusste gar nicht, wie schön es am Rhein ist«, sagte sie lächelnd zu Martin, als sie an dem für sie reservierten Tisch unmittelbar neben dem nachgestellten Rheinufer Platz nahmen. »Hier ist es ja richtig romantisch. Diese Örtlichkeit soll es wirklich geben, wenn man dem Prospekt glauben darf.«
Auch Martin sah sich jetzt um. »Von diesem Felsen dort, den man die Loreley nennt, habe ich tatsächlich schon gehört. Ob es auch die gegenüberliegende Burg namens Rheinfels gibt, weiß ich allerdings nicht.« Er sah Judith mit einem Blick aus seinen fast schwarzen Augen an, der ihr ein Flattern im Magen bescherte. »Vielleicht sollten wir ja einmal dorthin reisen und es selbst herausfinden.«
Judith erwiderte Martins Blick und hoffte, dass sie nicht errötete. »Das wäre ganz wunderbar, Martin.« Sie duzten sich schon seit einiger Zeit. »Die Loreley ist sehr bekannt. Um sie rankt sich eine Sage, die Heinrich Heine in ein Gedicht gefasst hat.«
»Aha.« Martin wirkte ein wenig ratlos. Schon bei früheren Gelegenheiten war Judith aufgefallen, dass er nicht besonders belesen war.
»Ich meine den jüdischen Dichter«, erklärte sie. »Bestimmt hast du schon einmal von ihm gehört. Seine Werke werden auf jedem Gymnasium im Deutschunterricht besprochen.«
Martin grinste. »Deutsch war in der Schule nicht gerade meine Stärke.«
Gerade trat der Kellner mit den Speisekarten an den Tisch und ersparte Judith dadurch eine Erwiderung.
»Was können Sie uns denn empfehlen?«, fragte Martin.
Der Kellner verbeugte sich leicht und wies dann mit seiner weiß behandschuhten Hand auf die erste Seite der Karte.
»Wenn Sie rheinisch deftig, aber gleichzeitig sehr schmackhaft essen möchten, empfehle ich unser Abendmenü.«
»Grüne-Bohnen-Suppe als Vorspeise, hernach einen Rheinischen Sauerbraten mit Kartoffelklößen und Apfelrotkohl«, las Martin wenig begeistert vor. »Den Grießpudding zum Dessert nehme ich auf keinen Fall. Trotz des Kirschragouts mit Zimt. Grießbrei habe ich schon als Kind gehasst.«
»Was ist ein Rheinischer Sauerbraten?«, erkundigte sich Judith.
»Der echte Rheinische Sauerbraten wird aus in Essigmarinade eingelegtem Pferdefleisch hergestellt«, antwortete der Kellner. Als Judith zurückzuckte, ergänzte er: »Aber wir bieten ihn auch mit Rindfleisch an, wenn das der Dame mehr zusagt.«
Judith nickte erleichtert. »So ist es. Meinerseits würde ich daher gern das Menü probieren. Mit dem Sauerbraten aus Rindfleisch bitte«, fügte sie vorsichtshalber hinzu.
»Haben Sie auch ein Rindersteak?«
Der Kellner verneigte sich wieder leicht. »Selbstverständlich, mein Herr. Als Beilage empfehle ich eine im Ofen gegarte Kartoffel mit Kräuterquark.«
Martin winkte ab. »Lieber nur mit einem Salat. Und das Steak bitte halb durchgebraten. Was für Vorspeisen gibt es noch?«
»Wie wäre es mit einer cremigen Tomatensuppe?«
»Sehr gut«, stimmte Martin zu. »Ob und was ich zum Dessert nehme, entscheide ich nach dem Essen.«
»Wünscht die gnädige Frau auch einen Rheinwein zu ihrem Mahl?«, fragte der Kellner. »Dann rate ich nämlich zu einem Riesling. Die Trauben stammen aus einer Weinlage über St. Goar.« Er machte eine Handbewegung in Richtung der Kulisse. »Das ist dieser Ort hier, gleich unter der Burg Rheinfels.«
Während Judith zustimmend nickte, lehnte Martin ab. »Weißwein passt nicht zum Steak. Ich hoffe, Sie führen auch einen veritablen Spätburgunder.«
Einen Moment lang befürchtete Judith, der Abend könne ein Misserfolg werden. Offensichtlich fühlte Martin sich im Restaurant Rheinterrasse nicht besonders wohl.
Gerade stimmten die in ländliche Tracht gekleideten Musiker, die auf einer kleinen Bühne inmitten der Burg platziert waren, ein Lied an. Judith erkannte sowohl die Melodie als auch den Text.
»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, sang sie leise mit.
