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Mariana Mazzucato

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Beschreibung

Was wäre, wenn die gleiche Innovationskraft, die vor 50 Jahren die Menschheit auf den Mond brachte - die große Ziele setzt und ebensolche Risiken eingeht – auch auf die Herausforderungen unserer Gegenwart angewendet würde? Wir müssen weg vom Schubladendenken, nach dem der Staat das Geld gibt und die Privatwirtschaft kreativ ist, sagt die Starökonomin Mariana Mazzucato. Stattdessen müssen wir sicherstellen, dass Unternehmen, Gesellschaft und Regierung ein gemeinsames Ziel ins Auge fassen – mit geteiltem Risiko und geteilter Belohnung! Mazzucatos Zukunftsformel ist radikal, aber dank ihr können wir dem Klimawandel, der Ungleichheit oder bedrohlichen Krankheiten entgegentreten. »Mariana Mazzucato bietet etwas, das sowohl breit gefächert als auch pointiert ist: eine fesselnde neue Geschichte darüber, wie man eine wünschenswerte Zukunft schaffen kann.« New York Times

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Mariana Mazzucato

MISSION

Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft

Aus dem Englischen von Bernhard Schmid

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Was wäre, wenn die gleiche Innovationskraft, die vor 50 Jahren die Menschheit auf den Mond brachte - die große Ziele setzt und ebensolche Risiken eingeht – auch auf die Herausforderungen unserer Gegenwart angewendet würde? Wir müssen weg vom Schubladendenken, nach dem der Staat das Geld gibt und die Privatwirtschaft kreativ ist, sagt die Starökonomin Mariana Mazzucato. Stattdessen müssen wir sicherstellen, dass Unternehmen, Gesellschaft und Regierung ein gemeinsames Ziel ins Auge fassen – mit geteiltem Risiko und geteilter Belohnung! Mazzucatos Zukunftsformel ist radikal, aber dank ihr können wir dem Klimawandel, der Ungleichheit oder bedrohlichen Krankheiten entgegentreten.»Mariana Mazzucato bietet etwas, das sowohl breit gefächert als auch pointiert ist: eine fesselnde neue Geschichte darüber, wie man eine wünschenswerte Zukunft schaffen kann.« New York Times

Vita

Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value sowie Direktorin des Institute for Innovation and Public Purpose am University College London. Sie berät politische Entscheidungsträger in aller Welt zu Fragen eines smarten und nachhaltigen Wachstums, unter anderem auch die EU, die OECD und die Vereinten Nationen sowie zahlreiche Regierungen. 2020 erhielt sie nach vielen anderen internationalen Auszeichnungen den John von Neumann Award. In ihrer Rolle als Sonderberaterin des EU-Kommissars für Forschung, Wissenschaft und Innovation verfasste sie einen wirkungsvollen Bericht über missionsorientierte Forschung und Innovation in der Europäischen Union.

2014 hat Mariana Mazzucato ihr viel beachtetes Buch Das Kapital des Staates veröffentlicht, 2019 bei Campus dann den sogar vom Papst empfohlenen Titel Wie kommt der Wert in die Welt?.

Für alle die, die sich dem Ziel verschrieben haben, öffentlichen Zweck und Gemeinwohl ins Zentrum unserer Wertschöpfung zu rücken

Inhalt

Vorwort

IMISSION MIT STARTVERBOT — Was dem nächsten Mondflug im Wege steht

Kapitel 1Mission und Zweck

Kapitel 2Der Kapitalismus in der Krise

Kapitel 3Schlechte Theorie, schlechte Praxis: Fünf Mythen, die dem Fortschritt im Wege stehen

IIMISSION POSSIBLE — Was es zur Realisierung unserer kühnsten Ambitionen braucht

Kapitel 4Lehren aus Apollo: Der Mondflug als Leitbild zur Veränderung

IIIMISSIONEN IN AKTION — Welche großen Herausforderungen wir heute angehen sollten

Kapitel 5Höhere Ziele: Missionsorientierte Politiken auf der Erde

IVDIE NÄCHSTE MISSION — Ein Neuentwurf der Wirtschaft und unserer Zukunft

Kapitel 6Gute Theorie, gute Praxis: Eine neue politische Ökonomie

Schlussfolgerung: Die Veränderung des Kapitalismus

Dank

ANHANG

Abbildungen und Tabellen

Anmerkungen

Register

Vorwort

Während ich dieses Buch schreibe, befinden wir uns inmitten der COVID-19-Pandemie, die die Gesellschaft weltweit – jeden Einzelnen von uns – vor enorme Herausforderungen stellt. Die Bezwingung der Pandemie bedarf immenser Investitionen an materiellen wie sozialen Gütern und Dienstleistungen – vom Wettlauf um die Entwicklung von Impfstoffen, effektiver Heilmethoden, persönlicher Schutzausrüstung (PSA) und geeigneter Methoden des Online-Unterrichts angesichts geschlossener Schulen und Universitäten bis hin zu neuen Ansätzen bei der sozialen Sicherheit. Sie bedarf darüber hinaus eines – wenigstens zu unseren Lebzeiten – nie gekannten Maßes an Zusammenarbeit zwischen Nationen, Bürgern, Behörden und dem privaten Sektor. Im Grunde ist die Pandemie eine Feuerprobe für Staatskapazität und effektive inner- wie zwischenstaatliche Governance, also politische Steuerung.

Die Regierungen rund um den Globus stellen sich dieser Herausforderung auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Erfolg. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Anpassung an die Gegebenheiten ist und bleibt Governance.1 Die Ansätze der einzelnen Länder unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität ihrer Maßnahmen. Viele Regierungen haben nach der Devise »Was immer nötig ist« ungeheure Summen für ihren jeweiligen Ansatz bereitgestellt. Aber wenn wir aus der Finanzkrise von 2008 etwas gelernt haben, dann doch wohl, dass milliardenschwere Finanzspritzen für die Wirtschaft eher wirkungslos bleiben, wenn die damit gestützten Strukturen marode sind. Wir können das nicht noch einmal riskieren.

Können wir ausreichend Schutzausrüstung für unsere Arbeiter an der Pandemiefront produzieren? Genügend Beatmungsgeräte für die Patienten auf den Intensivstationen? Einen Impfstoff, der beim Aufbau von Immunität helfen kann? Können wir Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, das Grundrecht auf ein Minimaleinkommen, auf Nahrung, Obdach, Bildung und Ausbildung garantieren?

Die Antworten auf all diese Fragen hängen von der Organisation unserer Wirtschaft ab – nicht nur von den Summen, mit denen sich ein Problem aus der Welt schaffen lässt. Sie hängen ab von der Struktur, der Leistungsfähigkeit und der Art der Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor. Außerdem erfordern sie die Vision einer anderen Welt, eine Vision der Art von Wachstum, das wir wollen, sowie der entsprechenden Werkzeuge, die uns diese Art von Wachstum ermöglichen. Nur eine solche Vision wird der Wirtschaft die Richtung geben, die jetzt nötig ist.

