Wie kommt der Wert in die Welt? - Mariana Mazzucato - E-Book

Wie kommt der Wert in die Welt? E-Book

Mariana Mazzucato

0,0

Beschreibung

Wir leben in einem parasitären System. Darin ist die schnelle Mitnahme von Gewinn, Shareholderdividenden und Bankerboni attraktiver als das Schaffen von Wert, als der produktive Prozess, der eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft antreibt. Wir verwechseln die Schöpfer mit den Abschöpfern und haben den Blick dafür verloren, was wirklich Wohlstand schafft. Die renommierte amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssystems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben! "Eine Ökonomin entzieht der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen." manager magazin

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 610

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mariana Mazzucato

Wie kommt der Wert in die Welt ?

Von Schöpfern und Abschöpfern

Aus dem Englischen von Bernhard Schmid

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Wir leben in einem parasitären System. Darin ist die schnelle Mitnahme von Gewinn, Shareholderdividenden und Bankerboni attraktiver als das Schaffen von Wert, als der produktive Prozess, der eine gesunde Wirtschaft und Gesellschaft antreibt. Wir verwechseln die Schöpfer mit den Abschöpfern und haben den Blick dafür verloren, was wirklich Wohlstand schafft.

Die renommierte amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato stellt in ihrem neuen Buch die für die Veränderung unseres Wirtschaftssystems entscheidende Frage: Wer schöpft Werte und wer zerstört sie? Im Kern geht es darum, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen. Wir brauchen einen neuen Kapitalismus, von dem alle etwas haben!

»Eine Ökonomin entzieht der Businesselite die Lizenz zum Auftrumpfen.« manager magazin

Vita

Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value sowie Direktorin des Institute for Innovation and Public Purpose am University College London. Sie berät Politiker in aller Welt zu Fragen eines smarten und nachhaltigen Wachstums, unter anderem ist sie zurzeit Sonderberaterin des EU-Kommissars für Forschung, Wissenschaft und Innovation und des Generalsekretärs der OECD. 2015 wurde sie mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet, 2018 mit dem Leontief-Preis zur Erweiterung der Grenzen ökonomischen Denkens. 2014 hat sie ihr viel beachtetes Buch »Das Kapital des Staates« veröffentlicht.

FÜR LEON, MICOL, LUCE UND SOFIA

Inhalt

Kapitel VorwortGeschichten über die Entstehung von Wohlstand

Kapitel EinführungMakers versus Takers

Landläufige Kritik an der Wertabschöpfung

Was ist Wert?

Die Produktionsgrenze

Der Wert einer Werttheorie

Zum Aufbau des Buches

Kapitel 1Eine kurze Geschichte des Werts

Die Merkantilisten: Handel und Staatsschatz

Die Physiokraten: Die Antwort liegt in der Krume

Die klassische Ökonomie: Der Wert der Arbeit

Adam Smith und die Geburt der Arbeitswerttheorie

David Ricardo: Die Erdung von Smith’ Werttheorie

Karl Marx über Produktionsarbeit

Kapitel 2Wert als subjektive Größe: Der Aufstieg der Marginalisten

Andere Zeiten, andere Theorien

Der Niedergang der Klassiker

Vom Objektiven zum Subjektiven: Eine neue Werttheorie auf der Basis individueller Präferenzen

Der Aufstieg der »Neoklassiker«

Die marginalistische oder Grenznutzenrevolution

Die Produktionsgrenze wird formbar

Vom Klassenkampf über Profit und Löhne hin zum »Gleichgewicht«

Das Verschwinden der Rente und seine Bedeutung

Kapitel 3Wie misst man den Wohlstand der Nationen?

BIP: Eine gesellschaftliche Konvention

Eine kurze Geschichte der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung

Die Geburt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung

Die Berechnung des Nationaleinkommens bringt alles unter einen Hut

Die Wertschöpfung des Staats im BIP

Ausgaben und Wert

Das Merkwürdige an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: BIP facit saltum!

Investitionen in künftige Kapazitäten

Der Wert der Hausarbeit und des Hauses selbst

Prostitution, Umweltverschmutzung und Produktion

Die schwarze Wirtschaft hält Einzug in die SNA

Profite versus Renten

Mit Flickwerk an den VGR ist es nicht getan

Kapitel 4Der Finanzsektor: Geburt eines Ungetüms

Banken und Finanzmärkte verbünden sich

Das Bankenproblem

Deregulierung und das Saatgut des Crashs

Die Herren der (Geld-)Schöpfung

Der Finanzsektor und die »richtige« Wirtschaft

Von Ansprüchen auf Profite zu Ansprüchen auf Ansprüche

Schulden in der Familie

Schlussfolgerung

Kapitel 5Der Aufstieg des Kasinokapitalismus

Der entfesselte Prometheus (mit Pilotenschein)

Neue Akteure der Volkswirtschaft

Wie die Finanzwirtschaft Wert abschöpft

Schlussfolgerung

Kapitel 6Die Finanzialisierung der Realwirtschaft

Der Aktienrückkauf als Bumerang

Die Maximierung des Shareholder-Value

Der Rückzug des »geduldigen« Kapitals

Kurzfristiges Denken und unproduktives Investieren

Finanzialisierung und Ungleichheit

Von der Maximierung des Shareholder-Value zum Stakeholder-Value

Schlussfolgerung

Kapitel 7Wertabschöpfung durch die Innovationswirtschaft

Geschichten um die Wertschöpfung

Wie kommt es zu Innovation?

(a) Kumulative Innovation

(b) Ungewisse Innovation

(c) Kollektive Innovation

Die Finanzierung der Innovation

Risikokapital – Timing ist alles

Kopf, ich gewinne – Zahl, du verlierst

Patentierte Wertabschöpfung

Patente können der Innovation im Wege stehen

Unproduktives Unternehmertum

Die Preisgestaltung der Pharmabranche

Geduldige Patienten und ungeduldige Profite

Netzwerkeffekte und Pioniervorteile

Netzwerkprofite

Plattform-Kapitalismus

Über Schöpfung und Abschöpfung digitalen Werts

Risiken und Früchte teilen

Schlussfolgerung

Kapitel 8Der unterbewertete öffentliche Sektor

Die Mythen der Austerität

Magische Zahlen

Der Wert des Staats in der Geschichte des ökonomischen Denkens

Keynes und der antizyklische Staat

Der Staat in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen

Die Multiplikation des Werts

Neue Politische Ökonomie: Theorie der Privatisierung und des Outsourcings

Privatisierung und Outsourcing im Gesundheitswesen

Das Outsourcing von Schottlands Infrastruktur

Privat ist gut, öffentlich ist schlecht

Es braucht wieder Selbstvertrauen und Ziele

Privater und öffentlicher Sektor – jeder, was er verdient

Von öffentlichen Gütern zu öffentlichem Wert

Die Verwaltung öffentlichen Werts

Kapitel 9Eine Ökonomie der Hoffnung

Märkte als Ergebnisse

Volkswirtschaft mit Mission

Eine bessere Zukunft für alle

Dank

Anmerkungen

Vorwort: Geschichte über die Entstehung von Wohlstand

Einführung: Makers versus Takers

Kapitel 1: Eine kurze Geschichte des Werts

Kapitel 2: Wert als subjektive Größe

Kapitel 3: Wie misst man den Wohlstand der Nationen?

Kapitel 4: Der Finanzsektor

Kapitel 5: Der Aufstieg des Kasinokapitalismus

Kapitel 6: Die Finanzialisierung der Realwirtschaft

Kapitel 7: Wertabschöpfung durch die Innovationswirtschaft

Kapitel 8: Der unterbewertete öffentliche Sektor

Kapitel 9: Eine Ökonomie der Hoffnung

Dank

Bibliografie

Register

Kapitel VorwortGeschichten über die Entstehung von Wohlstand

Zwischen 1975 und 2017 verdreifachte sich in den USA das reale Bruttosozialprodukt – die Größe der Wirtschaft unter Berücksichtigung der Teuerungsrate – von 5,49 auf 17,29 Billionen Dollar.1 In diesem Zeitraum stieg die Produktivität um etwa 60 Prozent. Der reale Stundenlohn der Mehrzahl der Amerikaner stagnierte jedoch von 1979 an, wenn er nicht gar sank.2 Anders ausgedrückt, streicht seit nunmehr fast vier Jahrzehnten eine winzige Elite nahezu alle Gewinne aus dieser expandierenden Wirtschaft ein. Sollte das etwa daran liegen, dass diese Elite aus besonders produktiven Mitgliedern der Gesellschaft besteht?

Der griechische Philosoph Platon war der Ansicht, dass Geschichtenerzähler die Welt regieren; mit Märchen sollte in seinem idealen Staat die Wächterkaste erzogen werden, deren Elite den Herrscher stellt. Das vorliegende Buch stellt die heute herrschenden Märchen darüber infrage, wer im modernen Kapitalismus die Schöpfer des Wohlstands und welche Aktivitäten angeblich produktiv im Gegensatz zu unproduktiv sind, also Geschichten über den Ursprung des Werts. Das Buch beschäftigt sich mit der Wirkung dieser Geschichten auf die Fähigkeit der Wenigen, im Namen der Wohlstandsschaffung mehr als andere von der Wirtschaft zu profitieren.

Diese Geschichten finden sich überall. Der Kontext mag unterschiedlich sein – Finanzwelt, Pharmaindustrie oder Hightech-Sektor –, die Selbstdarstellungen ähneln sich jedoch: Ich bin ein besonders produktives Mitglied der Wirtschaft, meine Aktivitäten schaffen Wohlstand, ich gehe große »Risiken« ein, also habe ich ein höheres Einkommen verdient als Leute, die lediglich von den Auswirkungen meines Tuns profitieren. Aber was, wenn es sich bei diesen Selbstdarstellungen letztlich nur um Geschichten handelt? Was, wenn es letztlich nur Narrative sind, eigens dazu geschaffen, die Ungleichheit von Wohlstand und Einkommen zu rechtfertigen, um die Wenigen zu belohnen, die Staat und Gesellschaft davon zu überzeugen vermögen, sie allein hätten es verdient, reich belohnt zu werden, während der Rest mit Krümeln zurechtkommen soll.