Dann wandte sie sich wieder an Martin. »Horch! Das ist dieses Gedicht von Heinrich Heine. Ein Komponist hat es vertont. Es behandelt die Sage von der Loreley. Das soll der Name einer Jungfrau mit goldblondem Haar gewesen sein.«
»Einer Jungfrau? Ich dachte, es wäre ein Felsen.«
»Im Gedicht von Heine kämmt eine Frau auf der Spitze des Felsens ihr langes blondes Haar und singt dabei betörend. Die Rheinschiffer, die ihr zuhören, achten nicht mehr auf die gefährlichen Klippen und versinken im Fluss.«
»Also ein männermordender Vamp«, entgegnete Martin nüchtern, weshalb Judith darauf verzichtete, zu erwähnen, dass dieses Lied als Inbegriff der Rheinromantik galt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als Martin sie erneut mit einem intensiven Blick bedachte und dabei sagte: »Blonde Frauen mag ich ohnehin nicht besonders gern. Mir sind die Schwarzhaarigen lieber.«
Nun fühlte Judith ihr Gesicht heiß werden. Das Gefühl vertiefte sich noch, als Martin hinzufügte: »Vor allem, wenn sie so ein wunderbares Kleid tragen wie du heute. Es steht dir fantastisch. Ist es nicht das, was du auch schon bei unserer ersten Begegnung angehabt hast?«
Judith freute sich, dass sich Martin daran erinnerte. In der Tat war das rotseidene Modell ihr Lieblingsabendkleid. Rieke Krause hatte es ihr seinerzeit für die Abschiedsfeier von Adolf Jandorf verkauft.
Das Kleid wies einen raffinierten asymmetrischen Schnitt auf. Das ärmellose Oberteil war rund um den Ausschnitt mit einem komplizierten Muster in Schwarz bestickt. Ab der linken Hüfte war das Oberteil schräg geschnitten. Darunter lugte ein knielanger plissierter Rock hervor. Am Saum waren Oberteil und Rock ebenfalls mit schwarzen Stickereien verziert.
Im dreieckigen Ausschnitt trug Judith einen goldenen, mit Diamantsplittern besetzten Anhänger an einem schwarzen Samtband, das Geschenk ihrer Eltern zum letzten Weihnachtsfest. Judiths schwarze Locken fielen ihr bis auf die Schultern, ein mit roter Seide bezogener und mit schwarzem Strass besetzter Reif hielt ihr das Haar aus der Stirn. Hochhackige rote Pumps, schwarze Seidenstrümpfe und eine schwarze Spitzenstola vervollständigten das Ensemble.
Der Clou war jedoch der rote Lippenstift. Lippenstifte wurden neuerdings in der Parfümerieabteilung des KaDeWe in großer Auswahl angeboten. Judith hatte ihn passend zu ihrem Abendkleid ausgesucht und benutzte ihn heute zum ersten Mal, um ihre herzförmigen Lippen zu betonen.
»Jedenfalls bist du die am besten angezogene Frau im ganzen Saal«, setzte Martin sein Kompliment fort. Wieder suchte er ihren Blick. »Und mit deinen strahlenden dunkelblauen Augen noch die schönste dazu.«
Eine Stunde später hatten sie den Hauptgang beendet und überbrückten die Zeit bis zu Judiths Dessert mit einem rheinischen Eiswein, der auch Martin mundete. Nach dem Essen wollten sie in den Palmensaal hinüberwechseln, um zu tanzen.
Der Zeitpunkt erschien Judith günstig, um Martin ihr Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Nach seiner Einladung hatte sie sich dazu entschlossen, dem Geschenk ihres Vaters, silbernen Manschettenknöpfen mit Martins Initialen, eine dazu passende Krawattennadel hinzuzufügen. Alle Schmuckstücke stammten aus der Juwelierabteilung des KaDeWe.
Während die Musikkapelle erneut ein rheinisches Lied anstimmte, zog Judith das aufwendig verpackte Schächtelchen aus ihrer Handtasche und überreichte es Martin. Der nahm es ganz überrascht entgegen.
»Aber du hast mir doch schon etwas geschenkt. Zumindest dachte ich, die Manschettenknöpfe seien ein Präsent der gesamten Familie Bergmann.«
Judith lächelte stolz. »Ich verfüge schon seit einigen Jahren über ein ansehnliches eigenes Gehalt. Ich habe Lehraufträge in Psychologie und Pädagogik an der Friedrich-Wilhelm-Universität und an der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon. Ich kann mir also durchaus ein eigenes Geburtstagsgeschenk für dich leisten.«
Martin sah etwas verlegen aus. »So war meine Einladung an dich aber nicht gemeint, Judith. Dass ich auf ein weiteres Geschenk aus war. Und noch dazu so ein wertvolles«, ergänzte er verblüfft, nachdem er das Päckchen geöffnet hatte. » Schade, dass ich die Krawattennadel nicht gleich anstecken kann. Sie ist wunderschön.«
Missmutig sah er an seinem schwarzen Abendanzug hinunter, zu dem er ein blütenweißes Hemd mit steifem Kragen und einer schwarzen Fliege trug.