Vietnams erfolgreicher Umgang mit COVID-19 bietet ein interessantes einschlägiges Beispiel. Obwohl das Land entwicklungstechnisch noch an der »Schwelle« steht, gelang es der dortigen Regierung praktisch über Nacht, die Entwicklung kostengünstiger Testkits anzustoßen. Möglich war das, weil sie in der Lage war, unterschiedliche Teile der Gesellschaft (Universitäten, Militär, Privatsektor, Bürgergesellschaft) für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren und weil sie Forschungs- und Entwicklungsmittel aus dem Gesundheitswesen strategisch einsetzen konnte, was zu einer Fülle innovativer Lösungen führte. Anders gesagt, es gelang dort, mittels höherer Ausgaben der öffentlichen Hand die Investitionstätigkeit im privaten Sektor zu stimulieren.2 Eine effektive Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor schließlich ermöglichte eine rasche Vermarktung der Kits, die dann, über ihren Einsatz in Vietnam hinaus, unter anderem auch nach Europa exportiert wurden. Außerdem vermochte die Regierung, Plakatkünstler und soziale Medien heranzuziehen, ja selbst die Produktion von Briefmarken dazu zu nutzen, mit kreativen Mitteln eine Verhaltensänderung zu fördern.3 In Indien(mit seiner eher durchwachsenen nationalen Bilanz) ist der Erfolg des Bundesstaats Kerala unter anderem das Ergebnis langfristiger Investitionen in das Gesundheitswesen (man denke an die nach dem Ausbruch des – wie COVID-19 von Tieren übertragenen – Nipah-Virus 2018/19 eingeführten Protokolle) und eines erfolgreichen Partnerschaftsmodells zwischen staatlichen Gesundheitsdiensten und privaten Anbietern.4 Getragen von einem hohen Maß an hart erarbeitetem Vertrauen beim Bürger, setzte die Behördenmaschinerie, unter Mitwirkung von Selbsthilfegruppen, zügig scharfe Restriktionen um, während man sich gleichzeitig um besonders gefährdete Gruppen, wie etwa Wanderarbeiter, zu kümmern begann.5

In vielen anderen Teilen der Welt freilich bietet sich uns ein weit weniger rosiges Bild. Noch während dieses Buch in Druck geht, sehen sich die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich Problemen gegenüber, die das Ergebnis einer vierzigjährigen Aushöhlung staatlicher Regierungs- und Verwaltungsfähigkeit sind. Der Ideologie hinter dieser Entwicklung zufolge hat der Staat ins zweite Glied zu treten und nur dann einzugreifen, wenn es etwas zu reparieren gibt. Dieses Credo, das die Fähigkeit des Staats, effektiv zu handeln, herabsetzt und die Privatisierung fördert, begünstigt das Outsourcing staatlicher Kompetenzen an den privaten Sektor ebenso gnadenlos wie die abwegige Konzentration auf ein statisches Messen von Effizienz,6 was den Staat, in seinen Optionen beschnitten, sich allzu oft an unrealistische technische Allheilmittel – wie künstliche Intelligenz oder »smarte Städte« – klammern lässt. Dies wiederum hatte einen Rückgang der Investitionen in öffentliche Fähigkeiten zur Folge, einen Verlust des institutionellen Gedächtnisses sowie eine erhöhte Abhängigkeit von Consultingfirmen, die von Milliardenaufträgen der öffentlichen Hand profitieren.

Im Vereinigten Königreich vergab der Staat allein 2018 im Gesundheitsbereich Aufträge in Höhe von 9,2 Milliarden Pfund an den privaten Sektor.7 Über 84 Prozent aller Betten im Pflegebereich stehen in privaten Heimen, 50 000 davon wiederum in solchen, die von Privatkapitalgesellschaften geführt werden, die letztlich nicht an der Fürsorge, sondern am Profit interessiert sind. Begleitet wurde dieses Outsourcing von Kürzungen bei den Investitionen der öffentlichen Hand. Der Gesamtwert der öffentlichen Mittel im britischen Gesundheitswesen – die den Behörden vor Ort die Leistung wichtiger gesundheits- und Vorsorgemaßnahmen ermöglichen – ist effektiv gesunken, von 4 Milliarden Pfund 2015/16 auf 3,2 Milliarden Pfund für den Zeitraum 2020/21;8 das ist ein Rückgang von nahezu 900 Millionen Pfund. Erst 2020, als im Vereinigten Königreich COVID-19 zu wüten begann, machte man den jährlichen Kürzungen öffentlicher Mittel im Gesundheitssektor ein Ende – was nichts daran ändert, dass sie pro Kopf gerechnet effektiv immer noch um 22 Prozent niedriger lagen als 2015/16.9 Zu diesem Zeitpunkt jedoch hatten die Kürzungen die Möglichkeiten der lokalen Gesundheitsversorgung erheblich in Mitleidenschaft gezogen und damit die Effektivität der Reaktion auf COVID-19 vor Ort kompromittiert.10

Aber das Mantra von der größeren Effizienz ist genau das und nichts weiter: ein Mantra. Als man im Vereinigten Königreich den internationalen Wirtschaftsdienstleister Deloitte mit dem Management der COVID-19-Tests beauftragte, gingen der Firma die Ergebnisse verloren. Das erinnerte fatal an das eklatante Versagen von G4S, einem anderen Privatunternehmen, das von der öffentlichen Hand damit beauftragt wurde, die Sicherheit der Olympischen Spiele 2012 in London zu gewährleisten. Damals musste das Militär einspringen, um die Sicherheit zu garantieren. Ähnlich belegte man SERCO, eine private Firma, der es regelmäßig gelingt, Outsourcing-Aufträge an Land zu ziehen, mit einem Bußgeld, weil sie den Staat mit zu hohen Rechnungen für elektronische Fußfesseln für Strafgefangene betrog.11 Und dennoch bekam das Unternehmen wieder einen Auftrag im Bereich Test und Infektionsverfolgung über 45,8 Millionen Pfund – gerade mal ein Jahr nach einem Bußgeldbescheid von über 1 Million Pfund wegen diverser Verstöße in eben diesem Bereich, etwa gegen die Datenschutzregeln (man hatte versehentlich die E-Mail-Adressen neu angeworbener Kontaktverfolger veröffentlicht).

