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Nach gängiger Meinung überlässt man Innovationen am besten den dynamischen privaten Unternehmen, und der Staat hält sich raus. Das Gegenteil ist der Fall, beweist die international renommierte Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem in 21 Ländern veröffentlichten bahnbrechenden Buch. Der Privatsektor findet erst dann den Mut einzusteigen, wenn der unternehmerisch denkende Staat die risikoreichen Investitionen getätigt hat. »Unsere Unfähigkeit, die Rolle des Staates bei Innovation und Wachstum anzuerkennen, könnte sehr wohl die größte Bedrohung der Entwicklung von Wohlstand sein.« Financial Times » … auch wenn Sie mit Marianna Mazzucatos Argumenten nicht übereinstimmen, sollten Sie ihr Buch lesen: Es wird Ihr Denken verändern.« Forbes »Der Staat muss die Richtung vorgeben: Ohne aktive Industriepolitik gäbe es weder das iPhone noch das Silicon Valley, sagt die einflussreiche amerikanisch-italienische Ökonomin.« F.A.Z. »Ihre Ideen dienen Robert Habeck als Denkschule. Ein starker Staat, um Herausforderungen wie den Klimawandel zu bewältigen? Man darf gespannt sein.« Der Tagesspiegel
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Seitenzahl: 394
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Mariana Mazzucato
Das Kapital des Staates
Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Vita
Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value am University College London sowie Gründungsdirektorin des zugehörigen Institute for Innovation and Public Purpose. Sie berät politische Entscheidungsträger in aller Welt und ist Vorsitzende des Council on the Economics of Health for All der Weltgesundheitsorganisation sowie Mitglied des High-level Advisory Board on Economic and Social Affairs der UN. Ihre Arbeit wurde mit internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Leontief Prize 2018, der John von Neumann Award 2020 und der Kurt Rothschild Preis für Wirtschaftspublizistik 2021. Zu ihren preisgekrönten Büchern gehören »Das Kapital des Staates« (2014) und »Wie kommt der Wert in die Welt?« (2018), zuletzt erschien »Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft« (2021).
Dieses Buch ist meiner Mutter Alessandra gewidmet, die im Geiste immer noch alle Menschen inspiriert, die sie kennengelernt haben, und damit zu unserer Bereitschaft und Fähigkeit beigetragen hat, die Welt zu verstehen und sie mit Entschlossenheit, Großzügigkeit und Anmut zu verändern. Und es ist meinem Vater Ernesto gewidmet, der in seinem Kampf, ohne sie zu überleben, dennoch nicht nachgelassen hat, über die vielleicht einzige wirklich erneuerbare Energiequelle zu forschen: die Kernfusion.
In der Tat ist die kapitalistische Wirtschaft nicht stationär und kann es nicht sein. Auch dehnt sie sich nicht bloß in einer stetigen Art und Weise aus. Sie wird unaufhörlich von innen her durch neue Unternehmungen revolutioniert, das heißt durch die Einführung neuer Waren oder neuer Produktionsmethoden oder neuer Handelsmöglichkeiten in die industrielle Struktur, wie sie in irgendeinem Augenblick existiert.
JOSEPH SCHUMPETER (1972 [1942], S. 59)
Nicht das ist wichtig für den Staat, dass er die gleichen Dinge etwas besser oder etwas schlechter ausführt, die heute bereits von Einzelpersonen getan werden, sondern dass er die Dinge tut, die heute überhaupt nicht getan werden.
JOHN MAYNARD KEYNES (2011 [1926], S. 47)
Es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, dass die staatliche Verwaltung nicht so flexibel ist wie private Unternehmen. Im Einzelfall kann es so sein, aber wenn große Anpassungsleistungen nötig sind, ist zentrale Kontrolle viel flexibler. Es kann zwei Monate dauern, bis man auf einen Brief an ein Ministerium eine Antwort bekommt. Aber es dauert zwanzig Jahre, bis eine Branche in der privatwirtschaftlich organisierten Industrie sich an einen Einbruch der Nachfrage angepasst hat.
JOAN ROBINSON (1978, S. 27)
Wo wart ihr Jungs [Wagniskapitalgeber] in den 1950er- und 1960er-Jahren, als die ganze Grundlagenforschung finanziert werden musste? Die meisten Entdeckungen, die [die Industrie] vorangetrieben haben, wurden damals gemacht.
PAUL BERG, Träger des Nobelpreises für Chemie 1980 (zitiert in Henderson und Schrage 1984)
Einführung: Es anders machen
1. Innovationen: Von der Krisenideologie zur Arbeitsteilung
2. Technologie, Innovation und Wachstum
3. Der Staat als Risikoträger
4. Der Unternehmerstaat in den Vereinigten Staaten
5. Der Staat hinter dem iPhone
6. Druck versus Anreize: Die grüne Revolution
7. Wind- und Sonnenenergie: Erfolgsgeschichten und Technologie in der Krise
8. Risiken und Profite: Von faulen Äpfeln zu symbiotischen Ökosystemen
9. Sozialisierung des Risikos, Privatisierung der Gewinne: Bekommt der Unternehmerstaat seinen gerechten Anteil?
10. Zusammenfassung
Danksagung
Bibliografie
Anmerkungen
Register
Es anders machen
Wir wissen einfach nicht mehr, wie man über diese Dinge spricht.
TONY JUDT (2011, S. 37)
Nie war es nötiger als heute, über die Rolle des Staates in der Wirtschaft nachzudenken – ein heißes Thema, seit Adam Smith Der Wohlstand der Nationen schrieb. Nötig deshalb, weil wir überall auf der Welt einen massiven Rückzug des Staates erleben, der mit Schuldenabbau und – noch grundsätzlicher – mit dem Argument gerechtfertigt wird, die Wirtschaft müsse »dynamischer«, »wettbewerbsfähiger« und »innovativer« werden. Den Unternehmen traut man innovative Kraft zu, der Staat gilt als träge: Man braucht ihn für die Rahmenbedingungen, aber er ist zu groß und zu schwerfällig, um die Dinge dynamisch voranzutreiben.
Mein Buch soll dieses Bild widerlegen. Innovation ist zwar nicht die Hauptaufgabe des Staates, aber vielleicht ist es der wirkungsvollste Weg, seine Existenzberechtigung zu verteidigen, wenn wir den potenziell innovativen und dynamischen Charakter des Staates herausarbeiten – seine in einigen Ländern bewiesene Fähigkeit, eine unternehmerische Rolle zu spielen. In seinem Buch Dem Land geht es schlecht schildert Tony Judt (2011), dass zu den Angriffen auf den Wohlfahrtsstaat in den letzten 30 Jahren immer auch ein Kampf um Worte gehörte – eine Veränderung der Art und Weise, wie wir über den Staat sprechen. Mit Begriffen wie »Administration« wird der Staat kleingeredet, als verwalte er nur und entwickle keine eigene Initiative. Dieses Buch versucht, die Art unseres Redens über den Staat zu verändern und dabei ideologisch befrachtete Geschichten und Bilder zu revidieren – kurz, Fakten und Fiktion zu trennen.
Es ist die überarbeitete und erheblich erweiterte Version eines Berichts über den Unternehmerstaat, den ich für DEMOS geschrieben habe, eine Denkfabrik in Großbritannien. Im Unterschied zu klassischen akademischen Schriften, über deren Abfassung oft Jahre vergehen, habe ich diesen Bericht für DEMOS in einem Stil geschrieben, der an die politischen Flugschriften des 19. Jahrhunderts erinnert: schnell und mit einem Gefühl von Dringlichkeit. Ich wollte die britische Regierung zu einem Kurswechsel bewegen: keine Kürzungen staatlicher Programme mehr, angeblich um die Wirtschaft »wettbewerbsfähiger« und »unternehmerischer« zu machen, sondern Rückbesinnung auf das, was der Staat tun kann und tun muss, um eine nachhaltige Erholung von der Finanzkrise zu gewährleisten. Die aktive Rolle herauszuarbeiten, die der Staat tatsächlich an den »Hotspots« der Innovation und des unternehmerischen Wagemuts wie dem Silicon Valley gespielt hat, war der Schlüssel, um zu zeigen, dass der Staat die Wissensökonomie nicht nur fördern, sondern sie mit mutigen Visionen und gezielten Investitionen aktiv schaffen kann.