»Du wirst sicher noch viele Gelegenheiten haben, die Nadel zu tragen«, tröstete ihn Judith.
Ihre Blicke trafen sich erneut. Wieder spürte Judith das Ziehen in der Magengrube. Obwohl Martins schwarze, zurückgekämmte Haare schon leichte Geheimratsecken aufwiesen, gefiel er ihr mit seinen schwarzen Augen, der markanten Nase und den schmalen Lippen außerordentlich gut. Mit einer einzigen Ausnahme.
Jetzt ritt sie der Teufel. Sie beschloss, das einmal anzusprechen. »Ich wollte dich schon seit längerer Zeit etwas fragen«, begann sie kryptisch. »Erlaubst du es mir?«
Martin nickte erstaunt. »Schieß los!«
»Aber du darfst es mir nicht übel nehmen.«
»Jetzt machst du mich aber wirklich neugierig. Nein, ich nehme dir die Frage genauso wenig übel wie die Auswahl dieses Themenrestaurants. Du weißt ja, dass ich lieber woanders hingegangen wäre. Aber bislang finde ich unseren Abend auch hier sehr schön.«
Während die Kapelle das Lied »Warum ist es am Rhein so schön?« anstimmte, holte Judith tief Luft. Ihre Frage zurückziehen konnte sie jetzt nicht mehr. Also entschloss sie sich, direkter zu werden.
»Du bist ein sehr attraktiver Mann, Martin«, begann sie. »Nur eine Sache verstehe ich nicht. Warum trägst du als jüdischer Geschäftsmann den gleichen Schnurrbart wie dieser widerwärtige Fanatiker und Antisemit Adolf Hitler?«
Einen Moment lang wirkte Martin verdutzt, dann lachte er auf. »Warum nicht? Diese Barttracht ist im Moment sehr modern und gefällt mir gut. Ich denke nicht im Traum daran, mich von einem solch üblen Zeitgenossen wie diesem Hitler an etwas hindern zu lassen, was ich tun möchte.«
Judith ging ihr letztes Gespräch mit ihrem Vater durch den Kopf. Paul Bergmann nahm die Bedrohung durch die Nationalsozialisten sehr ernst und hatte ihr sogar anvertraut, dass er sie für den ausschlaggebenden Grund hielt, warum Adolf Jandorf sein Unternehmen an Tietz verkauft hatte.
Während sie noch überlegte, ob sie diesen Einwand äußern sollte, argumentierte Martin schon weiter. »Glaub mir, liebe Judith, diese Nazis sind nur eine vorübergehende Erscheinung. In einigen Jahren sind sie höchstens noch als Kinderschreck zu gebrauchen. Wir, die Familie Tietz, wären jedenfalls niemals so weit gekommen, wenn wir uns von solchen Leuten hätten einschüchtern lassen. Antisemitismus gibt es in Deutschland schon lange. Trotzdem haben es sowohl mein Vater als auch mein Onkel geschafft, aus kleinsten Verhältnissen heraus ihre Warenhausimperien aufzubauen.«
Judith entschied sich, das buchstäblich »haarige« Thema Barttracht nicht weiter zu vertiefen, und ging auf Martins letzte Aussage ein.
»Ja, es ist wirklich überaus erstaunlich, dass zwei so große Kaufhauskonzerne aus ein und derselben Familie hervorgegangen sind. Sind die Unternehmen vergleichbar oder ist ›Hermann Tietz‹ größer als ›Leonhard Tietz‹?«
Eigentlich kannte sie die Antwort schon aus Gesprächen mit ihrem Vater, sie vermutete aber, dass es Martin freuen würde, sich dazu zu äußern. So war es auch.
»Seit der Übernahme der Jandorf-Warenhäuser ist die Hermann Tietz OHG der größte Warenhauskonzern in Familienbesitz auf dem europäischen Festland«, wiederholte er stolz eine Aussage, mit der das Unternehmen bereits kurz nach dem Kauf geworben hatte. »Lange Zeit waren die Firmen meines Vaters Oscar und meines Onkels Leonhard ungefähr vergleichbar. Doch jetzt sind wir am Imperium meines Onkels vorbeigezogen. Wir haben fast zwanzig Standorte, davon allein zehn in Berlin. Mit dem KaDeWe als neuem Juwel unseres Unternehmens.«
»Hat dich das an der Übernahme der Leitung gereizt?«, fragte Judith mit einem leicht spöttischen Unterton.