2009 behauptete Lloyd Blankfein, CEO von Goldman Sachs: »Die Leute von Goldman Sachs gehören zu den produktivsten der Welt.«3 Dabei hatte Goldman im Jahr zuvor ganz erheblich zu einer der schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrisen seit den 1930er Jahren beigetragen. Der amerikanische Steuerzahler musste 125 Milliarden Dollar berappen, um den Banken aus der Patsche zu helfen. Im Lichte eines derartigen Schnitzers im Jahr zuvor wirkt das Statement des CEO also ziemlich vollmundig. Die Bank entließ zwischen November 2007 und Dezember 2009 etwa 3 000 Angestellte; die Profite gingen in den Keller.4 Die Bank und ihre Konkurrenten bekamen ein Bußgeld aufgebrummt, das freilich klein ausfiel im Vergleich zu späteren Profiten; so hatte zum Beispiel Goldman 550 Millionen Dollar und J. P. Morgan 297 Millionen zu zahlen.5 Bei alledem wettete Goldman – zusammen mit anderen Banken und Hedgefonds – gleich darauf gegen eben die Instrumente, die sie geschaffen und die uns derart in die Bredouille geritten hatten.

Bei allem Gerede über Strafen für die Banker, die für die Krise gesorgt hatten, ging nicht einer dafür ins Gefängnis, und die vorgenommenen Änderungen hinderten sie gewiss nicht daran, ihr Geld weiter mit Spekulationen zu verdienen: zwischen 2009 und 2016 erwirtschaftete Goldman einen Reingewinn von 63 Milliarden bei einem Nettoerlös von 250 Milliarden Dollar.6 Allein 2009 brachte man es auf einen Rekordgewinn von 13,4 Milliarden Dollar.7 Und obwohl der amerikanische Staat das Bankensystem mit Steuergeldern rettete, fehlte es dem Staat an Selbstbewusstsein, die Banken für ein derart risikoreiches Unterfangen zur Kasse zu bitten. Er war letztlich nur einfach froh, sein Geld zurückzubekommen.

Finanzkrisen sind selbstverständlich nichts Neues. Aber noch ein halbes Jahrhundert zuvor wäre Blankfeins überschwängliches Vertrauen in seine Bank nicht so selbstverständlich gewesen. Noch bis in die 1960er Jahre hinein galt die Finanzbranche durchaus nicht überall als »produktiver« Teil der Volkswirtschaft. Man sah ihre Bedeutung darin, bestehenden Wohlstand zu transferieren, nicht darin, neuen Wohlstand zu schaffen. Die Ökonomen waren so überzeugt von der reinen Mittlerrolle des Finanzsektors, dass die meisten Leistungen der Banken, wie etwa ihre Rolle als Spar- und Kreditinstitute, in ihren Berechnungen der von der Wirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen noch nicht einmal auftauchten. Der Finanzsektor schlich sich gerade mal in Form von »Vorleistungen« in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts ein, das heißt als Dienstleistungen, die zum Funktionieren anderer Industrien beitragen, die die eigentlichen Wertschöpfer sind.

Etwa um 1970 jedoch begann sich das zu ändern. Die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, die ein statistisches Bild von Größe, Zusammensetzung und Richtung einer Wirtschaft liefern, begannen den Finanzsektor in ihre Berechnungen des Bruttosozialprodukts, den Gesamtwert der von einer bestimmten Volkswirtschaft produzierten Güter und Dienstleistungen, miteinzubeziehen.8 Diese Änderung bei der volkswirtschaftlichen Bilanzierung ging einher mit der Deregulierung des Finanzsektors, die unter anderem für laxere Kontrollen bei der Höhe zu vergebender Kredite sorgte, der Höhe der Zinsen, die Banken verlangen, und hinsichtlich der Art der Produkte, die sie verkaufen konnten. Zusammengenommen läuteten diese Neuerungen eine grundlegende Veränderung des Verhaltens des Finanzsektors ein und vergrößerten seinen Einfluss auf die Realwirtschaft oder »richtige« Ökonomie. Plötzlich war ein Job in der Finanzwelt keine biedere Laufbahn mehr; vielmehr bot sie smarten Leuten eine Möglichkeit, schnell viel Geld zu verdienen. Es kommt nicht von ungefähr, dass 1989, nach dem Fall der Berliner Mauer, einige der brillantesten Wissenschaftler aus dem Ostblock an der Wall Street landeten. Der Sektor expandierte und gewann an Selbstvertrauen. Ungeniert begann er mit dem Lobbying für seine Interessen; man sei schließlich ein entscheidender Faktor bei der Schaffung von Wohlstand, lautete die Begründung dafür.

Heute geht es längst nicht mehr um die Größe des Finanzsektors oder darum, dass er die gewerbliche Wirtschaft an Wachstum überrundet hat, sondern um seine Wirkung auf das Verhalten der übrigen Wirtschaft, von der bereits große Teile »finanzialisiert« sind. Finanzgeschäfte und die Mentalität, die sie gebären, durchdringen die Industrie, was sich etwa daran ersehen lässt, dass Manager – zur Manipulation von Aktienkursen, Optionen und ihrer eigenen Bezüge – einen Gutteil der Unternehmensprofite in Aktienrückkäufe stecken, anstatt sie in die langfristige Zukunft ihrer Unternehmen zu investieren. Sicher, sie nennen das Wertschöpfung, aber wie im Finanzsektor selbst handelt es sich in Wirklichkeit oft um das Gegenteil, um Wertextraktion beziehungsweise Wertabschöpfung.

Derlei Geschichten um die Wertschöpfung beschränken sich mitnichten auf die Finanzwelt. 2014 bezifferte der Pharmagigant Gilead eine dreimonatige Behandlung des lebensgefährlichen Hepatitis-C-Virus mit seinem Medikament Harvoni auf 94 500 Dollar. Gilead rechtfertigte den Preis mit dem »Wert«, den das Medikament für das jeweilige Gesundheitssystem darstelle. Laut John LaMattina, dem ehemaligen Forschungs- und Entwicklungschef beim Pharmakonzern Pfizer, rechtfertige sich der hohe Preis von Spezialpharmazeutika aus dem Nutzen für die Patienten und die Gesellschaft ganz allgemein. In der Praxis bedeutet dies, dass man den Preis nach den Kosten kalkuliert, die der Gesellschaft entstünden, würde die Krankheit mit dem zweitbesten Medikament oder gar nicht behandelt. Die Branche spricht hier von »wertorientierter Preisgestaltung«. Kritiker dieser Praxis führen gerne Fallstudien an, denen zufolge es keinerlei Korrelation gibt zwischen dem Preis von Krebsmedikamenten und ihrem Nutzen.9 Ein interaktiver Rechner im Internet, mit dem sich der »korrekte« Preis einer Krebsdroge auf der Basis seiner abschätzbaren Charakteristika (Erhöhung der Lebenserwartung, Nebenwirkungen und so weiter) errechnen lässt, zeigt, dass der wertorientierte Preis für die meisten Medikamente unter dem des tatsächlichen gegenwärtigen Marktpreises liegt.10

Trotzdem sinken die Preise für Medikamente nicht. Es sieht ganz so aus, als hätte die in der Branche gängige Darstellung der Wertschöpfung jeder Kritik den Wind aus den Segeln genommen. Tatsache ist, ein erheblicher Anteil der Gesundheitskosten in der westlichen Welt hat mit Gesundheitsfürsorge an sich nichts zu tun; es handelt sich bei diesen Kosten schlicht um den von der Pharmaindustrie abgeschöpften Wert.

Oder denken Sie an einschlägige Geschichten aus dem Hightech-Sektor. Im Namen von Unternehmergeist und Innovation macht sich hier die Lobby der IT-Branche immer wieder für weniger Regulierung und eine bevorzugte steuerliche Behandlung stark. Unter dem Banner der »Innovation« als neuer Kraft des modernen Kapitalismus geriert sich das Silicon Valley erfolgreich als unternehmerische Kraft hinter der Schaffung von Wohlstand, die für die »schöpferische Zerstörung« sorgt, aus der die Arbeitsplätze der Zukunft entstehen sollen.

Diese zugegeben durchaus reizvolle Darstellung der Wertschöpfung hat nicht nur zu niedrigeren Sätzen bei der Kapitalertragsteuer für die Risikokapitalgeber hinter den Tech-Unternehmen geführt, sondern obendrein auch zu fragwürdigen steuerpolitischen Maßnahmen wie der »Lizenz- oder Patentbox«. Letztere senkt den Steuersatz für Erträge aus dem Verkauf von Produkten mit patentiertem immateriellem Input, was angeblich Anreize bietet, indem es die Schaffung geistigen Eigentums belohnt. Es ist eine Maßnahme, deren Sinn sich nicht ganz erschließen will, schließlich sind Patente an sich schon Instrumente, die auf zwanzig Jahre Erträge aus Monopolen und damit hohe Profite garantieren. Es sollte nicht Ziel politischer Entscheidungsträger sein, die Profite aus Monopolen zu erhöhen, sondern vielmehr die Reinvestition solcher Profite, zum Beispiel in die Forschung, zu fördern.

Viele dieser sogenannten Wohlstandsschöpfer im Tech-Sektor, wie etwa der Mitbegründer von PayPal Peter Thiel, ziehen immer wieder gegen den Staat vom Leder, der ihrer Ansicht nach der Schaffung von Wohlstand nur im Wege steht.11 Thiel ging gar so weit, in Kalifornien eine »Sezessionsbewegung« ins Leben zu rufen, die die Schöpfer von Wohlstand weitestgehend von der Zuchtrute des Staats befreien soll. Und Eric Schmidt, CEO von Google, hat wiederholt behauptet, die Daten der Bürger seien bei Google sicherer als beim Staat. Eine solche Haltung nährt eine moderne Binsenweisheit: Unternehmen gut, Staat schlecht oder zumindest unfähig.

