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Macht der Kapitalismus wenige reich und viele arm – oder immer mehr immer weniger arm? Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat – und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht – und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen waren. Nur so ist die ökonomisch erfolgreiche Massenproduktion möglich. Das hat früh Kritik auf sich gezogen, aber Plumpe zeigt, wie die kapitalistische Art des Wirtschaftens darauf reagiert hat, sich immer wieder wandelt. Der Kapitalismus ist folgenreich wie wenige andere Ideen, und wir entkommen ihm nicht, nicht mal in der Verweigerung. Ihm liegt weder ein böser Wesenskern zugrunde, noch ist er die Summe missliebiger Begleiterscheinungen unseres Gesellschaftssystems. Plumpe zeigt den Kapitalismus als immerwährende Revolution – als eine Bewegung ständiger Innovation und Neuerung, die so gut oder schlecht ist, wie wir sie gestalten. Der Kapitalismus ist und war schon immer das, was wir aus ihm machen.
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Seitenzahl: 1133
Veröffentlichungsjahr: 2019
Werner Plumpe
Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution
Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat – und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht – und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen waren. Nur so ist die ökonomisch erfolgreiche Massenproduktion möglich. Das hat früh Kritik auf sich gezogen, aber Plumpe zeigt, wie die kapitalistische Art des Wirtschaftens darauf reagiert hat, sich immer wieder wandelt.
Der Kapitalismus ist folgenreich wie wenige andere Ideen, und wir entkommen ihm nicht, nicht mal in der Verweigerung. Ihm liegt weder ein böser Wesenskern zugrunde, noch ist er die Summe missliebiger Begleiterscheinungen unseres Gesellschaftssystems. Plumpe zeigt den Kapitalismus als immerwährende Revolution – als eine Bewegung ständiger Neuerung, die so gut oder schlecht ist, wie wir sie gestalten. Der Kapitalismus ist und war schon immer das, was wir aus ihm machen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2019
Copyright © 2019 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
ISBN 978-3-644-00290-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Widmung
Einleitung «Private Laster, öffentlicher Nutzen» (Bernard Mandeville): die paradoxe Geschichte des Kapitalismus
Erstes Kapitel «Welche Verkettung von Umständen» (Max Weber): die Entstehung des Kapitalismus
Ein europäischer Sonderweg
Der Wandel des Weltbildes: ideengeschichtliche Voraussetzungen des Kapitalismus
Politik als Gestalter? Der Merkantilismus, die Privilegienwirtschaft und die Freiheit des Marktes
Agrarrevolution, Bevölkerungswachstum und Verstädterung
Vom Mittelmeer an den Atlantik und die Nordsee: Kapitalismus durch Fernhandel?
Neue Technologien, frühe Unternehmer und immer mehr Konsumenten
Die Bourgeoisie und das Proletariat? Kapital, Arbeit und Konsum
Zweites Kapitel Eine Dynamik ohnegleichen: der Kapitalismus im langen 19. Jahrhundert
Eine institutionelle Revolution? Die Rolle der Politik
Massenproduktion und Massenmärkte
Die Verkehrsrevolution
Monopolkapitalisten und Robber Barons? Der moderne Finanzkapitalismus
Großbritannien: Werkstatt der Welt, Kapitalgeber und Vorbild
Soziale Ungleichheit, koloniale Expansion und die Entstehung der Arbeiterbewegung
Die Reaktion der Politik: staatliche Daseinsfürsorge und soziale Sicherung
Konjunktur und Krise, Krieg und Kulturkritik im Kapitalismus
Drittes Kapitel Schwarze Jahre: der Kapitalismus zwischen Kriegen und Krisen
Die fatale Logik des Krieges
Das Ende des Kapitalismus und die Utopie einer anderen Welt
«Goldene» zwanziger Jahre?
Der Nachkriegskapitalismus und seine Probleme
Die Weltwirtschaftskrise
Alternativen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung
Keynesianismus, Ordnungspolitik und Neoliberalismus
Und wieder herrscht Krieg: der große Rückschlag
Viertes Kapitel Phönix aus der Asche: die Trente Glorieuses zwischen 1945 und 1973
Catching up and Falling behind
Eine neue Weltwirtschaft
Die Massenkonsumgesellschaft
Deproletarisierung und soziale Mobilität
Sozialpolitik und die Varieties of Capitalism
Strukturwandel und Krise der 1970er Jahre
Ein Jahrzehnt im Rückblick
Fünftes Kapitel Entgrenzung: der weltweite Siegeszug des Kapitalismus
Die Krise der politischen Wirtschaftssteuerung
Befreiung der Märkte
Die Liberalisierung der Weltwirtschaft
Kapitalistischer Alltag und kapitalistische Unternehmenskultur
Der Finanzmarktkapitalismus und seine Krisen
Strukturwandel im 21. Jahrhundert
Schluss Das kalte Herz: Geschichte und Zukunft des Kapitalismus
Literatur
Register
Dank
Für Silke
Der Kapitalismus hat Konjunktur. Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 beherrscht das Thema die Welt der Sachbücher und der Feuilletons. Die Rolle, die dem Kapitalismus dabei zufällt, ist fast durchweg die des Schurken. Im Grunde der bis heute anhaltenden Krise werden jene Merkmale vermutet, die den Kapitalismus auszumachen scheinen: Gier, Profitsucht, Maßlosigkeit – Eigenschaften, die nicht nur wiederkehrend Krisen erzeugen, soziales Elend produzieren und unserem Leben eine gefährliche Fragilität geben; nein, sie bedrohen unser Schicksal insgesamt. Der Kapitalismus, so der fast einhellige Tenor, hat ohnehin keine Zukunft: Entweder er führt in die Katastrophe, oder es gelingt der Menschheit, sich rechtzeitig von ihm zu befreien.
Nicht alle Stimmen sind so apokalyptisch, aber kritisch sind sie allemal. Doch fragt kaum jemand, wie sich ein Wirtschaftssystem – unterstellen wir einmal, der Kapitalismus sei eines –, das offensichtlich wenig Freunde hat, derart erfolgreich ausbreiten und behaupten konnte. An Erklärungen, nach denen «der» Kapitalismus selbst dafür sorge, dass es keine erfolgreichen Alternativen zu ihm gibt, dass «er» gewalttätig und repressiv sei, dass «er» politische Entscheidungen kaufe und Politik überhaupt in Geiselhaft nehme, dass «er» sich in die institutionellen Strukturen unserer Welt so eingeschrieben habe, dass wir gar nicht mehr bemerken, wenn wir «sein» Geschäft betreiben, mangelt es nicht. Allerdings ist abgesehen von dem Problem, dass der Kapitalismus hier zu einem absichtsvoll handelnden Akteur gemacht wird, in der vermeintlichen Erklärung bereits die Lösung vorausgesetzt: Der Kapitalismus ist mächtig, weil er mächtig ist. Seine Wandlungen, Häutungen und Unterschiede sind nur Ausdruck seiner Diabolik; er ist in tausend Gestalten doch immer der Gleiche, der Gottseibeiuns eben. Ob er kaltlächelnd in den USA erscheint, in sozialer Camouflierung in Kontinentaleuropa oder als brachialer Ausbeuter in China oder Afrika, das sind letztlich nur Possenspiele, um die Kritik auszutricksen oder Widerstand ins Leere laufen zu lassen. Sein wahres Gesicht, da ist sich zumindest die europäisch-nordamerikanische Kritik einig, zeigt sich im Neoliberalismus und im damit eng verbundenen globalen Finanzmarktkapitalismus: Wenn der Kapitalismus kann, wie er eigentlich will, dann ist er skrupellos.
Diese Erklärungen sind im Kern tautologisch und erklären daher wenig. Vor allem verstellen sie den Blick auf den historischen Wandel der Wirtschaft, der dann bestenfalls wie ein technologisch getriebener Kleiderwechsel aussieht, ein Wechsel, der bis zu dem Zeitpunkt anhält, an dem der technologische Fortschritt dem Kapitalismus über den Kopf wächst. Das ist zumindest die marxistische Überzeugung, doch fehlt auch hier jede Idee, wie denn eine nachkapitalistische oder nichtkapitalistische Wirtschaft aussehen könnte. Zum realen Sozialismus wollen die Kritiker des Kapitalismus derzeit zwar mehrheitlich nicht zurück, doch wie eine Wirtschaft gestaltet sein könnte, die einerseits die mittlerweile bald acht Milliarden Menschen ernähren, bekleiden und versorgen kann, andererseits aber auf Produktivitätswachstum, marktliche Koordination von wirtschaftlichen Handlungen, Güterzuteilung über freie Preisbildung und privates Eigentum verzichtet, weiß niemand. Auch Paul Masons Utopie, die gegenwärtige Informationstechnologie befreie uns allein durch die technisch mögliche Fülle fast kostenlos verfügbarer Güter von Arbeit, Knappheit und Marktwirtschaft, ist so liebenswert wie unrealistisch, ein modernes Märchen vom Schlaraffenland.[1]
Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die gegenwärtige Kapitalismuskritik gar nicht die Realität unseres ökonomischen Alltags adressiert, sondern, zugespitzt formuliert, eine Scheinwelt konstruiert hat, in der das selbsterzeugte Gespenst Kapitalismus von den Kräften des Guten bekämpft wird – bisher leider recht erfolglos. Doch der antikapitalistische Furor ist hartnäckig: Was noch nicht ist, wird schon werden. Der Kapitalismus, da ist man sicher, hat die Neigung, sich selbst zu zerstören. Es gibt also Grund zur Hoffnung, die zugleich den Kampf für eine nachkapitalistische Welt befeuern kann. Die Realität der modernen Wirtschaft allerdings stimmt damit bestenfalls in einigen empirischen Befunden überein, liefert doch dieser von Widersprüchen zerfressene, zum Untergang neigende, immer aber bösartige Kapitalismus keine hinreichende Beschreibung der Art und Weise, wie heute wirtschaftliche Zwecke verfolgt werden. Das aber ist der Kritik gleichgültig. Einen großen Teil ihrer Argumente hat sie ohnehin nicht durch Beobachtung und Analyse der modernen Zustände gewonnen. Die Quellen der gegenwärtigen Kapitalismuskritik sind fast durchweg sehr viel älter als die moderne Wirtschaft, sie finden sich in der Tradition der Moralphilosophie und der Theologie der vorkapitalistischen Zeit.
