Das Kastler-Manuskript - Robert Ludlum - E-Book

Das Kastler-Manuskript E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Wer ermordete J. Edgar Hoover, den Chef des FBI? Viele Jahre lang sammelte er geheime Informationen über einflussreiche Persönlichkeiten, brisantes Material, das es wiederzubeschaffen gilt. Als Lockvogel dient der Schriftsteller Peter Kastler.

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Robert Ludlum

Das Kastler-Manuskript

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Heinz Nagel

Wilhelm Heyne VerlagMünchen

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Titel der Originalausgabe

THE CHANCELLOR MANUSCRIPT

Copyright © 1977 by Robert Ludlum Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1981 byWilhelm Heyne Verlag, München,Copyright © dieser Ausgabe 2004 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

ISBN 978-3-641-07201-8V004

www.heyne.de

PROLOG

3. Juni 1968

Der dunkelhaarige Mann starrte die Wand vor sich an. Sein Stuhl war ebenso wie der Rest des Mobiliars angenehm anzusehen, aber keineswegs bequem. Der Stil war Early American, die Ausführung spartanisch, gerade als sollten jene, denen eine Audienz mit dem Bewohner des inneren Büros bevorstand, in strenger Umgebung über die beeindruckende Chance nachdenken, die ihnen gewährt werden sollte.

Der Mann war Ende der Zwanzig und hatte ein kantiges Gesicht mit scharfgeschnittenen Zügen, so als hätte ein Künstler sie geschnitzt, dem die Einzelheiten bewußter als das Ganze waren. Es war ein Gesicht, das in stillem Gegensatz zu sich stand, auffällig und doch unausgeglichen. Die Augen wirkten einnehmend, sie lagen tief und waren von hellem Blau und hatten etwas Offenes, Fragendes an sich. Im Augenblick schienen sie die Augen eines blauäugigen Tieres zu sein, bereit in jede Richtung zu wandern,. fest, vorsichtig.

Der Name des jungen Mannes war Peter Kastler, und sein Gesichtsausdruck war ebenso starr wie die Haltung, die er in dem Sessel einnahm. Seine Augen blickten verärgert.

Noch eine weitere Person hielt sich in dem Vorzimmer auf: eine Sekretärin in mittleren Jahren, deren dünne, farblose Lippen stets gespannt wirkten und deren graues Haar straff in einem Knoten im Nacken zusammengebunden war, der wie ein verblichener Helm aus Flachs wirkte. Sie war die Prätorianergarde, der Wachhund, der über den Mann hinter der Eichentür auf der anderen Seite ihres Schreibtisches wachte.

Kastler sah auf die Uhr; die Sekretärin warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. Jede Andeutung von Ungeduld war in diesem Büro fehl am Platz; die Audienz selbst war alles.

Es war drei Viertel sechs; alle anderen Büros waren bereits geschlossen. Die kleine Universität von Park Forest im Mittleren Westen bereitete sich auf einen Abend im späten Frühling vor, und der immer näher rückende Termin der Abschlußprüfungen steigerte das Gefühl kontrollierter Trunkenheit.

Park Forest gab sich Mühe, die Unruhe, die so viele Universitäten erfaßt hatte, von sich fernzuhalten. In einem Ozean der Turbulenz war sie eine Sandbank, die nichts stören konnte. Mit sich selbst in Frieden, im Wesen ohne Störung. Und ohne Brillanz.

Diese fundamentale Abwesenheit jeglicher mit der Außenwelt befaßten Sorgen, so ging die Rede, war es, die den Mann hinter der Eichentür nach Park Forest gebracht hatte. Er suchte Unzugänglichkeit, wenn nicht Anonymität, die ihm natürlich niemals gewährt werden konnte. Munro St. Claire war unter Roosevelt und Truman Undersecretary of State gewesen; Sonderbotschafter für Eisenhower, Kennedy und Johnson. Seine Wege hatten ihn über den ganzen Erdball geführt, stets mit offenem Portefeuille, beauftragt, die Sorgen seiner Präsidenten und seine persönliche Erfahrung an die Unruheherde der Welt zu tragen. Daß er sich dafür entschieden hatte, als Gastprofessor für Politik ein Frühjahrssemester in Park Forest zu verbringen — eine Zeit in der er die Aufzeichnungen ordnen wollte, welche die Grundlage seiner Memoiren bilden sollten — war ein Coup, der den Aufsichtsrat dieser wohlhabenden, aber im Wesen unbedeutenden Universität verblüfft hatte. Aber sie hatten ihre Skepsis beiseite geschoben und St. Claire die Isoliertheit garantiert, die er in Cambridge, New Haven oder Berkeley nie gefunden hätte.

So ging die Rede.

Und Peter Kastler dachte über die wesentlichen Punkte von St. Claires Geschichte nach, um sich selbst von seiner eigenen abzulenken. Aber nicht ganz. Im Augenblick waren die wichtigen Punkte seiner eigenen unmittelbaren Existenz so entmutigend, wie man sich das nur gerade vorstellen konnte. Vierundzwanzig Monate verloren, in akademischer Vergessenheit vergeudet. Zwei Jahre seines Lebens!