Ich spreche in diesem Buch vom »Unternehmerstaat«, weil Unternehmergeist – etwas, das heutzutage anscheinend jeder Politiker fördern möchte – nicht nur mit Start-ups, Wagniskapital und »Garagenbastlern« zu tun hat. Er hängt auch mit der Bereitschaft und Fähigkeit der wirtschaftlichen Akteure zusammen, Risiken einzugehen und sich auf echte Knightsche Unsicherheit einzulassen: auf das wirklich Unbekannte.1Erste Innovationsversuche scheitern in der Regel – sonst wären es keine echten »Innovationen«. Man muss also ein bisschen »verrückt« sein, um sich auf Innovationen einzulassen. Oft kosten sie mehr, als sie einbringen, weshalb die traditionelle Kosten-Nutzen-Analyse erst einmal gegen sie spricht. Aber während Steve Jobs in seiner charismatischen Rede 2005 in Stanford davon sprach, wer Innovationen anstrebe, müsse »hungrig und tollkühn« bleiben (Jobs 2005), haben nur wenige zugegeben, dass diese Tollkühnheit oft höchst geschäftstüchtig auf der Welle staatlich finanzierter und gelenkter Innovationen ge-ritten ist.
Der Staat als »tollkühner« Initiator von Innovationen? Ja, bei den meisten radikalen, revolutionären Innovationen, die den Kapitalismus vorangetrieben haben – von Eisenbahnen über das Internet bis aktuell zur Nanotechnologie und Pharmaforschung –, kamen die frühesten, mutigsten und kapitalintensivsten »unternehmerischen« Investitionen vom Staat. Und wie wir in Kapitel 5 ausführlich darlegen, wurden all die Technologien, die Jobs’ iPhone so »smart« machten, vom Staat finanziert (Internet, GPS, Touchscreen-Displays und neuerdings SIRI, die sprachgesteuerte persönliche Assistentin). Solche radikalen Investitionen – zu denen extreme Unsicherheit gehört – wurden weder durch Wagniskapitalgeber noch »Garagenbastler« getätigt, sondern durch die sichtbare Hand des Staates, der damit Innovationen ermöglichte. Es hätte sie also nicht gegeben, wenn wir allein auf den Markt und die Unternehmen vertraut hätten – während der Staat einfach daneben steht und sich auf die Schaffung der Rahmenbedingungen beschränkt.
Und wie sprechen die Ökonomen über diese Themen? Entweder ignorieren sie sie, oder sie beschränken die Rolle des Staates darauf, »Marktversagen« zu reparieren. Die ökonomische Standardtheorie rechtfertigt staatliche Interventionen, wenn die gesellschaftliche Rendite aus einer Investition höher ist als die private Rendite und es daher unwahrscheinlich ist, dass ein privates Unternehmen investieren wird. Das gilt von der Beseitigung von Umweltschäden (negativen »externen Kosten«, die nicht in die Kostenbilanz der Unternehmen einfließen) bis zur Finanzierung von Grundlagenforschung (ein »öffentliches Gut«, das man sich schlecht individuell aneignen kann). Aber das erklärt weniger als ein Viertel aller Investitionen in Forschung und Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Große visionäre Projekte – wie die Mondlandung oder die Idee des Internets – erforderten mehr, als gesellschaftliche und private Renditen gegeneinander aufzurechnen (Mowery 2010).
Solche Herausforderungen verlangen eine Vision, eine Mission und vor allem Vertrauen in die Rolle des Staates in der Wirtschaft. Wie Keynes in Das Ende des Laissez-Faire (2011 [1926], S. 47) so anschaulich geschrieben hat: »Die wichtigsten Agenden des Staates betreffen nicht die Tätigkeiten, die bereits von Privatpersonen geleistet werden, sondern jene Funktionen, jene Entscheidungen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft.« Das erfordert nicht nur bürokratische Fähigkeiten (obwohl sie wichtig sind, wie Max Weber dargelegt hat), sondern echtes, technologie- und sektorspezifisches Fachwissen. Solches Fachwissen wird sich nur rekrutieren lassen, wenn die Vision des Staates Begeisterung weckt und neue Horizonte eröffnet. Ein wesentlicher Teil des »Geheimnisses« der DARPA (der Behörde innerhalb des amerikanischen Verteidigungsministeriums, die das Internet erfunden und kommerzialisiert hat) bestand darin, dass sie in der Lage war, Talente anzuziehen und Begeisterung für bestimmte Missionen zu wecken. Es ist auch kein Zufall, dass eine ähnliche Behörde im amerikanischen Energieministerium, ARPA-E, die heute führend bei den »grünen« Investitionen der USA und der Forschung nach neuen Energiequellen ist, kluge Köpfe aus der Energieforschung anzieht (Grunwald 2012).
Viele Beispiele in diesem Buch stammen aus den Vereinigten Staaten. Sie sollen zeigen, dass das Land, das nach verbreiteter Einschätzung die Vorteile des »freien Marktes« am besten verkörpert, sich bei Innovationen tatsächlich besonders interventionistisch verhält. Aktuelle Beispiele kommen auch aus »Entwicklungs«-Ländern. Zukunftsweisende Investitionen werden heute zum Beispiel von selbstbewussten staatlichen Investitionsbanken in Ländern wie Brasilien und China getätigt: Sie vergeben nicht nur antizyklisch Kredite, sondern lenken diese Kredite auch in neue, unerforschte Bereiche, vor denen Privatbanken und Wagniskapitalgeber zurückschrecken. Wie bei der DARPA zählen auch hier Sachverstand, Talent und visionäre Ideen. Es ist kein Zufall, dass an der Spitze der staatlichen Investitionsbank Brasiliens, BNDES, zwei Personen stehen, die von der Schumpeterschen Innovationsökonomie geprägt sind – ihr Expertenteam hat dafür gesorgt, dass in neuen Schlüsselsektoren wie Biotechnologie und bei sauberen Technologien mutig Risiken eingegangen wurden. Heute verzeichnet die Bank rekordverdächtige Renditen bei produktiven und nicht nur spekulativen Investitionen: 2010 betrug ihre Eigenkapitalrendite erstaunliche 21,2 Prozent (die das brasilianische Finanzministerium in Gesundheitswesen und Bildung reinvestierte), während das Pendant im Weltbanksystem, die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (IBRD), mit minus 2,3 Prozent nicht einmal ein positives Ergebnis erzielte. Ebenso ist heute die chinesische Entwicklungsbank der führende Investor des Landes in grüne Projekte (Sanderson und Forsythe 2012). Während die üblichen Verdächtigen sich Sorgen machen, die staatlichen Banken könnten private Kreditgeber »verdrängen« (Financial Times 2012), ist es in Wahrheit so, dass diese Banken in Sektoren operieren, die Privatbanken scheuen. Der Staat kann als Motor der Innovation und des Wandels agieren, nicht nur, indem er risikoscheuen privaten Akteuren das Risiko abnimmt, sondern auch, indem er mutig vorangeht, mit einer klaren, kühnen Vision – genau das Gegenteil des Bildes, das üblicherweise vom Staat gezeichnet wird.