Die US-amerikanische Bundesverwaltung ereilte ein ähnliches Schicksal. So erarbeitete Washington 2007 einen Plan zur Entwicklung kostengünstiger tragbarer Beatmungsgeräte für den Einsatz in Notfallsituationen. Anfang 2020, ganze dreizehn Jahre später, stand die Lieferung dieser Geräte noch immer aus, hauptsächlich, weil man ganz auf Outsourcing gesetzt hatte. Die COVID-19-Krise hat die Konsequenzen dieses Abbaus staatlicher Kompetenzen auf dramatische Weise ins Licht gerückt. Genaugenommen verzeichnete bereits die Regierung Obama 2010 peinliche Rückschläge durch IT-Probleme beim Roll-out ihrer gemeinhin als »Obamacare«12 bezeichneten Krankenversicherungsreform. Viele hatten erst einmal entweder keinen Zugang zur Website HealthCare.gov oder waren aus anderen Gründen nicht in der Lage, ihre Anträge auszufüllen. Die Folge war eine Welle negativer Publicity für Obamacare, die ihre Gegner sofort weidlich ausnutzten. Hätten die Bundesbehörden selbst über mehr technische Kompetenz verfügt, hätte man in dieser Richtung mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger Schwierigkeiten gehabt und wäre nicht derart unter Beschuss geraten. So braucht es auch nicht weiter zu überraschen, dass sowohl 2013 als auch 2018 ausgerechnet SERCO – all den peinlichen Problemen im Vereinigten Königreich zum Trotz – den Zuschlag für Aufträge bei der Antragsabwicklung für Obamacare bekam. Die Kosten dafür beliefen sich auf 1,2 Milliarden US-Dollar 2013 und weitere 900 Millionen US-Dollar 2018.13

Outsourcing an sich ist nicht das Problem, solange der Staat seine Fähigkeiten beibehält, seinen Weitblick, seine Bereitschaft, auf etwaige Risiken reagieren zu können, solange sich, mit anderen Worten, solche »Partnerschaften« mit dem privaten Sektor tatsächlich am Interesse der Öffentlichkeit orientieren. Die Ironie bei alledem ist, dass der Umfang des Outsourcings der Fähigkeit des Staats zur Strukturierung von Verträgen geschadet hat. Im März 2020 waren, fast wie in einem Echo der amerikanischen Probleme, auch die britischen Behörden nicht in der Lage, die ihren Schätzungen zufolge benötigte Zahl von Beatmungsgeräten bereitzustellen.14

Eine wesentliche Lektion aus alledem ist die, dass in Krisensituationen der staatliche Eingriff nur dann wirksam ist, wenn der Staat über die entsprechende Handlungsfähigkeit verfügt. Anstatt als Retter bei Marktversagen einzuspringen und sich ansonsten auf das Outsourcing zu konzentrieren, sollte der Staat in die Entwicklung seiner Muskelmasse investieren, seiner Fähigkeiten in entscheidenden Bereichen wie etwa der produktiven Kapazität (dem maximalen Output einer Wirtschaft), in die Entwicklung seiner Kompetenzen im Bereich Beschaffung, einer tatsächlich im öffentlichen Interesse liegenden öffentlich-privaten Zusammenarbeit sowie den sachverständigen Umgang mit Daten (Schutz der Privatsphäre und Sicherheit). Versäumt er dies, wird er auch nicht in der Lage sein, Zielvorgaben für die hinzugezogenen Unternehmen zu erarbeiten – Vorgaben, die es diesen ermöglichen, sich problemlos auf die jeweilige Agenda einzustellen.15

Dieses Buch fußt auf der Prämisse, dass wir vom Weg abgekommen sind und auf keinen Fall weiterhin dieselben Fehler machen dürfen. Die Welt sieht sich heute vor einer Fülle von Aufgaben – im Gesundheitssektor, durch den Klimawandel bis hin zu denen im Umgang mit digitalen Technologien zum Schutz der Privatsphäre. So haben 2015 gleich 193 Länder eine Absichtserklärung unterzeichnet, bis 2030 siebzehn ehrgeizige Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) anzugehen – das Spektrum der Probleme reicht von der Armut bis zur Verschmutzung der Weltmeere. Um diesen Problemen zu begegnen, bedarf es eines Ansatzes zum Aufbau öffentlich-privater Partnerschaften, der sich vom bisherigen grundlegend unterscheidet. Dazu wiederum bedarf es eines fundamentalen Umdenkens hinsichtlich der Rolle des Staates und der Art von Kompetenzen und Fähigkeiten, die er in seiner neuen Rolle braucht. Noch entscheidender jedoch hängt es von der Art von Kapitalismus ab, die wir wollen, wie wir die Beziehungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor regeln und wie wir Regeln, Beziehungen und Investitionen so strukturieren, dass sie zum Wohle des ganzen Planeten ausfallen und dabei obendrein die Grenzen respektieren, die er uns setzt. Es geht hier, so die Prämisse des Buches, um die Entwicklung einer lösungsorientierten Wirtschaft, die sich auf die anspruchsvollsten unserer Ziele konzentriert – Ziele, die für den Planeten und seine Menschen auch tatsächlich zählen. Es geht hier nicht darum, das ehrgeizige Konzept des Mondflugs beziehungsweise Moonshot als ein im einen oder anderen Silo betriebenes Steckenpferd zu beschwören. Es geht vielmehr darum, den Staat von innen her zu verändern und seine Systeme – seien es die für Gesundheit, Bildung oder Umwelt – zu stärken, während man gleichzeitig der Wirtschaft eine neue Ausrichtung gibt.

Um wieder auf den rechten Weg zu kommen, müssen wir uns einmal mehr fragen, welche Rolle der Staat in der Wirtschaft spielen sollte und welcher Instrumente, Strukturen und Fähigkeiten er dazu bedarf, und das nicht nur innerhalb der öffentlichen Organisationen, sondern auch hinsichtlich einer symbiotischen Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Organisationen, auf dass diese – Risiken wie Früchte teilend – auf die Lösung der wichtigsten Probleme unserer Zeit hinarbeiten. In diesem Sinne geht es letztlich um ein Überdenken des Kapitalismus selbst.

Die Herausforderungen sind dringlich. Von ihrer Bewältigung hängen Menschenleben ab – und die Gesundheit unseres Planeten, der Erde.

I

MISSION MIT STARTVERBOT

Was dem nächsten Mondflug im Wege steht

Kapitel 1Mission und Zweck

Im September 1962 verkündete Präsident John F. Kennedy in seiner legendären Rede an der Rice University im texanischen Houston Amerikas Aufbruch zum »kühnsten, gefährlichsten und größten Abenteuer, zu dem der Mensch je aufgebrochen« war: einen Menschen auf den Mond zu bringen und sicher wieder zurück. Und mit der Versicherung, man würde dies »noch vor dem Ende dieses Jahrzehnts« schaffen, setzte er auch gleich noch einen zeitlichen Rahmen für das ehrgeizige Ziel.1 Acht Jahre später, am 20. Juli 1969, landeten zwei Amerikaner auf dem Mond.