Das Problem ist nur, wenn Apple und Konsorten sich zur Rechtfertigung ihrer immensen Profite und Geldberge als moderne Helden gerieren, vergessen sie dabei geflissentlich die Pionierrolle, die der Staat im Bereich neuer Technologien seit jeher spielt. So erklärte Apple ganz ungeniert, seinen Beitrag zur Gesellschaft nicht in Form von Steuern leisten zu sollen, die Genialität seiner großartigen Geräte sollte doch wohl genügen. Nur, woher kam die smarte Technologie hinter diesen großartigen Geräten? Aus öffentlichen Mitteln! Internet, GPS, Touchscreen, SIRI wie auch die Algorithmen hinter Google – sie alle wurden von öffentlichen Einrichtungen finanziert. Sollte der Steuerzahler davon nicht etwas zurückbekommen – über eine Reihe zweifelsohne brillanter Gadgets hinaus? Aber allein schon diese Frage stellen zu müssen unterstreicht die Notwendigkeit eines radikal neuen Narrativs darüber, wer diesen Wohlstand überhaupt erst geschaffen hat und wer davon profitiert.

Aber wie genau passt nun der Staat in diese Geschichten um die Schaffung von Wohlstand? Wenn es in der Industrie derart viele Schöpfer von Wohlstand gibt, so drängt sich der Schluss auf, dass leichtfüßigen Bankern, hochwissenschaftlichen Pharmazeuten und geschäftstüchtigen Geeks am anderen Ende des Spektrums träge, wertabschöpfende Beamte und Bürokraten gegenüberstehen. Wenn in dieser Weltsicht die private Unternehmung der pfeilschnelle Gepard ist, der der Welt Innovationen bringt, dann ist der Staat eine schwerfällige Schildkröte, die den Fortschritt hemmt – oder, um eine andere Metapher zu bemühen, ein kafkaesker Bürokrat hinter Stapeln von Papier, umständlich und ineffizient. Dieser Weltsicht nach ist der Staat nichts weiter als eine von der Steuerpflicht seiner leidgeprüften Bürger finanzierte Last für die Gesellschaft. Diese Geschichte endet immer auf dieselbe Weise: mit der Forderung nach mehr Markt und weniger Staat. Je schlanker, ranker und effizienter die Staatsmaschinerie, desto besser.

In all diesen Fällen, von der Finanzierung von Medikamenten bis hin zur Informationstechnologie, scheut der Staat keine Anstrengungen, um diese angeblich wertschöpfenden Individuen und Unternehmen anzuziehen, lockt sie mit Steuererleichterungen und Befreiungen von einer Bürokratie, die angeblich ihre wohlstandsschaffenden Energien hemmt. Die Medien loben Schöpfer von Wohlstand über den grünen Klee, Politiker hofieren sie, und für viele haben sie einen bewundernswürdigen Status, dem es nachzueifern gilt. Aber wer hat eigentlich entschieden, dass ausgerechnet sie Wert schaffen? Welche Definition von Wert zieht man hier zur Unterscheidung von Wertschöpfung und Wertabschöpfung beziehungsweise Vernichtung von Wert heran?

Warum haben wir uns dieses Narrativ so bereitwillig verkaufen lassen? Wie misst man vom öffentlichen Sektor geschaffenen Wert? Warum behandelt man den öffentlichen Sektor in der Regel einfach als ineffizientere Version des privaten Sektors? Was, wenn diese Geschichte in Wirklichkeit völlig haltlos wäre? Was, wenn dahinter nur eine Reihe tief verwurzelter Ideen stünde? Welche neuen Geschichten könnten wir dann erzählen?

Platon hatte erkannt, dass Geschichten Charakter, Kultur und Verhalten formen: »Zuerst also, wie es scheint, müssen wir Aufsicht führen über die, welche Märchen und Sagen dichten, und die Märchen, welche sie gut gedichtet haben, einführen, die andern aber ausschließen. Die eingeführten aber wollen wir Wärterinnen und Mütter überreden, den Kindern zu erzählen, um so noch weit sorgfältiger die Seele durch Erzählungen zu bilden, als mit ihren Händen den Leib. Von denen aber, die sie jetzt erzählen, sind wohl die meisten zu verwerfen.«12

Für Platon gehörten dazu Mythen über ungezogene Götter. Das Buch, das Sie in Händen halten, beschäftigt sich mit einem moderneren Mythos über die Wertschöpfung in der Wirtschaft. Diese Art von Mythenbildung, so mein Argument, hat zu einer Wertabschöpfung von ungeheuren Ausmaßen geführt, die einigen Wenigen immensen Reichtum beschert, die Gesellschaft allgemein jedoch Wohlstand gekostet hat.

Sinn und Zweck dieses Buches ist es, diesen Stand der Dinge zu ändern, und das zunächst einmal durch eine Wiederbelebung der Wertdebatte, die früher im Herzen ökonomischen Denkens stand – und meiner Ansicht nach dort auch wieder hingehört. Wenn Wert sich durch den Preis definiert – der sich nach den angenommenen Kräften von Angebot und Nachfrage richtet –, dann schöpft eine Aktivität Wert, solange sie einen Preis erzielt. Demnach muss einer, der viel verdient, auch ein Wertschöpfer sein. Mein Argument läuft darauf hinaus, dass die Art und Weise, wie der Begriff »Wert« in der modernen Ökonomie zur Anwendung kommt, erheblich dazu beigetragen hat, dass wertabschöpfende Aktivitäten heute allenthalben als wertschöpfende Aktivitäten durchgehen. Im Verlauf dieses Prozesses verwechselt man Renten (unverdientes Einkommen) mit Profiten (verdientem Einkommen); die Ungleichheit steigt, und die Investitionen in die wirkliche Wirtschaft sinken. Schlimmer noch, wenn wir nicht mehr unterscheiden können zwischen Wertschöpfung und Wertabschöpfung, dann wird es auch nahezu unmöglich werden, die Erstere statt der Letzteren zu belohnen. Wenn wir smartes, also innovationsgetriebenes, integratives und nachhaltiges Wachstum wollen, müssen wir zu einem besseren Verständnis von Wert gelangen, das uns dabei als Leitstern zu dienen hat.

Es handelt sich hier, anders gesagt, nicht um eine abstrakte Debatte, sondern um eine mit weitreichenden – sozialen, politischen und ökonomischen – Konsequenzen für alle. Die Art, wie wir den Wert diskutieren, wirkt sich darauf aus, wie wir alle – vom Konzerngiganten bis zum bescheidensten Shopper – uns als ökonomische Akteure verhalten, auf die Art, wie dieses Verhalten in die Ökonomie zurückfließt, und wie wir deren Leistung messen. Philosophen sprechen hier von »Performativität«: Wie wir über etwas sprechen, wirkt sich auf unser Verhalten aus und damit wiederum auf die Art, theoretische Überlegungen darüber anzustellen. Es handelt sich mit anderen Worten um eine sich selbst bewahrheitende Aussage.

Oscar Wilde hat das Wertproblem treffend in einem seiner berühmten Bonmots erfasst, als er sagte, ein Zyniker sei einer, der von allem den Preis kenne, aber von nichts den Wert. Womit er Recht hatte – und in der Tat steht die Ökonomie im Ruf einer zynischen Wissenschaft. Aber genau das ist der Grund, weshalb eine Veränderung in unserem Wirtschaftssystem dadurch zu untermauern ist, dass wir den Wert wieder ins Zentrum unseres Denkens stellen. Wir brauchen eine Wiederbelebung unserer Fähigkeit, unsere Nutzung des Wertbegriffs infrage zu stellen; wir müssen die Debatte am Leben erhalten, und wir dürfen uns auf keinen Fall von simplen Geschichten erzählen lassen, wen wir für produktiv halten und wen nicht. Woher kommen diese Geschichten? In wessen Interesse erzählt man sie? Solange wir nicht definieren können, was eigentlich unter Wert zu verstehen ist, können wir weder dafür sorgen, dass wir Wert schaffen, noch diesen gerecht verteilen oder wirtschaftliches Wachstum aufrechterhalten. Ein Verständnis des Wertbegriffs ist also grundlegend für alle anderen Debatten, die es darüber zu führen gilt, wohin unsere Wirtschaft geht und wie wir ihren Lauf ändern können. Und erst – und nur – dann kann aus der zynischen Wissenschaft Ökonomie ein Hoffnungsträger werden.

Kapitel EinführungMakers versus Takers

»Die barbarischen Goldbarone – sie haben das Gold nicht gefunden, sie haben das Gold nicht abgebaut, sie haben das Gold nicht gewonnen, aber durch irgendeine merkwürdige Alchemie gehörte alles Gold ihnen.«

Big Bill Haywood, Mitbegründer der ersten Industriegewerkschaft, 1929 1

Besser hätte Bill Haywood seine Befremdung nicht ausdrücken können. Er vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts und während der Großen Depression in den 1930er Jahren im amerikanischen Bergbau beschäftigte Männer und Frauen. Haywood hatte die Branche im Blut. Aber selbst er hatte keine Antwort auf die Frage: Warum verdienten die Kapitaleigner, die kaum mehr taten, als mit Gold auf dem Markt zu handeln, derartige Summen, während der Lohn für die Arbeiter, die ihre körperlichen und geistigen Energien einbrachten, um es zu finden, abzubauen und zu gewinnen, gar so dürftig ausfiel? Warum bekamen die Nehmer so viel Geld auf Kosten der Macher?

Ähnliche Fragen stellt man sich noch heute. Die britische Kaufhauskette BHS meldete 2016 Insolvenz an. 2000 hatte der Kaufhausmilliardär Sir Philip Green das 1928 gegründete Unternehmen für 200 Millionen Pfund gekauft; 2015 verkaufte er es für 1 Pfund an eine Investorengruppe unter der Führung von Dominic Chappell. Während der Zeit, in der er BHS kontrollierte, zogen Sir Philip und seine Familie geschätzte 580 Millionen Pfund in Form von Dividenden, Mietzahlungen und Zinsen aus Krediten aus dem Unternehmen ab, die sie an BHS vergeben hatten. Der Zusammenbruch von BHS kostete 11 000 Beschäftigte den Arbeitsplatz und hinterließ ein Loch von 571 Millionen Pfund in der Pensionskasse, und das, obwohl diese einen Überschuss aufgewiesen hatte, als Sir Philip das Unternehmen erstand.2 Ein Bericht des Arbeits- und Pensionsausschusses des britischen Unterhauses über das BHS-Desaster warf Sir Philip, Mr. Chappell und ihrem »Gefolge« ein »systematisches Plündern« des Unternehmens vor. Für die damaligen wie auch die ehemaligen Angestellten von BHS, die mitsamt ihren Familien von den Zahlungen des Unternehmens abhängig waren, stellte dies eine Wertabschöpfung von biblischen Ausmaßen dar – eine dem wirtschaftlichen Beitrag völlig unangemessene Aneignung von Gewinnen. Für Sir Philip und alle anderen mit einem Anteil am Unternehmen war es eine Wertschöpfung.