Die Universität von Park Forest hatte seine Doktorarbeit mit acht zu einer Stimme verworfen. Die eine Gegenstimme war natürlich die seines Doktorvaters und als solche ohne Einfluß auf die anderen gewesen. Man hatte Kastler Frivolität vorgeworfen, bewußte Verzerrung historischer Fakten, oberflächliche Recherchen, zu guter Letzt sogar das Schlimmste — er habe verantwortungslos anstelle beweisbarer Daten schiere Erfindungen eingesetzt. Es gab daran gar nichts zu deuteln: Kastler hatte versagt; es gab keine Einspruchsmöglichkeit, denn sein Versagen war absolut.

Aus schwindelnden Höhen war er in tiefe Niedergeschlagenheit abgesunken. Vor sechs Wochen hatte das Foreign Service ]ournal der Georgetown-Universität sich bereit erklärt, vierzehn Auszüge aus seiner Doktorarbeit zu veröffentlichen. Insgesamt etwa dreißig Seiten. Sein Berater hatte das zustandegebracht, indem er eine Kopie an akademische Freunde in Georgetown gesandt hatte, die seine Arbeit für hoch interessant und beängstigend hielten. Das Journal stand auf dem gleichen Niveau wie Foreign Affairs; die einflußreichsten Leute im Land lasen es. Das mußte Folgen haben; jemand mußte etwas anbieten.

Aber die Herausgeber des Journal hatten eine Bedingung gestellt: Angesichts der Eigenart seiner Arbeit mußte die Doktorarbeit angenommen werden, ehe sie bereit waren, das Manuskript zu veröffentlichen. Ohne dieses Prüfsiegel der Universität waren sie dazu nicht bereit.

Und jetzt kam natürlich eine Veröffentlichung nicht mehr in Frage.

Ursprünge eines globalen Konflikts lautete der Titel. Bei dem Konflikt handelte es sich um den Zweiten Weltkrieg, und die Ursprünge waren eine fantasievolle Interpretation der Männer und der Kräfte, die in den Katastrophenjahren von 1926 bis 1939 aufeinandergeprallt waren. Es nützte überhaupt nichts, dem Geschichtsausschuß zu erklären, daß es sich bei der Arbeit um eine interpretierende Analyse, kein juristisches Dokument handelte. Er hatte eine Kardinalssünde begangen: er hatte historischen Persönlichkeiten erfundene Dialoge unterlegt. Für die akademischen Haine von Park Forest war solcher Unsinn nicht akzeptabel.

Aber Kastler wußte, daß seine Arbeit in den Augen des Ausschusses noch einen anderen, schwerer wiegenden Mangel aufwies. Er hatte seine Doktorarbeit voll Empörung und Erregung geschrieben, und Empörung und Erregung hatten in Dissertationen keinen Platz.

Die Prämisse, die Giganten der Finanzwelt hätten passiv zugesehen, wie eine Bande von Psychopathen das Deutschland der Nach-Weimarer-Zeit geformt hatte, war lächerlich. Ebenso lächerlich wie offenkundig falsch. Die multinationalen Gesellschaften waren nicht imstande, das Nazi-Wolfsrudel schnell genug zu füttern; je kräftiger das Rudel, desto gieriger auch der Appetit des Marktes.

Die Ziele und Methoden des deutschen Wolfsrudels wurden im Interesse einer ausweitenden Wirtschaft bequem verschleiert. Verschleiert, zum Teufel! Toleriert wurden sie, am Ende sogar, als die Kurven auf den Gewinn- und Verlustgrafiken schnell anstiegen, akzeptiert. Die Finanziers attestierten dem kranken Nazi-Deutschland wirtschaftliche Gesundheit. Und zu den Kolossen der internationalen Finanz, die den Adler der Wehrmacht fütterten, gehörte eine Zahl der ehrenwertesten industriellen Adressen Amerikas.

Da lag das Problem. Er konnte nicht vortreten und jene Firmen beim Namen nennen, weil er nicht über schlüssige Beweise verfügte. Die Leute, die ihm die Information gegeben und ihn zu anderen Quellen geführt hatten, ließen nicht zu, daß ihre Namen gebraucht wurden. Es waren verängstigte, müde, alte Männer, die von Regierungs- und Firmenpensionen lebten. Was immer in der Vergangenheit geschehen war, gehörte auch der Vergangenheit an. Sie waren nicht bereit, das Risiko einzugehen, daß die Großmut ihrer Wohltäter sich von ihnen abwandte. Sollte Kastler ihre privaten Gespräche veröffentlichen, würden sie alles ableugnen. So einfach war das.

Aber so einfach war es in Wirklichkeit nicht. Es war geschehen. Die Geschichte war nicht berichtet worden, und Peter drängte es danach, eben dies zu tun. Es lag ihm fern, alte Männer zu vernichten, die nur Weisungen erfüllt hatten, die sie nicht begriffen hatten, und die den Hirnen anderer entsprungen waren, die in den Firmenhierarchien so weit oben angesiedelt gewesen waren, daß sie sie nur selten zu Gesicht bekommen hatten. Aber es war einfach falsch, Geschichte, die nirgends aufgezeichnet war, nicht zu registrieren.