Zum Zeitpunkt von Kennedys Rede hinkten die USA dem Raumfahrtprogramm der Sowjetunion noch weit hinterher. Diese hatte im Oktober 1957 der Welt mit ihrem Sputnik, dem ersten künstlichen Erdtrabanten überhaupt, einen gewaltigen Schock versetzt. Im April 1961 dann hatte Juri Gagarin als erster Mensch an Bord der Raumkapsel Wostok 1 die Erde im Weltraum umkreist. Der Kalte Krieg hatte einen ersten Höhepunkt erreicht, und man machte sich ernsthaft Sorgen angesichts der beängstigenden Vorstellung, die Sowjetunion könnte dem Westen, allen voran den Amerikanern, technisch und militärisch den Rang abgelaufen haben. Kennedy hatte bereits 1960, während seiner Wahlkampagne, von einer »Raketenlücke« zwischen den USA und der UdSSR gesprochen,2 eine Behauptung, die sich auf Schätzungen von CIA und Pentagon gründete, denen zufolge die Sowjetunion über mehr Interkontinentalraketen verfügte als die USA. Nachdem Kennedy Präsident geworden war, stellte sich heraus, dass die USA über mehr Raketen dieses Typs verfügten. Der Drang, die Sowjets zu schlagen, hatte somit eine der größten Bravourleistungen der Menschheitsgeschichte angestoßen.

Das Apollo-Programm, wie man es schließlich nennen sollte, kostete den amerikanischen Staat 28 Milliarden Dollar – das sind 283 Milliarden nach dem Dollar von 2020.3 Das entsprach 4 Prozent des damaligen US-amerikanischen Bundeshaushalts; insgesamt beschäftigte das Programm – an Universitäten sowie bei NASA und privaten Zulieferern – über 400 000 Menschen. Die Kosten spielten dabei jedoch keine Rolle; es ging einzig um die Erfüllung der gestellten Aufgabe. Kennedy scheute sich noch nicht einmal, die enorme Zeche öffentlich anzusprechen; er wies in seiner Rede sogar ausdrücklich darauf hin, dass »uns das alle eine Menge Geld kosten wird«. Der Raumfahrtetat, so sagte er, steige von Jahr zu Jahr und belaufe sich 1962 bereits auf 5,4 Milliarden US-Dollar jährlich – »eine schwindelerregende Summe, aber immer noch etwas weniger, als wir jedes Jahr für Zigaretten und Zigarren ausgeben«. Kämen diese Summen mit einer Erfolgsgarantie? Mitnichten. Er stellte vielmehr klar, dass niemand mit Sicherheit sagen könne, was die Amerikaner letztlich für ihr Geld bekommen würden; er sprach von einem »Akt des Glaubens und der Vision, weil wir nicht wissen, welcher Nutzen uns daraus entsteht«.

Wie sehr unterscheidet sich das doch von dem, was wir heute über die Kosten unserer öffentlichen Leistungen und die Implikationen jährlicher Haushaltsdefizite und Schulden so hören – kein Wort von den ehrgeizigen Zielen oder den großartigen Resultaten, die der Staat damit zu erreichen versucht. Wenn wir in einem Bereich mehr ausgeben, so die landläufige Annahme, dann müssen wir eben in einem anderen sparen. Dies könnte nicht weiter entfernt sein von der Art und Weise, wie man den Weltraum erforscht hat, wo alle Energie und Aufmerksamkeit allein auf das Ergebnis – die erfolgreiche Mondlandung – und die dafür erforderlichen Investitionen und Innovationen konzentriert waren.

Kennedy hatte vorhergesehen, dass die ehrgeizige Mission zu »Externalitäten« – sprich: Auswirkungen auf andere Bereiche – führen würde, zu technischen und organisatorischen Innovationen, die zu Beginn unmöglich abzusehen waren. So ließe sich etwa sagen, dass die Technik, die nötig war, um Daten in Echtzeit zu verarbeiten und diesen Prozess im Computer des Mondmoduls unterzubringen, zu einem Gutteil für die Entstehung von Software, wie wir sie heute kennen, verantwortlich war.4 Dasselbe gilt für neue Verwaltungsmethoden, die große, komplexe Probleme in kleinere Portionen aufgegliederten. Boeing hat dieses Modell später beim Bau der 747, des ersten Jumbo-Jets der Welt, kopiert.

Dieses Buch möchte dazu ermutigen, dasselbe Maß an Kühnheit und Experimentierfreude auf die größten Herausforderungen unserer heutigen Zeit zu verwenden, von gesundheitlichen – wie etwa Pandemien – über Umweltprobleme – siehe die Erderwärmung – bis hin zur Bildung, der Kluft durch fehlende Chancen- und Leistungsgerechtigkeit, die nicht zuletzt auf den ungleichen digitalen Zugang zurückzuführen ist. Diese »vertrackten« Probleme bedürfen nicht lediglich technischer, sondern darüber hinaus auch organisatorischer und politischer Innovationen. Sie sind so immens wie komplex und sperren sich der einfachen Lösung. Wir müssen sie durch die Resultate politischer Entscheidungen lösen; es genügt nicht länger, sich auf sie einzustellen. Und das wiederum erfordert mehr als nur eine nominelle Zusammenarbeit zwischen öffentlichem und privatem Sektor; es bedarf vielmehr eines fundamentalen Ausscherens aus dem gegenwärtigen Status quo. Es gilt, mit anderen Worten, gemeinsam in langfristige Lösungen zu investieren und diesen Prozess durch politische Entscheidungen so zu steuern, dass er sich auch tatsächlich im öffentlichen Interesse vollzieht.

Die Mondlandung war eine Übung in Problemlösung von gigantischen Ausmaßen – unter Federführung des öffentlichen Sektors und in enger Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen unterschiedlichster Größe. Auf diese Weise löste man Hunderte von Einzelproblemen. Es bedurfte dazu der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den unterschiedlichsten Sektoren, vom Computerwesen über Elektrotechnik und Ernährungswissenschaft bis hin zur Materialforschung. Der Staat nutzte seine Kaufkraft zur Entwicklung von kurzen, klaren und ungeheuer ambitionierten Beschaffungsaufträgen. Vermochte der private Sektor nicht zu liefern, wie das in einigen Fällen durchaus vorkam, ließ die NASA nicht locker und bezahlte erst bei Lieferung der erforderlichen Lösung. Der Erfolgsfall auf der anderen Seite erlaubte den Firmen, mittels Belieferung der neuen, durch die staatlichen Einkäufe erforderlich gewordenen Märkte zu wachsen und mittels zweckorientierter Strategien zu skalieren.

Was alle diese Anstrengungen integrierte, was ihnen eine Richtung gab, war die gemeinsame, vom Staat definierte, dirigierte und von zahlreichen Beteiligten umgesetzte Mission. Was wir heute dringend brauchen, ist ein »missionsorientierter« Ansatz – Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor zur Lösung sozialer Schlüsselprobleme. Stellen Sie sich nur mal vor, mittels öffentlicher Beschaffungspolitik so viel Innovation – sozialer, organisatorischer und technologischer Art – wie nur möglich zu stimulieren, um die unterschiedlichsten Probleme zu lösen, von der Messerkriminalität in den Städten bis hin zur Einsamkeit allein lebender Senioren.