In der marxistischen Literaturtheorie wurde in den 1970er Jahren ein Märchen von Wilhelm Hauff, «Das kalte Herz», das auch diesem Buch den Titel gegeben hat, als Beispiel früher kapitalismuskritischer Literatur gelesen.[2] Dabei bediente Hauffs Erzählung von 1827 mit traditionellen Motiven eher romantische Leseerwartungen, als ein einigermaßen treffendes Bild der Wirtschaft seiner Zeit zu geben. So wird das bei Hauff für die moderne Wirtschaft stehende Holland mit der herkömmlichen Welt des Schwarzwalds kontrastiert und der modernen Maßlosigkeit eine vernünftige Lebensführung gegenübergestellt. Letztlich zeigt das Märchen ganz im Sinne der älteren Ökonomik die Apotheose des guten Haushälters, während das kapitalistische Holland mit genauso altbekannten Bildern der Sittenlosigkeit, der Maßlosigkeit und der alles verzehrenden Geldgier kritisiert wird. Um diese Erzählung zu schreiben, und darauf kommt es an, benötigte Hauff keine realen kapitalistischen Erfahrungen. Ein Blick in die «Patriotischen Phantasien» des Essayisten Justus Möser, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Deutschland überaus populär waren, hätte völlig ausgereicht, ihn mit einer Fülle geld- und marktkritischer Argumente zu versorgen.[3]
Justus Möser wiederum war keineswegs der konservative Bewahrer, den man später in ihm sah, als hätte der Osnabrücker Jurist den Kapitalismus bereits vor seiner Entstehung erkannt und abgelehnt. Möser argumentierte in einer älteren geldkritischen Tradition, die nicht den noch völlig unbekannten Kapitalismus meinte, wenn sie auf die diabolische Kraft des Geldes einging.[4] Die Spur der Geldkritik führt zurück zu Aristoteles, vor allem aber in die hoch- und spätmittelalterliche praktische Philosophie und Theologie, die sich mit dem Aufschwung der Geldwirtschaft in den Städten des 13. und 14. Jahrhunderts auseinanderzusetzen hatte.[5] Die Ablehnung der Geldwirtschaft bezog sich nicht allein auf das Zinsverbot, sondern auf jedes wirtschaftliche Handeln, das mit Gelderwerb verbunden war. Zwar wurde nicht grundsätzlich bestritten, dass die Kaufmannschaft notwendig war; doch galt sie durchweg als heilsgefährdet, weil die Verführung zur Sünde des Wuchers (usura) und der Gier (avaritia) hier besonders leicht schien. Es sei die Natur des Geldes und der Geldwirtschaft, da waren sich die ältere Moralphilosophie und die Theologie lange vor dem Sieg des Kapitalismus sicher, die den Menschen aus der Bahn werfe. Die alte Angst vor der Diabolik des Geldes wechselte im 19. Jahrhundert nur ihr Aussehen; im Kern besteht sie bis heute fort.
Nicht zuletzt in der Marx’schen Sicht sind diese Momente vollständig erhalten, wenn auch in eigentümlicher Wandlung. Schien ihm die ältere Welt noch gebändigt, so war der Kapitalismus im Grunde der Durchbruch zur Raserei, die in den Abgrund oder, im besseren Fall, zum Kommunismus führen konnte. Für Marx war die ältere Welt nicht ideal, welthistorisch gesehen rückständig, doch waren der Ausbeutung durch die Konsummöglichkeiten des Feudalherrn (Marx spricht in einem schönen Bild von dessen Magenwänden) Grenzen gesetzt, die mit dem Kapitalismus, in dem es nur um Geldvermehrung ging, fortfielen. Diese Vorstellung der Entgrenzung als Merkmal des Kapitalismus – von den Älteren befürchtet, von den Jüngeren bereits diagnostiziert – blieb nicht auf Marx beschränkt, sondern findet sich sowohl bei Karl Polanyi[6] als auch in der gegenwärtigen wachstumskritischen Literatur[7]. Doch führt gerade diese Übernahme einer älteren geldkritischen Semantik in der Kritik an den jüngsten Zuständen dazu, dass das eigentlich Neue an der Art des Wirtschaftens, für die heute der Name Kapitalismus steht, nicht gesehen wird.
Um noch einmal auf Marx zu kommen: Auch der Kapitalist hat Magenwände, ganz wie der Feudalherr. Sollte er sich Reichtum tatsächlich schrankenlos aneignen, dann sicher nicht zugunsten seines privaten Konsums und auch nicht, jedenfalls nicht im Regelfall, zu symbolischer Prachtentfaltung durch Schlösser, Parks, Feuerwerke und Mätressen. Der Kapitalist, nennen wir ihn der Einfachheit halber so, macht etwas völlig anderes mit seinem Reichtum, und gerade das unterscheidet ihn fundamental von seinen reichen Vorgängern und von jenen Reichen, die ihr Geld verschwenden. Er macht, und hier sieht Marx die Situation völlig klar, aus seinem Reichtum Kapital, indem er es nicht verbraucht, sondern in produktive Anlagen investiert, also mit Marx zur Mehrwertproduktion nutzt. Das tut er nicht aus altruistischen Motiven, aber er koppelt seine Reichtumserhaltung und -vermehrung an Investitionen in die Produktion für den Massenkonsum der Menschen – und zwar allein für den Massenkonsum, denn der herkömmliche ältere Luxuskonsum war gar nicht bedeutend genug, um solch eine Art des Wirtschaftens überhaupt zu ermöglichen. Während für die älteren Feudalherren einfache Menschen letztlich nur als auspressbare Knechte interessant waren, wurden sie im Kapitalismus darüber hinaus zu Kunden. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Die Kapitalismuskritik, die sich älterer semantischer Traditionen bedient und die Folgen des Gelderwerbs für die Heilserwartung der Oberschicht problematisiert, geht an der neuen Realität weitgehend vorbei. Für sie bleiben die Unterschichten die ausgesaugten Armen, doch verfehlt gerade diese Perspektive das, was sich in der Wirtschaft seit dem 17. Jahrhundert grundlegend verändert hat, ja macht es zur Karikatur. Und auch die sozialistische Kritik sieht nicht, weshalb da etwas Neues entstand und sich durchsetzen konnte. Denn Marx analysiert zwar treffend, dass Kapitalismus bedeutete, «immer mehr und immer effektiver zu produzieren»[8], doch bleibt die damit zwingend verbundene Steigerung des Massenkonsums eigenartig unterbelichtet.
Der Begriff «Kapitalismus» wird in diesem Buch daher sehr vorsichtig genutzt – nicht als Bezeichnung und Kritik zugleich, sondern zunächst nur, um das, was in der Wirtschaft seit dem 17. Jahrhundert neu entstanden ist, auf einen einfachen Begriff zu bringen.[9] Das kann man durchaus mit Marx tun, also die Perspektive auf die Verwandlung von Geldvermögen in Kapital und die Verbreitung der Warenproduktion richten, doch ist das nur ein Aspekt des Kapitalismus-Begriffs. Wie dieser im Einzelnen zu füllen ist, ob es überhaupt Gründe gibt, an diesem Begriff festzuhalten, oder ob man nicht doch besser auf ihn verzichtet, sind Fragen, die sich erst am Schluss dieses Buches beantworten lassen.
Der unvoreingenommene Blick auf die moderne Wirtschaft offenbart zunächst eine eigentümliche Paradoxie: Der Kapitalismus ist trotz oder vielleicht sogar gerade wegen der Kritik, die ihn seit seinen ersten Tagen begleitet, überaus lebendig. Seine Expansion, die in einigen wenigen großen Städten Europas begann, erfolgte stets in Auseinandersetzung mit einer Kritik, die genau dort, also in seinen Zentren, ihren deutlichsten Ausdruck fand. Für die Geschichte des kapitalistischen Wirtschaftens war und ist diese Kritik in ihrer Vielfalt von eminenter Bedeutung. Hier findet sich der wesentliche Grund dafür, dass in der Praxis nicht von einem Kapitalismus gesprochen werden kann, denn nicht zuletzt aufgrund kritischer Gestaltungsimpulse bildeten sich zahlreiche Varianten der modernen Wirtschaft heraus, der Kapitalismus zeigte und zeigt also keineswegs ein einheitliches Gesicht. Dafür sorgten schon die jeweils sehr unterschiedlichen technischen und ökologischen Bedingungen, die sich zudem im Laufe der Zeit regional sehr unterschiedlich entwickelten. Vor allem aber reagierte die institutionelle Gestaltung der Wirtschaft auf die andauernde Kritik, dies allerdings auch wiederum in regional und national ganz unterschiedlicher Weise.
Mit dem Begriff «Kapitalismus» ist insofern keine uniforme Praxis gemeint, und die Unterschiede räumlicher und zeitlicher Art sind nicht allein Oberflächenphänomene, hinter denen sich eine Art «Wesen» der Wirtschaft verbirgt. Nein, das Bemerkenswerte an der kapitalistischen Art zu wirtschaften ist vielmehr ihre Plastizität, und das heißt auch ihre Offenheit gegenüber politischer Gestaltung. Diese Plastizität mag die Kritiker des Kapitalismus an eine Hydra erinnern; schlagen ihr der Wandel oder eine der zahlreichen Krisen einen Kopf ab, wächst stets ein neuer nach, einer, der womöglich überraschend anders aussieht. So ging die Kapitalismuskritik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zum Teil weit darüber hinaus von der Verelendung des Proletariats aus, musste dann aber um die Wende zum 20. Jahrhundert feststellen, dass Kapitalismus, Sozialstaat und Massenkonsum einander keineswegs ausschlossen. Diese Häutungen, zumal in regional unterschiedlicher Weise, setzten und setzen sich seither fort. «Varieties of Capitalism»[10] – so heißt mittlerweile eine ganze Forschungsrichtung, in der entsprechend unterschiedliche Kapitalismen identifiziert worden sind, wobei bis heute nicht ganz klar ist, ob die Gemeinsamkeiten oder die Unterschiede dominieren.