Martin bemerkte es gar nicht. »Natürlich«, antwortete er offen. »Das KaDeWe ist nicht nur das einzige Kaufhaus im Berliner Westen, also an einem außerordentlich guten Standort, wo es keine Konkurrenz in unmittelbarer Nähe gibt. Es wird auch das einzige Kaufhaus bleiben, das seinen Namen behält. Alle anderen Jandorf-Häuser heißen mittlerweile Tietz. Natürlich sticht das KaDeWe allein dadurch aus der Masse unserer Warenhäuser heraus.«
»Also wird sich dort gar nichts ändern?«
»Vorläufig nicht. Wir tragen uns zwar mit einem bestimmten Gedanken, aber der ist noch nicht spruchreif. Nicht einmal dir gegenüber, Judith.«
Plötzlich schlug er sich an die Stirn. »Doch, eine Sache ändert sich sogar schon bald.« Er kramte in seiner Jacketttasche nach einem Notizblock und riss einen Zettel ab. »Dies war die bisherige Abkürzung, wie du weißt.« K. d. W., las Judith, was er aufschrieb. »Und so soll es in Zukunft heißen.«
Martin kritzelte das Wort »KaDeWe« auf den Zettel. »Die neue Lichtreklame für sämtliche Außenfassaden habe ich schon bestellt.«
Judith war beeindruckt. »Diese Abkürzung ist wirklich sehr viel eingängiger.«
»Und du wirst sehen, das wird unter meiner Leitung nicht die letzte Innovation sein.«
Wieder einmal bemerkte Judith, leicht unangenehm berührt, dass Martin manchmal zum Prahlen neigte. Doch der folgende Gesprächsverlauf ließ sie dieses Gefühl rasch verdrängen.
»Ich möchte damit in die übergroßen Fußstapfen meines Vaters treten. Habe ich dir schon erzählt, dass er es war, der Orangen in Berlin vom Luxusgut zu einem Obst gemacht hat, das sich heute nahezu jedermann leisten kann?«
Genau in diesem Moment servierte der Kellner Judiths Dessert. Während sie den Grießpudding mit dem schmackhaften Kirschragout genoss, holte Martin aus.
»Das war lange vor Beginn des Weltkriegs. Da kam mein Vater auf die Idee, Ware, darunter auch Orangen, waggonweise zu bestellen und zu Schleuderpreisen anzubieten, um damit eine breite Käuferschar für seine Warenhäuser zu gewinnen. Apfelsinen kosteten damals fünfzig Pfennig das Stück. Deshalb konnten sich nur die Wohlhabenden dieses Obst leisten. Aber mein Vater bestellte direkt beim Erzeuger in Spanien mehrere Eisenbahnwaggons dieser Früchte und bot sie dann für fünf Pfennig an. Seither sind sie für jedermann in Berlin erschwinglich.«
Judith verschluckte sich fast vor Verblüffung. Erschwinglich für jedermann? Das musste sie unbedingt richtigstellen.
»Das kaufmännische Talent deines Vaters war sicher bewundernswert, Martin. Aber viele Bewohner Berlins können sich bis heute keine Orangen leisten. Für die arme Bevölkerung ist Obst aller Art noch immer fast unerschwinglich. Das Geld reicht höchstens einmal für ein paar verschrumpelte Äpfel. Ich weiß, dass Orangen sehr gesund sind. Als ich noch in den Tagesstätten gearbeitet habe, war ich sehr dankbar dafür, dass ich von Adolf Jandorf Orangenspenden für die Kinder erhielt.«
Dass auch Gunter Perl Judith Zitrusfrüchte gespendet hatte, ließ sie unter den Tisch fallen. Heute hielt sie diese Großzügigkeit für einen der Charakterzüge des »Wolfs im Schafspelz«, der Perl zweifellos war.
»Mithilfe der Orangen und anderer nahrhafter Lebensmittel konnte ich sogar beweisen, dass sich die Gesundheit der Kinder, die diese regelmäßig aßen, nachhaltig besserte. Über das dazugehörige Forschungsprojekt habe ich meine Abschlussarbeit an der Uni geschrieben.«
Plötzlich kam ihr eine Idee. »Weißt du eigentlich, dass Alice Salomon kürzlich eine Frauenakademie gegründet hat? Auch dort plane ich ein Forschungsprojekt. Über das Thema ›Die Familienverhältnisse von Kindern in Kindergärten und Horten‹. Dazu möchte ich wieder Daten in den Einrichtungen erheben, die ich schon von früher her kenne. Orangen als Mitbringsel für die Kinder wären mir daher überaus willkommen.«
Martin verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sofort. »Dann will ich dafür sorgen, dass es dir daran nicht mangelt, Judith. Das verspreche ich dir.«
Gerade verdunkelte sich das Licht im Saal wieder. Ein weiteres Mal stand die Sensation in der Rheinterrasse bevor: die stündliche Simulation eines Gewitters mit Blitz, Donner und Wolkenbrüchen. Zwar schützten Glasscheiben die Gäste davor, nass zu werden, aber für Judith und Martin war es nun schon das dritte Gewitter. Der Erlebniswert war damit dahin und Martins Vorschlag nur folgerichtig.