Selbstverständlich lassen sich die aus der Mondlandung gelernten Lektionen nicht einfach eins zu eins auf jede beliebige Herausforderung übertragen. Nichtsdestoweniger unterstreichen sie die Notwendigkeit, politische Alltagsentscheidungen einmal mehr mit Ehrgeiz und Vision zu erfüllen. Und es darf dabei nicht bei kühnen Statements bleiben. Wir müssen an den öffentlichen Sektor glauben und in seine Kernkompetenzen investieren, zum Beispiel seine Fähigkeiten im gegenseitigen Miteinander mit anderen Wertschöpfern in der Gesellschaft und bei der Ausfertigung von Verträgen, die auch tatsächlich im Interesse der Öffentlichkeit sind. Es gilt, für effektivere Schnittstellen zu Innovationen zu sorgen, und das über das ganze gesellschaftliche Spektrum hinweg; wir müssen überdenken, wie Politik im Einzelnen zu gestalten ist; wir müssen ändern, wie wir geistiges Eigentum verwalten; und schließlich gilt es, Forschung und Entwicklung dazu einzusetzen, Intelligenz über Universitäten, Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft zu verteilen. Das bedeutet, den öffentlichen Zweck wieder zum Prinzip unserer Politik zu machen, auf dass sie wieder einen greifbaren Nutzen für die Bürger bringt und Ziele setzt, die für den Bürger auch tatsächlich wichtig sind – mit anderen Worten, es sollte dabei eher das öffentliche Interesse als der Profit eine Rolle spielen.5 Es bedeutet auch, den Zweck wieder in den Mittelpunkt einer verantwortungsvollen Unternehmensführung (Corporate Governance) zu stellen und die Bedürfnisse und Interessen nicht nur von Aktionären, sondern von allen ökonomischen Stakeholdern – wie Arbeitnehmern und kommunaler Einrichtungen – in die Überlegungen miteinzubeziehen.

Vom Moonshot ist hier deshalb die Rede, weil es um die Setzung von Zielen geht, die ehrgeizig und inspirierend genug sind, um auf zahlreiche Sektoren und Akteure der Wirtschaft als Katalysatoren für innovatives Denken wirken zu können. Es geht, mit anderen Worten, darum, sich eine bessere Zukunft vorzustellen und öffentliche wie private Investitionen unter der Maßgabe eben dieser Zukunft zu organisieren. Dies ist es, was den Menschen auf den Mond und wieder zurückgebracht hat.

Die Sache hat allerdings auch einen Haken.

Der landläufigen Meinung nach ist der Staat eine klobige bürokratische Maschine, die zur Innovation schlicht nicht fähig ist; seine Rolle besteht günstigstenfalls im Reparieren, Regulieren und Umverteilen; er korrigiert Märkte, wenn sie aus dem Ruder laufen. Dieser Ansicht nach sind Staatsdiener weniger kreativ und risikofreudig als etwa die Unternehmer aus dem Silicon Valley; entsprechend sollte der Staat lediglich für Chancengleichheit sorgen und ansonsten aus dem Weg gehen und das Spielfeld den Risikonehmern vom privaten Sektor überlassen.

Eine These dieses Buches ist, dass wir uns über die Schlüsselprobleme unserer Wirtschaften erst hinausbewegen können, wenn wir uns von dieser beschränkten Auffassung befreien. Missionsorientiertes Denken von der Art, wie ich es hier umreißen möchte, kann uns bei der Neustrukturierung der gegenwärtigen Form des Kapitalismus helfen. Das Ausmaß dieser Neuorientierung verlangt sowohl ein neues Narrativ als auch ein neues Vokabular für unsere Nationalökonomie; der Gedanke des öffentlichen Zwecks sollte dabei politischen wie geschäftlichen Entscheidungen als Leitlinie dienen.6 Dazu braucht es Ehrgeiz – es gilt sicherzustellen, dass Verträge, Beziehungen und Öffentlichkeitsarbeit zu einer nachhaltigeren und gerechteren Gesellschaft führen. Und es braucht dazu einen Prozess, der so integrativ wie irgend möglich ist und zahlreiche Wertschöpfer miteinbezieht. Der öffentliche Zweck muss im Mittelpunkt einer kollektiven Wertschöpfung stehen, um für eine bessere Deckung von Wertschöpfung und Wertverteilung zu sorgen. Außerdem sollte Letztere nicht auf eine bloße Umverteilung (ex post) hinauslaufen, sondern auf eine Vorumverteilung (ex ante): auf eine symbiotischere Art von Beziehung, Zusammenarbeit und Teilen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren.

Es ist dabei von wesentlicher Bedeutung, die Mikroeigenschaften des Systems – wie etwa die Governance von Organisationen – mit den Makroschemata des gewünschten Wachstums zu kombinieren. Indem wir die Regelung der Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Sektor unter dem Aspekt des öffentlichen Zwecks überdenken, können wir Wachstum schaffen, das – aufgrund neuer, über die gesamte Wirtschaft verteilter Kompetenzen und Möglichkeiten – sowohl ausgewogener als auch widerstandsfähiger ist. Dies bedeutet freilich auch, von Anfang an den ebenso modischen wie nichtssagenden Begriff der »Partnerschaft« durch aussagekräftigere Kennzahlen zum Erscheinungsbild eines symbiotischen und mutualistischen Ökosystems zu ersetzen, das Risiken und Früchte gleichmäßiger verteilt als bisher. Leider ist in unserer heutigen Zeit diese Beziehung allzu oft parasitärer Art; so ist etwa die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens so strukturiert, dass vom Steuerzahler finanzierte Medikamente für eben diesen Steuerzahler zu teuer sind und Bail-outs in Krisensituationen die Risiken, aber nicht die Gewinne sozialisieren.

Ich bezeichne diese neue Vorgehensweise als missionsorientierten Ansatz. Das bedeutet, der Wirtschaft Ziele zu setzen und dann die Probleme, die zu lösen sind, um diese Ziele zu erreichen, in den Mittelpunkt des Neuentwurfs unseres Wirtschaftssystems zu stellen. Es bedeutet den Entwurf politischer Programme, die unter Einbeziehung von Unternehmen wie von Bürgern über ein breites Spektrum wirtschaftlicher Akteure hinweg Investitionen, Innovation und Zusammenarbeit katalysieren. Es bedeutet, sich zu fragen, welche Art von Märkten wir wollen, und nicht, welche Marktprobleme zu reparieren sind. Es bedeutet, Instrumente wie Kredite, Fördermittel und Beschaffung so einzusetzen, dass sie die innovativsten Lösungen für spezifische Probleme hervorbringen, ob das nun die Reinigung der Weltmeere von Plastikabfällen ist oder die Verringerung der digitalen Kluft. Die falsche Frage ist hier: Wie viel Geld ist da, und was können wir damit tun? Die richtige Frage lautet: Was ist zu tun und wie können wir unsere Budgets so strukturieren, dass wir diese Ziele auch tatsächlich erreichen?