Dieses Problem löst sich jedoch weitgehend auf, wenn eine weitere Annahme unter Vorbehalt gestellt wird. Seit Karl Marx[11], insbesondere aber seit den Arbeiten Werner Sombarts[12] dominiert die heute geradezu selbstverständlich akzeptierte These, der Kapitalismus sei ein Wirtschaftssystem mit klar abgegrenzten Merkmalen, deren Zusammenwirken seine Struktur bestimme. Dieses «System» sei keineswegs auf die Wirtschaft beschränkt, es bilde vielmehr – und hier ist der Marx’sche Einfluss bis in die Gegenwart vorherrschend – die Grundlage des gesamten Gesellschaftsaufbaus. «Kapitalismus» kennzeichne also nicht nur eine Art des Wirtschaftens, sondern die ganze Gesellschaft. Werner Sombart hat diese Annahmen zu der These verdichtet, alle Wirtschaft vollziehe sich in Systemen, die sie selbst wiederum maßgeblich präge. Diese Systeme seien durch bestimmte rechtliche, technische und geistige Momente gekennzeichnet: der Kapitalismus durch positives, gesetztes Recht, eine verwissenschaftlichte Technik und das Vorherrschen eines ausgeprägten Erwerbsverhaltens; der vorhergehende Feudalismus hingegen durch die Bedeutung der Herkunft, eine pröbelnde Technik und letztlich eine Orientierung an der auskömmlichen, durch Herkommen und soziale Merkmale bestimmten «Nahrung».
Sombart war es auch, der diesen Systemen eine historische Dimension zuordnete – wiederum in Anlehnung an Marx. Seine Begrifflichkeit vom Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus war bis in die 1970er Jahre für die Sozialwissenschaft maßgeblich, und die Vorstellung, das Wirtschaftssystem altere und vergehe auf beinahe natürliche Weise, wurde überaus populär. Noch heute wird aus der Historizität der entsprechenden Praktiken auf ihr notwendiges Ende geschlossen: Alles, was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben. Fernand Braudel[13] und Immanuel Wallerstein[14] seien hier nur als prominente Vertreter einer Auffassung genannt, die in der marxistischen Tradition ohnehin nie in Frage stand.[15]
Sosehr die Vorstellung von der Alterung des Kapitalismus auch politische Hoffnungen trägt und theoretische Überlegungen für eine Zeit nach ihm stützt, so empirisch fadenscheinig ist sie zugleich. Merkmale dessen, was heute als typisch kapitalistisch gilt, hat es lange zuvor gegeben. Die althistorische Forschung des 19. Jahrhunderts hat mit guten Argumenten, obgleich letztlich wenig überzeugend, einem antiken Kapitalismus das Wort geredet. Henri Sée schrieb in dieser Tradition kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Buch über die «Ursprünge des modernen Kapitalismus» – ein Titel, der nur Sinn ergibt, wenn auch von einem alten Kapitalismus gesprochen werden kann.[16] Jüngst hat Peter Temin sehr klug die Strukturen der römischen Marktwirtschaft freigelegt.[17] Preisbildende Märkte sind mithin kein Merkmal allein der kapitalistischen Wirtschaft, sondern offensichtlich sehr viel älter. Auch Fernand Braudel hat das erkannt und daher kategorial zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus unterschieden, doch ist das ungefähr so, als wollte man einen Unterschied zwischen Eiche und Baum machen. Vielmehr ist zwar jeder Kapitalismus marktwirtschaftlich, aber eben nicht jede Marktwirtschaft kapitalistisch.
Das zeigt bereits, wie schwer es ist, zu Abgrenzungen zwischen vermeintlichen Systemen zu kommen, die historisch nie in Reinform existiert haben. Für Georg von Below, der Sombarts soziologisierende wirtschaftshistorische Spekulationen scharf kritisiert hat, zeichnet sich das moderne Wirtschaften vor allem deshalb als kapitalistisch aus, weil es kapitalintensives Wirtschaften ist – und nicht weil weitere Merkmale (Geist, Technik, Recht) klare Systemabgrenzungen notwendig machen würden. Die neuere Forschung ist sich einig, dass sich Sombarts Abgrenzungen zwischen Feudalismus und Kapitalismus faktisch nicht zeigen lassen. Eine klare Grenzlinie zum Kapitalismus existiert allein deshalb nicht, weil sich auch die Vorstellung eines vorhergehenden Feudalsystems im Grunde aufgelöst hat.[18] Und es ist heute bestenfalls eine versponnene Utopie anzunehmen, dass wir zukünftig auf preisbildende Märkte verzichten können. Der Sozialismus hat gezeigt, dass es zu funktionierenden Märkten funktionale Äquivalente staatlicher Verteilung bestenfalls um den Preis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit schlechthin geben kann. So ist auch nicht der Kapitalismus untergegangen, sondern der Versuch, auf ihn zu verzichten. Das ist kein Plädoyer für Alternativlosigkeit, aber ein Eintreten für und Beharren auf Lösungen, die tragfähig sind. Und um diese Möglichkeiten zu konturieren, bedarf es zumindest der Grundkenntnis dessen, was Kapitalismus ist.
Warum, so ist also zu fragen, kann trotzdem von kapitalistischer Wirtschaft oder kapitalistischem Wirtschaften in historischer Perspektive gesprochen werden, wenn es kein kapitalistisches System gibt? Was macht die hier zugrunde liegende Vorstellung von Kapitalismus aus?
Unterhalb einer harten Systemunterscheidung gibt es eine Reihe von Merkmalen, die es gestatten, für die Zeit seit dem 17. Jahrhundert von sich ändernden wirtschaftlichen Verfahrensweisen auszugehen. Ob es nun qualitative Änderungen im ökonomischen Denken und in den entsprechenden Institutionen sind oder quantitative Änderungen im wirtschaftlichen Alltagsverhalten, es ist in jedem Fall sinnvoll, zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Verfahrensweisen zu unterscheiden. Der Kern des Neuen besteht in der beginnenden und sich seit dem 18. Jahrhundert rasch ausbreitenden Verbindung von marktwirtschaftlichen Strukturen und kapitalintensiver Güterproduktion. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen gilt diese Kapitalintensität für die ältere Welt nicht, zumindest nicht als verallgemeinerbares Kriterium. Dies ändert sich, und zwar zunächst in der Verbindung von Kaufmannschaft und Produktion im Verlagssystem, später dann ganz offensichtlich im Rahmen der industriellen Produktion.
Allein deshalb, aufgrund dieser Verschmelzung von Markt und Kapital, ist der Begriff «Kapitalismus» sinnvoll, doch impliziert diese Verbindung weitere, das moderne Wirtschaften konstituierende Merkmale. Kapitalintensität ermöglicht die Produktion von Gütern in großem Maßstab – dabei werden verfügbare Technologien genutzt und die Schaffung neuer Technologien angeregt. Sie bedingt im Regelfall eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, wodurch die Massenproduktion preiswerter Güter überhaupt erst möglich wird. Diese lohnt sich freilich wiederum nur, wenn der Massenabsatz gewährleistet ist. Hierfür ist die Nachfrage der reichen und vermögenden Haushalte zu gering; diese ermöglichte zuvor in der Regel nur handwerklich hergestellte Luxusgüter, deren hoher Preis das Überleben der Handwerker sicherte, aber keinesfalls eine starke Ausdehnung der Produktion und die Ausnutzung von Skaleneffekten. Nein, der Kern und die Bedingung der kapitalistischen Massenproduktion ist die Nachfrage der nichtvermögenden Menschen, deren Anzahl sich seit dem 17. Jahrhundert in Europa dank sukzessiver Fortschritte in der landwirtschaftlichen Güterversorgung fast explosionsartig vermehrte. Sie bildeten nach und nach den Massenmarkt, der kapitalintensive Produktion zugleich verlangt und ermöglicht.
Neben der Kapitalintensität ist also die Orientierung der Produktion am Massenkonsum ein zentrales Merkmal kapitalistischer Wirtschaft. Eine solche Orientierung gab es zuvor bestenfalls in Ausnahmefällen, nun wird sie zur Regel. Dass diese Art des Wirtschaftens in Gang kam und sich durchsetzte, hatte zweifellos auch mit Merkmalen zu tun, die in der älteren Literatur stark betont werden, namentlich mit Privateigentum, Profitstreben und sozialer Ungleichheit. Doch ist es weniger ihre Existenz, die ja viel weiter zurückreicht als der Kapitalismus, als ihre spezifische Funktion unter kapitalistischen Bedingungen, auf die es ankommt. Erwerbs- und Profitgier wurden seit der Antike als sozial schädlich beklagt; soziale Ungleichheit wurde zumal in christlichen Augen zwar nicht an sich abgelehnt, aber Reichtum wurde als heilsgefährdend bewertet. Armut hingegen konnte schon eher, zumindest theologisch, als Gnadenstand angesehen werden. Unter den geänderten Bedingungen ist Privateigentum nun Voraussetzung für Kapitalakkumulation (die Eigentümer sind schlicht zu reich, um ihr Vermögen zu konsumieren) und ermöglicht den Übergang zu kapitalintensiver Wirtschaft. Zudem erzwingt es das, was Marx als erweiterte Reproduktion bezeichnet hat, weil unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Konkurrenz nur die kapitalintensive Produktion erfolgreich ist, die sich im Wettbewerb des Marktes behaupten kann. Zumindest jene Vermögen, die in die Produktion investiert werden, können sich nur halten, wenn ein Teil des jährlichen Ertrags wieder in die Erneuerung und Verbesserung der Produktion fließt. Das Erzielen von Gewinn und dessen Reinvestition sind Bedingungen der Fortsetzung und Aufrechterhaltung einer kapitalistischen Wirtschaft, die über den Konkurrenzmechanismus erzwungen werden.