Und das ist die Pointe dabei: Wenn die Hand des Staates effizient funktioniert, ist sie fest, aber nicht schwer; sie bringt die Vision und den dynamischen Druck (und ein paar Anreize dazu – obwohl man mit Anreizen allein weder die IT-Revolution der Vergangenheit bekommen hätte, noch die grüne Revolution von heute bekommen wird), um Dinge möglich zu machen, die sonst nicht möglich geworden wären. Das staatliche Handeln soll den Mut der privaten Unternehmer verstärken. Dies erfordert, den Staat nicht nur als »Eindringling« oder bestenfalls »Unterstützer« von Wirtschaftswachstum zu betrachten. Er ist ein wichtiger Partner des privaten Sektors – oft wagemutiger und bereit, Risiken einzugehen, die Unternehmen nicht eingehen. Der Staat kann und darf nicht einfach Interessengruppen nachgeben, die von ihm Vergünstigungen, Fördergelder oder überflüssige Privilegien wie Steuererleichterungen wollen. Er sollte vielmehr zu erreichen versuchen, dass die Interessengruppen im gemeinsamen Bemühen um Wachstum und technologischen Wandel dynamisch mit ihm zusammenarbeiten.
Die besondere Natur des öffentlichen Sektors neu zu begreifen – dass er mehr ist als nur eine ineffiziente »soziale« Version des privaten Sektors – hat Einfluss auf die künftige Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor und nicht zuletzt den »Lohn«, den der Staat sich berechtigt fühlt abzuschöpfen (dazu mehr in Kapitel 9). Ein unternehmerisch gesinnter Staat nimmt dem privaten Sektor nicht einfach nur Risiken ab, sondern entwickelt eine Vorstellung vom Risikoraum und agiert darin mutig und effizient, um Neues voranzutreiben. Wenn der Staat nicht selbstbewusst auftritt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er von privaten Gruppen vereinnahmt wird und sich ihnen unterordnet. Wenn der Staat nicht die Führungsrolle beansprucht, wird er – schlechte –Verhaltensweisen des privaten Sektors imitieren, statt Alternativen zu ihnen zu entwickeln. Die übliche Kritik, der Staat sei langsam und bürokratisch, wird häufiger in Ländern geäußert, die ihn an den Rand drängen und auf eine rein administrative Rolle beschränken.
Es ist im Übrigen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, wenn man den Staat als schwerfällig bezeichnet. Wer möchte in einem solchen Sektor arbeiten? Und ist es ein Zufall, dass die Befürchtung, der Staat könnte nicht in der Lage sein, mutige Entscheidungen über die Richtung des Wandels zu treffen, vor allem in Ländern diskutiert wird, die den Staat nicht in einer unternehmerischen Rolle sehen und ihn kritisieren, sobald er sich aus dem Hintergrund wagt und einen Fehler macht? Große sozioökonomische Herausforderungen wie der Klimawandel und eine alternde Gesellschaft erfordern einen aktiven Staat, und deshalb ist ein angemessenes Verständnis seiner Rolle in Partnerschaften zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor wichtiger denn je (Foray et al. 2012).
Wenn Keynes davon sprach, Investitionen würden durch »tierische Instinkte« gelenkt, sehen wir heute gern Unternehmen als brüllende Löwen und den Staat als schnurrende Katze vor uns. Doch in einem privaten Brief an Roosevelt bezeichnete er die Unternehmen auch als »domestizierte Tiere«:
Unternehmer haben andere Illusionen als Politiker und müssen deshalb anders behandelt werden. Sie sind jedoch viel nachgiebiger als Politiker und gleichzeitig angezogen und erschreckt vom Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit, sie lassen sich leicht zu »patriotischem« Verhalten überreden, sind verblüfft, verwirrt, ja sogar erschreckt, aber doch zu ängstlich, um eine optimistische Sicht einzunehmen, eitel vielleicht, aber viel zu unsicher und geradezu erbärmlich abhängig von einem freundlichen Wort. Man kann mit ihnen alles machen, was man will, wenn man sie (sogar die Großen) NICHT ALS WÖLFE ODER TIGER BEHANDELT, SONDERN ALS VON NATUR AUS ZAHME TIERE, obwohl sie schlecht aufgezogen und nicht so ausgebildet wurden, wie man es sich wünschen würde. Es ist ein Fehler zu glauben, sie seien unmoralischer als Politiker. Wenn man sie in die mürrische, sture, ängstliche Haltung treibt, die Haustiere so gern an den Tag legen, wenn man sie falsch behandelt, dann werden die Lasten der Nation nicht zu Markt gebracht werden; und am Ende wird die öffentliche Meinung ihre Richtung ändern … (Keynes 1938, S. 607; Hervorhebung der Autorin)
Diese Sicht – Unternehmen nicht als Tiger und Löwen, sondern als Hauskatzen – bedeutet, dass der Staat nicht nur aus den üblichen antizyklischen keynesianischen Gründen wichtig ist (indem er eingreift, wenn Nachfrage und Investitionen zu gering sind), sondern dass er zu jeder Zeit im Konjunkturzyklus die Rolle eines echten Tigers spielen muss. Nirgendwo trifft das mehr zu als bei Innovationen – wo die Unsicherheit so groß ist. So fällt die grüne Revolution, die gerade überall auf der Welt beginnt, mit einer Finanz- und Umweltkrise zusammen. Aber selbst wenn wir heute eine Boomphase hätten, würde es ohne den Staat nicht genug Investitionen in radikal grüne Technologien geben. Auch in einer Boomphase würden die meisten Unternehmen und Banken lieber risikoarme Innovationen finanzieren und darauf warten, dass der Staat sich um die radikal neuen Bereiche kümmert. Wie bei allen technischen Revolutionen ist es auch bei der grünen Technologie unverzichtbar, dass der Staat mutig vorangeht – genau wie es beim Internet, bei der Biotechnologie und Nanotechnologie der Fall war.
Wenn der Staat in dieser Weise die Führung übernimmt, macht er Dinge möglich, die sonst nicht zustande kommen würden. Aber es ist ein großer Unterschied, ob seine Rolle mit der besonderen Natur des Gemeinwohls und der Bedeutung von »externen Kosten« begründet wird wie in der Theorie des Marktversagens, oder ob man den Staat grundsätzlich als einen mutigen Akteur im Wirtschaftssystem betrachtet. Die erste Sichtweise führt zu Diskussionen, ob der Staat private Investitionen womöglich verdrängt (oder aber verstärkt), und damit zu einer engen Sicht auf die politischen Optionen, die man ihm zugesteht (Friedman 1979). Die zweite Sicht führt zu der – spannenderen – Diskussion, was der Staat tun kann, um die »tierischen Instinkte« der Unternehmen zu wecken – dass heißt, sie dazu zu veranlassen, ihr Geld nicht länger zu horten, sondern es für neue, bahnbrechende Dinge auszugeben. Wie wir uns den »Raum« der Politik vorstellen, hat also große Auswirkungen. Zunächst einmal macht es den Staat weniger anfällig gegenüber Debatten, die die führende Rolle von Unternehmen künstlich hochjubeln. Tatsächlich erliegen gerade die schwächsten Staaten am ehesten der Rhetorik, man brauche vor allem Steuererleichterungen und müsse »Überregulierung« abschaffen. Ein selbstbewusster Staat weiß genau, dass die Wirtschaft zwar gern über Steuern spricht, aber letztlich dorthin geht, wo die neuen technologischen und Marktchancen liegen – und das sind vor allem die Gebiete, in denen die öffentliche Hand viel investiert. Hat Pfizer kürzlich Sandwich in der englischen Grafschaft Kent den Rücken gekehrt und ist nach Boston gegangen, weil dort die Steuern niedriger sind und es weniger Vorschriften gibt? Oder hatte der Umzug damit zu tun, dass die National Institutes of Health in den USA jährlich fast 30,9 Milliarden Dollar in die Forschung investieren, der die privaten Pharmafirmen ihre Erfolge verdanken?