Also hatte Kastler die einzige Wahl getroffen, die ihm offengestanden hatte: Er hatte den Namen der Industriegiganten geändert, aber in solcher Weise, daß an ihrer Identität kein Zweifel blieb. Jeder, der eine Zeitung las, würde wissen, wer sie waren.

Und das war der unverzeihbare Fehler, den er begangen hatte. Er hatte provozierende Fragen gestellt, die nur wenige als sinnvoll anerkennen wollten. Wenn Firmen und Stiftungen Universitäten mit Geldern bedachten, wurde die Universität von Park Forest stets mit sehr wohlwollenden Augen gesehen; Park Forest war kein gefährlicher Campus. Warum sollte dieser Zustand durch die Arbeit eines einzigen Kandidaten, der sich habilitieren wollte, gefährdet werden — selbst wenn es sich nur um eine entfernte Gefahr handelte?

Herrgott! Zwei Jahre. Es gab natürliche Alternativen. Er konnte seine Arbeit einer anderen Universität widmen und die ›Ursprünge‹ an anderer Stelle vorlegen. Aber was dann? War es das wert? Würde er es ertragen, daß man seine Arbeit zum zweitenmal zurückwies? Eine Zurückweisung zu erfahren, die in den Schatten seiner eigenen Zweifel lag? Denn Peter war mit sich selbst ehrlich. Er hatte keine so einzigartige oder brillante Arbeit geschrieben. Er hatte einfach einen Abschnitt in der jüngeren Geschichte gefunden, der ihn wütend machte, weil er so viele Parallelen zur Gegenwart enthielt. Nichts hatte sich geändert; die Lügen von vor vierzig Jahren existierten immer noch. Aber er wollte nicht einfach alles aufgeben; er würde das nicht alles aufgeben. Er würde das, was er sich erarbeitet hatte, auch berichten. Irgendwie.

Doch Empörung war kein Ersatz für qualifizierte Recherchen. Sorge um lebende Gewährsleute war schwerlich eine Alternative für objektive Erkundungen. Peter mußte widerstrebend einräumen, daß die Position, die der Ausschuß bezogen hatte, nicht ungerechtfertigt war. Er war im akademischen Sinn weder Fisch noch Fleisch; das was er geliefert hatte, waren teils Fakten, teils Fantasie gewesen.

Zwei Jahre ! Vergeudet!

Das Telefon der Sekretärin summte, es klingelte nicht. Das Summen erinnerte Kastler an das Gerücht, man habe spezielle Einrichtungen geschaffen, die sicherstellen sollten, daß Washington Munro St. Claire zu jeder Tages- oder Nachtzeit erreichen konnte. Es hieß, diese Einrichtungen seien der einzige Punkt, in dem St. Claire von seiner selbst auferlegten Unzugänglichkeit abwich.

»Ja, Mr. Ambassador«, sagte die Sekretärin, »ich schicke ihn hinein ... Ja, es ist schon gut. Wenn Sie mich brauchen, kann ich bleiben.« Offensichtlich wurde sie nicht gebraucht, und Peter hatte den Eindruck, daß sie darüber nicht glücklich war. Die Prätorianergarde wurde entlassen. »Sie müssen um halb sieben beim Empfang des Dekans sein«, fuhr sie fort. Einen Augenblick herrschte Schweigen; dann antwortete die Frau: »Ja, Sir. Ich rufe an und sage, daß Sie bedauern. Gute Nacht, Mr. St. Claire.«

Sie sah Kastler an. »Sie können jetzt hineingehen«, sagte sie, und ihre Augen blickten fragend.

»Danke.« Peter erhob sich aus dem unbequemen Stuhl mit der geraden Rückenlehne. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich hier bin«, sagte er.

In dem mit Eiche getäfelten Büro mit den Kathedralenfenstern erhob sich Munro St. Claire hinter dem antiken Tisch, der ihm als Schreibtisch diente. Er ist ein alter Mann, dachte Kastler, als er auf die ausgestreckte rechte Hand zuging, die der andere ihm über den Tisch hinhielt. Viel älter, als er aus der Ferne wirkte, wenn er mit festem Schritt über den Campus ging. Hier in seinem Büro schien sein hochgewachsener, schlanker Körper mit dem Raubvogelkopf und dem verblichenen blonden Haar Mühe zu haben, sich aufrecht zu halten, und doch stand er aufrecht da, als weigerte er sich, irgendwelchen Schwächen nachzugeben. Seine Augen waren groß, zeigten aber keine erkennbare Farbe, wirkten in ihrem stetigen Blick eindringlich, aber nicht ohne Humor. Seine schmalen Lippen hatten sich unter seinem gepflegten, weißen Schnurrbart zu einem Lächeln verzogen. »Kommen Sie, kommen Sie, Mr. Kastler. Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. «

»Ich kann mich nicht erinnern, daß wir uns schon einmal begegnet wären.« «

»Gut für Sie! Lassen Sie mir das nicht durchgehen.« St. Claire lachte und wies auf einen Stuhl vor dem Tisch.