Waren die ersten Schritte hin zur kapitalistischen Produktion noch Abenteuer (und in der Tat wurden die ersten kapitalistischen Großunternehmer nicht selten mit Abenteurern verglichen), so erzwang die Konkurrenz der Privateigentümer schließlich ein ähnliches Verhalten, das, zur Routine geworden, seinen abenteuerlichen Charakter rasch verlor. Das seit jeher bekannte Verprassen des Vermögens wurde ebenso zum Existenzrisiko, wie Monopole das Funktionieren des Marktmechanismus gefährdeten. Wenn in der «bürgerlichen Ideologie» nicht nur Faulheit und Verschwendung, sondern auch monopolistisches Handeln keinen guten Ruf genossen, dann kamen darin die funktionalen Zwänge der neuen wirtschaftlichen Verfahrensweisen zum Ausdruck.
Ähnliches gilt für die Bewertung sozialer Ungleichheit, also der großen Vermögens- und Einkommensunterschiede. Auch dabei werden nun die Funktionsbedingungen des Kapitalismus berücksichtigt. Armut ist nicht an sich ein Merkmal des Kapitalismus, soziale Ungleichheit schon. Die starke Zunahme der armen Unterschicht seit dem 17. Jahrhundert sorgte in der Tat für die quantitativen Bedürfnisse, auf die die kapitalistische Massenproduktion wiederum die Antwort war. Doch ist die Aufrechterhaltung von Armut für die Fortsetzung dieser Massenproduktion nicht notwendig, im Kern sogar hinderlich, weil sie die kaufkräftige Nachfrage begrenzt. Deren Steigerung ist dagegen entscheidend, und tatsächlich ist die Geschichte des Kapitalismus trotz aller pessimistischen Unkenrufe zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Geschichte einer anhaltenden, wenn auch schwankenden Steigerung der Massenkaufkraft.
Da diese Massenkaufkraft andererseits die Kostenstruktur der Produktion berührt, da diese dadurch im Regelfall schlicht teurer wird, ist ihrer Expansion eine Grenze gesetzt; dauerhaft kann sie nicht schneller zunehmen als die Produktivität. Und sie findet auch in der erweiterten Reproduktion eine Schranke, denn ein Teil der Produktion gilt stets nicht dem Konsum, sondern der Ermöglichung weiterer Investitionen. Diese Akkumulation von Kapital in den Händen bestimmter Privateigentümer kann nach außen hin als Verteilungsungerechtigkeit erscheinen und mag es im Einzelfall auch gewesen sein oder noch sein. Doch handelt es sich faktisch um ein Funktionserfordernis der modernen Wirtschaft, die dem gegenwärtigen Konsum einen Teil ihrer Leistung entziehen muss, um ihre zukünftige Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Privateigentum und die damit legitimierte private Aneignung eines Teiles der Wertschöpfung sind und bleiben insofern eine notwendige Bedingung der funktionswichtigen Ersparnis einer Wirtschaft; nur so sind sie allerdings auch selbst gerechtfertigt. Dies hatte John Maynard Keynes gemeint, als er Anfang der 1920er Jahre schrieb, die einzige Legitimation der in der Tat großen sozialen Ungleichheit der Vorkriegszeit seien die damals hohen Investitionsquoten gewesen.[19] Wenn soziale Ungleichheit ein notwendiges Merkmal des Kapitalismus ist, dann in der hier geschilderten spezifischen Form, die sich von älteren Konstellationen deutlich unterscheidet. Im Kapitalismus dient Ungleichheit der Aufrechterhaltung der erweiterten Reproduktion; sie ist nicht unbedingt mit Armut verbunden und lässt sich politisch beeinflussen. Unter spezifischen Bedingungen kann sie zum sozialen Skandal werden, was aber nicht zwangsläufig geschieht.
Auch die Spekulation erscheint im Kapitalismus, wie er hier verstanden wird, in einem anderen Licht. Spekulatives Verhalten ist seit der Antike bekannt und verpönt, da es in der Regel mit der Ausnutzung von Notlagen verbunden war, ja diese aus Profitgier überhaupt erst herbeiführte, indem etwa das Angebot verknappt wurde. Das hat sich bis heute erhalten, doch liegt im Kern des kapitalistischen Geschehens eine andere Spekulation, nämlich zum Zeitpunkt der Produktion nicht zu wissen, ob diese Produktion schließlich auch ihren Markt finden wird, sich aber gleichwohl dafür zu entscheiden. Massenproduktion für anonyme Märkte ist insofern notwendig spekulativ; die Alternative bestünde allein in der Auftragsproduktion, die das ältere Handwerk kennzeichnete, jedoch gerade die entscheidende Barriere der Produktivitätsentwicklung war. Dieses spekulative Moment ermöglicht indes nicht nur, Handlungschancen auszunutzen und die Produktivität zu steigern; es macht den ökonomischen Prozess auch krisenanfällig, da die Spekulation ja keineswegs erfolgreich sein muss. Hier liegt neben der Ermöglichung der dezentralen Entscheidungen und der Akkumulation von Kapital ein weiterer wesentlicher Aspekt des Privateigentums: Krisenphänomene werden dadurch abgepuffert und begrenzt. Krisen mögen im Zweifelsfall umfänglich und andauernd sein; existenziell treffen sie aber stets nur einzelne Unternehmen, deren Untergang den kapitalistischen Zusammenhang nicht schwächt, sondern letztlich die Chancen der verbleibenden oder neuen Marktteilnehmer sogar verbessert.
Die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Krisen sind indes nicht derart begrenzt, sodass die Kapitalismuskritik, sofern sie nicht ohnehin an die ältere Verdammung von Reichtum und Erwerb anschließt, gerade hier ansetzt: Der Kapitalismus erzeuge Krisen und gefährde damit die Existenzgrundlage der Menschen und der politischen Systeme. Vergessen wird dabei oft, dass gerade das Ausbremsen des sich über Krisen und Anpassungen vollziehenden ökonomischen Strukturwandels im Sinne vermeintlicher sozialer Sicherung und politischer Stabilisierung zumeist gegenteilige Effekte erzielt. Das an seiner industriellen Tradition hängende Großbritannien rutschte in den 1970er Jahren in eine schwere Strukturkrise, und auch das gegenwärtige Frankreich leidet unter Blockaden, die sich daraus ergeben, dass marktliche Austauschprozesse ignoriert werden. Das mag gute soziale und politische Gründe haben, doch sind die ökonomischen Folgen strukturkonservativen Handelns mitzubedenken.
Die ökonomischen und sozialen Folgen verzerrten oder verzögerten Strukturwandels scheinen derzeit allerdings hier wie dort in Vergessenheit zu geraten. Postkapitalistische Utopien haben wieder Konjunktur, und das auch aus einem weiteren, wichtigeren Grund: Mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem und seinen vorgeblich widersprüchlichen Strukturen verband sich spätestens seit Karl Marx die Vorstellung, dass es dabei gar nicht allein um wirtschaftliche Fragen gehe, sondern um die gesellschaftliche Entwicklung schlechthin. Man sprach fortan nicht nur von kapitalistischer Wirtschaft, sondern von kapitalistischen Gesellschaften, deren gesamte Struktur durch die Organisation ihrer Wirtschaft «determiniert» sei; letztlich diene alles der Aufrechterhaltung dieser ungerechten und nur zeitweilig funktionalen Strukturen, der Sicherung einer auf Ausbeutung beruhenden Wirtschaft, die nur wenigen nutze, aber vielen schade.
Das war ein ganz neuer Ton, denn zuvor war die Bedeutung der Wirtschaft deutlich geringer veranschlagt worden. Die Wirtschaft, wie die Moderne sie versteht, war vor dem 18. Jahrhundert im Grunde unbekannt; erst danach entstand die Vorstellung einer eigenen Regeln gehorchenden Handlungssphäre, die im Dienste der Effizienz zu respektieren seien.[20] Zuvor waren wirtschaftliche Handlungen vor allem Gegenstand moralphilosophischer und theologischer Überlegungen gewesen, eine eigene Stimme «der Wirtschaft» war nicht oder nur in ersten und sehr leisen Tönen zu vernehmen. Dass das Geld eine große Rolle im alltäglichen Leben spielte, war offensichtlich, doch woher es kam, wie es entstand und wie viel davon zur Verfügung stand, war im Grunde nicht klar. Und es war das Geld, dessen Bedeutung kritisiert, dessen Besitz aber gleichwohl um fast jeden Preis angestrebt wurde. Dabei war es die seit dem hohen Mittelalter überaus ambivalente Haltung der Kirche, die den Debatten ihren Stempel aufprägte: Einerseits verurteilte die Kirche das Geld und die mit ihm möglichen Praktiken, namentlich das Zinsnehmen; andererseits machte sie es faktisch zum Schlüssel für den Zugang zum Seelenheil. Es war die römische Kirche, die seit dem Mittelalter die modernen Finanztechniken, die sie zugleich als verderblich geißelte, maßgeblich vorantrieb.[21] Zugleich betrieb sie mit der Ablasswirtschaft und der zugehörigen Beichtpraxis eine Kommerzialisierung des Seelenheils, das sie andererseits durch das Streben nach Geld gerade für gefährdet erklärte.[22] Nach Ferdinand Gregorovius war es der spätere Papst Pius II., der noch als Aeneas Sylvius Piccolomini schrieb: «Es gibt nichts, was von der römischen Kurie ohne Geld zu erlangen ist. Denn selbst Priesterweihen und die Geschenke des Heiligen Geistes werden verkauft. Verzeihung der Sünden wird nur für Geld erteilt.»[23] Auch der frühneuzeitliche Staat war nicht zimperlich, wenn es um die Kommerzialisierung der Obrigkeit ging; der Ämterkauf war bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine verbreitete Praxis.[24] Es war insofern der entstehende Staat, der sich ganz ähnlich wie die Kirche prostituierte und keineswegs die Wirtschaft, die ihr eigentlich fremde Bereiche «kolonialisierte».