In der Wirtschaftswissenschaft analysiert man mit der Verdrängungshypothese die Möglichkeit, dass mehr staatliche Ausgaben die Investitionen der Privatunternehmen reduzieren, weil beide bei der Kreditaufnahme um denselben Pool von Ersparnissen konkurrieren. Das könnte zu höheren Zinsen führen, was wiederum die Bereitschaft von Privatunternehmen, Kredite aufzunehmen und zu investieren, dämpfen würde. Nach keynesianischer Theorie ist das in Phasen nicht ausgelasteter Kapazitäten unwahrscheinlich (Zenghelis 2011). Aber der entscheidende Punkt hier ist, dass es selbst in Boomphasen (wenn in der Theorie die Kapazitäten voll ausgelastet sind) viele risikobehaftete Bereiche gibt, vor denen Privatunternehmen zurückscheuen, in denen jedoch der Staat als Pionier vorangeht. Die Investitionen im Zusammenhang mit dem Internet wurden größtenteils in Boomzeiten getätigt – und die Nanotechnologie-Branche verdankt ihre Existenz staatlichen Ausgaben (Motoyama et al. 2011).
Zur Verteidigung des Staates sollte man also darauf hinweisen, dass er nicht nur private Investitionen verstärkt (indem er durch den Multiplikatoreffekt das BIP erhöht) – ein richtiges, aber begrenztes Argument der Keynesianer –, sondern noch mehr tut. So, wie ich Judts aufrüttelnde Bemerkung interpretiere, müssen wir uns neue Wörter angewöhnen, um den Staat zu beschreiben. Wenn wir etwas Positives und Visionäres beschreiben wollen, brauchen wir statt eines defensiven Begriffs einen offensiven und mutigen. Statt die aktive Rolle des Staates auf die Korrektur von »Marktversagen« zu beschränken (wie es viele »progressive« Ökonomen tun, die zu Recht etliche Defizite des Marktes sehen), benötigen wir eine Theorie der gestaltenden und Märkte schaffenden Rolle des Staates – eher im Sinn von Karl Polanyi (1978 [1944]), der hervorgehoben hat, wie stark der kapitalistische Markt von Anfang an durch staatliches Handeln geprägt wurde. Bei Innovationen verstärkt der Staat nicht einfach nur private Investitionen, sondern »dynamisiert« sie dabei– er schafft die Vision, die Mission und den Plan. In diesem Buch soll erklärt werden, wie das geschieht.
Das Buch versucht, die Art und Weise zu verändern, wie wir über den Staat sprechen, um so unsere Vorstellung zu erweitern, was er leisten kann. Und das ist die neue Sicht: von einem trägen bürokratischen Leviathan zum Katalysator neuer Investitionen; vom Reparateur des Marktes zu dessen Schöpfer und Gestalter; von einer Instanz, die den privaten Sektor vom Risiko entlastet, zu einer Instanz, die das Risiko bereitwillig trägt, weil es trotz aller Schwierigkeiten Chancen für künftiges Wachstum eröffnet.
Kapitel 1 stellt dem verbreiteten Bild des Staates als bürokratischem Apparat ein anderes gegenüber: das eines Staates, der voranschreitet und Risiken eingeht. Der Staat wird als unternehmerischer Akteur vorgestellt, als derjenige, der die riskantesten und unsichersten Investitionen tätigt. Statt den Staat wie üblich als letzten Retter bei »Marktversagen« zu betrachten, wird das Konzept der unternehmerischen Risikoübernahme eingeführt. Der Staat beseitigt Risiken nicht, als könnte er sie mit einem Zauberstab zum Verschwinden bringen; er übernimmt Risiken und schafft damit neue Märkte. Dass die Ökonomen keine Begriffe für diese Rolle haben, hat unser Verständnis, welche Rolle der Staat in der Vergangenheit spielte – etwa im Silicon Valley – und welche er in Zukunft in Bereichen wie der »grünen Revolution« spielen kann, beeinträchtigt.2
Kapitel 2 liefert den Hintergrund zu dieser Diskussion. Wir schauen uns an, wie Ökonomen die Bedeutung von Innovation und Technologie für das Wirtschaftswachstum verstehen. Während noch vor einer Generation technischer Fortschritt in wirtschaftlichen Modellen als etwas von außen Kommendes galt, zeigt heute eine Fülle von Literatur, dass das Tempo und die Richtung der Innovationen über die Wachstumsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft entscheiden. In dem Kapitel werden zwei sehr unterschiedliche Modelle für das Verständnis der Rolle des Staates bei innovationsgetriebenem Wachstum einander gegenübergestellt; beide Male geht es um unterschiedliche »Defizite«, die der Staat korrigiert. Das erste ist das Modell des »Marktversagens«, nach dem der Staat einfach die Lücke zwischen privater und gesellschaftlicher Rendite schließt. Beim zweiten Modell geht es um »Innovationssysteme«. Dabei werden Ausgaben für Forschung und Entwicklung in einer ganzheitlicheren Weise betrachtet, als Teil eines Systems, in dem Wissen in einer Volkswirtschaft nicht nur produziert, sondern auch verteilt wird. Aber selbst im zweiten Modell repariert der Staat hauptsächlich Defizite, diesmal »Systemversagen« – mit der Schlussfolgerung, dass er Innovationen »fördert«, indem er »die Bedingungen dafür schafft«. Diese Modelle dienten als Rechtfertigung höherer staatlicher Ausgaben für Innovationen und erlaubten gleichzeitig, dass bestimmte Mythen fortbestehen konnten, die die führende Rolle des Staates bei der Risikoübernahme verschleierten. Diese Mythen betreffen das Verhältnis von Innovation und Wachstum, die Rolle von kleinen und mittleren Unternehmen, die Bedeutung von Patenten in der Wissensökonomie und den Umfang, in dem Investitionen in Innovationen durch Steuererleichterungen unterschiedlicher Art beeinflusst werden.
Kapitel 3 präsentiert eine andere Sichtweise: die des unternehmerisch handelnden Staates, der an vorderster Front Risiken eingeht und Märkte gestaltet. Sie ersetzt die anderen beiden Modelle nicht, sondern will sie ergänzen. Ich belege sie mit Beispielen aus der Pharmabranche: Die revolutionärsten neuen Medikamente werden in den meisten Fällen mit staatlichem, nicht mit privatem Geld produziert. Ich untersuche auch, wie in der Biotechnologie privates Wagniskapital auf der Welle staatlicher Investitionen »reitet«.
In Kapitel 4 werden die Schlüsselmerkmale des »Unternehmerstaates« dargelegt. Dabei konzentrieren wir uns auf die aktuelle Geschichte der Industriepolitik in den Vereinigten Staaten und zeigen, dass entgegen der verbreiteten Wahrnehmung der Staat bei der Entwicklung und Kommerzialisierung neuer Technologien extrem aktiv und unternehmerisch auftrat. Unternehmerisches Handeln des Staates kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Wir illustrieren sie anhand von vier Beispielen: der Errichtung der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), dem Programm Small Business Innovation Research (SBIR), dem Orphan Drug Act von 1983 und aktuellen Entwicklungen in der Nanotechnologie. Zugrunde liegt der Begriff des »Entwicklungsstaats« (Block 2008; Chang 2008; Johnson 1982), den wir weiter ausführen. Dabei konzentrieren wir uns darauf, welche Risiken der öffentliche Sektor zu übernehmen bereit war.