»Doch nun iss endlich auf, Judith, und lass uns in den Palmensaal wechseln. Mir ist nicht mehr nach reden zumute, jetzt möchte ich endlich mit dir tanzen.«
Drei Stunden später saßen Martin und Judith eng aneinandergeschmiegt auf dem Rücksitz eines Taxis. Geredet hatten sie in der Tat nur noch recht wenig. Stattdessen waren sie sich, insbesondere bei Foxtrott und Langsamem Walzer auch körperlich näher und näher gekommen.
Schließlich hatte Martin die Initiative ergriffen und Judith auf die Terrasse geführt. Hoch über dem unter dem Nachthimmel hell erleuchteten Berlin hatte er sie in die Arme genommen und leidenschaftlich geküsst. Nun waren sie in stillschweigender Übereinkunft auf dem Weg in seine Wohnung.
Heute Nacht würde Judith nicht in die Villa Bergmann in Charlottenburg zurückkehren, wo sie noch immer wohnte. Und wenn mir irgendjemand darüber Vorhaltungen machen will, verweise ich einfach darauf, dass ich im nächsten Monat dreißig Jahre alt werde, dachte sie trotzig. Mama wird sich ohnehin freuen, wenn ich endlich wieder in festen Händen bin.
»Fräulein Krause! Fräulein Krause!«
Rieke überprüfte auf Weisung von Gunter Perl gerade den Bestand an einem bestimmten Pariser Modellkostüm, das sich im vergangenen Monat sehr gut verkauft hatte. Sie zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, als eine junge Verkäuferin, die erst kürzlich in der Damenkonfektion begonnen hatte, hastig auf sie zueilte und sie darüber hinaus schon aus zehn Meter Entfernung anrief. Zum Glück war es noch früh am Tag. Um diese Uhrzeit hielt sich erst wenig Kundschaft im ersten Stockwerk auf.
»Fräulein Sperber«, sprach Rieke die Verkäuferin an und hob gebieterisch die Hand, als diese sofort losplappern wollte. »Sie sind noch sehr jung und erst wenige Wochen bei uns in der Damenkonfektion. Deshalb merken Sie sich bitte: Eine Mitarbeiterin dieser noblen Abteilungen rennt nicht durch das Stockwerk. Geschweige denn, dass sie laute Rufe ausstößt. Für heute sei Ihnen verziehen. Doch beim nächsten Vorfall dieser Art müsste ich Sie ernstlich tadeln.«
Die junge Frau errötete und schlug sich verlegen die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie bitte, Fräulein Krause! Es wird nicht wieder vorkommen. Aber was ich Ihnen zu sagen hätte, scheint mir sehr wichtig zu sein.«
Rieke lächelte und nickte Eva Sperber ermutigend zu. Sie erprobte sich noch in der richtigen Mischung aus Strenge, mit der sie als Aufsichtsdame für Zucht und Ordnung in ihrem Verantwortungsbereich zu sorgen hatte, und herzlicher Freundlichkeit, die sie für ein gutes Arbeitsklima als unverzichtbar erachtete.
Immerhin senkte Fräulein Sperber jetzt die Stimme. »Ich glaube, wir haben Greta Garbo gerade als Kundin in der Schuhabteilung. Die Schauspielerin«, fügte sie erklärend hinzu, als Rieke vor Erstaunen der Mund offen blieb.
Rieke sammelte sich. »Ich weiß, wer Greta Garbo ist, Fräulein Sperber. Aber ich dachte, sie sei schon längst in Amerika tätig.«
»Das ist sie auch«, erwiderte Eva eifrig. Sie sah sich um und senkte noch einmal die Stimme, obwohl niemand in der Nähe war. »Aber es heißt, sie sei nach dem Erfolg ihres letzten Films in einen Streik für eine höhere Gage getreten. Der Film heißt in Amerika Flesh and the Devil, auf Deutsch hieße das ›Fleisch und der Teufel‹. Aber hier bei uns hat man ihm einen ganz langweiligen Titel gegeben. Er läuft im UFA-Palast unter dem Namen Es war. Fast hätte ich mir den Film deshalb gar nicht angesehen, bis ich las, dass die Garbo mitspielt.«
Rieke hob wieder die Hand, um Eva Sperbers Redefluss zu unterbrechen. »Jetzt weiß ich zwar, dass Sie in Ihrer Freizeit eine eifrige Kinobesucherin sind.« Sie selbst machte sich nicht viel aus den recht populären Stummfilmen. »Aber leider weiß ich noch nicht, was Sie mir eigentlich mitteilen wollen.«
»Entschuldigung, Fräulein Krause.« Eva sah sich noch einmal um. »Also, Frau Garbo scheint inkognito in Berlin zu sein. Nicht wegen des Films, bei der Premiere hier war sie nicht dabei. Aber sie arbeitet ja derzeit nicht und kann deshalb reisen. Jetzt will sie Schuhe im KaDeWe kaufen. Aber«, Eva sprach so leise, dass Rieke sich ihr entgegenneigen musste, »aber sie hat doch so große Füße. Man sagt, Schuhgröße 43. Und«, sie stockte und holte tief Luft.