Aus der Wirtschaft der älteren Welt sind derartige Vorstellungen von der allgemeinen Bedeutung des Geldes auch gar nicht bekannt. Die zumindest in Kontinentaleuropa dominierende Hausväterliteratur war an der guten und nachhaltigen Haushaltsführung interessiert und betrachtete das Geld bestenfalls als Hilfsmittel;[25] die Kaufmannsbücher der älteren Welt sind Best-Practice-Ratgeber für das Geschäft, aber eben auch nur für das Geschäft, und empfehlen ansonsten eine verantwortungsbewusste christliche Lebensführung;[26] von ökonomischem Imperialismus ist nichts zu spüren. Und auch die Wirtschaft selbst verteidigte sich gegen die im 18. Jahrhundert zunehmenden Angriffe moralphilosophischer Art, vor allem mit Schriften, die auf den Nutzen freien wirtschaftlichen Handelns für den Einzelnen und die Staaten hinwiesen.[27] Erst mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts wurden Gestaltungsansprüche gegenüber der Ökonomie entschieden zurückgewiesen und ihr Autonomieanspruch geradezu aggressiv vertreten, doch selbst jetzt begriff sich die entsprechende Literatur nicht als gesellschaftstheoretischer Entwurf, sondern als vernunftgesteuerte Klugheitslehre.[28]
Die Vorstellung, die Ökonomie sei die Basis und damit die Determinante von allem, was Gesellschaft ausmache, stammt mithin nicht aus ihr selbst oder der sich nach und nach etablierenden Wirtschaftswissenschaft; sie ist ein Kind der Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts. Diese knüpfte mit ihrer Kapitalismusvorstellung weniger an die ökonomische Selbstdarstellung oder die wirtschaftliche Realität der Zeit an, sondern vertrat eine Ganzheitsvorstellung, die ihre Quellen anderswo hat: namentlich in der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, in deren Weiterentwicklung durch Marx eine bestimmte Vorstellung von Ökonomie nunmehr zu einer Art weltlicher Gottheit wurde. Marx stellte die Welt von dem geistigen Kopf auf ihre wirtschaftlichen Füße, zumindest behauptete er das mit großem Erfolg. Was diese Annahmen bis in die Gegenwart so plausibel erscheinen lässt, war und ist vor allem die sich ausbreitende Bedeutung des Geldes, das in einer Situation, in der die Existenzsicherung in immer größerem Maße von der Marktversorgung abhing, vermeintlich zum Schlüssel für die gesamte Welt wurde.[29]
Vor diesem Hintergrund wurde es für die ältere Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie und in ihrem Gefolge auch für die Wirtschaftsgeschichtsschreibung zur zentralen Frage, wie ein derartiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem historisch entstehen konnte. Genau hierauf folgte wiederum eine Fülle von Überlegungen, in die das Kapitalismuskonzept bereits strukturierend eingeflossen war. Es entstand etwas, das sich historisch vermeintlich klar abgrenzen ließ, das kapitalistische System nämlich, das von Anfang an widersprüchlich und krisenhaft angelegt war, auch wenn es mit Marx zumindest als Durchgangsphase historisch notwendig erschien. Im Grunde lief dies auf anachronistische, durch die Kritik aber gegen Nachfragen immunisierte Annahmen hinaus, wie sie oben bereits angesprochen wurden.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der historischen Genese dessen, was später als Kapitalismus bezeichnet wurde, war insofern schwierig, weil eben diese Genese zum vorausgesetzten Strukturbefund passen musste. Dabei waren die Anfänge letztlich viel harmloser, als sie im Lichte der Marx’schen Thesen von der ursprünglichen Akkumulation, Webers innerweltlicher Askese und «stahlhartem Käfig» oder auch Wallersteins Weltsystem und Beckerts Kriegskapitalismus erscheinen, in denen Gewalt und Zwang stets eine konstitutive Rolle spielen.[30] Orte der Marktbildung waren vielmehr die Bevölkerungszentren, und es war stets die Zunahme der Bevölkerung, die tiefgreifende Änderungen im ökonomischen Alltagsverhalten zur Folge hatte. Schließlich galt es, das Güteraufkommen zu vergrößern, sei es durch mehr oder effektivere Arbeit, sei es durch Bebauung brachen Landes. Eine weitere Möglichkeit war sicher auch Raub, freilich ohne nachhaltige Wirkung. Wenn auch die unterschiedlichen Regionen und Staaten in Europa vom frühkolonialen Raub durchaus profitierten, so waren es doch keineswegs die größten Räuber, die den direkten Weg zum Kapitalismus fanden. Die britische Seeräuberei unter Elisabeth I. hat noch heute einen legendären Ruf, ebenso die korrupte East India Company; groß gemacht haben sie die britische Wirtschaft jedoch nicht. Nein, die frühen Zentren von Aktivitäten, die an kapitalistisches Marktgeschehen erinnern, finden wir, wo es zu größeren Bevölkerungsballungen kam, in Süd- und Westeuropa etwa in Neapel, Rom oder den oberitalienischen Städten, aber frühzeitig auch in Paris, später in London. Das ist keine europäische Spezialität, entsprechende Marktbildungen gab es ebenso in Asien, auch wenn die institutionellen Formen durchaus unterschiedlich waren.[31]
Welche Auswirkungen diese Marktbildungen haben, hängt aber letztlich, so die These dieses Buches, von der Angebotselastizität der sie umgebenden ökonomischen Strukturen ab, das heißt von den Reaktionen und den Reaktionsmöglichkeiten der wirtschaftlichen Akteure auf die mit der Marktbildung verbundenen Handlungschancen. Die gewaltsame Aneignung von Ressourcen spielt dabei durchaus eine Rolle, doch grundsätzlich lässt sich die Angebotselastizität dadurch nicht verbessern oder gar erst schaffen. Darauf weist auch die bemerkenswerte Tatsache hin, dass ökonomischer Strukturwandel sich in der Regel nicht in politischen Grenzen fassen lässt, zumindest nicht in der Entstehungszeit der modernen Wirtschaft. Nationalstaaten sind nicht der passende Referenzrahmen, um die sich entwickelnde kapitalistische Dynamik zu beschreiben. Spätestens seit den Arbeiten von Sidney Pollard zur Industrialisierung[32] ist klar, dass es regionale Faktoren sind, die ökonomischen Strukturwandel ermöglichen und maßgeblich beeinflussen. Der Staat oder, für die frühere Zeit besser, die Obrigkeiten können die Bedingungen vielleicht beeinflussen, das Potenzial hingegen nicht künstlich erzeugen. Wo es fehlt, ist auch die Obrigkeit machtlos, ganz davon abgesehen, dass sie im Zweifelsfall das Richtige tun muss. Das spanische Beispiel ist insofern überaus lehrreich, war das Königreich doch der größte und effektivste Räuber vor allem lateinamerikanischen Edelmetalls und wusste damit zumindest unter dem Gesichtspunkt der Transformation der eigenen Wirtschaft nur wenig anzufangen.
Es wäre freilich auch nicht angemessen, von regionalen Zwangsläufigkeiten zu sprechen, die sich unter bestimmten Umständen fast automatisch vollziehen. Die Angebotselastizität ist zunächst nur ein Potenzial, das es zu nutzen gilt, und sie ist keine feststehende Größe, sondern kann sich im Strukturwandel selbst ändern. Überdies führen regionale Unterschiede zu neuen Konkurrenzlagen, die für die weitere Entwicklung häufig von großer Bedeutung sind. Die «Great Divergence»[33], also das Auseinanderfallen der europäischen und asiatischen Wirtschaftsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert, war nicht nur eine Folge der größeren Angebotselastizität bestimmter europäischer Regionen und der Entschlossenheit einzelner europäischer Staaten, ihre Position im internationalen Handel im Zweifelsfall mit Gewalt zu sichern und auszubauen. Sie führte schließlich auch selbst zu unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für den weiteren Strukturwandel, indem sie die Handlungschancen der jeweiligen miteinander konkurrierenden Regionen unterschiedlich gestaltete – nicht im Sinne einer harten Determination, aber doch im Sinne einer Verstärkung von Gefällen, deren Überwindung dadurch nicht ausgeschlossen, aber doch sehr erschwert war.
Regional unterschiedliche Angebotselastizitäten sind mithin Bedingung, Voraussetzung und Folge des ökonomischen Strukturwandels. Ihre Nutzung hängt von kontingenten Umständen ab; diese Nutzung kann dann Pfadabhängigkeiten schaffen, die nur schwer aufzubrechen sind, im Rahmen des Strukturwandels aber selbst wiederum eine ambivalente Bedeutung besitzen, was sich an zahlreichen altindustriellen Regionen Europas sehr klar zeigt. Ressourcenbegünstigte Standorte können sich, wie etwa die europäischen Montanreviere, zeitweilig überaus rasch entwickeln, sie können aber genau so rasch zurückfallen, wenn ihre Produkte, bedingt durch technischen Wandel, nicht mehr gefragt sind. Die Verfügbarkeit von preiswerter Energie, also Kohle, war im 18. Jahrhundert ein entscheidender Potenzialfaktor; zweihundert Jahre später ist die Lage ganz anders. Damit ist gleichwohl der Kern des Problems bestimmt: Wie ist die jeweilige Angebotselastizität zu fassen, wie wird sie genutzt, welche Dynamiken werden dadurch ausgelöst und welcher technische Wandel ermöglicht, der wiederum die anfänglichen Bedingungen weitgehend ändern kann?
Fortschritt und Rückständigkeit sind zwar feste Muster des ökonomischen Wandels; da die Entwicklung aber zeitlich und regional stets unterschiedlich ist, sind diese Merkmale keineswegs dauerhaft an bestimmte Orte oder Regionen vergeben, sondern verteilen sich stets neu. Der ökonomische Strukturwandel hat dabei immer ein zufälliges Moment, dessen Bedeutung Schwankungen unterliegt, aber immer gegeben ist. So ist auch die Tatsache, dass bestimmte europäische Regionen und Staaten zu Pionieren der modernen Wirtschaft in ihrer kapitalistischen Form wurden, nicht das zwangsläufige Ergebnis einer bereits zu Anfang gegebenen Konstellation der Überlegenheit welcher Art auch immer, sondern das Ergebnis des Zusammentreffens ganz unterschiedlicher Momente, die sich an bestimmten Orten zu hoher Dynamik verdichteten und dadurch Dauer gewannen. Diese Geschichte kann daher nicht über das Aufrufen von Regeln der wirtschaftlichen Entwicklung erklärt werden; sie muss vielmehr in ihrer Einmaligkeit erzählt werden. Und allein deshalb ist es sinnvoll, von Europa auszugehen, den «europäischen Sonderweg» (Michael Mitterauer) zum Gegenstand zumindest des Beginns der Erzählung zu machen, da dieser Kontinent zweifellos eine Pionierrolle besaß.