Man mag Sir Philips Handlungsweise als Anomalie betrachten, als die Exzesse eines Einzelnen, so ganz ungewöhnlich ist die Denkart dahinter allerdings nicht. Es gibt heute zahlreiche Großkonzerne, die sich vorwerfen lassen müssen, Wertschöpfung mit dem Abschöpfen von Wert zu verwechseln. Im August 2016, zum Beispiel, sorgte die Europäische Kommission, das Exekutivorgan der EU, für einen internationalen Eklat zwischen der EU und den USA, als man Apple eine Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro an Irland befahl.3

Apple ist seinem Börsenwert nach das größte Unternehmen der Welt. 2015 verfügte das Unternehmen außerhalb der USA über einen Berg von Cash und Papieren im Wert von 187 Milliarden Dollar4 – etwa die Größe der gesamten tschechischen Wirtschaft im selben Jahr.5 Damit umging man die amerikanische Steuer, die fällig gewesen wäre, hätte man diesen Betrag in die Vereinigten Staaten zurückgeführt. Im Rahmen eines Deals mit Irland von 1991 hatte man zwei irischen Apple-Töchtern eine bevorzugte steuerliche Behandlung gewährt: Apple Sales International (ASI), die für alle Profite aus dem Verkauf von iPhones und anderen Apple-Geräten in Europa, Nahost, Afrika und Indien zuständig ist, sowie Apple Operations Europe, die Computer herstellt. Für einen nominellen Betrag übertrug Apple die Entwicklungsrechte seiner Produkte an ASI, was den amerikanischen Steuerzahler um die Einkünfte aus den in Apple-Geräten verbauten Technologien brachte, Technologien, deren frühe Entwicklung von ihm finanziert worden waren. Wie die Europäische Kommission erklärte, betrage der maximale Steuersatz auf diese in Irland verbuchten Profite 1 Prozent, Apple habe jedoch 2014 gerade mal Steuern in Höhe von 0,005 Prozent bezahlt. Der übliche Körperschaftsteuersatz in Irland beträgt 12,5 Prozent.

Überhaupt hatten diese »irischen« Apple-Töchter steuerlich keinen Sitz, weder in Irland noch sonst wo. Möglich war dies durch die unterschiedliche Definition von »Firmensitz« in Irland und den USA. Fast alle Gewinne der beiden Töchter gingen an ihre irische »Hauptverwaltung«, die jedoch nur auf dem Papier existierte. Die Kommission begründete Apples Steuernachzahlung damit, dass Irlands Deal mit Apple eine illegale staatliche Beihilfe darstelle (eine staatliche Unterstützung, die einem Unternehmen Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten verschafft); Irland hatte anderen Unternehmen ähnliche Konditionen nicht eingeräumt. Irland, so die Kommission, habe Apple den absurd geringen Steuersatz im Gegenzug für die Schaffung von Arbeitsplätzen in anderen Apple-Niederlassungen im Land gewährt. Apple und Irland wiesen die Forderungen der Kommission gemeinsam zurück. Selbstverständlich ist Apple nicht der einzige Großkonzern, der seine Zuflucht in exotischen Steuerstrukturen sucht.

Apples Wertabschöpfungszyklus beschränkt sich nicht auf internationale Steuertricks – das Ganze funktioniert durchaus auch näher der Heimat des Unternehmens. Nicht nur hat Apple dem irischen Steuerzahler Wert entzogen, sondern auch der irische Staat dem amerikanischen Steuerzahler. Warum? Apple hat sein geistiges Eigentum in Kalifornien geschaffen, wo das Unternehmen seine Zentrale hat. Und wie ich bereits in meinem Buch Das Kapital des Staates6 erklärt habe und hier in Kapitel 7 ansprechen werde, wurde die gesamte Technologie, die das Smartphone smart macht, durch die öffentliche Hand finanziert. 2006 jedoch gründete Apple zur Vermeidung kalifornischer Steuern eine Tochter in Reno, Nevada, einem Bundesstaat, der weder Körperschaftsteuer noch Kapitalzuwachssteuer kennt. Unter dem kreativen Namen Braeburn Capital leitete Apple einen Teil seiner US-Gewinne an Kalifornien vorbei an die Tochter in Nevada. Zwischen 2006 und 2012 verbuchte Apple 2,5 Milliarden Dollar an Zinsen und Dividenden in Nevada, um den kalifornischen Fiskus zu umgehen. Kaliforniens sagenhaft hohe Schulden ließen sich erheblich reduzieren, würde Apple seine US-Einkünfte gänzlich und korrekt in diesem Staat deklarieren. Immerhin hat hier ein Gutteil seines Werts (Architektur, Design, Verkauf, Marketing et cetera) seinen Ursprung. Die Wertabschöpfung stellt also nicht nur die USA gegen den Rest der Welt, sie spielt auch einen amerikanischen Bundesstaat gegen den anderen aus.

Es ist offensichtlich, dass Apples hoch komplexe Steuerarrangements in der Hauptsache dazu dienten, maximalen Wert aus seinem Geschäft abzuschöpfen, indem man die erheblichen Steuern umging, von denen die Gesellschaften profitiert hätten, in denen das Unternehmen operiert. Sicher, Apple schöpft Wert, das soll hier nicht in Abrede gestellt werden, aber die Unterstützung zu leugnen, die der Steuerzahler der Firma gewährte, und dann auch noch Bundesstaaten und Länder gegeneinander auszuspielen, ist sicher kein Weg zum Aufbau einer innovativen Wirtschaft oder zur Schaffung eines integrativen Wachstums, von dem weite Teile der Bevölkerung profitieren, nicht nur die, die besonders gut darin sind, sich das System zunutze zu machen.

Apples Wertabschöpfung hat aber auch noch eine andere Dimension. Viele Unternehmen dieser Art benutzen ihre Gewinne, um kurzfristig ihre Aktienkurse in die Höhe zu treiben, anstatt sie langfristig in die Produktion zu reinvestieren. In der Regel kaufen sie dazu mit Cash-Reserven Anteile von Investoren zurück, selbstverständlich unter dem Vorwand der Maximierung des »Aktionärswerts« beziehungsweise »Shareholder-Values« (des Einkommens, das der Aktionär eines Unternehmens auf der Basis des Aktienkurses bezieht). Es kommt jedoch nicht von ungefähr, dass die Hauptnutznießer dieser Aktienrückkäufe Manager mit großzügigen Optionen im Rahmen ihrer Vergütungspakete sind – eben jene Manager, die die Rückkaufprogramme implementieren. Apple gab zum Beispiel 2012 ein Rückkaufprogramm in der schwindelerregenden Höhe von 100 Milliarden Dollar bekannt, teils um »aktivistische« Aktionäre abzuwimmeln, die von der Firma Cash verlangten, um »Shareholder-Value freizusetzen«.7 Anstatt in das Unternehmen zu reinvestieren, zog Apple eine Ausschüttung an seine Aktionäre vor.

Die Alchemie von Nehmer versus Macher, die Big Bill Haywood in den 1920er Jahren ansprach, ist heute so wirksam wie damals.

Landläufige Kritik an der Wertabschöpfung

Die entscheidende, aber oft ungenaue Unterscheidung zwischen Wertschöpfung und Wertabschöpfung hat Folgen, die weit über das Schicksal von Unternehmen und ihrer Beschäftigten, ja selbst über das Schicksal ganzer Gesellschaften hinausreichen. Die soziale, ökonomische und politische Wirkung der Wertabschöpfung ist immens. Vor der Finanzkrise von 2007 war der Einkommensanteil der 1 Prozent Topverdiener in den USA von 9,4 Prozent 1980 auf schwindelerregende 22,6 Prozent gestiegen. Und es wurde immer schlimmer. Seit 2009 ist die Ungleichheit noch schneller gestiegen als vor dem Crash von 2008. Das Vermögen der 62 reichsten Individuen der Welt entsprach 2015 Schätzungen zufolge dem der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung, also dem von 3,5 Milliarden Menschen.8

Aber wie kommt es denn nun, dass die Alchemie noch immer funktioniert? Eine landläufige Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus ist die, dass er »Rent-Seeker« reichlicher belohnt als echte »Wohlstandsschöpfer«. »Rent-Seeking« bezieht sich hier auf das Bemühen, Einkommen nicht durch die Produktion von etwas Neuem zu generieren, sondern dadurch, dass man mehr als den »wettbewerbsfähigen Preis« (Konkurrenzpreis) verlangt und die Konkurrenz dadurch aussticht, dass man sich bestimmte Vorteile (wie etwa Billigarbeit) zunutze macht – oder, wie etwa im Fall einer Branche mit großen Unternehmen, dass man andere Unternehmen am Eintritt in die Branche zu hindern vermag und sich so den Vorteil eines Monopols erhält. Rent-Seeking wird aber gern auch anders beschrieben: Die »Nehmer« stechen die »Macher« aus und der »Raubtierkapitalismus« obsiegt über den »produktiven Kapitalismus«. Rent-Seeking gilt als eine der wesentlichen, wenn nicht gar die wesentliche Methode, mit der das 1 Prozent die Macht über die 99 Prozent erlangt hat.9 Die üblichen Ziele solcher Kritik sind die Banken und andere Finanzinstitute. Man sieht sie als Profiteure spekulativer Aktivitäten, die auf kaum mehr fußen als darauf, niedrig zu kaufen und hoch zu verkaufen – oder etwas zu kaufen, um seine produktiven Aktivposten loszuschlagen, ohne dass man einen reellen Wert hinzufügt.