Wir sprechen hier von einer gewaltigen Aufgabe. Wir leben in einer Zeit, in der der Kapitalismus in einer Krise ist und eine mit Mängeln behaftete ideologische Auffassung von der Rolle des Staats unsere Erwartungen hinsichtlich dessen untergraben hat, was er leisten kann – und infolgedessen auch, was andere Akteure in Partnerschaft mit dem Staat leisten können. Aber eine Krisenzeit ist genau der richtige Augenblick, darüber nachzudenken, welche Art von Gesellschaft wir aufbauen wollen und welche Kompetenzen und Kapazitäten es dazu braucht.

Geht es in diesem Buch nun um ein Überdenken des Kapitalismus oder ein Überdenken des Staats? Die Antwort darauf ist: sowohl – als auch. Eine Veränderung des Kapitalismus impliziert eine Veränderung sowohl der Art, wie wir den Staat strukturieren, als auch der Art, wie wir Unternehmen führen und wie öffentliche und private Organisationen interagieren. Einen Sinn für den »Zweck« zum Motor sowohl organisatorischer Governance-Strukturen als auch der Beziehungen zwischen Organisationen zu machen ist der Schlüssel zu einem missionsorientierten Ansatz.

So werden schon seit Jahren Forderungen nach Governance-​Modellen laut, die Unternehmen »zweckorientierter«, weniger im Sinne eines Shareholder- als eines Stakeholder-Kapitalismus agieren lassen. Im Januar 2018 gab Larry Fink, der CEO des Vermögensverwalters BlackRock, seinem Jahresbrief an 500 CEOs anderer Unternehmen den Titel »Sinn für den Zweck«. Er schrieb darin: »Ohne Sinn für den Zweck kann kein Unternehmen, weder ein öffentliches noch ein privates, sein volles Potenzial entfalten. Die wesentlichen Stakeholder werden ihm irgendwann die Betriebsgenehmigung entziehen. Es wird dem kurzfristigen Zwang der Gewinnverteilung erliegen und im Verlauf dieses Prozesses Investitionen in die Entwicklung von Beschäftigten, Innovation und Kapitalaufwendungen opfern, die unabdingbar für ein langfristiges Wachstum sind.«7 Ein Echo dieser Botschaft war anderthalb Jahre später, im August 2019, vom Business Roundtable zu hören, einem Forum von 180 einflussreichen CEOs – darunter die von Apple, Accenture und JPMorgan Chase. In einer Erklärung vertraten die CEOs die Ansicht, dass zur Förderung einer funktionstüchtigeren Form des Kapitalismus Profite breiter, das heißt an alle Stakeholder verteilt werden müssten, auch an Arbeiter, Angestellte und die Gemeinwesen, die die wesentlichen Stakeholder sind.8

Das Problem bei alledem ist, dass sich ungeachtet solcher Rufe nach Veränderung eben doch kaum etwas ändert. Was nicht nur daran liegt, dass die benötigte Veränderung im Kern der Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten selbst ansetzen muss, anstatt einfach aufgepfropft zu werden. Es liegt auch daran, dass ein erneuertes Bewusstsein für Sinn und Zweck nicht nur in die einzelnen Unternehmen, sondern ins Herz der Beziehung zwischen allen Akteuren vordringen muss. Veränderung setzt ein Überdenken der Art und Weise gemeinsamer Wertschöpfung verschiedener wirtschaftlicher Organisationen und Akteure voraus. Ja, dieses Buch konzentriert sich auf dringend benötigte Veränderungen in unseren öffentlichen Einrichtungen. Aber da staatliche Aktivität – direkte Investitionen, indirekte Subventionen, Steuern und Reglements – im Zentrum fast aller Beziehungen steht, kommt ein Überdenken des Staats eben auch einem Überdenken des Kapitalismus gleich.

Obwohl dieses Buch für Theoretiker wie für Praktiker gedacht ist, versteht es sich in erster Linie als Anleitung, wie wir Kapitalismus anders »machen« können. Es ist ein Plädoyer für die Veränderung von Organisationen, Leitungsstrukturen und der konkreten Hebel unserer wirtschaftspolitischen Praxis – der Werkzeuge mit anderen Worten, deren es zum Aufbau einer zweckorientierten Wirtschaft bedarf.

Kapitel 2Der Kapitalismus in der Krise

Der Kapitalismus hatte sich schon festgefahren, bevor 2020 die COVID-19-Pandemie kam. Ihm fehlten – fehlen nach wie vor – die Antworten auf eine ganze Reihe von Problemen, allen voran die Umweltkrise. Von der Erderwärmung bis hin zum Schwinden der Artenvielfalt untergräbt menschliches Tun die Voraussetzungen für soziale und ökologische Stabilität.1 Das gängige Maß an politischem Engagement für eine Abschwächung des Klimawandels garantiert eine Erwärmung der Erdoberfläche um mehr als drei Grad gegenüber vorindustriellen Temperaturen – eine Größenordnung, die breitem Konsens zufolge katastrophale Folgen haben wird.2 Das Artensterben ist um das Hundert- bis Tausendfache der Hintergrundaussterberate gestiegen, was einige Wissenschaftler von einem sechsten Massenaussterben sprechen lässt.3

Statt den Weg nachhaltigen Wachstums zu gehen, hatte der Kapitalismus zur Entstehung von Ökonomien geführt, die für Spekulationsblasen sorgen, das ohnehin schon immens wohlhabende »1 Prozent« weiter bereichern und dabei obendrein den Planeten zerstören. In vielen westlichen Ökonomien und kapitalistischen Ökonomien nach westlichem Muster sind die Realeinkommen mit wenigen Ausnahmen seit mehr als einem Jahrzehnt – in einigen Fällen, wie etwa den USA, seit Jahrzehnten – kaum angestiegen, was die Ungleichheit zwischen Gruppen und Regionen trotz hoher Beschäftigungsrate weiter anwachsen lässt.4 Die Dynamik der Ungleichheit erklärt, warum das Gewinn-Lohn-Verhältnis auf Rekordhöhen gestiegen ist. Zwischen 1995 und 2013 wuchsen die realen Medianeinkommen in Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahresdurchschnitt um 0,8 Prozent gegenüber einer Zunahme der Arbeitsproduktivität um 1,5 Prozent.5 In dem Zeitraum von 1979 bis 2018 stagnierten die Realeinkommen für das 50. und das 10. Perzentil der Einkommensverteilung: Beim 50. Perzentil kam es beim Realeinkommen über den gesamten Zeitraum hinweg zu einer kumulierten Veränderung von 6,1 Prozent, beim 10. Perzentil zu 1,6 Prozent – gegenüber 37,6 Prozent für das 90. Perzentil. In reichen Ländern stieg im privaten Bereich das Kapital-Einkommen-Verhältnis von 200 bis 300 Prozent 1970 auf 400 bis 600 Prozent 2010.6