Ältere Erzählungen, die die moderne Wirtschaft kurzerhand auf Faktoren zurückführen, die in Europa ohnehin bereits existierten und die in der Industrialisierung zum Ausdruck kamen, überzeugen heute nicht mehr, da sie tautologisch sind: Sie erklären eine Überlegenheit dadurch, dass sie sie voraussetzen.[34] Doch muss der Befund ja nicht falsch sein, nur weil er schlecht begründet wird. Zudem ist es wichtig, die Situation in anderen Teilen der Welt zu berücksichtigen, namentlich deren spezifische Einbeziehung in die seit dem 16. Jahrhundert entstehende europäische Weltwirtschaft. Allerdings ändert das alles nichts an der in der Tat einmaligen Entwicklung Europas, die hier aufzuklären ist. Europa hatte seine Rolle nicht natürlicherweise, sondern aus historischen Gründen, die ihre Bedeutung zugunsten Nordamerikas verloren, das schon im 19., spätestens im 20. Jahrhundert eine sehr viel größere Dynamik aufwies und Europas bisherige «Führungsrolle» übernahm. Aber auch diese Dynamik hielt nicht ewig an. Wenngleich Nordamerika wie Europa heute zu den reichen Regionen der Welt gehören, sind sie nicht mehr unbedingt die mit der größten Dynamik. Eine europäische Weltwirtschaft existiert gegenwärtig nicht mehr; ebenso wenig eine nordamerikanische. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere seit der Jahrtausendwende ist die Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung multipolar geworden. Die regionalen Unterschiede sind nicht verschwunden, doch werden sie heute von anderen Regionen geprägt. Und auch dieses Bild wird sich erneut wandeln.
Der Wandlungsprozess ist in seiner Einmaligkeit, zumindest wenn man seine längerfristigen Dimensionen aufzeigen will, nur historisch zu erklären. Das hört sich jedoch leichter an, als es ist. Denn angesichts der Vielgestaltigkeit des Wandels und der zahllosen Faktoren, die dabei eine Rolle spielten und spielen, muss eine Geschichte des kapitalistischen Wandels streng genommen eine Geschichte der Weltwirtschaft in ihren unterschiedlichen Dimensionen und Bezügen sein. Diese aber in nur einem Buch zu erfassen ist ausgeschlossen. Allein deshalb ist eine Beschränkung sinnvoll. Von europäischen Erfahrungen auszugehen ist daher auch ein pragmatischer Ansatz, der ohnehin im Laufe der Zeit einer weltwirtschaftlichen Perspektive weicht, wohl wissend, dass die Entstehung der Weltwirtschaft selbst ein Produkt, eine Folge der europäischen Expansionsdynamik ist, die sie schließlich hinter sich lässt.
Was mit dieser Referenz auf Europa indes nicht beabsichtigt ist, ist eine Übernahme älterer Argumentationsmuster. Das wurde schon bezüglich der Kapitalismusvorstellung betont, die auch für die zumeist kausalen Erklärungen des europäischen Aufstiegs genutzt wurde. Demnach waren es entweder Gewalt, Zwang und Profitgier oder die Religion, der Rationalismus, der Nationalismus, aber auch technisches Können und Erfindungsgabe, sowie die für Europa typischen institutionellen Strukturen, die dessen wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichten. Jüngst hat der amerikanische Historiker Steven G. Marks die Entstehung und Etablierung des Kapitalismus als Folge eines effizienten Informationsmanagements hingestellt, das eben in Teilen Europas besser funktioniert habe als in anderen Teilen der Welt.[35] An all diesen Faktoren ist etwas dran, doch war schon Max Weber klar, dass es mit Kausalerklärungen nicht weit her sein kann, da sie einen komplexen Wandel auf eine einfache Ursache-Wirkung-Beziehung reduzieren. Er sprach, weit davon entfernt, seine eigenen Überlegungen zum kapitalistischen Geist in ein universales Erklärungsmodell zu zwängen, lieber davon, «welche Verkettung von Umständen» den Sonderweg Europas bedingte, in dem dann der von ihm skizzierte Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus eine Rolle spielte.[36]
Der Wandlungsprozess, der im Folgenden betrachtet wird, soll nicht als ursachelos dargestellt werden; nur war es eben nicht eine Ursache, die ihn bestimmte, sondern das Zusammentreffen vieler Faktoren, die zumeist für sich allein wenig bewirkt hätten. Dieses einmalige Zusammentreffen in einer besonderen historischen Konstellation ist mithin der Erklärungspunkt, auf den es ankommt. Dabei sind bestimmte Entscheidungen und Setzungen zu treffen. Europa als Ausgangspunkt, das 17. Jahrhundert als Scharnierjahrhundert, die besondere Bedeutung der Niederlande und Großbritanniens – all diese Annahmen prägen die spätere Erzählung. Die sich in dieser Zeit und in diesem Raum entfaltende kapitalistische Dynamik ist bezogen auf ihr Ergebnis gleichwohl offen, unbestimmt. Das, was später als Kapitalismus bezeichnet werden sollte, lag nicht bereits zu Beginn im Keim vor, der sich dann seiner Natur entsprechend entfaltete. Ebenso gab es keine vorausschauenden handelnden Akteure, die das, was sie taten, deshalb taten, weil es richtig war, und damit den späteren Befund bestätigten, ja vorwegnahmen. Dass die Gründe, die zu einer Entwicklung führen, mit deren späterer Funktionalität nicht identisch sind, ja nicht identisch sein können, wusste schon Joseph Schumpeter.[37] Zum Kapitalismus kam es nicht, weil Politik und Wirtschaft ihn wollten, sondern er ist das Ergebnis probierenden Handelns, eine zunächst nur in Bruchstücken und Einzelfällen erkennbare neue wirtschaftliche Praxis, die sich bewährte und nachgeahmt wurde. Er ist, wie oben erläutert, auch kein festes System mit Akteurscharakter, selber absichtsvoll handlungsfähig, wie von der heutigen Kapitalismuskritik regelmäßig unterstellt, wenn sie sagt, der Kapitalismus tue dies oder lasse das; er hat keine Interessen, sondern ist eine Art Ordnung, in deren Rahmen einzelne Akteure mit wechselndem Erfolg ihren Interessen folgen. Diese Interessen entsprechen nicht notwendig denen des Ordnungsrahmens selbst, sondern können ihn sogar gefährden, wie etwa das Streben nach Monopolen oder die Ausschaltung von Wettbewerb. Kapitalismus ist also eine Ordnung sowie ein dadurch ermöglichtes Bündel von Praktiken, das auf der Basis einer sich ändernden Weltwahrnehmung durch institutionelle Regeln dauerhaft fixiert wird. Insofern ändert dieses Bündel von Praktiken ständig sein Gesicht; sei es deshalb, weil sich manches bewährt, anderes verworfen wird, Neues hinzutritt; sei es, weil sich Vorstellungen von moralisch richtigem Handeln in Reaktion auf Veränderungen der wirtschaftlichen Praxis wandeln und neue Regeln verlangen; sei es schließlich in Hinsicht auf diese Regeln selbst, die immer wieder an das praktisch Mögliche und das normativ Gewollte angepasst werden müssen. Die obengenannten Merkmale des Kapitalismus (Kapitalintensität, Massenproduktion und -konsum, Privateigentum, soziale Ungleichheit etc.) ergeben nur in diesem, wenn man so will, praxeologischen Rahmen ein vollständiges Bild von der Dynamik dieser Art zu wirtschaften, und erst durch dieses Bild wird auch klar, warum die komplexe Geschichte des Kapitalismus in gewisser Hinsicht nur erzählt werden kann.[38]
Insofern ist auch der Hinweis, der Kapitalismus sei durch Widersprüche gekennzeichnet, zwar richtig, doch zugleich wenig aussagefähig. Dass sich die genannten Momente unterschiedlich wandeln, dass institutionell verboten sein kann, was praktisch attraktiv ist, ist ja nur ein Widerspruch, wenn Einheitlichkeit, welcher Art auch immer, verlangt wird. Hält man hingegen die dynamische Koevolution von Semantiken, Institutionen und Praktiken für den Normalfall, dem sich nicht zuletzt die Dynamik dieser Art der Wirtschaft verdankt, dann ist es wenig sinnvoll, Widersprüche zu betonen und zu suggerieren, der Kapitalismus werde daran zugrunde gehen. Denn diese Kritik trifft gar nicht das Eigentliche des kapitalistischen Ordnungsrahmens. Die wirtschaftlichen Akteure können den Kapitalismus letztlich nicht ruinieren, selbst wenn sie durch monopolistisches Verhalten die Funktionsweise der Märkte bedrohen. Dazu ist keiner von ihnen bedeutend genug; jeder wirtschaftliche Akteur ist auf die Hilfe der regelsetzenden Politik angewiesen, ohne die keine Monopolstellung dauerhaft existieren kann. Und die Politik ist ebenso darauf angewiesen, sich auf eine florierende Wirtschaft stützen zu können, wie sie einer öffentlichen Zustimmung bedarf, gegen die sie auf Dauer nicht regieren kann.
Entscheidend ist, dass der Kapitalismus als wirtschaftliche Verfahrensweise kein Zentrum hat, das ihn steuert, sondern sich aus dem genannten Zusammenspiel ergibt. Diese Zentrumslosigkeit, das Fehlen eines warm schlagenden Herzens, ist das eigentliche Geheimnis, das auch der Wandlungs- und, wenn man aus Sicht der Kritiker so will, der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus zugrunde liegt. Krisen treffen nie den Kapitalismus als solchen, sondern stets einzelne Akteure, deren Ersetzen in dieser dezentralen Welt wirtschaftlichen Handelns zumeist einfach möglich ist, ja die Handlungschancen anderer unter Umständen noch verbessert und den Strukturwandel insgesamt vorantreibt. Entsprechend sind die regelmäßigen Wirtschaftskrisen letztlich Häutungen.