In den Kapiteln 3 und 4 geht es um verschiedene Branchen, in Kapitel 5 um die Geschichte eines einzelnen Unternehmens: Apple. Auf das Beispiel Apple wird oft verwiesen, um die Macht des Marktes zu preisen und die Genialität der »Garagenbastler«, die den Kapitalismus revolutionieren. Apple soll die Kraft der kreativen Zerstörung illustrieren, von der Schumpeter gesprochen hat.3 Ich stelle den Begriff auf den Kopf. Apple ist alles andere als das Paradebeispiel für die Wirkung des freien Marktes, als das es oft hingestellt wird. Das Unternehmen hat nicht nur in der Frühphase finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen (durch das SBIC-Programm, das mit dem in Kapitel 4 beschriebenen SBIR-Programm zusammenhängt), sondern hat auch erfindungsreich von öffentlich finanzierter Technologie Gebrauch gemacht, um »intelligente« Produkte zu entwickeln. Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde. Von der Kommunikationstechnologie abgesehen, ist das iPhone »intelligent«, weil es solche Dinge gibt wie das Internet, GPS, Touchscreen-Displays und ganz neu die sprachgesteuerte persönliche Assistentin (SIRI). Steve Jobs war zweifellos ein genialer Denker, aber die Tatsache, dass das Reich von iPhone und iPad auf staatlich finanzierten Technologien erbaut wurde, spiegelt den tatsächlichen technologischen und ökonomischen Wandel genauer wider als die Darstellung in den Mainstream-Diskussionen. Gerade weil der Staat eine so entscheidende Rolle dabei gespielt hat, dass Unternehmen wie Apple ihr Geschäftsmodell entwickeln konnten, ist es so erstaunlich, dass dieses Faktum in der Diskussion um Apples Steuervermeidungstaktik kaum vorkam. Apple sollte Steuern nicht nur deshalb zahlen, weil es sich so gehört, sondern weil es der Inbegriff eines Unternehmens ist, das nur dank öffentlicher Gelder so groß werden konnte – und risikofreudig genug, die Investitionen zu tätigen, die Unternehmer wie Steve Jobs später reich machten (Mazzucato 2013b).
In Kapitel 6 geht es um »das nächste große Ding« nach dem Internet: die grüne Revolution, die heute vom Staat angeführt wird, genau wie früher die IT-Revolution. 2012 kündigte China an, bis 2050 1000 Gigawatt Strom aus Windkraft erzeugen zu wollen. Das ist etwa so, als würde man die gesamte amerikanische Infrastruktur zur Stromerzeugung durch Windturbinen ersetzen. Sind die Vereinigten Staaten und Europa noch in der Lage, in diesen Dimensionen zu träumen? Allem Anschein nach nicht. In vielen Ländern wird der Staat aufgefordert, in den Hintergrund zu treten und entweder Anreize für Investitionen des privaten Sektors zu schaffen oder sie zu subventionieren. Deshalb entstehen auch keine Visionen zukünftiger Entwicklungen, wie sie vor zwei Jahrzehnten zur Verbreitung des Internets führten. In diesem Kapitel schauen wir uns an, welche Länder bei grünen Technologien ganz vorne dabei sind und welche Rolle dort der Staat – und das »geduldige« Geld, das staatliche Entwicklungsbanken zur Verfügung stellen – als Katalysator früher, risikoreicher Investitionen spielen, ohne die es die grüne Revolution nicht geben wird.
In Kapitel 7 konzentrieren wir uns auf den Staat als Unternehmer, der Risiken eingeht, um bestimmte saubere Technologien auf den Weg zu bringen, im konkreten Fall Windturbinen und Photovoltaik-Module. Staatliches Geld und die Arbeit einzelner Behörden haben den ersten Anstoß gegeben, die großen Risiken der Anfangszeit finanziert und die institutionelle Umgebung geschaffen, in der diese wichtigen Technologien etabliert werden konnten. Während es in Kapitel 4 um die Rolle des Staates bei der IT-Revolution und bei der Errichtung der Grundlagen für die Biotech-Branche in Amerika geht, betrachtet dieses Kapitel Länder wie Deutschland, Dänemark und China und ihren Beitrag zur grünen Revolution, die sich immer weiter ausbreitet.
In den Kapiteln 8 und 9 diskutieren wir die Frage, inwieweit sich die Vorreiterrolle des Staates in der Verteilung von Risiko und Gewinn widerspiegelt. In vielen Fällen waren staatliche Investitionen wie Geschenke an die Unternehmen, sie machten einzelne Personen und ihre Unternehmen reich, brachten aber der Volkswirtschaft insgesamt und dem Staat selbst wenig (direkten und indirekten) Gewinn. Das beste Beispiel dafür ist die Pharmabranche, deren mit staatlichen Geldern entwickelte Medikamente letztendlich oft so teuer sind, dass die Steuerzahler (die ihre Entwicklung finanziert haben) sie sich nicht leisten können. Dasselbe trifft für die IT-Branche zu, wo wagemutige staatliche Investitionen die privaten Gewinne haben sprudeln lassen. Das Geld wurde dann in Sicherheit gebracht und floss nicht etwa in Form von Steuern an den Staat zurück. Kapitel 8 illustriert das am Beispiel von Apple. In Kapitel 9 wird dieser Punkt grundsätzlicher untersucht mit dem Argument, dass es in Zeiten tiefer Einschnitte zum Abbau von Haushaltsdefiziten wichtiger ist denn je, darüber zu sprechen, wie der Staat sicherstellen kann, dass die Risikoübernahme sich für ihn lohnt, und zwar jenseits von Steuerzahlungen, die sich leicht umgehen lassen. Eben weil staatliche Investitionen unsicher sind, besteht ein hohes Ausfallrisiko. Aber wenn sie Erfolg haben, ist es naiv und gefährlich, zu dulden, dass alle Gewinne daraus privatisiert werden. Die Kritik, der Finanzsektor habe Schuld an der gegenwärtigen Wirtschaftskrise, weil massive private Gewinne eingestrichen und Risiken durch unpopuläre Rettungsmaßnahmen sozialisiert wurden, verweist auf ein generelles, unbeliebtes Merkmal des dysfunktionalen modernen Kapitalismus, das nicht zur Norm werden sollte.
In Kapitel 10 überlegen wir abschließend, warum das Kernargument des Buchs – der Staat als aktiv und unternehmerisch Handelnder, der Risiken eingeht – nicht immer Realität ist, sondern eine zu oft übersehene Möglichkeit. Die Möglichkeit wird erst erkannt, wenn man bestimmte Schlüsselannahmen über den Haufen wirft. Das beginnt damit, wie wir uns den Staat in seinen eigenen Organisationen vorstellen (etwa ob Abteilungen im öffentlichen Sektor ermutigt werden, unternehmerisch zu handeln, bis hin zu der Haltung, Misserfolge als Lernprozesse zu begreifen), und reicht bis zur Beziehung zwischen dem Staat und anderen Akteuren des Innovationssystems. Wie gut der Staat anregen und steuern kann, hängt davon ab, in welchem Ausmaß er Begabung und Sachverstand anzieht. Ironischerweise ist Letzteres ein größeres Problem in Ländern, wo sich der Staat zurückhält, sich auf das Verwalten beschränkt und nicht selbst mit dynamischen Visionen voranschreitet. Wenn wir nicht die vielen Mythen über wirtschaftliche Entwicklung infrage stellen und uns von der üblichen Sicht auf die Rolle des Staates verabschieden, werden wir den strukturellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht werden und den technologischen und organisatorischen Wandel nicht schaffen, den wir für ein langfristiges nachhaltiges und gerechtes Wachstum brauchen.
Staaten waren immer ganz schlecht darin, die Gewinner herauszupicken, und es ist zu erwarten, dass sie noch schlechter werden, wenn Legionen von Unternehmern und Bastlern Entwürfe online austauschen, zu Hause Produkte daraus machen und sie aus einer Garage heraus weltweit vermarkten. Während die Revolution tobt, sollten die Staaten sich auf die grundlegenden Dinge konzentrieren: bessere Schulen für besser qualifizierte Arbeitskräfte, klare Regeln und gleiche Ausgangsbedingungen für alle Arten von Unternehmen. Den Rest sollten wir den Revolutionären überlassen.
ECONOMIST (2012)
Überall auf der Welt hören wir, der Staat müsse schlanker werden, damit die Wirtschaft sich von der Krise erholen könne. Dahinter steht die Annahme, wenn der Staat sich nur zurückhält, würde das neue Kräfte im Unternehmertum und Innovationen im privaten Sektor freisetzen. Medien, Unternehmen und liberale Politiker bauen auf diese bequeme Gegenüberstellung und pflegen die Dichotomie eines dynamischen, innovativen und wettbewerbsfähigen »revolutionären« privaten Sektors auf der einen Seite und eines langsamen, bürokratischen, untätigen und »sich in alles einmischenden« öffentlichen Sektors auf der anderen Seite. Die Botschaft wird so oft wiederholt, bis man sie schließlich für eine selbstverständliche Wahrheit hält. Sie hat viele sogar dazu gebracht, fälschlicherweise zu glauben, die Finanzkrise des Jahres 2007, aus der bald eine veritable Wirtschaftskrise wurde, sei durch staatliche Schulden verursacht worden.