»Ich wollte Ihnen nicht widersprechen, ich habe nur ... « Kastler hielt inne, als er begriff, daß alles, was er sagen würde, albern klingen würde. Er setzte sich.

»Warum nicht?« fragte St. Claire. »Wenn Sie mir widersprechen, wäre das nichts im Vergleich zu dem, was Sie einer Legion zeitgenössischer Wissenschaftler angetan haben.«

»Wie bitte?«

»Ihre Dissertation. Ich habe sie gelesen.«

»Das schmeichelt mir.«

»Ich war sehr beeindruckt.«

»Danke, Sir. Andere waren das nicht.«

"Ja, das habe ich gehört. Man hat mir gesagt, daß der Habilitationsausschuß sie abgelehnt hat.« «

»ja.«

»Eine verdammte Schande. Sie haben viel harte Arbeit hineingesteckt. Und einige sehr originelle Gedanken.«

Wer sind Sie, Peter Kastler? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie angerichtet haben? Männer, die man bereits vergessen hatte, haben ihre Erinnerung durchforscht und flüstern jetzt angsterfüllt. Georgetown wimmelt von Gerüchten. Von einer obskuren Universität im Mittleren Westen ist ein Dokument eingegangen, das sich als Bombe erweisen wird. Ein belangloser Student hat uns plötzlich an etwas erinnert, an das sich niemand erinnern möchte. Mr. Kastler, Inver Brass kann nicht zulassen, daß Sie weitermachen.

Peter sah, daß die Augen des alten Mannes gleichzeitig ermutigend und doch desinteressiert waren. Er konnte nichts verlieren, wenn er direkt war. »Wollen Sie damit andeuten, daß Sie vielleicht ...?«

»Nein«, unterbrach St. Claire scharf und hob die Hand. »Nein, niemals. Ich würde mir unter keinen Umständen anmaßen, eine solche Entscheidung in Frage zu stellen; das steht mir nicht zu. Und ich befürchte, die Ablehnung beruhte auf gewissen durchaus zulässigen Kriterien. Nein, ich würde mich da unter keinen Umständen einschalten. Aber ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen, vielleicht Ihnen auch ein paar Ratschläge erteilen.«

Kastler beugte sich vor. »Was für Fragen?«

St. Claire lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Zuerst, was Sie angeht. Ich bin bloß neugierig. Ich habe mit Ihrem Doktorvater gesprochen, aber das ist natürlich aus zweiter Hand. Ihr Vater ist Journalist, Zeitungsmann?«

Kastler lächelte. »Er würde sagen, war. Er geht nächsten Januar in Pension.«

»Ihre Mutter schreibt auch, oder?«

»Ja, ein wenig. Artikel in Zeitschriften, Frauenkolumnen. Sie hat vor Jahren Kurzgeschichten geschrieben.«

»Das geschriebene Wort enthält für Sie also keine Schrecken.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Der Sohn eines Mechanikers geht mit weniger Zittern und Zagen an einen Vergaser heran, der nicht funktioniert, als der Abkömmling eines Ballettmeisters. Ganz allgemein gesprochen natürlich. «

»Ganz allgemein gesprochen, würde ich Ihnen recht,geben.«

»Exakt.« St. Claire nickte.

»Wollen Sie mir etwa sagen, meine Dissertation sei ein defekter Vergaser?«

St. Claire lachte. »Wir wollen den Dingen nicht vorgreifen. Sie haben Ihre Diplomarbeit in Journalismus geschrieben und beabsichtigen offensichtlich auch, zur Zeitung zu gehen.«

»Irgendeine Form der Medien jedenfalls. Ich weiß noch nicht genau, welche.«

»Und doch haben Sie dieser Universität zugemutet, Ihnen einen Doktortitel in den Geschichtswissenschaften zu erteilen. Sie haben es sich also anders überlegt.«

»Eigentlich nicht. Meine Überlegungen waren noch gar nicht abgeschlossen.« Wieder lächelte Peter, diesmal etwas verlegen. »Meine Eltern behaupten immer, ich sei berufsmäßiger Student. Nicht, daß es ihnen etwas ausmacht, ich hatte ein Stipendium für das Diplom. Ich habe in Vietnam gedient, also zahlt die Regierung für mein Studium hier. Außerdem gebe ich Nachhilfestunden. Offen gestanden, ich bin beinahe Dreißig und weiß immer noch nicht recht, was ich machen soll. Aber ich glaube, das ist heutzutage gar nicht mehr so selten.«

»Ihre Arbeiten scheinen anzudeuten, daß Sie eine gewisse Vorliebe für das akademische Leben haben.«

»Wenn sie das taten, so gilt das heute nicht mehr.«

St. Claire warf ihm einen Blick zu. »Sagen Sie mir etwas über die Dissertation selbst. Sie haben da überraschende Andeutungen gemacht und beunruhigende Schlüsse gezogen. Im Wesen klagen Sie ja viele der Führer der freien Welt — und ihre Institutionen — an, vor vierzig Jahren die Augen gegenüber der Drohung, die Hitler darstellte, geschlossen zu haben. Oder was noch schlimmer ist, direkt und indirekt das Dritte Reich finanziert zu haben.«