Anspruchsvollere Analysen verbinden den Anstieg der Ungleichheit mit der spezifischen Art und Weise, in der die »Nehmer« ihren Wohlstand vermehrt haben. Der französische Ökonom Thomas Piketty konzentriert sich in seinem einflussreichen Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert auf die Ungleichheit, die von einer räuberischen und ungenügend besteuerten Finanzindustrie geschaffen wurde und dadurch, dass Reichtum über Generationen hinweg vererbt wird, den Reichen immer einen Vorsprung geben wird, um noch reicher zu werden. Pikettys Analyse ist der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie Renditen auf Finanzanlagen (die er als Kapital bezeichnet) höher sein können als die auf Wachstum. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, fordert er höhere Steuern auf die daraus resultierenden Vermögen und Erbschaften. Idealerweise sollten seiner Ansicht nach solche Steuern weltweit durchgesetzt werden, damit nicht ein Land das andere »unterbietet«.

Ein weiterer führender Denker, der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz, ist der Frage nachgegangen, wie eine laxe Regulierung und monopolistische Praktiken zur »Rentenerzielung« (beziehungsweise »Rentenextraktion« – wie Ökonomen das nennen) führen konnten, in der er die treibende Kraft hinter dem Aufstieg des 1 Prozent in den USA sieht.10 Für Stiglitz ist diese »Rente« das Einkommen, das man daraus bezieht, Konkurrenten Hürden in den Weg zu stellen, etwa um neue Unternehmen vom Eintritt in einen Sektor abzuhalten; auch die Deregulierung, die dafür gesorgt hat, dass der Finanzsektor im Vergleich zum Rest der Wirtschaft überproportional wachsen konnte, gehört für Stiglitz dazu. Er geht davon aus, dass es bei weniger Hindernissen für einen funktionierenden Wettbewerb zu einer gerechteren Verteilung von Einkommen kommt.11

Meiner Ansicht nach können wir bei diesem »Maker versus Taker«-Ansatz bei der Analyse, warum unsere Wirtschaft derart aus dem Ruder gelaufen ist mit ihrer himmelschreienden Ungleichheit von Einkommen und Reichtum, noch viel weiter gehen. Um zu verstehen, wie die einen »Wert abschöpfen«, das heißt, den Volkswirtschaften Wohlstand entziehen können, während andere »Wert schöpfen«, aber vom Wohlstand nicht profitieren, genügt es nicht, sich die Hindernisse für eine idealisierte Form von perfektem Wettbewerb anzusehen. Die gängigen Vorstellungen von Rente jedoch stellen die Art der Wertextraktion nicht grundsätzlich infrage – und so bleibt sie dann auch bestehen.

Um diese Probleme an der Wurzel zu packen, müssen wir uns ansehen, wo Wert denn überhaupt herkommt. Worum genau handelt es sich eigentlich bei dem, was da extrahiert wird? Welche sozialen, ökonomischen und organisatorischen Bedingungen braucht es zur Schaffung von Wert? Selbst Stiglitz’ und Pikettys Verwendung des Begriffs »Rente« zur Analyse der Ungleichheit muss von ihrer Vorstellung von dem beeinflusst sein, was Wert ist und wofür er steht. Ist Rente lediglich ein Hindernis für den Austausch auf dem »freien Markt«? Oder liegt es an ihrer Machtposition, dass einige »unverdientes Einkommen« verdienen können – Einkommen, das daraus entsteht, lediglich existierende Aktiva umherzuschieben, anstatt neue zu schaffen?12 Dies ist eine Schlüsselfrage, der wir in Kapitel 2 nachgehen.

Was ist Wert?

Wert lässt sich auf unterschiedliche Weise definieren, aber im Herzen des Begriffs steht die Produktion neuer Güter und Dienstleistungen. Schlüsselfragen bei der Definition von ökonomischem Wert sind, wie diese Outputs produziert werden (Produktion), wie sie über die Wirtschaft verteilt werden (Verteilung) und was mit den Gewinnen passiert, die durch diese Produktion erwirtschaftet werden (Reinvestition). Kritisch ist darüber hinaus, ob das, was da geschaffen wird, nützlich ist: Erhöhen die Produkte und Dienstleistungen die Stabilität des Produktionssystems oder schwächen sie es? So ist es, um nur ein Beispiel zu nennen, durchaus möglich, dass der Bau einer neuen Fabrik zwar wirtschaftlich von Wert ist, aber wenn sie die Umwelt so stark verschmutzt, dass das System rundum Schaden nimmt, ließe sich der Wert durchaus absprechen.

Unter »Wertschöpfung« verstehe ich die Art und Weise, in der unterschiedliche Ressourcen (menschliche, materielle und immaterielle) bereitgestellt werden, um damit im Zusammenspiel neue Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Unter »Wertextraktion« verstehe ich Aktivitäten, die sich darauf konzentrieren, existierende Ressourcen und Outputs hin und her zu schieben, um aus dem daraus resultierenden Handel einen unverhältnismäßigen Gewinn zu ziehen.

Hier ist ein Hinweis angebracht. Die Begriffe »Wohlstand« und »Wert« sind in diesem Buch so gut wie austauschbar. Man mag dagegen einwenden, dass Wert eher im monetären Sinn und Wohlstand eher als potenziell soziales Konzept zu verstehen sei, bei dem es nicht nur um Wert, sondern darüber hinaus auch um Werte geht. So möchte ich hier meine Verwendung der beiden Begriffe rasch klären. »Wert« bezieht sich in erster Linie auf den »Prozess«, durch den Wohlstand geschaffen wird – ich verstehe darunter einen Fluss. Selbstverständlich resultiert dieser Fluss in real existierenden Dingen, sei dies etwas Greifbares (ein Laib Brot) oder etwas nicht Greifbares (neues Wissen). »Wohlstand« dagegen ist bei mir die Anhäufung bereits geschaffenen Werts. Das Buch konzentriert sich auf den Wert und die Kräfte, die diesen Wert schaffen, mit anderen Worten, auf den Prozess. Es nimmt sich jedoch auch die Behauptungen rund um diesen Prozess vor, bei denen es immer wieder darum geht, »wer« denn nun eigentlich die Wertschöpfer beziehungsweise die Schöpfer von Wohlstand sind. In diesem Sinne sind die Begriffe in diesem Buch austauschbar.

Lange stand der Wertgedanke im Herzen aller Debatten über Wirtschaft, Produktion und die Verteilung des daraus resultierenden Einkommens, und es gab kreative Meinungsverschiedenheiten darüber, worin denn nun Wert bestehe. So ergab sich der Preis des Produkts für einige ökonomische Schulen aus Angebot und Nachfrage, der Wert des Produkts jedoch ergab sich aus dem Arbeitsaufwand, der zur Herstellung nötig war, aus der Art, wie sich technische und organisatorische Veränderungen auf die Arbeit auswirkten und aus der Beziehung zwischen Kapital und Arbeiterschaft. Später ersetzte man diese Betonung »objektiver« Bedingungen – Produktion, Technik und Machtverhältnisse – durch Konzepte wie Knappheit und die »Präferenzen« einzelner ökonomischer Akteure: dass etwa der geleistete Arbeitsaufwand dadurch bestimmt werde, inwieweit dem Beschäftigten seine Freizeit wichtiger ist als ein besserer Verdienst. Wert wurde mit anderen Worten »subjektiv«.

Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gingen darüber hinaus fast alle Ökonomen davon aus, dass zum Verständnis der Preise von Gütern und Dienstleistungen zunächst eine objektive Werttheorie nötig sei, eine Theorie, die von den Bedingungen ausging, unter denen diese Güter und Dienstleistungen produziert wurden, so etwa die Zeit, die zu ihrer Produktion nötig war, oder die Qualität der dazu benötigten Arbeit; und diese Determinanten von »Wert« formten faktisch die Preise von Gütern und Dienstleistungen aus. Dann begann sich dieses Denken umzukehren. So kamen einige Ökonomen zu der Überzeugung, der Wert von Dingen werde durch ihren Preis auf dem »Markt« bestimmt, mit anderen Worten, was der Verbraucher dafür zu zahlen bereit sei. Damit war Wert plötzlich Ansichtssache. Güter und Dienstleistungen egal welcher Art, die zu einem vereinbarten Marktpreis verkauft wurden, schufen per definitionem Wert.

Dieser Neuansatz, dass nicht mehr der Wert den Preis bestimme, sondern der Preis den Wert, fiel mit einer Reihe großer sozialer Umbrüche Ende des 19. Jahrhunderts zusammen. Zum einen war da der Aufstieg des Sozialismus, dessen Forderungen nach Reformen auf der Behauptung fußten, Arbeit würde nicht mehr fair nach dem Wert bezahlt, den sie schuf, zum anderen kam es zur Konsolidierung der kapitalistischen Produzentenklasse. Letztere war, wie kaum überraschen wird, sehr angetan von der alternativen neuen Theorie, laut der der Preis den Wert bestimme, war das doch eine Geschichte, mit der sich die Aneignung eines immer größeren Teils vom Output rechtfertigen ließ, was zur Folge hatte, dass die Arbeiterschaft immer weiter zurückblieb.

Auf der intellektuellen Seite waren da die Ökonomen, die ihrer Disziplin unbedingt einen »wissenschaftlichen« Anstrich geben wollten – sie sollte mehr nach Physik aussehen denn nach Soziologie. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie die Ökonomie ihrer früheren politischen und sozialen Konnotationen entkleideten. Waren Adam Smiths Schriften noch voll politischer und philosophischer Betrachtungen gewesen, von den ersten Überlegungen, wie Ökonomie überhaupt funktioniert, ganz zu schweigen, wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts die »politische Ökonomie«, nach 200 Jahren von derlei Ballast befreit, zur »Ökonomie«. Und diese erzählte eine ganz andere Geschichte.