Es fallen starke Worte. Im März 2011 versprach der britische Premierminister David Cameron, er werde es mit den »Feinden der Unternehmen« in der Regierung aufnehmen, die er als »Bürokraten in den Ministerien« definierte (Wheeler 2011). Diese Rhetorik fügte sich gut in das große Thema der englischen Regierung ein, die »Big Society«, in der die Verantwortung für öffentliche Dienstleistungen vom Staat auf Einzelne übertragen wird, die entweder allein tätig werden oder im »dritten Sektor« (das heißt in gemeinnützigen Einrichtungen) zusammenfinden. Gerechtfertigt wird das damit, solche »Freiheit« von staatlichem Einfluss werde die entsprechenden Dienstleister stärken. Die verwendeten Begriffe wie »freie« Schulen (das Äquivalent zu den Vertragsschulen in den Vereinigten Staaten) implizieren, dass die Schulen durch die Befreiung von der schwer lastenden Hand des Staates für die Schüler interessanter werden und außerdem effizienter funktionieren.
Weltweit wird ein immer größerer Teil öffentlicher Dienstleistungen an den privaten Sektor »ausgelagert«, in der Regel mit der Begründung, das verspreche »mehr Effizienz«. Doch fast nie schaut man sich die tatsächlichen Einsparungen genau an, was hieße, dass auch der Mangel an Qualitätskontrolle und die daraus resultierenden absurden Kosten berücksichtigt werden müssten. Das jüngste Beispiel bot London bei den Olympischen Spielen 2012: Die Verantwortung für die Sicherheit wurde an eine Firma namens G4S übertragen, die aus schierer Inkompetenz versagte. Daraufhin wurde die britische Armee zu Hilfe gerufen, um für Sicherheit bei den Olympischen Spielen zu sorgen. Die Manager der Sicherheitsfirma erhielten eine »Rüge«, aber die Firma macht heute weiter Gewinn, und die Auslagerung staatlicher Aufgaben ist nach wie vor an der Tagesordnung. Ein Beispiel für Widerstand gegen »Outsourcing« war dagegen die Entscheidung der BBC, selbst die Internet-Plattform für ihre Sendungen, den iPlayer, aufzubauen. Dadurch blieb die BBC eine dynamische, innovative Organisation, die weiterhin Spitzentalente anzieht, und behielt ihren hohen Marktanteil im Radio- wie im Fernsehbereich – öffentliche Sender in anderen Ländern können davon nur träumen.
Der Sichtweise, dass der Staat der Feind der Unternehmen ist, begegnet man in der seriösen Wirtschaftspresse dauernd, etwa dem Economist, der immer wieder vom Staat als dem »Hobbesschen Leviathan« spricht, der sich möglichst zurückhalten soll (Economist 2011a). Zu ihren Rezepten für Wirtschaftswachstum gehört, dass der Staat nicht aktiv eingreifen, sondern sich darauf konzentrieren soll, für freiere Märkte zu sorgen und für die richtigen Rahmenbedingungen, in denen sich neue Ideen entfalten können (Economist 2012). In einer kürzlich erschienenen Sonderausgabe über die grüne Revolution hieß es explizit, der Staat solle sich auf die »grundlegenden Dinge« wie die Finanzierung von Bildung und Forschung konzentrieren und alles den »Revolutionären«, das heißt den Unternehmen überlassen. Aber dieser revolutionäre Geist ist in den Privatunternehmen oft schwer zu finden, und dann muss der Staat Risiko und Unsicherheit tragen.
Wenn etablierte Lobbygruppen nicht gerade mit Wünschen nach konkreter Unterstützung an den Staat herantreten – ob es um Waffen, Medikamente oder Öl geht –, plädieren sie seit Langem für Freiheit vom langen Arm des Staates, der in ihren Augen durch arbeitsrechtliche Vorschriften, Steuern und gesetzliche Vorgaben ihren Erfolg behindert. Das konservative Adam Smith Institute fordert, die Zahl der Regulierer in Großbritannien müsse verringert werden, dann werde die britische Wirtschaft »einen Innovations- und Wachstumsschub erleben« (Ambler und Boyfield 2010, S. 4). In den Vereinigten Staaten eint die Anhänger der Tea-Party-Bewegung der Wunsch, die öffentlichen Haushalte zu deckeln und freie Märkte zu propagieren. Große Pharmafirmen, die Hauptnutznießer öffentlicher Gelder, trommeln ständig für weniger Regulierung und staatliche »Einmischung« in ihre, wie sie behaupten, sehr innovative Branche.
In der Eurozone heißt es heute, die Nöte der EU-Länder an der »Peripherie« wie Portugal und Italien seien durch ihren »verschwenderischen« öffentlichen Sektor verursacht. Dabei übersieht man das Offensichtliche: dass diese Länder eher an einem stagnierenden öffentlichen Sektor leiden, der die strategischen Investitionen versäumt hat, die erfolgreichere Kernländer wie Deutschland seit Jahrzehnten tätigen (Mazzucato 2012b).
Die Macht der Ideologie ist so groß, dass sie leicht zu Geschichtsverdrehung führt. Ein bemerkenswerter Aspekt der Finanzkrise, die 2007 begann, ist, dass vielen Menschen später eingeredet wurde, der Hauptverursacher seien die Schulden der öffentlichen Haushalte, während es doch eindeutig exzessive private Schuldenaufnahme war (hauptsächlich auf dem amerikanischen Immobilienmarkt). Zwar ist die Staatsverschuldung drastisch angestiegen (Alessandri und Haldane 2009) infolge staatlicher Bankenrettungen und der Einbrüche bei den Steuereinnahmen während der anschließenden Rezession in vielen Ländern. Aber man kann kaum sagen, die Finanzkrise und die daraus resultierende Wirtschaftskrise seien durch staatliche Schulden ausgelöst worden. Der entscheidende Faktor war nicht die Höhe der öffentlichen Ausgaben, sondern die Art der Ausgaben. Das Wirtschaftswachstum in Italien ist seit 15 Jahren nicht deshalb so niedrig, weil der Staat zu viel ausgegeben hat, sondern weil er in Bereichen wie Bildung sowie Forschung und Entwicklung nicht genug ausgegeben hat. Vor der Krise war das italienische Staatsdefizit noch relativ moderat (um 4 Prozent), aber das Verhältnis von Schulden zu BIP ist kontinuierlich gestiegen, weil der Nenner in dieser Gleichung, das BIP, praktisch nicht gewachsen ist.
Natürlich gibt es Länder mit niedrigem Wachstum und hohem Haushaltsdefizit, aber die Frage, was Ursache ist und was Wirkung, ist höchst umstritten. Die jüngste Kontroverse über die Untersuchung von Reinhart und Rogoff (2010) zeigt, wie hitzig die Debatte geführt wird. Erschreckender ist jedoch, dass dabei nicht nur herauskam, dass ihre Zahlen (die immerhin in einer Zeitschrift veröffentlicht wurden, die als Top-Wirtschaftspublikation gilt) fehlerhaft und leichtsinnig kalkuliert waren, sondern dass viele Menschen ihre Kernaussage ohne weiteres Nachdenken geglaubt hatten: nämlich dass Schulden über 90 Prozent des BIP das Wachstum einbrechen lassen. Prompt wurde der Umkehrschluss zum neuen Dogma: Sparen wird das Wachstum garantiert (und automatisch) zurückbringen. Doch viele Länder mit höheren Schuldenquoten weisen stabiles Wachstum auf (etwa Kanada, Neuseeland und Australien – die bei Reinhart und Rogoff nicht vorkommen). Noch offensichtlicher ist, dass es eindeutig nicht auf die Größe des öffentlichen Sektors ankommt, sondern darauf, wofür er das Geld ausgibt. Ausgaben für sinnlose Bürokratie oder für Bestechung sind gewiss nicht gleichzusetzen mit Ausgaben zur Verbesserung des Gesundheitssystems, für Spitzenqualität im Bildungswesen und bahnbrechende Forschungen, also Investitionen in »Humankapital« und die Entwicklung neuer Technologien. Die Variablen, die nach Ansicht der Ökonomen für das Wirtschaftswachstum wichtig sind – wie Bildung und Forschung und Entwicklung –, sind teuer. Die Tatsache, dass die schwächsten Länder in Europa mit den meisten Schulden im Verhältnis zum BIP in diesen Bereichen sehr wenig ausgegeben haben, sollte uns deshalb nicht überraschen. Doch die Sparmaßnahmen, die ihnen gegenwärtig aufgezwungen werden, werden das Problem nur verschlimmern.