Alle Unkenrufe über das bevorstehende Ende des Kapitalismus, die ihn seit seiner Entstehung zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten begleiten, gehen ins Leere, weil sie von etwas ausgehen, das es so nicht gibt, nämlich einem kapitalistischen System mit festen Strukturen, die irgendwann ins Wanken geraten. Das heißt nicht, dass der Kapitalismus nicht gefährdet wäre, doch betrifft die Gefährdung die Funktionsfähigkeit seiner Verfahrensweisen, namentlich die Rolle der Märkte und die Bedeutung und Funktion des Geldes. Wenn gegenwärtig von ernsthaften Problemen des Kapitalismus zu sprechen ist, dann vor allem deshalb, weil die staatliche Politik ökonomische Strukturen garantiert, die sich an den Märkten ohne diese Hilfen gar nicht hätten behaupten können (Bankenrettung), und zu diesem Zweck zugleich die Funktion des Geldes denaturiert (Zinspolitik der Zentralbanken). Diese Maßnahmen dann dem Finanzkapital in die Schuhe zu schieben, das dies alles zwar begrüßt, aber aus eigener Kraft nie hätte bewerkstelligen können, ist eine – unter politisch-demagogischen Gesichtspunkten – vielleicht noch verständliche Perfidie, im Grunde aber ein Anschlag auf den Kapitalismus, dessen riskante Verfahrensweisen man nicht hinnehmen zu können glaubt. Doch zeigt sich spätestens jetzt: Das Ersetzen von Marktgeschehen durch staatliche Intervention bedeutet letztlich, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Eine kapitalistische Wirtschaft zeichnet sich also durch Dezentralität aus, durch eine Vielzahl mehr oder weniger autonomer Akteure, die über preisbildende (Arbeits-)Märkte miteinander verknüpft sind. Das Verhalten der Akteure orientiert sich zumindest grundsätzlich an Preissignalen. Der «Homo oeconomicus» ist zwar vor allem eine Figur der Wirtschaftstheorie, weniger des realen Handelns, doch Budgetrationalität ist in ökonomischen Zusammenhängen ein sinnvolles Verhaltenskriterium. Darüber hinaus ist keiner der Akteure systemrelevant, im Gegenteil ist die fehlende Systemrelevanz gerade die Voraussetzung für das Funktionieren der kapitalistischen Dynamik, da das Risiko, sich am Markt nicht zu bewähren, wesentlich dazu beiträgt, dass die eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stetig verbessert wird. Im Einzelnen scheitern zu können ist eine Bedingung des Erfolgs im Allgemeinen. Insofern ist auch Privateigentum notwendig, da es einerseits Bedingung der (relativen) Autonomie einer Vielzahl von Akteuren ist, andererseits diese Akteure über das Verlustrisiko zwingt, ihr Vermögen in Verbesserungen des ökonomischen Prozesses zu investieren, und letztlich die Verlustrisiken begrenzt, zumindest solange der Staat nicht glaubt, das Scheitern unterbinden zu müssen.
Preisbildende Märkte und autonome Akteure, die Preissignalen entsprechend handeln, entstehen unter gegebenen Voraussetzungen spontan. Institutionelle Regelungen können dieses nicht risikolose Verhalten jedoch wahrscheinlicher machen und schließlich als Verhaltenstyp etablieren. Dass in diesem Rahmen Kapitalismus entsteht, setzt indes die Möglichkeit zu kapitalintensiver Massenproduktion voraus. Die Bedingungen dieser Möglichkeit sind Massenmärkte mit einer Vielzahl von Kunden und technische Fähigkeiten, die es zulassen, unter Ausnutzung von Skaleneffekten Massenprodukte preiswert herstellen und anbieten zu können.
Genau diese Chance tauchte im 17. Jahrhundert vermehrt auf und wurde zunächst in den großen Städten, dann auch in Ländern wie den Niederlanden, vor allem aber Großbritannien genutzt, wobei in Großbritannien die ökonomischen und technischen Bedingungen für die Entstehung des industriellen Fabriksystems, das den entstehenden Kapitalismus in jeder Hinsicht verkörperte, besonders günstig waren. Die Erfolge dieser Art der Wirtschaft erregten frühzeitig große Verwunderung, erlaubten sie doch einem kleinen Land wie den Niederlanden, sich militärisch erfolgreich gegen die Weltmacht Spanien zu behaupten, und begründeten schließlich eine Überlegenheit des lange als unwirtlich und zurückgeblieben wahrgenommenen Englands über seine kontinentalen Konkurrenten, namentlich das strahlende und wohlhabende Frankreich. So errungener wirtschaftlicher Erfolg wurde zur Bedingung staatlicher Machtentfaltung, die ihrerseits seit dem 18. Jahrhundert viel daransetzte, genau diesen Erfolg zu verstetigen. Hier beginnt die Entwicklung, die bis heute andauert und den Gegenstand dieses Buches bildet.
Die wirtschaftshistorische Forschung ist sich einig, dass sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts in der nordwesteuropäischen Wirtschaft Änderungen vollzogen, die zu einem grundlegenden Wandel des ökonomischen Handelns – zunächst in diesem Gebiet, später dann weltweit – führten. Dieser Wandel war beispiellos. Er beendete nicht allein das langfristige Entwicklungsmuster einer relativ statischen, in ihrer Leistungsfähigkeit begrenzten Wirtschaft, er zerstörte auch die vergleichsweise große Einheitlichkeit des globalen ökonomischen Geschehens, die bis dato vorherrschte. Regionale Differenzen hatte es, nicht zuletzt wegen unterschiedlicher ökologisch-geographischer Rahmenbedingungen, stets gegeben. Doch handelte es sich jetzt um etwas Neues, um den Beginn einer ökonomischen Dynamik, die sehr schnell die Barrieren der bisherigen Welt überwand.
Nach den nicht unumstrittenen Zahlen von Angus Maddison, die gleichwohl als erste Orientierung dienen können, lag das weltweite Pro-Kopf-Einkommen (ausgedrückt in internationalen Dollar auf der Basis von 1990) im Jahr 1500 bei 566 Dollar, wobei die reichsten europäischen Regionen in Italien (1100 Dollar) und den Niederlanden (heutiges Belgien: 875 Dollar, heutige Niederlande: 761 Dollar) lagen, während Großbritannien und Frankreich noch hinterherhinkten. Die Zahlen für China (600 Dollar) sind insofern irreführend, als hier ein großes Gebiet ganz unterschiedslos betrachtet wird; wahrscheinlich ist, dass bei einer regionalen Differenzierung einzelne Regionen in Südchina die europäischen Spitzendaten übertreffen würden.[1] Schon um 1500, vor der kolonialen Expansion Europas, zeichneten sich also regionale Unterschiede ab. So betrug das für Afrika geschätzte Pro-Kopf-Einkommen von 414 Dollar nur ein Drittel des italienischen, während es in etwa so hoch lag wie das Lateinamerikas und Osteuropas. Aber das Ausmaß der regionalen Unterschiede war noch vergleichsweise gering. Das sollte sich in den folgenden zweihundert Jahren deutlich ändern.
Während die chinesische Wirtschaft wuchs, und zwar zwischen 1500 und 1820 mit einer jährlichen Veränderungsrate des BIP von immerhin 0,41 Prozent, stagnierte sie gemessen am Pro-Kopf-Einkommen bereits, da sich die Leistungsfähigkeit pro Kopf wegen des großen Bevölkerungszuwachses von 103 auf 381 Millionen Menschen insgesamt nicht erhöhte. Die wirtschaftliche Gesamtleistung Westeuropas nahm in dieser Zeit mit einer jährlichen Wachstumsrate von 0,40 Prozent keineswegs schneller zu als die Chinas, doch stieg hier die Pro-Kopf-Leistung im Durchschnitt zwischen 1500 und 1820 von 798 auf 1243 Dollar. Der Grund lag darin, dass sich in Westeuropa in diesem Zeitraum die Bevölkerung von etwa 48 auf 114,5 Millionen Menschen «nur» verdoppelte, während sie in China fast auf das Vierfache anwuchs.[2] In China waren die Wachstumsraten des Pro-Kopf-Einkommens also zu vernachlässigen, in Westeuropa stiegen sie hingegen deutlich an, wenn auch noch mit niedrigen Prozentzahlen, nämlich von einem jährlichen Wachstum von 0,13 Prozent vor 1500 auf 0,14 Prozent zwischen 1500 und 1820.