Schließlich verschwand die Diskussion der unterschiedlichen Theorien über Wert und dessen Entstehung praktisch aus den wirtschaftswissenschaftlichen Seminaren. Der Begriff taucht heute allenfalls an der Business-School unter anderem als Shareholder-Value beziehungsweise Aktionärswert,13 Shared Value beziehungsweise gemeinsamer Mehrwert14 und Wertschöpfungsketten15 auf; es geht dabei um Kosten-Nutzen- beziehungsweise Preis-Leistungs-Verhältnis, Bewertung, Mehrwert und dergleichen mehr. Wurden Studenten der Ökonomie einst umfassend über den Wertgedanken unterrichtet und lernten dabei, was die unterschiedlichen ökonomischen Schulen darüber zu sagen hatten, lernen sie heute nur noch, dass Wert durch die Preisdynamik bestimmt und damit von Knappheit und Präferenzen abhängig sei. Vermittelt wird das freilich nicht explizit als Werttheorie, sondern als gegeben, im Rahmen einer Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Hier wird ein intellektuell verarmter Wertgedanke als Wahrheit gelehrt und auswendig gelernt. Und dieses Verschwinden des Wertkonzepts, so ein Argument dieses Buches, macht es uns paradoxerweise um einiges leichter, den kritischen Begriff des Werts – ein Konzept im Herzen ökonomischen Denkens – so einzusetzen, wie es uns gerade in den Kram passt.

Die Produktionsgrenze

Um die Entwicklung diverser Werttheorien über die Jahrhunderte hinweg zu verstehen, sollten wir uns zunächst Gedanken darüber machen, warum wir einige wirtschaftliche Aktivitäten als »produktiv« und andere als »unproduktiv« bezeichnen und warum diese Unterscheidung die Ansichten darüber beeinflusst hat, welche wirtschaftlichen Akteure was verdienen, wie mit anderen Worten die Ergebnisse der Wertschöpfung verteilt werden sollen.

Über Jahrhunderte hinweg unterschieden Ökonomen und Entscheidungsträger – Leute, die im Staat oder bei Unternehmen die Richtung angeben – Aktivitäten danach, ob sie Wert produzieren oder nicht, ob sie also produktiv oder unproduktiv sind. Das hat unterm Strich für eine gedachte Grenze – in Abb. 1 als Zaun dargestellt – zwischen diesen Aktivitäten gesorgt, die zuweilen als »Produktionsgrenze« bezeichnet wird.16 Innerhalb dieser Grenze befinden sich die Schöpfer von Wohlstand und außerhalb die Nutznießer dieses Wohlstands, die davon entweder profitieren, weil sie ihn durch Rent-Seeking-Aktivitäten extrahieren können – nehmen wir nur die Monopole – oder weil sie sonst irgendwie etwas von dem im produktiven Bereich geschaffenen Wohlstand abbekommen, etwa durch die moderne Wohlfahrt. Renten, wie die klassischen Ökonomen sie verstanden, galten als unverdientes Einkommen und lagen damit definitiv außerhalb der Produktionsgrenze. Gewinne waren dagegen die Einträge aus produktiven Aktivitäten und lagen damit innerhalb des Zauns.

Historisch war der Grenzzaun um die produktiven Vorgänge niemals fix; Form und Größe änderten sich mit dem Spiel sozialer und ökonomischer Kräfte. Diese Veränderungen zwischen Maker und Taker sind in der Vergangenheit nicht weniger deutlich zu sehen als in der modernen Zeit. Im 18. Jahrhundert kam es zu einem Aufschrei, als die Physiokraten, eine frühe Schule von Ökonomen, Grundherren als »unproduktiv« bezeichneten. Dies war ein Angriff auf die herrschende Klasse eines hauptsächlich ländlichen Europas. Die politisch brisante Frage war, ob Grundbesitzer nicht einfach ihre Macht missbrauchten, um sich einen Teil des Wohlstands anzueignen, den ihre Pächter schufen, oder ob ihr Beitrag – das Land – wesentlich für die Art und Weise war, in der die Bauern Wert schufen.

Abb. 1. Produktionsgrenze um die wertschöpfenden Aktivitäten einer Volkswirtschaft

Eine Variante der anhaltenden Debatte darüber, wo die Produktionsgrenze zu ziehen sei, dreht sich heute um den Finanzsektor. Nach der Finanzkrise von 2008 wurden vielerorts Rufe nach einer neuen Förderpolitik zugunsten der industriellen »Macher« laut, die man hier in Rivalität zu den »Nehmern« aus der Finanzwirtschaft sah. Es war von einer Neujustierung der Balance die Rede, um den Finanzsektor (in Abb. 1 im grauen Kreis unproduktiver Aktivitäten) zu verkleinern, vor allem durch Besteuerung finanzieller Transaktionen wie etwa Devisengeschäften oder dem Handel mit Wertpapieren und durch eine Industriepolitik, die für Wachstum in Branchen sorgt, die tatsächlich etwas herstellen, anstatt nur etwas hin und her zu schieben (womit sie im hellgrauen Kreis der produktiven Aktivitäten anzusiedeln sind).

Aber ganz so einfach ist das nicht. Es geht eben nicht darum, die einen als »Maker« und die anderen als »Taker« zu brandmarken; die Aktivitäten derer außerhalb des Zauns können zur Ermöglichung der Produktion durchaus nötig sein – ohne ihr Zutun sind produktive Aktivitäten womöglich weniger wert. So braucht es etwa Händler, die dafür sorgen, dass die Güter auf den Markt kommen, um dort effizient ausgetauscht zu werden. Der Finanzsektor ist von kritischer Bedeutung dafür, dass Käufer und Verkäufer ihre Geschäfte miteinander abwickeln können. Die eigentliche Frage ist, wie diese Aktivitäten sich so gestalten lassen, dass sie auch tatsächlich ihren Zweck, nämlich Wert zu schaffen, erfüllen.

Und um auf das Wichtigste bei alledem zu kommen: Welche Rolle spielt dabei der Staat? Auf welcher Seite der Produktionsgrenze steht er? Ist der Staat seinem Wesen nach unproduktiv, wie so oft behauptet wird, kommen doch seine einzigen Gewinne aus einem erzwungenen Transfer in Form von Steuern aus dem produktiven Teil der Wirtschaft? Wenn dem so ist, wie kann der Staat für das Wachstum der Wirtschaft sorgen? Kann er bestenfalls über die Spielregeln entscheiden, damit die Wertschöpfer effizient ihren Geschäften nachgehen können?

Letztlich läuft die periodisch aufflammende Debatte über die optimale »Größe« des Staats und die angeblichen Gefahren einer hohen Verschuldung der öffentlichen Hand darauf hinaus, ob deren Ausgaben der Wirtschaft beim Wachsen helfen – schließlich kann der Staat produktiv sein und für Mehrwert sorgen –, oder ob er die Wirtschaft nur behindert, weil er unproduktiv ist, wenn er nicht gar Wert vernichtet. Das Problem ist politisch brisant und färbt die Debatte, ob es nun um das Atomwaffensystem Trident geht oder darum, ob es eine »magische Zahl« für die Größe des Staates gibt, die sich aus den Ausgaben der öffentlichen Hand im Verhältnis zum nationalen Output errechnen ließe und über die hinaus es mit der Wirtschaft unweigerlich abwärts geht.

Wie wir in Kapitel 8 sehen werden, ist diese Frage mehr von politischen Ansichten und ideologischen Positionen geprägt als von konkreter Wissenschaft. Wir sollten uns hier immer wieder vor Augen halten, dass die Ökonomie ihrem Wesen nach eine Sozialwissenschaft ist und dass die »natürliche« Größe des Staats immer von unserer Theorie (oder unserer »Position«) bezüglich Sinn und Zweck des Staats anhängig ist. Wenn wir keinen Sinn in ihm sehen, außer vielleicht den eines gelegentlichen Problemlösers in haarigen Fällen, dann wird seine optimale Größe unserer Theorie nach unweigerlich kleiner ausfallen, als wenn wir in ihm einen unabdingbaren Wachstumsmotor und Steuermann für den Wertschöpfungsprozess sehen.

Im Lauf der Zeit hat man die gedachte Produktionsgrenze erweitert, bis sie einen größeren Teil der Wirtschaft und mehr wirtschaftliche Aktivitäten umfasste denn je. Als Ökonomen und die breitere Gesellschaft sich darauf einigten, Wert über Angebot und Nachfrage zu bestimmen – was gekauft wird, hat Wert –, definierte man schließlich auch finanzielle Transaktionen, die man zuvor für gewöhnlich als unproduktiv eingestuft hatte, als produktiv. Bezeichnenderweise ist der einzige Teil der Wirtschaft, der heute allem Dafürhalten nach immer noch größtenteils außerhalb der Produktionsgrenze liegt – sprich »unproduktiv« ist –, der Staat.

Außerdem bleiben, darauf sollten wir hier hinweisen, viele andere Dienstleistungen, die zahllose Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft unbezahlt leisten, etwa in der Familie, größtenteils außen vor. Glücklicherweise rücken Probleme wie etwa die Berücksichtigung der Pflege beim Bruttosozialprodukt immer mehr in den Vordergrund. Es ist jedoch, über das Hinzufügen neuer Konzepte zum Bruttosozialprodukt oder die Sorge um die Nachhaltigkeit unseres Planeten hinaus, von entscheidender Bedeutung, endlich die Hintergründe unserer Annahmen über den Wert zu verstehen. Und dies ist nur möglich, wenn wir uns diesen genauer ansehen.