Wir haben es mit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun: Je mehr wir die Rolle des Staates in der Wirtschaft kleinreden, desto weniger kann er seine Rolle erfüllen und ein relevanter Akteur sein, und desto weniger wird es ihm gelingen, Toptalente anzuziehen. Ist es ein Zufall, dass das US-Energieministerium, von dem die meisten Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der US-Regierung kommen und (pro Kopf) die meisten Ausgaben für Energieforschung in der OECD, einen Physik-Nobelpreisträger als Leiter gewinnen konnte? Oder dass weniger ambitionierte Länder eher nach dem Prinzip der Vetternwirtschaft funktionieren und in ihren Ministerien entsprechen wenig Sachverstand vorzuweisen haben? Natürlich ist das Problem nicht einfach mangelnder Sachverstand; wenn es jedoch gelingt, Talente zu gewinnen, ist das ein Indiz für das Ansehen, das öffentliche Einrichtungen in einem Land genießen.
Wir hören ständig, der Staat solle sich in wirtschaftlichen Belangen zurückhalten, weil er nicht in der Lage sei, »Gewinner« zu erkennen, egal, ob es sich um neue Technologien, aufstrebende Branchen oder bestimmte Firmen handelt. Dabei wird übersehen, dass der Staat in den Fällen, in denen er angeblich versagt hat, oft etwas viel Schwierigeres versuchte als viele private Firmen: Entweder wollte er die Glanzzeit einer reifen Industrie ausdehnen (das Concorde-Experiment oder das amerikanische Projekt eines Überschall-Transportsystems) oder aktiv einen neuen Technologiesektor auf den Weg bringen (das Internet und die IT-Revolution).
Wenn man auf solch schwierigem Terrain agiert, steigt die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns. Doch wenn wir ständig kritisieren, der Staat könne kein effizienter und innovativer Akteur sein, werfen wir ihm nicht nur vorschnell Misserfolge vor, sondern wir haben auch keinen zuverlässigen Maßstab, um seine Investitionen fair zu beurteilen. Öffentliches Wagniskapital ist etwas ganz anderes als privates Wagniskapital. Es fließt in Bereiche mit viel größerem Risiko, in denen Geduld gefordert ist und die Renditeerwartungen geringer sind. Das ist per definitionem eine schwierigere Situation. Dennoch werden die Renditen von öffentlichem und privatem Wagniskapital verglichen, als gäbe es diese Unterschiede nicht.
Dass der Staat nicht in der Lage ist, seine Position zu verteidigen und zu erklären, was er mit den ausgewählten Gewinnern zu tun hatte (vom Internet bis zu Firmen wie Apple), erleichtert ironischerweise die Kritik in den Fällen, in denen er versagt hat (zum Beispiel beim Überschall-Transportprojekt). Und noch schlimmer: Durch die Kritik ist der Staat verletzlich und ängstlich geworden, er lässt sich leicht durch Lobbys vereinnahmen, die öffentliche Mittel in private Gewinne umwandeln wollen, oder durch angebliche Experten zum Schweigen bringen, die die immer gleichen Mythen über die Ursprünge wirtschaftlicher Dynamik wiederkäuen.
Ende der 1970er-Jahre sank die Steuerbelastung von Kapitaleinkünften nach entsprechenden Lobbybemühungen der amerikanischen Wagniskapitalindustrie signifikant (Lazonick 2009, S. 73). Die Lobbyisten argumentierten gegenüber der Regierung, Wagniskapitalgeber hätten sowohl das Internet wie die Anfänge der Halbleiterindustrie finanziert, ohne Wagniskapitalgeber seien Innovationen nicht möglich. Dieselben Akteure, die auf der Welle üppiger staatlicher Investitionen in den Bereich ritten, der später die Dot.com-Revolution hervorbringen sollte, drängten die Regierung erfolgreich, die Steuern für sie zu senken. Damit sorgten ausgerechnet diejenigen, die für ihren eigenen Geschäftserfolg auf staatliche Gelder angewiesen waren, dafür, dass sich die Taschen des Staates leerten.
Weil der Staat selbst zu wenig Vertrauen in seine Rolle hat, geht er überdies leicht den Mythen über den Ursprung von Innovation und unternehmerischem Wagemut auf den Leim. So lamentieren die großen Pharmaunternehmen gegenüber ihren Regierungen gern, sie litten unter zu viel Regulierung und Bürokratie, während sie gleichzeitig bei Forschung und Entwicklung von staatlichen Geldern abhängen. Kleinunternehmerverbände haben in vielen Ländern die Regierungen davon überzeugt, dass ihre Unternehmensgruppe unterfinanziert ist. Tatsächlich erhalten sie in vielen Ländern mehr finanzielle Unterstützung als die Polizei, ohne die Jobs und die Innovationen zu schaffen, die eine solche Unterstützung rechtfertigen würden (Hughes 2008; Storey 2006). Hätte der Staat besser verstanden, wie seine Investitionen zum Aufstieg der erfolgreichsten neuen Unternehmen wie Google, Apple und Compaq beigetragen haben, dann würde er solchen Argumenten vielleicht entschiedener entgegentreten.
Aber der Staat betreibt kein gutes Marketing in eigener Sache. Denken wir nur daran, wie viel leichter Präsident Barack Obamas Kampf für eine nationale Gesundheitsreform gewesen wäre, wenn die Bürger der Vereinigten Staaten gewusst hätten, wie wichtig der finanzielle Beitrag des Staates bei der Entwicklung vieler innovativer Medikamente war. Es geht nicht um Propaganda, sondern darum, Wissen über einen Aspekt der Technikgeschichte zu verbreiten. Im Gesundheitswesen hat sich der Staat nicht »eingemischt«, sondern Neues auf den Weg gebracht. Doch erzählt und leider auch geglaubt wird eine andere Geschichte: die von den innovativen großen Pharmakonzernen und dem Staat, der sich unbefugt einmischt. Diese – komplexe – Geschichte richtig zu erzählen ist aus vielen Gründen wichtig. Die Pharmaindustrie rechtfertigt die hohen Preise für Medikamente, ob mit oder ohne staatliche Gelder entwickelt, mit ihren angeblichen »hohen Kosten für Forschung und Entwicklung«. Die Wahrheit aufzudecken hilft nicht nur den Regierungen, ihre politische Strategie zu verbessern, sondern kann auch dazu beitragen, dass der Markt besser funktioniert.