»Und?«, hakte Rieke ungeduldig nach.
»Und ich glaube, Frau Dehner macht das nicht so geschickt. Wahrscheinlich hat sie die Garbo gar nicht erkannt.«
Was hatten Sie denn eigentlich in der Schuhabteilung zu tun?, lag es Rieke schon auf der Zunge zu fragen, als sie sich auf das Wesentliche besann. Sie erinnerte sich flüchtig an eine große, sehr schlanke Dame, die ihr Gesicht halb im ausladenden Pelzkragen ihres Wintermantels, halb unter dem Schleier eines Glockenhuts verborgen hatte. Diese eng am Kopf anliegenden Hüte, die bis über die Ohren reichten, waren in dieser Saison groß in Mode.
Die Dame war vor ungefähr zwanzig Minuten, gleich nach der Öffnung des Warenhauses um acht Uhr, schnellen Schritts durch die Damenkonfektion in Richtung Schuhabteilung geeilt. Rieke hatte sie nicht erkannt. Offensichtlich auch die Erste Verkäuferin Frau Dehner nicht, wenn Eva Sperber recht hatte.
Rieke zögerte keinen Moment länger und winkte Fräulein Sperber, ihr zu folgen. Wenn wirklich Greta Garbo im KaDeWe einkaufen wollte und gerade schlecht bedient wurde, könnte daraus leicht ein Skandal werden.
Obwohl die Garbo Berlin seinerzeit rasch wieder verlassen und während ihres Aufenthalts nur einen einzigen, wenn auch sehr erfolgreichen Film gedreht hatte, war die gebürtige Schwedin in der Hauptstadt überaus populär. Nicht auszudenken, wenn eines der notorischen Klatschblätter Wind davon bekäme, dass sie unzufrieden mit dem KaDeWe gewesen war. Noch dazu in einer Abteilung, die unter Riekes Aufsicht stand. Ein gefundenes Fressen für Gunter Perl, dachte sie grimmig.
So schnell es sich mit den Gepflogenheiten der vornehmen Damenabteilungen vertrug, eilte sie mit Eva Sperber im Schlepptau zur Schuhabteilung, die unseligerweise am entgegengesetzten Ende des Stockwerks lag.
Schon von Weitem hörte sie die leicht quäkende Stimme der Ersten Verkäuferin Frau Dehner. Sie war eine verbittert wirkende Frau Mitte vierzig, die ihren Ehemann im Krieg verloren hatte. Trotz dieses schweren Schicksalsschlags hätte Rieke Frau Dehner nicht als Verkäuferin eingestellt. Schon gar nicht als Erste Verkäuferin. Aber da sie die Schuhabteilung samt Personal als Aufsichtsdame übernommen hatte, war ihr gar keine Wahl geblieben.
»Bei Ihrer Schuhgröße ist unsere Auswahl leider nicht so groß wie bei normalen Frauenfüßen, gnädige Frau«, hörte Rieke Frau Dehner jetzt zu ihrem Entsetzen sagen. »Da bleibt Ihnen leider nur die Alternative, sich mit einem der vorhandenen Modelle zu begnügen oder eine kleinere Schuhgröße zu wählen. Auf die Gefahr hin, dass Sie nicht so gut darin gehen können. Es heißt nicht umsonst: Wer schön sein will, muss leiden.«
»Ich merke schon, Sie können mir nicht weiterhelfen.« Gretas Stimme klang rauchig mit einem leichten Akzent, der ihre ausländische Herkunft verriet. »Wie schade! Es heißt doch immer: Im KaDeWe findet man alles, dort sucht man nie etwas vergeblich.«
Rieke straffte den Rücken und trat vor. »Das ist auch unser Anspruch, gnädige Frau. Hier gibt es für alles eine Lösung. Darf ich fragen, womit ich Ihnen behilflich sein kann?«
Mit einem vernichtenden Blick auf Frau Dehner fügte sie hinzu: »Ich bin die Aufsichtsdame und werde mich ab jetzt persönlich darum bemühen, Sie zufriedenzustellen.«
Im letzten Moment verbiss sie sich die Anrede »Frau Garbo«, obwohl sie Greta jetzt ebenfalls an ihren ausdrucksvollen dunkelbraunen Augen mit den langen Wimpern erkannt hatte, die durch den zarten Tüllschleier ihres dunkelgrünen Glockenhuts schimmerten.