Der Wert einer Werttheorie

Zunächst einmal versteckt das Verschwinden des Werts aus der ökonomischen Debatte etwas, was eigentlich für alle sichtbar sein und heftig diskutiert werden sollte.17 Stellen wir nämlich die Annahme, Wert sei Ansichtssache, nicht infrage, werden uns manche Aktivitäten schon deshalb als wertschöpfend erscheinen und andere nicht, weil es uns jemand – für gewöhnlich jemand mit einem ganz persönlichen Interesse – besonders eloquent sagt. Mit einem Mausklick können Aktivitäten von einer Seite der Produktionsgrenze auf die andere springen, ohne dass das allzu vielen auffallen wird. Wenn Banker, Immobilienmakler und Buchmacher behaupten, dass sie Wert schaffen, anstatt Wert nur zu extrahieren, dann bietet die traditionelle Ökonomie keine Grundlage, auf der man ihnen Paroli bieten könnte, ungeachtet aller Skepsis, mit der man dieser Behauptung begegnen mag. Wie sollte man Lloyd Blankfein widersprechen, wenn er behauptet, die Beschäftigten von Goldman Sachs gehörten zu den produktivsten der Welt? Oder wenn Pharmaunternehmen erklären, der exorbitante Preis eines ihrer Medikamente richte sich nach dem Wert, den es schafft? Regierende lassen sich durchaus von Geschichten über die Schaffung von Wohlstand überzeugen, um nicht zu sagen, vereinnahmen. Man sah das erst jüngst wieder, als die US-Regierung dem »wertorientierten Preismodell« der Branche nachgab und ein Leukämie-Medikament für eine halbe Million Dollar pro Behandlung genehmigte – und das, obwohl der Steuerzahler 200 Millionen Dollar zu seiner Entwicklung zugeschossen hatte.18

Zweitens ist die fehlende Analyse des Wertbegriffs von erheblicher Tragweite für einen ganz bestimmten Bereich: die Verteilung der Erträge unter den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft. Wenn Wert über den Preis bestimmt wird (anstatt umgekehrt), scheinen Höhe und Verteilung von Erträgen so lange gerechtfertigt, solange es einen Markt für die Güter und Dienstleistungen gibt, die diese Erträge durch ihren Kauf oder Verkauf generieren. Dieser Logik zufolge ist jeder Ertrag ein verdienter Ertrag; jegliche Analyse der Aktivitäten hinsichtlich ihrer Produktivität beziehungsweise Unproduktivität bleibt hier außen vor.

Nur liegt an dieser Stelle ein Zirkelschluss vor. Man rechtfertigt Erträge durch die Produktion von etwas, das einen Wert hat. Aber wonach richtet sich dieser Wert? Nun, danach ob er Erträge bringt. Man schafft Erträge, weil man produktiv ist, und man ist produktiv, weil man Erträge schafft. Ein Simsalabim, und das Konzept der unverdienten Erträge ist verschwunden. Wenn Erträge bedeuten, dass wir produktiv sind, und schließlich verdienen wir Erträge, wann immer wir produktiv sind, wie um alles in der Welt können Erträge dann plötzlich unverdient sein?

Wie wir in Kapitel 3 sehen werden, spiegelt sich dieser Zirkelschluss in der Art und Weise, wie wir unsere volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erstellen, mit der wir die Produktivität und Wertschöpfung unserer Wirtschaft messen. Der Theorie nach ist kein Einkommen als zu hoch einzuschätzen, da in der Marktwirtschaft der Wettbewerb verhindert, dass wir mehr verdienen, als uns zusteht. In der Praxis jedoch sind Märkte unvollkommen, wie die Ökonomen das nennen; Preise, aber auch Löhne und Gehälter werden oft von den Mächtigen festgelegt und von den Schwachen bezahlt.

Der herrschenden Ansicht nach wird der Preis durch Angebot und Nachfrage bestimmt; jede Abweichung von einem als wettbewerbsfähig erachteten Preis (mit dem Grenzertrag als Basis) muss demnach auf eine Unvollkommenheit zurückgehen, die man nur zu beseitigen braucht, um eine korrekte Aufteilung der Erträge unter den Akteuren zu erzielen. Die Möglichkeit, dass einige Aktivitäten beständig Rente einbringen, weil sie als wertvoll gelten, während sie eigentlich die Schaffung von Wert blockieren und/oder existierenden Wert vernichten, wird kaum diskutiert.

Es ist sogar so, dass es für Ökonomen keine andere Geschichte mehr gibt als die der subjektiven Werttheorie, laut der Angebot und Nachfrage der Motor des Marktes sind. Sind erst einmal alle Wettbewerbshindernisse beseitigt, sollte das Resultat jedem nutzen. Dass und wie sich unterschiedliche Auffassungen von Wert auf die Verteilung von Erträgen unter Arbeitnehmern, Akteuren der öffentlichen Hand, Managern und Aktionären beispielsweise bei Google, General Electric oder BAE Systems auswirken könnten, wird nicht hinterfragt.

Drittens steht hinter jedem Versuch der Entscheidungsträger, die Wirtschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken, auch eine bestimmte Vorstellung von Wert – ob ihnen das nun klar ist oder nicht. Dass die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts in einer Welt, in der Milliarden in bitterer Armut leben, von Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Nur geht es heute bei einigen der wichtigsten ökonomischen Fragen um eine ganz bestimmte Art von Wachstum. So spricht man allenthalben von der Notwendigkeit eines »smarteren«, nachhaltigeren und integrativeren Wachstums, eines innovationsgetriebenen, grünen Wachstums, mit anderen Worten, das weniger Ungleichheit erzeugt.19

Ganz im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme, die Politik sollte lediglich Hindernisse beseitigen und für Chancengleichheit sorgen, anders gesagt, »richtungslos« sein, bedarf es zur Erreichung dieser speziellen Ziele eines langen Katalogs richtungweisender politischer Maßnahmen. Das Wachstum wird die gewünschte Richtung nicht von selbst einschlagen, es braucht eine andere Art von Politik, soll es die gewünschten Resultate erzielen. Was sich erheblich von der üblichen Annahme unterscheidet, der zufolge Politik richtungslos sein und nur Hindernisse aus dem Weg räumen sollte, um der Geschäftswelt einen reibungslosen Betrieb zu ermöglichen.

Kritisch bei der Bestimmung des wirtschaftlichen Kurses ist die Entscheidung darüber, welche Aktivitäten wichtiger als andere sind. Einfacher ausgedrückt, die für die Erreichung bestimmter Ziele als wichtiger erachteten Aktivitäten sind zu intensivieren, die weniger wichtigen sind zurückzufahren. Das tun wir längst. So versuchen zum Beispiel bestimmte Arten von Steuererleichterungen, etwa für Forschung und Entwicklung, Investitionen in innovative Technologien zu stimulieren. Wir subventionieren Studium und Ausbildung, weil uns als Gesellschaft an mehr jungen Leuten an den Universitäten und qualifizierteren Arbeitnehmern gelegen ist. Gut möglich, dass hinter derlei politischen Maßnahmen ökonomische Modelle stehen, denen zufolge Investitionen in »Humankapital« – Wissen und Fertigkeiten – dem Wachstum eines Landes förderlich sind, indem sie seine produktive Kapazität erhöhen. Gut möglich auch, dass die wachsende Sorge, der Finanzsektor einiger Staaten könnte zu groß geworden sein im Vergleich, sagen wir mal, zum Herstellungssektor, von Theorien darüber beeinflusst ist, in welcher Art von Wirtschaft wir leben und welche Größe und Rolle wir der Finanzwelt in dieser zuschreiben wollen.

Die Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven Aktivitäten ist jedoch nur in Ausnahmefällen das Resultat »wissenschaftlicher« Messungen. Sie ist vielmehr seit jeher in hohem Maße von plastischen sozioökonomischen Argumenten bestimmt, die sich aus einer bestimmten politischen Perspektive ableiten – die mal mehr, mal weniger explizit sein mag. Es geht bei der Definition von Wert nie nur um eng definierte wirtschaftliche Kriterien, sondern immer auch um Politik und bestimmte Ansichten darüber, wie eine Gesellschaft auszusehen habe. Ohnehin sind Messungen nie neutral: Sie wirken auf Verhalten und umgekehrt (hier kommt das Konzept der Performativität zum Tragen, das uns im Vorwort begegnet ist).

Es geht also nicht um eine absolute Unterscheidung, die einige Aktivitäten als »produktiv« und andere als unproduktiv und »rent-seeking« deklariert. Es geht vielmehr darum, grundsätzlich transparenter zu sein hinsichtlich der Art, wie wir unser Verständnis von Wertschöpfung damit verknüpfen, wie wir Aktivitäten (im Finanzsektor wie in der Realwirtschaft) strukturiert sehen wollen und wie dies mit der Verteilung der generierten Früchte zusammenhängt. Nur so wird sich das gegenwärtige Narrativ von Wertschöpfung einer genaueren Betrachtung unterziehen und Aussagen wie »Ich schaffe Wohlstand« an glaubwürdigen Vorstellungen darüber messen lassen, woher dieser Wohlstand kommt.

So ließe sich dann auch die wertorientierte Preisgestaltung eines Pharmakonzerns gegen eine kollektivere Vorstellung vom Wertschöpfungsprozess halten, die die öffentlichen Gelder miteinbezieht, von denen so ein Unternehmen – gerade im riskantesten Stadium – profitiert. Ähnlich ließen sich die 20 Prozent Anteile, die Risikokapitalisten für gewöhnlich beim Börsengang eines kleinen Hightech-Unternehmens kassieren, als exzessiv bezeichnen im Lichte des tatsächlichen, nicht des mythischen Risikos, das man bei der Investition in die Entwicklung der Firma einging. Und wenn eine Investmentbank ungeheure Profite aus der Instabilität einer Währung schlägt, die ein ganzes Land in Mitleidenschaft zieht, dann könnte man diesen Profit als das bezeichnen, was er in Wirklichkeit ist: eine Rente.

Um zu diesem Verständnis von Wertschöpfung zu kommen, müssen wir uns jedoch über die scheinbar wissenschaftliche Kategorisierung von Aktivitäten hinaus die sozioökonomischen und politischen Konflikte ansehen, die ihr zugrunde liegen. Behauptungen über die Wertschöpfung sind seit jeher mit Behauptungen über die relative Produktivität gewisser gesellschaftlicher Elemente verknüpft, die ihrerseits oft auf einen grundlegenden wirtschaftlichen Wandel zurückgehen: von der Agrarwirtschaft zur Industrie oder von einer auf Massenproduktion hin zu einer auf digitaler Technologie begründeten Ökonomie.