Diese Ökonomien waren darüber hinaus nach 2008 abhängig von der Droge der quantitativen Lockerung, der Injektion enormer Mengen an Flüssigkapital ins System durch die Zentralbanken – und das bei anhaltender Schwäche von Wirtschaftswachstum und Produktivitätsverbesserung.7 Die Privatverschuldung war wieder auf Niveaus, wie man sie seit den Anfangsjahren des Jahrhunderts nicht mehr gesehen hatte. 2018 erreichte die private Verschuldung in den USA eine Quote von 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 170 Prozent im Vereinigten Königreich, 200 Prozent in Frankreich und 207 Prozent in China – durch die Bank also erheblich höhere Niveaus als die der Jahrhundertwende.8

Dazu leidet ein großer Teil der Wirtschaft unter einer gefährlichen Kombination von niedrigem Investitionsniveau, Kurzfristmanagement und hohen Renditen für Aktionäre und Unternehmenschefs.9 In fortgeschrittenen Volkswirtschaften hat sich das Volumen der Unternehmensinvestitionen kaum wieder auf das von 2008 erholt.10 In den 1980er-Jahren betrug im Vereinigten Königreich das typische Salär eines CEO das Zwanzigfache des Gehalts seiner Durchschnittsbeschäftigten. 2016 betrug die Entlohnung des durchschnittlichen FTSE-100-CEOs das 129-Fache des durchschnittlichen Beschäftigten.11 Das Verhältnis von Dividendenauszahlungen ist im Vereinigten Königreich konstant geblieben, ungeachtet der Profitabilität. Aktienrückkäufe haben im Vereinigten Königreich an Bedeutung gewonnen und gehen hier im letzten Jahrzehnt konsistent über die Neuemission von Papieren hinaus. In den USA belief sich die Gesamtsumme der Ausschüttungen an Aktionäre auf fast 1 Billion US-Dollar und zog damit mit den Spitzenwerten vor der Krise gleich; sie stiegen von etwa 10 Prozent des internen Cashflows in den 1970er-Jahren auf 60 Prozent im Jahr 2015.12

Selbst in autoritären staatskapitalistischen Gesellschaften hat man seine Probleme. Auf China, der führenden autoritären Wirtschaft, lasten nach wie vor die ineffizienten und stark verschuldeten Staatsindustrien, ein Bankensystem mit immensen »Zombie«-​Krediten, eine überalterte Bevölkerung und die immense Aufgabe, die Wirtschaft von einer exzessiven Abhängigkeit von Exporten weg hin zu mehr heimischem Konsum zu führen. Der Fairness halber muss man sagen, dass das Land Fortschritte macht und seine Wirtschaft mit ernsthaftem Ehrgeiz grüner zu machen versucht; allein im derzeitigen Fünfjahresplan sind dafür über 1,7 Billionen US-Dollar vorgesehen. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass eine Planwirtschaft in der Lage sein sollte, die Art kühner Reformen bei der öffentlich-privaten Zusammenarbeit anzugehen, wie dieses Buch sie ins Auge fasst.

Die COVID-19-Krise hat darüber hinaus die fundamentale Anfälligkeit des Kapitalismus enthüllt. So sind etwa Menschen, die in der Gig-Economy tätig sind, in keiner Weise sozial abgesichert. Hohe Niveaus an Unternehmensverschuldung – Schulden, die teils aufgenommen wurden, um Dividenden zu zahlen, eigene Aktien zurückzukaufen und indirekt das Salär der Führungsriege aufzubessern – haben bei vielen Unternehmen praktisch für eine Erschöpfung der Reserven gesorgt. Ihre Strategie, sich auf problematische Wertschöpfungsketten zu verlassen, um Kosten zu sparen und die Verhandlungsposition ihrer Arbeitnehmer vor Ort zu schwächen, erwiesen sich als Achillesferse, als die Pandemie weltweit eine Unterbrechung der Produktion und damit einen erbitterten Wettbewerb selbst bei einfachen Artikeln wie etwa Gesichtsmasken nach sich zog. Einige Regierungen, insbesondere im Vereinigten Königreich und in den USA, hatten ihre Fähigkeiten in einem Maße an den privaten Sektor und Consultings outgesourct, dass sie zu einem effektiven Krisenmanagement schlicht nicht mehr in der Lage waren. Das wiederum führte zu tödlichen Fehlern in einer Situation, wo die Behörden sich vor Engpässen selbst bei einfachster persönlicher Schutzausrüstung sahen und nicht in der Lage waren, ihre Bevölkerung auch nur annähernd ausreichend mit Tests zu versorgen.13 Der Gipfel an Ironie ist bei alledem, dass gerade Regierungen, die sich seit Jahren unter dem Schlagwort der Austerität eingeschränkt hatten, in dem verzweifelten Bemühen, zu tun, »was immer nötig war«, um ihre nationalen Wirtschaften am Leben zu erhalten, praktisch über Nacht ihre Schwäche für Ausgaben der öffentlichen Hand entdeckten und begannen, sich in einem Ausmaß zu verschulden, sprich für Defizite zu sorgen, das früher zum ideologischen Schlaganfall geführt hätte. Hart getroffen vom Einbruch sowohl des Outputs als auch der Nachfrage – zu dem die Regierung in ihrem Bemühen, das Virus zu unterdrücken, selbst beigetragen hatte –, ist das Thatcher-Reagan-Modell für Wirtschaft und Gesellschaft in die Knie gegangen, und die Weltwirtschaft ringt mit einer Depression von historischen Ausmaßen.

Eine träge Weltwirtschaft, unter der besonders die Entwicklungsländer und die weniger reichen Industrienationen zu leiden haben, hat zu einer Verschärfung seit Jahrzehnten schwärender sozialer und politischer Spannungen geführt. Viele Menschen leiden unter existenzieller Unsicherheit, sei es, weil sie Schulden haben, sei es, dass ihre Ersparnisse gerade mal noch für die nächste Monatsmiete reichen.14 Einem Bericht zufolge müssen sich selbst in den USA, der größten Volkswirtschaft der Welt, deren Arbeitnehmerschaft einst der Inbegriff des Wohlstands war, drei von zehn Erwachsenen Geld leihen, um eine unerwartete Ausgabe von 400 Dollar zu begleichen.15

Das einstige Gleichgewicht der Kräfte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hat sich zugunsten Letzterer verschoben – so ist die Beziehung zwischen jemandem, der für Uber fährt, und Uber als multinationalem Unternehmen bewusst darauf ausgelegt, das Risiko von der Firma auf den Beschäftigten zu verlagern. Dies ist – neben anderen kostensparenden, die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer schwächenden Praktiken – einer der Gründe, aus denen die Ungleichheit von Profiten und Löhnen im letzten Jahrzehnt eine Rekordhöhe erreicht hat.16 Es gibt Menschen, die leben mit Null-Stunden-Verträgen von der Hand in den Mund. Und viele sind selbst bei regelmäßiger Arbeit von der Wohlfahrt abhängig, um über die Runden zu kommen.17 Und dennoch waren es gerade die eher schlecht bezahlten und im allgemeinen unbeachteten Arbeitnehmer – Müllwerker, Putzkräfte in Krankenhäusern, Pflegepersonal, Busfahrer –, auf die die Gesellschaft während der COVID-19-Krise besonders angewiesen war, und nicht etwa Konzernchefs, Finanziers oder die Bewohner von Steueroasen.