»Nicht aus ideologischen Gründen. Um des wirtschaftlichen Vorteils willen.«

»Scylla und Charybdis?«

»Das akzeptierte ich. Und jetzt, heute, wiederholen ...«

»Trotz allem, was der Habilitationsausschuß sagte«, unterbrach ihn St. Claire mit leiser Stimme, »müssen Sie doch umfangreiche Recherchen angestellt haben. Wie umfangreich?«

Was hat das in Ihnen ausgelöst? Das ist es, was wir wissen müssen, weil wir wissen, daß Sie nicht locker lassen werden. Sind Sie von Männern gelenkt worden, die nach all diesen Jahren Rache suchten? Oder war es — was viel schlimmer wäre — ein Zufall, der Ihre Empörung zum Ausbruch gebracht hatte? Gewährsleute können wir unter Kontrolle halten; wir können sie widerlegen, zeigen, daß sie unrecht haben. Aber Zufälligkeiten können wir nicht unter Kontrolle halten. Auch nicht Empörung, die aus einem Zufall entstanden ist. Aber Sie dürfen das nicht fortsetzen, Mr. Kastler. Wir müssen Mittel und Wege finden, um Sie aufzuhalten.

Kastler hielt einen Augenblick inne; die Frage des alten Diplomaten war unerwartet gekommen. »Recherchen? Viel mehr, als der Ausschuß glaubt. Viel weniger, als gewisse Schlüsse gerechtfertigt hätten. Das ist so ehrlich gesprochen, wie ich nur kann.«

»Es ist ehrlich. Sind Sie bereit, mir Einzelheiten zu nennen? Sie haben kaum Quellenangaben gemacht.«

Plötzlich fühlte Peter sich unsicher. Was als Diskussion begonnen hatte, verwandelte sich langsam in ein Verhör. »Warum ist das wichtig? Es gibt sehr wenig Dokumentation, weil die Leute, mit denen ich sprach, das so wollten. «

»Dann sollten Sie ihre Wünsche respektieren; unbedingt. Gebrauchen Sie keinen Namen.« Der alte Mann lächelte; sein Charme war ungewöhnlich.

Wir brauchen keine Namen. Namen lassen sich leicht aufdecken, sobald wir die richtigen Punkte entdeckt haben. Aber es wäre besser, keine Namen zu verfolgen, Viel besser. Das Flüstern würde sonst wieder beginnen. Es gibt bessere Mittel und Wege.

»Also gut. Ich habe Leute interviewt, die während der Zeit von 1923 bis 1939 aktiv waren. Regierungsbeamte — in erster Linie im Außenministerium — Leute aus der Industrie und den Banken. Außerdem sprach ich mit einem runden halben Dutzend von Offizieren der Kriegsakademie und der Abwehr. Und keiner, Mr. St. Claire, kein einziger ließ zu, daß ich seinen Namen gebrauchte. «

»Haben sie Ihnen so viel Material geliefert?«

»Ein großer Teil lag in dem, worüber sie nicht sprechen wollten. Und dann waren da beiläufige Bemerkungen, seltsame Sätze, denen oft nichts folgte, die mich häufig weiterbrachten. Es sind jetzt alte Männer, alle — oder fast alle — in Pension. Ihre Gedanken wanderten; ebenso wie ihre Erinnerung. Eigentlich ist es eine traurige Sammlung; sie sind ...« Kastler hielt inne. Er wußte nicht, wie er weitersprechen sollte.

St. Claire half ihm. »Im großen und ganzen verbitterte Abteilungsleiter und Bürokraten aus dem mittleren Bereich, die von unzulänglichen Pensionen leben müssen. Umstände wie diese führen häufig zu verärgerten und manchmal verzerrten Erinnerungen. «

»Ich glaube nicht, daß das fair ist. Was ich erfuhr, was ich schrieb, ist die Wahrheit. Deshalb wird jeder, der meine Arbeit liest, wissen, welches jene Firmen waren, und wie sie operierten. «

St. Claire tat den Satz ab, als hätte er ihn nicht gehört. »Wie sind Sie an diese Leute gekommen? Was hat Sie zu ihnen geführt? Wie bekamen Sie Zugang zu ihnen?«

»Mein Vater hat mir am Anfang den Weg geebnet, später kamen andere dazu. Eine Art natürliche Entwicklung; Leute, die sich an andere Leute erinnerten.«

»Ihr Vater?«

»Er war Anfang der fünfziger Jahre Washingtoner Korrespondent des Scripps-Howard ...«

»Ja«, unterbrach St. Claire mit leiser Stimme. »Mit seiner Unterstützung haben Sie also Ihre erste Liste zusammengestellt.«

»Ja. Etwa ein Dutzend Namen von Männern, die im Vorkriegs-Deutschland beschäftigt waren. In der Regierung und außerhalb. Wie gesagt, diese Leute führten mich dann zu anderen. Und außerdem habe ich natürlich alles gelesen, was Trevor-Roper und Shirer und die deutschen Autoren geschrieben haben. Das ist alles dokumentiert.«