Zum Aufbau des Buches

Kapitel 1 und 2 beschäftigen sich damit, wie Ökonomen im 17. Jahrhundert versuchten, das Wirtschaftswachstum dadurch zu steuern, dass sie produktive Aktivitäten hochfuhren und unproduktive zurücknahmen. Als Basis dafür diente ihnen eine theoretische Produktionsgrenze. Seit Jahrhunderten beeinflusst die Debatte um die Produktionsgrenze und deren enge Beziehung zu Wertauffassungen staatliche Wachstumsmaßnahmen; auch die Produktionsgrenze hat sich unter dem Einfluss fluktuierender sozialer, ökonomischer und politischer Bedingungen verändert. Mit der größten dieser Umwälzungen beschäftigt sich Kapitel 2. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an entwickelte sich der Wert von einer objektiven zu einer an individuellen Präferenzen orientierten Kategorie. Die Implikationen dieser Revolution waren immens. Die Produktionsgrenze verlor an Schärfe; so gut wie alles, wofür jemand zu zahlen bereit war oder was sich erfolgreich als wertschaffend bezeichnen ließ – etwa Finanzleistungen, um nur ein Beispiel zu nennen –, galt plötzlich als produktiv. Und da fortan bestimmte ökonomische Akteure mit ihrer außergewöhnlichen »Produktivität« prahlen konnten, öffnete dies der wachsenden Ungleichheit Tür und Tor.

Wie wir in Kapitel 3, das sich mit der Entwicklung volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen befasst, sehen werden, wirkt der Gedanke von der Produktionsgrenze nach wie vor auf das Konzept des Outputs. Nur dass sich diese neue Grenze erheblich von ihren Vorgängern unterscheidet. Heute trifft man die Entscheidung darüber, was in volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Wert konstituiert, aufgrund einer Mischung mehrerer Elemente: alles, was sich auspreisen und legal austauschen lässt; politisch pragmatische Entscheidungen wie etwa das Entgegenkommen gegenüber technologischen Veränderungen in der Computerindustrie oder der geradezu peinlichen Größe des Finanzsektors; die praktische Notwendigkeit, die Gesamtrechnung auch in sehr großen und komplexen modernen Ökonomien überschaubar zu halten. Das ist alles gut und schön, aber der Umstand, dass die Debatte um die Produktionsgrenze nicht mehr ausdrücklich geführt und auch nicht mehr offen mit Vorstellungen über den Wert in Verbindung gebracht wird, ermöglicht es wirtschaftlichen Akteuren, sich durch beharrliches Lobbying in die Produktionsgrenze zu manövrieren. So rechnet man, kaum dass es jemand bemerkt, ihre wertextrahierenden Aktivitäten ins Bruttosozialprodukt mit ein.

Kapitel 4, 5 und 6 gehen dem Phänomen der Finanzialisierung nach: dem Wachstum des Finanzsektors und der Verbreitung finanzieller Praktiken und Haltungen in der Realwirtschaft. In Kapitel 4 betrachte ich die Herausbildung des Finanzsektors als wesentlichen Wirtschaftssektor und seine Wandlung vom – allem Dafürhalten nach – größtenteils unproduktiven zum größtenteils produktiven Sektor. Bis in die 1960er Jahre hinein galten finanzielle Aktivitäten für wirtschaftliche Gesamtrechnungen nicht als wertschaffend, sie transferierten lediglich existierende Werte, was sie außerhalb der Produktionsgrenze platzierte. Heute herrscht eine grundlegend andere Sicht. In ihrer gegenwärtigen Inkarnation macht die Finanzwelt der allgemeinen Meinung nach Profite aus Dienstleistungen, die mittlerweile als produktiv eingestuft sind. Ich gehe dem Wie und Warum dieser außergewöhnlichen Umdeklarierung nach und stelle die Frage, ob finanzielle Dienstleistungen tatsächlich zu einer dem Wesen nach produktiven Aktivität geworden sind.

In Kapitel 5 gehe ich der Entwicklung des »Asset-Management-Kapitalismus« nach, der Frage also, wie der Finanzsektor über die Banken hinaus zu einer unüberschaubaren Asset-Management-Industrie aus Finanzintermediären expandierte, die sich mit Vermögens- beziehungsweise Fondsverwaltung befassen. Rechtfertigen die Rolle dieser Intermediäre und die tatsächlichen Risiken, die sie eingehen, die Gewinne, die sie einfahren? Ich möchte mit anderen Worten das Ausmaß infrage stellen, in dem Fondsmanagement und Private Equity (außerbörsliche Beteiligungen) zur produktiven Wirtschaft beitragen. Außerdem stelle ich die Frage, ob es eine Finanzreform heute ohne eine ernsthafte Debatte darüber geben kann, ob Aktivitäten auf dem Finanzsektor richtig klassifiziert sind – geht es hier, wie ich meine, um Renten oder um Profite? – und wie wir diese Unterscheidung angehen sollten. Wenn das System unserer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen die Wertextraktion genauso belohnt wie die Wertschaffung, hilft uns das ja vielleicht dabei, die Dynamik der Wertvernichtung zu verstehen, die ein wesentliches Merkmal der Finanzkrise war.

Vor dem Hintergrund dieser Akzeptanz finanzieller als produktiver Aktivitäten nimmt Kapitel 6 sich die Finanzialisierung der gesamten Wirtschaft vor. Auf der Jagd nach dem schnellen Ertrag wirken kurzfristige Finanzierungen seit langem schon auf die Industrie: Unternehmen werden heute nach dem Prinzip der Maximierung des Shareholder-Value (MSV) geführt. MSV kam in den 1970ern auf als Versuch, die Performance der Unternehmen zu beleben, indem man die Schaffung von Wert für die Aktionäre zum wesentlichen Sinn und Zweck der Unternehmung erklärte. Meine Argumentation wird jedoch dahin gehen, dass die MSV dem nachhaltigen Wachstum der Wirtschaft geschadet hat, nicht zuletzt deshalb, weil sie den kurzfristigen Gewinn der Aktionäre über die langfristigen Gewinne des Unternehmens stellt – eine Entwicklung, die eng verbunden ist mit dem wachsenden Einfluss von Fondsmanagern, denen es vorrangig um Erträge für sich und ihre Kundschaft geht. Dem Prinzip der MVP liegt die Vorstellung des Aktionärs als größtem Risikonehmer zugrunde, womit ihm die großen Gewinne zustehen, die er immer wieder verbuchen kann.

Da das Risiko immer wieder zur Rechtfertigung der Gewinne von Investoren herangezogen wird, beschäftigt Kapitel 7 sich mit anderen Arten von Wertextraktion im Namen des Risikos. Ich befasse mich in diesem Kapitel mit der Art von Risikonahme, die die Voraussetzung für radikale technologische Innovation ist. Innovation ist zweifelsohne die riskanteste und unsicherste Aktivität im Kapitalismus: Die meisten Versuche schlagen fehl. Die Frage ist nur: Wer geht das Risiko ein? Und wie sollten die Anreize aussehen, die dafür zu schaffen sind? Ich nehme mir die gegenwärtige verzerrte Sicht des Innovationsnarrativs vor, die die Risikonahme des öffentlichen Sektors ignoriert und den Staat lediglich in der Rolle des Förderers und Risikominderers für den privaten Sektor sieht. Resultat dieser Auffassung sind politische Entscheidungen wie etwa die Reform der Schutz- und Urheberrechte, die die Macht der derzeitigen Inhaber dieser Pfründe gestärkt hat, was nicht nur der Innovation an sich entgegensteht, sondern auch für ein »unproduktives Unternehmertum« sorgt.20 Ausgehend von meinem Buch Das Kapital des Staates werde ich aufzeigen, wie Unternehmer und Risikokapitalisten mithilfe der »Innovation« zum dynamischsten Element des modernen Kapitalismus hochstilisiert wurden und sich seither als »Wohlstandsschöpfer« gerieren. Ich werde dieses Narrativ dekonstruieren und zeigen, wie falsch es unterm Strich ist. Konzepte wie »Plattformen« und der damit verbundene Gedanke der Sharing-Economy, die man in jüngster Zeit als Beispiele für wertschaffende Innovationen heranzieht, haben weniger mit echter Innovation zu tun als damit, Wertextraktion durch die Einnahme von Renten zu ermöglichen.

An das falsche Innovationsnarrativ anknüpfend, stelle ich in Kapitel 8 die Frage, warum der öffentliche Sektor immer als träge, langweilig, bürokratisch und unproduktiv dargestellt wird. Woher kommt diese Darstellung, und wer profitiert davon? Meine Argumentation geht dahin, dass dieselben Mechanismen, die den Finanzsektor produktiv gemacht haben, den öffentlichen Sektor unproduktiv erscheinen ließen, und zwar in ein und demselben Zug. Die moderne Ökonomie degradiert den Staat zum Nothelfer im Falle eines Marktversagens; mit der aktiven Schaffung und Gestaltung von Märkten hat er diesem Denken nach nichts mehr zu tun. Die wertschaffende Rolle des öffentlichen Sektors, so behaupte ich, wird lange schon unterschätzt. Die heute vorherrschende Ansicht, die ihren Ursprung in der heftigen Reaktion gegen den Staat in den 1980er Jahren hat, wirkt sich auf das Selbstbild des Staates aus und macht ihn zum übervorsichtigen Zauderer, der sorgsam darauf achtet, nicht zu weit zu gehen aus Angst vor dem Vorwurf, der Innovation im Wege zu stehen oder durch Begünstigung Sieger zu bestimmen. Wenn ich der Frage nachgehe, warum die Aktivitäten des öffentlichen Sektors nicht im BSP auftauchen, frage ich damit auch, warum das eine Rolle spielen sollte, und versuche eine alternative Sicht öffentlichen Werts zu umreißen.

Nur, so mein Schluss in Kapitel 9, durch eine offene Debatte über den Wert, über seine Quellen und die Bedingungen, die ihm zuträglich sind, können wir dazu beitragen, unsere Ökonomien wieder in eine Richtung zu steuern, die mehr echte Innovation und weniger Ungleichheit produziert. Nur so lässt sich dafür sorgen, dass sich der Finanzsektor tatsächlich auf die Förderung der Wertschaffung in der Realwirtschaft konzentriert. Kritik an Spekulation und kurzfristiger Wertextraktion zu üben genügt ebenso wenig, wie ein progressiveres Steuersystem zu fordern, um den Reichtum aufs Korn zu nehmen. Diese Kritik muss auf einem neuen Diskurs um die Wertschaffung gründen, andernfalls werden Reformen so wenig Wirkung zeigen wie bisher und sind ein leichtes Ziel für die Lobby der sogenannten »Wohlstandsschöpfer«.