Sie wandte sich an Frau Dehner. »Sie assistieren mir bitte dabei, meine Liebe. Fräulein Sperber wird ebenfalls helfen, wenn es nötig sein sollte.« Sie wandte sich wieder an die Garbo. »Möchte die gnädige Frau noch einmal einen Moment lang Platz nehmen?« Rieke wies einladend auf den bequemen Polstersessel, aus dem sich die Schauspielerin bereits erhoben hatte.
Die blieb unschlüssig stehen. Gewillt, die Situation noch zu retten, setzte Rieke nach. »Womit dürfen wir Ihnen denn dienen?«
»Ich hoffte, Sie hätten schwarze Pumps für mich. Zum Ausgehen für abends.« Zu Riekes Freude setzte sich Greta wieder. »Von meinen Pumps ist der Absatz abgebrochen. Sie taugen nicht mehr. Doch die beiden Modelle, die mir gezeigt wurden, sagen mir nicht zu. Sie wirken wie Schuhe für alte Frauen. Auch die Farbe passt nicht.«
Rieke gab Frau Dehner einen Wink. »Zeigen Sie mir bitte, was Sie bislang angeboten haben!«
Frau Dehner bückte sich mit verkniffener Miene zu zwei Schuhkartons hinunter, die sie bereits geschlossen hatte. Rieke erkannte die Schuhgröße »43« darauf.
»Hier bitte!« Wenn Blicke töten könnten, wäre Rieke auf der Stelle leblos zu Boden gefallen. Später, riss sie sich zusammen, später werde ich ein ernstes Wort mit Frau Dehner zu reden haben. Jetzt gab es Wichtigeres.
In der Tat waren die Modelle überaus hässlich. Rieke wunderte sich, dass das vornehme KaDeWe solche plumpen Schuhe überhaupt führte. Beide Paare waren Schnürschuhe mit groben Schuhriemen. Eines bestand aus braunem Wildleder und wirkte wie ein Wanderschuh. Auch das zweite dunkelgraue Paar konnte man beim besten Willen nicht als elegant bezeichnen, obwohl es einen kleinen breiten Absatz hatte.
»Frauen mit solch großen Füßen suchen in der Regel einen flachen Schuh, um darin ihre Arbeit bequem verrichten zu können«, würde sich Frau Dehner später verteidigen.
Auch ohne dieses Argument schon zu kennen, beschloss Rieke, das Gespräch mit dem Einkäufer für Lederwaren zu suchen. Sollte er sich weigern, eine Auswahl eleganter Schuhe für große Größen zu bestellen, würde sie sich an ihren gemeinsamen Vorgesetzten Gunter Perl wenden. Doch jetzt galt es erst einmal, in der aktuellen Situation das Richtige zu tun.
»Hat man Ihnen auch Pumps in kleineren Schuhgrößen gezeigt?«
Greta nickte. »Ja, doch das einzige vorrätige Paar in Größe 42 gefällt mir ebenso wenig.«
»Aber es gab ein Modell, das Ihnen zusagte?«, hörte Rieke heraus.
»Ja, sogar zwei Paar in der nächstkleineren Größe. Ich habe beide anprobiert. Doch meine Füße waren darin völlig eingezwängt. Damit könnte ich nicht einmal gehen, geschweige denn tanzen.«
Rieke wandte sich wieder an Frau Dehner. »Bringen Sie die Pumps trotzdem noch einmal her!«
»Das hat keinen Zweck«, protestierte die Garbo und schien schon im Begriff, sich wieder zu erheben. »Diese Schuhe probiere ich nicht noch einmal an. Das tut mir zu weh und ruiniert womöglich noch meine Seidenstrümpfe.«
»Anprobieren ist auch nicht nötig, Frau Gar…, äh, gnädige Frau. Ich habe eine Idee, die ich weiterverfolgen möchte.«
Frau Dehner brachte die Paare und setzte sie etwas zu fest vor der Garbo ab.
»Gesetzt den Fall, die Schuhe hätten die richtige Größe. Welches Paar würde Ihnen besser gefallen?«
Die Garbo warf Rieke einen verwunderten Blick zu. Dann überlegte sie eine Weile und zeigte schließlich auf einen Pumps mit zarten Riemchen über dem Fußrist und einem ungefähr fünf Zentimeter hohen schmalen Absatz, der nach unten hin spitz zulief.
»Dieser Schuh wäre schon nach dem ersten Tragen ruiniert«, mischte sich Frau Dehner ungefragt ein. »Da er eben eindeutig zu klein ist. Die Spannung auf den Riemchen wäre zu groß, sie würden reißen. Das habe ich der Dame auch schon gesagt.«
Rieke brauchte all ihre Beherrschung, um der Ersten Verkäuferin nicht rüde ins Wort zu fallen. Doch sie war sich ihrer Vorbildfunktion bewusst. Unhöflichkeit in Gegenwart dieser wichtigen Kundin und der jungen Verkäuferin Eva Sperber würde auf sie selbst zurückfallen.
»Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis, Frau Dehner«, sagte sie stattdessen. »Aus diesem Grund hatte ich auch etwas ganz anderes im Sinn. Fräulein Sperber! Würden Sie bitte in die Schuhwerkstatt laufen und Herrn Wilkins herbeiholen?«
»Derweil kümmern Sie sich doch bitte um die gerade eingetretene Kundin!«, wies sie Frau Dehner an, die erneut den Mund geöffnet hatte, wahrscheinlich für ihren nächsten Einwand. So konnte Rieke sie jetzt unauffällig loswerden.
Nach zehn Minuten, in denen Rieke wie auf glühenden Kohlen stand, da Greta ungeduldig mit dem Fuß wippte und immer wieder auf ihre Uhr sah, kam Eva mit dem ältlichen Herrn Wilkins zurück.
Adolf Jandorf hatte den Schuhmachermeister seinerzeit wie Riekes Mutter Käthe aus dem Warenhaus am Weinberg ins KaDeWe mitgenommen. Dem unauffälligen, bescheiden auftretenden Mann sah man nicht an, dass er ein wahrer Meister seines Fachs war.
»Lieber Herr Wilkins.« Riekes herzlicher Tonfall war echt. »Ich möchte Ihre Dienste für eine sehr wichtige Kundin in Anspruch nehmen. Könnten Sie dieses Pumpsmodell in der passenden Schuhgröße herstellen?« Sie hielt ihm einen der Riemchenschuhe entgegen. »Sagen wir, bis übermorgen früh?«
Der Mann wiegte sein fast kahl gewordenes Haupt. »Ich kann es versuchen, wenn ich alles andere stehen und liegen lasse«, sagte er dann. »Doch ich müsste die richtigen Maße bei der gnädigen Frau nehmen.«
Rieke lächelte erleichtert und wandte sich an die Garbo, um deren Einverständnis einzuholen. Doch noch war eine letzte Hürde zu nehmen.
Wieder machte Greta Anstalten aufzustehen. »Eine Maßanfertigung wird mich sicher eine astronomische Summe kosten«, protestierte sie. »Lassen Sie es gut sein, meine Dame. Ich schätze Ihre Bemühungen, aber ich gehe doch lieber zu Wertheim und schaue, was es dort gibt.«
Rieke reagierte spontan. »Das KaDeWe ist allzeit bestrebt, alle Kundinnen zufriedenzustellen. Da wir Ihr gewähltes Modell nicht in der richtigen Größe vorrätig haben, kostet Sie die Maßanfertigung natürlich keinen Pfennig mehr als das reguläre Paar.«
»Das war ganz fantastisch, Fräulein Krause. Von Ihnen kann ich wirklich noch eine Menge lernen«, schwärmte Eva Sperber, nachdem die Garbo das KaDeWe zufrieden verlassen hatte.
Rieke war es nicht ganz so leicht ums Herz. Sie ahnte, dass die Maßanfertigung ein Vielfaches des regulären Preises kosten würde, und befürchtete einen Tadel von Gunter Perl, dem sie dies bei ihrer wöchentlichen Berichterstattung natürlich nicht verschweigen durfte. Aber davon sollte die junge Eva nichts wissen.
Daher neigte Rieke dankend den Kopf. »Das freut mich zu hören, Fräulein Sperber. Schließlich haben Sie ja noch etliche Berufsjahre vor sich.«
»Oder auch nicht«, antwortete Eva zu Riekes Überraschung. »Wussten Sie gar nicht, dass die Garbo auch einmal in einem Warenhaus gearbeitet hat? Das war in Stockholm in einer Hutabteilung, wo sie auch Hüte für den Katalog präsentiert hat. Dabei wurde sie dann entdeckt. Das ist noch gar nicht so lang her.«
Rieke war für einen Moment verdutzt, dann musste sie sich ein Lachen verbeißen »Und solch einen Werdegang erhoffen Sie sich ebenfalls, Fräulein Sperber? Sie möchten Schauspielerin werden?«
Eva errötete. »Für mein Leben gern! Oder …«, sie stockte. »Oder halten Sie mich nicht für hübsch genug dazu?« Ihre Stimme schwankte.
Rieke überlegte kurz, was sie darauf antworten sollte. Eva Sperber war sogar sehr hübsch. Mit ihren goldblonden Haaren und blauen Augen entsprach die Zwanzigjährige perfekt dem aktuellen arischen Schönheitsideal. Dass sie jüdisch war, sah man ihr nicht an.