Die unternehmerische Rolle des Staates hervorzuheben bedeutet im Übrigen nicht, die unternehmerische Aktivität des privaten Sektors zu bestreiten: von jungen Unternehmen, die Dynamik in neue Sektoren bringen (zum Beispiel Google), bis zur wichtigen Finanzierung aus privaten Quellen wie beim Wagniskapital. Das Problem besteht eher darin, dass oft nur die Geschichte des privaten Sektors erzählt wird. Silicon Valley und die Erfolge der Biotech-Branche werden üblicherweise den genialen Köpfen zugeschrieben, die hinter kleinen Hightech-Firmen wie Facebook stehen oder hinter den vielen kleinen Biotech-Firmen in Boston und Cambridge. Dass Europa den Vereinigten Staaten angeblich hinterherhinkt, wird damit erklärt, dass dort der Wagniskapitalsektor unterentwickelt sei. Beispiele aus den Hightech-Sektoren in Amerika werden oft als Belege zitiert, warum wir angeblich weniger Staat und mehr Markt brauchen: Man müsse nur das Gleichgewicht zugunsten des Marktes verschieben, und schon werde Europa seine eigenen »Googles« bekommen. Aber wie viele Menschen wissen, dass der Algorithmus, dem Google seinen Unternehmenserfolg verdankt, mit dem Geld der National Science Foundation entwickelt wurde (Battelle 2005)? Oder dass die molekularen Antikörper, die die Grundlage der Biotechnologie-Industrie bildeten, lange bevor Wagniskapitalgeber auf den Plan traten, in Labors des staatlichen Medical Research Council (MRC) in Großbritannien entdeckt wurden? Wie vielen Menschen ist klar, dass viele der innovativsten jungen Unternehmen in den Vereinigten Staaten nicht durch privates Wagniskapital finanziert wurden, sondern durch staatliches, wie es etwa das Programm Small Business Innovation Research (SBIR) zur Verfügung stellt?
Es ist wichtig, aus solchen Einsichten Lehren zu ziehen. Dann muss die Rolle des Staates anders diskutiert werden als nur unter dem Aspekt, wie er die Nachfrage fördern kann und ob es ihm gelingt, »Gewinner herauszupicken«. Wir brauchen einen zielgerichtet handelnden, aktiven, unternehmerischen Staat, der in der Lage ist, Risiken einzugehen und ein hochgradig vernetztes System von Akteuren zu schaffen, das aus dem privaten Sektor das herausholt, was mittel- und langfristig für das Allgemeinwohl das Beste ist. Der Staat muss in diesem Netzwerk als Hauptinvestor und Katalysator wirken und die Verbreitung von Wissen steuern. Er kann dabei selbst aktiv gestalten und muss sich nicht mit der Rolle des Förderers der Wissensökonomie zufriedengeben.
Sich für einen unternehmerisch handelnden Staat einzusetzen ist im Grunde keine »neue« Industriepolitik, denn tatsächlich handelt der Staat bereits so. Wie Block und Keller (2011, S. 95) einleuchtend dargelegt haben, findet das steuernde Eingreifen des Staates in der Industrie hauptsächlich deshalb im Verborgenen statt, um Widerstände vonseiten der konservativen Rechten auszuschließen. Ob in der Computerbranche, beim Internet, in der pharmazeutischen Industrie, der Bio- und Nanotechnologie oder bei der grünen Revolution: Immer war es der Staat, der allen Widrigkeiten zum Trotz wagte, über das scheinbar Unmögliche nachzudenken. Er schuf die neuen technologischen Chancen, finanzierte die großen Anfangsinvestitionen, ermöglichte einem dezentralen Netzwerk von Akteuren, risikoreiche Forschungen durchzuführen, und brachte schließlich dynamische Entwicklungs- und Kommerzialisierungsprozesse auf den Weg.
Die Ökonomen, die dem Staat eine wichtige Rolle zubilligen, argumentieren oft mit »Marktversagen«. Aus dieser Sicht sind »unperfekte« Märkte eine Ausnahme, die staatliches Eingreifen erforderlich machen– aber besonders interessant ist die Rolle des Staates dann nicht. Wenn Märkte nicht perfekt funktionieren, kann das verschiedene Gründe haben: Private Unternehmen sind möglicherweise nicht bereit, in Bereiche wie Grundlagenforschung zu investieren, aus denen sie – da Forschungsergebnisse »öffentliche Güter« sind – keine privaten Gewinne erzielen können. Oder sie berücksichtigen in ihrer Preiskalkulation die Kosten der durch sie verursachten Umweltverschmutzung nicht. Oder das Risiko bestimmter Investitionen ist so hoch, dass eine Firma allein sie nicht übernehmen kann. Angesichts dieser unterschiedlichen Formen von Marktversagen erwartet man vom Staat die Finanzierung von Grundlagenforschung, Strafsteuern für Firmen, die die Umwelt verschmutzen, sowie die Finanzierung von Infrastrukturprojekten. Dieser konzeptionelle Rahmen ist zwar nützlich, erklärt aber nicht, wie der Staat durch Investitionen eine »visionäre« Strategie umsetzt. Das Internet wurde nicht entdeckt und die Nanotechnologie-Branche ist nicht entstanden, weil Privatunternehmen etwas wollten, aber nicht genug Geld für die erforderlichen Investitionen hatten. Beide verdanken ihre Existenz der Vision des Staates in Bereichen, die der private Sektor noch gar nicht entdeckt hatte. Selbst nachdem der Staat die neuen Technologien auf den Weg gebracht hatte, scheuten private Investoren immer noch zurück. Der Staat musste sogar die Kommerzialisierung des Internets unterstützen. Und es dauerte Jahre, bis private Wagniskapitalgeber begannen, Biotech- und Nanotechfirmen zu finanzieren.
Es gibt natürlich viele Gegenbeispiele, bei denen der Staat keineswegs als unternehmerische Kraft auftritt. Schließlich ist es auch nicht seine zentrale Aufgabe, neue Technologien zu entwickeln und neue Industrien zu fördern. Aber wenn man anerkennt, in welchen Bereichen der Staat unternehmerisch agiert hat, wird das zu einer besseren Politik führen, als wenn wir den Staat nur als Retter bei Marktversagen und Unterstützer eines »dynamischen« privaten Sektors betrachten. Behauptungen wie, der Staat müsse den Privatunternehmen nur die richtigen Anreize bieten, Steuerentlastungen würden funktionieren, weil Unternehmen unbedingt in Innovationen investieren wollen, Hindernisse und Vorschriften müssten beseitigt werden, kleine Firmen seien per se flexibler und innovativer und sollten direkt und indirekt gefördert werden, das Kernproblem Europas sei nur die Vermarktung – all das sind Mythen, Mythen über die Quellen von Unternehmergeist und Innovation. Sie haben verhindert, dass die Politik bei Innovationen, vor denen Privatunternehmen zurückschreckten, so effektiv gewirkt hat, wie sie hätte wirken können.
Ökonomen aus der »evolutionären« Tradition (Nelson und Winter 1982) haben argumentiert, man brauche Innovations-»Systeme«, damit neues Wissen und Innovationen in die gesamte Wirtschaft diffundieren könnten. Und solche Systeme (sektorielle, regionale und nationale) erforderten dynamische Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren (Firmen, Finanzinstituten, Forschung/Bildung, Staatsfonds, Institutionen) sowie horizontale Verbindungen innerhalb von Organisationen und Institutionen (Lundvall 1992; Freeman 1995). Unbeachtet blieb in dieser Debatte jedoch, welche Rolle jeder Akteur in der »holprigen« und komplexen Risikolandschaft tatsächlich spielt. Viele Irrtümer aktueller Innovationspolitik rühren daher, dass Akteure – zeitlich wie räumlich – an die falsche Stelle in der Landschaft gesetzt wurden. Zum Beispiel ist es naiv, zu erwarten, dass Wagniskapital heute in den frühen und besonders riskanten Stadien eines neuen wirtschaftlichen Sektors (wie saubere Technologien) fließt. In der Biotechnologie, Nanotechnologie und beim Internet floss Wagniskapital erst 15 bis 20 Jahre, nachdem staatliche Fonds die ersten Investitionen getätigt hatten.
Und wirklich zeigt die Geschichte, dass diejenigen Bereiche der Risikolandschaft, die sich durch hohe Kapitalintensität und hohe technische und Marktrisiken auszeichnen, vom Privatsektor in der Regel gemieden werden. Staatliche Finanzierung in erheblichem Umfang sowie Vision und Führung des staatlichen Sektors waren erforderlich, um sie in Gang zu bringen.