»Wußte Ihr Vater, was Sie suchten?«

»Ihm genügte, daß ich hinter einem Doktortitel her war.« Kastler grinste. »Mein Vater hat nur eineinhalb Jahre eine Oberschule besucht. Das Geld war damals knapp.«

»Wollen wir dann sagen, daß er weiß, was Sie gefunden haben? Oder zumindest glauben, gefunden zu haben.«

»Eigentlich nicht. Ich dachte, meine Eltern würden die Arbeit dann lesen, wenn sie fertig war. Jetzt weiß ich nicht, ob sie sie lesen wollen; für sie wird das ein ziemlicher Schlag sein.« Peter lächelte. »Der ewige Student schafft es nicht.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, berufsmäßiger Student«, verbesserte der Diplomat.

»Ist das etwas anderes?«

»In der Vorgehensweise denke ich schon.« St. Claire lehnte sich schweigend vor, seine großen Augen musterten Peter. »Ich würde mir gern die Freiheit nehmen, die augenblickliche Situation so zusammenzufassen, wie ich sie sehe.«

»Natürlich. «

»Im Wesen verfügen Sie über das Material für eine einwandfreie theoretische Analyse. Interpretationen der Geschichte sind, seien sie nun doktrinärer oder revisionistisch, ein nie endender Stoff für Debatten und Untersuchungen. Geben Sie mir recht?«

»Selbstverständlich.«

»Ja, natürlich, sonst hätten Sie das Thema ja von Anfang an nicht gewählt.« St. Claire blickte beim Sprechen zum Fenster hinaus. »Aber eine unorthodoxe Interpretation der Ereignisse — besonders, wenn es um eine Periode der jüngsten Geschichte geht — die einzig und allein auf den Schriften anderer beruht, würde doch kaum das Unorthodoxe rechtfertigen, oder? Ich meine, die Historiker hätten sich doch ganz bestimmt schon lange auf das Material gestürzt, wenn sie geglaubt hätten, etwas daraus machen zu können. Aber das konnten sie in Wirklichkeit nicht, also sind Sie über die akzeptierten Quellen hinausgegangen und haben verbitterte, alte Männer und eine Handvoll widerstrebener ehemaliger Abwehrspezialisten interviewt und ganz spezielle Meinungen aufgenommen.«

»Ja, aber ...«

»Ja, aber«, unterbrach St. Claire und wandte sich vom Fenster ab. »Sie selbst sagten ja, daß diese Lagebeurteilungen häufig auf >beiläufigen Bemerkungen‹ beruhten. Und Ihre Gewährsleute lehnen es ab, genannt zu werden. Um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen, Ihre Recherchen rechtfertigten zahlreiche Schlüsse nicht.«

»Doch, das taten sie schon. Die Schlüsse sind gerechtfertigt.«

»Aber man wird sie nie akzeptieren. Keine anerkannte Autorität, sei sie nun akademisch oder juristisch. Und mit Recht, so wie ich die Dinge beurteile.«

»Dann haben Sie unrecht, Mr. St. Claire. Weil ich nämlich nicht unrecht habe. Es ist mir gleichgültig, wie viele Ausschüsse das behaupten. Die Fakten sind da. Sie ruhen unter der Oberfläche, aber niemand will über sie sprechen. Selbst heute noch nicht, vierzig Jahre später. Weil sich alles wiederholt! Eine Handvoll Firmen verdient auf der ganzen Welt Millionen, indem sie Militärregierungen unterstützen und als unsere Freunde bezeichnen, unsere >Erste Verteidigungslinie‹. Wenn sie ausnahmsweise einmal nicht Gewinn- und Verlustrechnungen studieren, ist es das, was sie beschäftigt ... schon gut, vielleicht kann ich keine Dokumentation liefern, aber ich werde nicht die Arbeit von zwei Jahren einfach wegwerfen. Ich werde nicht aufhören, weil ein Ausschuß mir sagt, daß ich akademisch nicht akzeptabel sei. Tut mir leid, aber das ist für mich nicht akzeptabel.«

Das ist es, was wir wissen mußten. Würden Sie am Ende einen Kompromiß schließen und die Seiten wechseln? Andere hielten das für möglich, aber ich nicht. Sie wußten, daß Sie recht hatten, und das ist für einen jungen Menschen eine zu große Versuchung. Jetzt müssen wir Sie entmachten.