Ausschlaggebend aber war vor allem, dass sich das Bild in Europa sehr differenzierte. Mit den Niederlanden und Großbritannien entstanden Wachstumszentren, die nach und nach für Westeuropa, ja schließlich für die sich herausbildende Weltwirtschaft, die ohne diese beiden Länder erst gar nicht möglich gewesen wäre, Pionierfunktionen übernahmen. In diesen beiden Ländern oder vielleicht besser Großregionen stiegen die Wachstumsraten zwischen 1500 und 1820 stark an. Das betraf nicht nur die wirtschaftliche Gesamtleistung, die in Großbritannien zwischen 1500 und 1820 bereits doppelt so schnell wuchs wie in China; auch das Pro-Kopf-Einkommen nahm hier deutlich zu, und zwar im Fall der Niederlande von 0,12 auf 0,28 Prozent, im Fall Großbritanniens von 0,12 auf 0,27 Prozent. Bemerkenswert ist, dass andere europäische Regionen bei dieser insgesamt sehr moderaten Wachstumsbeschleunigung nicht mithalten konnten, obwohl ihre Wachstumsziffern noch über denen Chinas lagen. Nur Frankreich, Deutschland und Italien hatten geringere Wachstumsraten als China, doch lag zumindest in Frankreich und Deutschland die Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens über den chinesischen Daten.[3]
Was sich in diesem Zeitraum abzeichnete, entfaltete sich später zu einer dramatischen Schere. Nach 1820 beschleunigte sich das Wachstum in Westeuropa weiter und erreichte nun Ausmaße, die den Begriff «Industrielle Revolution» in der Tat rechtfertigen. Während Westeuropa sehr stark zulegte, stagnierten andere Teile der Welt oder behielten das bisher vorherrschende sehr langsame Entwicklungsmuster bei, vor allem China fiel im 19. Jahrhundert regelrecht zurück. Die Entwicklungsschere, die «Great Divergence», öffnete sich seit dem 17. Jahrhundert, klaffend wurde der Abstand aber erst im 19. Jahrhundert. An der Spitze der Weltwirtschaft standen nun jene Staaten, in denen kapitalistische Verfahrensweisen nicht nur früh entstanden waren, sondern schließlich zur Dominanz kamen, insbesondere in Nordwesteuropa und, anfangs noch unbemerkt, in Nordamerika. Die Daten der USA lagen schon im 18. Jahrhundert über dem globalen Durchschnitt und bereits über denen Großbritanniens und der Niederlande. Im 19. Jahrhundert sollte dann das Land, das zum Inbegriff des Kapitalismus werden würde, alle anderen Staaten und Regionen an Dynamik deutlich übertreffen.[4]
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs entfiel etwa ein Drittel der gesamten Weltwirtschaftsleistung auf Westeuropa (1500: 15,5 Prozent) und 21,3 Prozent auf die sogenannten Western Offshoots, also die USA, Kanada, Australien und Neuseeland (1500: 0,5 Prozent), während der Anteil Asiens (ohne Japan) von 61,8 Prozent auf 22,3 Prozent zurückgegangen war. China, das 1500 etwa ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung erbrachte, fiel vor allem im 19. Jahrhundert weit zurück; sein Anteil betrug 1913 nur noch 8,8 Prozent, ein in der Tat überaus dramatischer Rückgang, der nur noch durch den Niedergang Indiens übertroffen wurde. Die Zahlen für den Subkontinent schrumpften von einem Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung um 1500 auf nur noch 7,5 Prozent im Jahr 1913.[5]
Diese Zahlen sind bestenfalls Anhaltspunkte, mehr nicht. Aber sie verdeutlichen einen dramatischen Wandel. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert war die langfristig statische Entwicklung der globalen ökonomischen Strukturen aufgebrochen. Dies kam nicht allein darin zum Ausdruck, dass die Bevölkerungszahlen weltweit deutlich zunahmen, sondern vor allem in einer Änderung der Lebensbedingungen und einem zumindest auf längere Sicht wachsenden Lebensstandard. Allerdings sind hier die regionalen Unterschiede schlagend: Zwar gelang es auch Indien und China in diesem Zeitraum, die Existenzgrundlage für deutlich wachsende Bevölkerungen zu sichern, jedoch stagnierte beziehungsweise sank der Lebensstandard der Masse der Menschen. Die Gefahr malthusianischer Krisen, also von Situationen, in denen es nicht möglich ist, die vorhandene Bevölkerung zu ernähren, wurde nicht nur nicht überwunden, im Gegenteil nahm sie in dieser Zeit sogar weiter zu.
Anders in Nordwesteuropa und Nordamerika. Auch hier nahm mit dem Bevölkerungswachstum die Gefahr von Ernährungskrisen zu, ja die um 1800 entstehende Bevölkerungstheorie von Thomas Malthus hielt deren Auftreten für überaus wahrscheinlich, wobei er sich nicht nur auf die Vielzahl regionaler Hungerkrisen im 18. Jahrhundert in Europa beziehen konnte,[6] sondern die historische Erfahrung auch lehrte, dass bei anhaltendem Bevölkerungswachstum große Hungerepidemien geradezu unvermeidlich waren. Die wirtschaftliche Entwicklung in Nordwesteuropa und in Nordamerika widerlegte Malthus nicht, sie entzog seinen Befürchtungen aber in gewisser Hinsicht den Boden. Die Fälle von Hungerkrisen gingen zurück, die letzte große malthusianische Krise traf Westeuropa im Vorfeld der Revolution von 1848. Danach traten derartige Krisen aufgrund der gestiegenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in Nordwesteuropa nur noch punktuell beziehungsweise als Folge von Kriegen auf. Damit war hier eine Geißel der Menschheit, die man jahrhundertelang für unvermeidlich gehalten hatte, überwunden. Wie die Zahlen im Einzelnen daher auch sein mögen: Faktisch bedeutete die Umstellung des wirtschaftlichen Handelns seit dem 17. Jahrhundert einen dramatischen Einschnitt, der mit dem Aufkommen und der Verbreitung kapitalistischer Verfahrensweisen eng verbunden ist.
Nun könnte man nicht allein nach den Ursachen der europäischen Entwicklung fragen, sondern sich genauso mit dem Problem beschäftigen, warum etwa China und Indien, obwohl sie von ihrem ökonomischen Potenzial her durchaus dazu in der Lage waren, diesen Weg nicht gegangen sind. Doch würde die Beantwortung dieser Frage, zu der es mittlerweile umfangreiche Studien gibt, zur Klärung der Geschichte des Kapitalismus nur dann beitragen, wenn die Gründe für sein Nichtentstehen in bestimmten Teilen der Welt zugleich seinen Aufstieg in anderen erklärten. Diese Verknüpfung, also die Herleitung der ökonomischen Rückständigkeit mancher Gebiete aus den Erfolgen Nordwesteuropas, ist lange Zeit versucht worden. Zwischen dem Aufstieg der britischen Textilindustrie und dem Niedergang des indischen Textilgewerbes besteht in der Tat ein Zusammenhang, der aber nur eine begrenzte Reichweite hat. Denn die Zerstörung eines Gewerbezweigs durch Diskriminierung erklärt nicht das Aufkommen kapitalintensiver Produktionsverfahren an einem anderen Ort. Deren Chancen werden dadurch zweifellos verbessert, aber ihr Entstehen nicht aufgeklärt. Noch weniger hilft ein Blick nach China. Zwar kann auch hier die negative Wirkung ungleicher Verträge im Einzelnen durchaus aufschlussreich sein, doch war die koloniale Durchdringung der riesigen chinesischen Wirtschaft viel zu gering, um ihre Erstarrung zu erklären.[7] Hinzu kommt die gleichzeitige Dynamik in Westeuropa, die nicht in ungleichen Verträgen, sondern in der bemerkenswert hohen westeuropäischen Angebotselastizität begründet liegt. Diese gilt es aufzuklären.
Der Vergleich zwischen Westeuropa und anderen Teilen der Welt ist dennoch hilfreich, da er nicht zuletzt dazu beiträgt, die lange verbreiteten Mythen über die Ursachen des europäischen Aufstiegs zu korrigieren. Insbesondere seit der von Kenneth Pomeranz und anderen begonnenen Debatte über die Ursachen der «Great Divergence» sind vor allem die naturräumlich günstigen Bedingungen in Teilen Europas, namentlich das Vorkommen großer Kohlelagerstätten und ihre günstige Transportlage, hervorgehoben worden,[8] doch ist das im Kern nicht wirklich neu. Bereits in den 1980er Jahren stellte Eric Lionel Jones bemerkenswerte Vergleiche zwischen der Wirtschaftsgeschichte Europas und der anderer Weltteile her, die vor allem eines betonten: den europäischen Sonderweg, der eben aus sich selbst heraus erklärt werden muss und auch erklärt werden kann.[9] Und Jones machte auf einen wesentlichen Punkt aufmerksam, der durch die Debatte um die «Great Divergence» ein wenig in den Hintergrund getreten ist und mit dem Argument gezielt angegriffen wurde, dass Europa bis weit in das 18. Jahrhundert hinein keineswegs die weltwirtschaftlich führende Region gewesen sei: «Die entscheidende Kluft zwischen Europa und Asien erweiterte sich bereits vor Beginn der Industrialisierung.»[10] Es waren eben nicht allein günstige Kohlelagerstätten und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, die Nordwesteuropa aufsteigen ließen.
Die Wurzeln für Europas Sonderweg und damit auch die historischen Grundlagen für die Herausbildung des Kapitalismus finden sich in der älteren europäischen Geschichte.[1] Die Nutzung dieser Grundlagen in der Industrialisierung verhalf der kapitalistischen Wirtschaftsweise zum Durchbruch; auf ihre spezifische historische Entfaltung ist ein erster Blick zu werfen, wenn es um das Verständnis der Entstehung des Kapitalismus geht. Dieser Blick soll weitgehend den Argumenten von Michael Mitterauer folgen.[2]
Nach Mitterauers überzeugender Argumentation liegt der eigentliche Kern des europäischen Aufstiegs in der karolingischen Agrarverfassung und den davon ausgehenden Veränderungen der ländlichen Produktionsstrukturen. Hier findet sich vor allem die eigentümliche Verbindung von Landwirtschaft und Gewerbe, die für die Entfaltung der Landwirtschaft auf den schweren Böden Nordwesteuropas unabdingbar war und wesentlich zur Entstehung der Roggenkultur beitrug, deren Ertrag wiederum eine höhere Bevölkerungsdichte zuließ. In der Tat nahm die Bevölkerung Nordwesteuropas seit dem 9. Jahrhundert stark zu, während sie zuvor wegen schwerer Pestzüge deutlich zurückgegangen war. Von einem Höhepunkt von 27,5 Millionen Menschen um das Jahr 500 ging die Bevölkerung auf 18 Millionen im Jahr 650 zurück, um dann bis zum Jahr 1000 auf bereits 38,5 Millionen anzusteigen. Zwischen 1000 und dem erneuten Beginn großer Pestzüge in der Mitte des 14. Jahrhunderts verdoppelte sich die Anzahl der in Europa lebenden Menschen auf 73,5 Millionen und ging bis 1450 wieder auf 50 Millionen zurück.[3]
Basis hierfür war die steigende Agrarproduktivität und die sich damit ergebenden Möglichkeiten einer verstärkten Urbanisierung, da es nunmehr möglich war, größere städtische Zentren ausreichend mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die sich in Nordwesteuropa ausbreitenden Städte wurden, um ein Wort von Jacques Le Goff aufzugreifen, in der Folgezeit geradezu zu Agenten der Zivilisation, denn nicht allein Handel und Gewerbe breiteten sich dort aus und spezialisierten sich arbeitsteilig, sondern auch höhere Bildung und Kultur gewannen eine große Bedeutung.[4]