Althergebrachte politische Klüfte sind breiter geworden – zwischen Nationalismus und Internationalismus, Demokratie und Autokratie, effizientem und ineffizientem Staat. Ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit und Machtlosigkeit sowie ein nicht weniger tiefes Misstrauen gegenüber – insbesondere wirtschaftlichen und politischen – Eliten haben zur Unterminierung des Glaubens an demokratische Institutionen geführt. Das globale multilaterale System, das man unter so großen Mühen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat, ist mitsamt den weitgehend liberalen Werten, für die es steht, bis zum Zerreißen gespannt. Das nationale Heil hat über die internationale Zusammenarbeit triumphiert, sehr zur Freude »starker Männer«, Demagogen und autoritärer Regime, die eine populistische Welle zu surfen oder ein Klima der Angst auszubeuten verstehen. Dem nicht genug, schiebt man das Problem der Klimakatastrophe noch immer vor sich her. Das ist unter unserer Würde. Aber um es besser zu machen, müssen wir erst einmal verstehen, wie wir überhaupt in den Schlamassel geraten konnten, in dem wir heute stecken.

Um das wahre Ausmaß der Herausforderung zu begreifen, müssen wir erkennen, dass es sich bei den oben angesprochenen Problemen um die Folgen tieferliegender Kräfte handelt, die zusammengenommen zu einer aus dem Ruder gelaufenen Form des Kapitalismus geführt haben. Es lassen sich (mindestens) vier wesentliche Quellen für dieses Problem ausmachen: (1) das kurzfristige Denken auf dem Finanzsektor, (2) die Finanzialisierung der Wirtschaft, (3) die Klimakrise und (4) ein träger oder überhaupt fehlender Staat. Teilprobleme sind in jedem Fall die Art der Strukturierung von Organisationen und ihre Beziehungen zueinander. Deshalb ist ihre Umstrukturierung zwangsläufig ein Teil der Lösung.

Der Finanzsektor finanziert FIRE

Das erste Problem ist, dass der Finanzsektor seit Jahren größtenteils nur noch sich selbst finanziert. Anstatt produktiv zu investieren, steckt man den Löwenanteil aller Finanzierungen wieder zurück in den Finanzsektor, die Versicherungs- und die Immobilienbranche. Im englischsprachigen Raum hat sich für diese Gruppe das Akronym FIRE – für finance, insurance, real estate – eingebürgert. Wobei die Feueranalogie das Problem insofern trifft, als diese Praxis eben die Fundamente niederbrennt, auf denen jedes langfristige wirtschaftliche Wachstum ruht. In den USA wie im Vereinigten Königreich geht nur etwa ein Fünftel der Finanzierung in den produktiven Sektor (wie etwa innovationsfreudige Unternehmen oder benötigte Infrastruktur). Im Vereinigten Königreich helfen gerade mal 10 Prozent aller Bankkredite Unternehmen aus dem nichtfinanziellen Bereich; der Rest unterstützt Immobilien- und Vermögenswerte.18 1970 betrug in fortgeschrittenen Volkswirtschaften der Anteil der Immobilienkredite am Gesamtkreditvolumen etwa 35 Prozent; 2007 war dieser Anteil auf etwa 60 Prozent gestiegen.19 Die gegenwärtige Struktur der Finanzwirtschaft fördert mit anderen Worten ein schuldengetriebenes System mit Spekulationsblasen, deren Platzen dann Banken und andere Unternehmen mit der flehentlichen Bitte um Bail-outs zum Staat laufen lässt. Einige dieser Institutionen gelten als »too big to fail«, man denke an die Banken bei der Finanzkrise von 2008 bis 2009: Sollten sie scheitern, würde mit ihnen das gesamte System baden gehen. Also bekamen die Banken ihre Bail-outs: FIRE-Profite sind privat; FIRE-Verluste sind öffentlich. Die Rettung des Bankensektors barg freilich auch das Moral-Hazard-Problem, das Risiko, mit anderen Worten, als too big to fail eingestufte Banken zu fahrlässig hohen Risiken zu verleiten, wo sie doch damit implizit die Garantie auf staatliche Hilfe hatten, wenn sie mit ihren Wetten auf die Nase fallen sollten.

Die Wirtschaft ist auf Quartalszahlen fixiert

Das zweite Problem besteht in der weitgehenden Finanzialisierung der Wirtschaft. In den letzten Jahrzehnten ist der Finanzsektor in der Regel schneller gewachsen als die Wirtschaft, und daher dominieren heute auch in den nichtfinanziellen Sektoren finanzielle Aktivitäten und die sie begleitende Mentalität. So verwandte man einen immer größeren Teil der Unternehmensgewinne auf den kurzfristigen Wertzuwachs der eigenen Aktie statt auf langfristige Investitionen in Bereiche wie neue Betriebsanlagen, Forschung und Entwicklung oder die Aus- und Fortbildung seiner Beschäftigten; so werden Fertigkeiten vernachlässigt, Löhne und Gehälter bleiben niedrig, zu viele Stellen sind bloße »McJobs« ohne ausreichende Sicherheit.20 Einer der Gründe für die Rekordniveaus privater Verschuldung in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist, dass – in einer Form von Kapitalismus, die auf die Maximierung der Aktionärs- statt der Gewinne aller Interesseneigner (Stakeholder) abzielt – viele Arbeitnehmer Schulden aufnehmen müssen, um ihren Lebensstandard wenigstens zu halten, und längst nicht mehr genug verdienen, um ihre Schulden zu reduzieren oder sie gar zurückzuzahlen.21 Noch weiter geht dieses Problem unglücklicherweise in Skandinavien, wo die Deregulierung des Finanzsektors ebenfalls einen Anstieg der Verschuldung (nicht zuletzt durch die Aufnahme von Eigenmittel-Krediten zu Konsumzwecken) privater Haushalte und die Überinvestition in den FIRE-Sektor zur Folge gehabt hat.22

Durch den Rückkauf eigener Papiere lässt sich für ein Unternehmen künstlich deren Kurs und damit auch der Wert der Aktienpakete seiner Manager hochtreiben, die zum Teil in Anteilen bezahlt werden. Allein in den zehn Jahren vor 2019 betrug das Gesamtvolumen an Aktienrückkäufen der Fortune 500 (eine jährliche Auflistung des Magazins Fortune