St. Claire blickte auf Peter herunter, ließ seine Augen nicht los. »Sie kämpfen auf dem falschen Feld. Sie haben die Zustimmung der falschen Leute gesucht. Suchen Sie sie anderswo. Wo es nicht wichtig ist, ob die Dokumentation vollständig ist.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ihre Dissertation enthält einige ausgezeichnete romanhafte Züge. Warum konzentrieren Sie sich nicht darauf?«

» Was?«

»Schreiben Sie einen Roman. Niemanden interessiert, ob ein Roman genau oder historisch authentisch ist. Das ist einfach nicht wichtig.« Wieder beugte St. Claire sich vor, und seine Augen ließen Kastler nicht los. »Schreiben Sie einen Roman. Mag sein, daß man Sie dann immer noch ignoriert. Aber zumindest haben Sie eine Chance, daß man Sie hört. Ihren augenblicklichen Weg weiter zu verfolgen, ist sinnlos. Sie vergeuden auf die Weise nur noch ein Jahr oder zwei oder drei. Am Ende — wofür? Schreiben Sie einen Roman. Lassen Sie Ihren Zorn dort ab, und dann leben Sie Ihr Leben weiter.«

Peter starrte den Diplomaten an; er war verunsichert, konnte seine eigenen Gedanken nicht mehr ordnen, und wiederholte so nur das eine Wort. »Roman?«

»Ja. Jetzt sind wir ja, glaube ich, wieder bei diesem defekten Vergaser, obwohl die Analogie vielleicht schrecklich ist.« St. Claire lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wir waren ja übereingekommen, daß Worte für Sie keinen Schrecken enthalten. Sie haben den größten Teil Ihres Lebens Papier gesehen, das mit Worten gefüllt war. Jetzt sollen Sie Ihre Arbeit mit anderen Worten reparieren. Sie auf andere Weise angehen, eine Weise, die keine akademische Bestätigung erfordert.«

Peter atmete langsam aus. Dann hielt er ein paar Augenblicke den Atem an, weil St. Claires Analyse ihn völlig betäubt hatte. »Einen Roman? Das ist mir nie in den Sinn gekommen ...«

»Ich behaupte, im Unterbewußtsein schon«, warf der Diplomat ein. »Sie zögerten nicht, Handlung — und Reaktionen — zu erfinden, wenn das Ihren Zwecken diente. Und Sie haben doch, weiß Gott, die Bestandteile einer faszinierenden Story. Weit hergeholt, meiner Ansicht nach, aber durchaus spannende Lektüre für einen Sonntagnachmittag. Reparieren Sie den Vergaser; das ist ein anderer Motor. Einer mit weniger Substanz vielleicht, aber doch recht vergnüglich. Vielleicht hört dann jemand auf Sie. Auf dieser Ebene wird das niemand. Offen gestanden, sollte es auch niemand. «

»Ein Roman. Verdammt will ich sein.«

Munro St. Claire lächelte. Seine Augen wirkten jedoch seltsam unbeteiligt.

Die Nachmittagssonne verschwand hinter dem Horizont. Lange Schatten dehnten sich über den Rasen. St. Claire stand am Fenster und blickte hinaus. In der ruhigen Beschaulichkeit der Szene lag Arroganz; sie war in einer Welt, die von so viel Unruhe geschüttelt wurde, deplaziert.

Er konnte jetzt Park Forest verlassen. Seine Arbeit war getan, der sorgfältig orchestrierte Schluß nicht perfekt, aber ausreichend.

Ausreichend bis an die Grenze der Täuschung.

Er sah auf die Uhr. Eine Stunde war verstrichen, seit der verwirrte Kastler sein Büro verlassen hatte. Der Diplomat ging zu seinem Schreibtisch zurück, setzte sich und griff nach dem Telefon. Er wählte 202 und dann sieben weitere Zahlen. Augenblicke später war ein zweimaliges Klicken in der Leitung zu hören, dann ein Pfeifen. Jeder, der den Code nicht kannte, hätte einfach angenommen, daß der Apparat nicht funktionierte.

St. Claire wählte fünf weitere Ziffern. Diesmal war nur ein Klicken zu hören, dann meldete sich eine Stimme.

»Inver Brass. Band läuft.« Die Stimmlage deutete auf Boston, aber die Sprachmelodie auf einen Mitteleuropäer.

»Hier Bravo. Verbinden Sie mich mit Genesis.«

»Genesis ist in England. Dort drüben ist es schon nach Mitternacht. «

»Ich fürchte, darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Können Sie mich verbinden? Ist die Position dort steril?«

»Wenn er noch in der Botschaft ist, ja, Bravo. Sonst das Dorchester. Dort gibt es keine Garantie.«

»Versuchen Sie es bitte in der Botschaft.«

Die Leitung wurde tot, als die Zentrale von Inver Brass die Verbindung herstellte. Drei Minuten später war eine andere Stimme zu hören; klar und unverzerrt, als führte er das Gespräch nur auf eine Entfernung von ein oder zwei Straßen, nicht 4000 Meilen. Die Stimme klang abgehackt, erregt, aber nicht ohne Respekt. Auch nicht ohne ein gewisses Maß an Furcht.

»Hier ist Genesis. Ich wollte gerade gehen. Was ist geschehen? «

»Es ist erledigt.«

»Gott sei Dank!«

»Die Dissertation ist abgewiesen worden. Ich habe dem Habilitationsausschuß klargemacht — ganz privat natürlich — daß sie radikaler Unsinn sei. Sie würden sich in der ganzen akademischen Welt lächerlich machen. Sie sind empfindlich; das sollten sie auch sein. Sie sind mittelmäßig.«

»Das freut mich.« Dann folgte eine kurze Pause aus London. »Wie war seine Reaktion?«

»Wie ich sie erwartet hatte. Er hat recht und weiß das auch; deshalb ist er frustriert. Er hatte nicht die Absicht, aufzuhören.«

»Hat er die jetzt?«

»Ich glaube schon. Die Idee sitzt ganz tief. Wenn nötig, werde ich auf indirektem Weg etwas nachhaken, ihn mit den richtigen Leuten in Verbindung bringen. Vielleicht brauche ich das gar nicht zu tun. Er hat Fantasie; oder genauer gesagt, seine Empörung ist echt. «

»Und Sie sind überzeugt, daß das die beste Lösung ist?«

»Sicher. Die Alternative wäre, daß er seine Recherchen fortsetzt und dabei schlafende Hunde weckt. Ich möchte nicht, daß das in Cambridge oder Berkeley passiert, würden Sie das wollen?«

»Nein. Außerdem interessiert sich vielleicht niemand für das, was er schreibt, und er findet keinen Verleger. Ich glaube, das könnten wir erreichen.«

St. Claires Augen verengten sich kurz. »Mein Rat ist, daß wir uns da heraushalten. Wir würden ihn noch mehr frustrieren, ihn zurücktreiben. Lassen wir doch den Dingen ihren natürlichen Lauf. Wenn er einen Roman daraus macht, ist das Beste, was wir uns erhoffen können, eine kleine Auflage einer ziemlich amateurhaften Arbeit. Dann hat er gesagt, was er zu sagen hatte, und es erweist sich als belangloses Werk mit dem üblichen Hinweis bezüglich lebender oder toter Personen. Wenn wir uns einschalten, könnte das Fragen auslösen; das liegt nicht in unserem Interesse.«

»Sie haben natürlich recht«, sagte der Mann in London. »Aber das haben Sie ja meistens, Bravo.«

»Danke. Und auf Wiedersehen, Genesis. Ich werde hier in ein paar Tagen weggehen.«

»Wohin gehen Sie?«

»Das weiß ich noch nicht genau. Vielleicht zurück nach Vermont. Vielleicht auch weit weg. Mir gefällt das Bild unserer nationalen Landschaft nicht.«

»Um so mehr Grund, in Verbindung zu bleiben«, sagte die Stimme in London.

»Vielleicht. Aber dann kann auch sein, daß ich schon zu alt bin.«

»Sie können nicht verschwinden. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja. Gute Nacht, Genesis.«

St. Claire legte den Hörer auf, ohne auf das Abschiedswort aus London zu warten. Er wollte einfach nichts mehr hören.

Ein Gefühl des Ekels hatte ihn erfaßt. Das war nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein. Es war die Funktion von Inver Brass, Entscheidungen zu treffen, die andere nicht treffen konnten, Menschen und Institutionen vor den moralischen Anklagen zu schützen, die erst die Nachwelt erhob. Was vor vierzig Jahren recht war, war heute mit dem Bann belegt.

Verängstigte Männer hatten anderen verängstigten Männern zugeflüstert, daß man Peter Kastler aufhalten mußte. Es war nicht richtig, wenn dieser obskure Kandidat für einen Doktortitel Fragen stellte, die vierzig Jahre später keinen Sinn hatten. Dies waren andere Zeiten, völlig andere Umstände.

Und doch gab es da gewisse Grauzonen. Die Verantwortung war keine beschränkte Doktrin. Am Ende waren alle verantwortlich. Auch Inver Brass war da keine Ausnahme. Deshalb mußte man Peter Kastler die Gelegenheit geben, seiner Empörung Luft zu machen. In gewisser Weise enthob ihn das der Konsequenzen. Oder der Katastrophe.

St. Claire stand auf und blickte auf die Papiere, die seinen Schreibtisch bedeckten. Er hatte in den letzten Wochen den größten Teil seiner persönlichen Habseligkeiten entfernt. Von ihm war nur noch sehr wenig in dem Büro; und das war so, wie es sein sollte.

Morgen würde er nicht mehr hier sein.

Er ging zur Tür und griff automatisch nach dem Lichtschalter und bemerkte erst dann, daß überhaupt kein Licht eingeschaltet war. Er hatte die ganze Zeit im Schatten gestanden, war auf und ab gegangen, dagesessen.

Buchbesprechung in The New York Timesvom 10. Mai 1969, Seite 3.

Reichstag! ist gleichzeitig verblüffend, einsichtig, peinlich und unglaublich. Peter Kastlers erster Roman will uns glauben.machen, daß die Nazipartei in ihren Anfängen von nichts weniger als einem Kartell internationaler Banker und Industriellen — aus Amerika, Großbritannien und Frankreich — finanziert wurde, und dies offenbar mit voller, wenn auch unausgesprochener Billigung der jeweiligen Regierungen. Kastler zwingt uns dazu, dies zu glauben. Seine Erzählung raubt einem den Atem; die Personen seines Romans treten förmlich aus den Seiten heraus und werden zu Gestalten aus Fleisch und Blut, Menschen mit Stärken und Schwächen, wie sie eine diszipliniertere Schreibe vielleicht zunichte gemacht hätte. Mr. Kastler schreibt voll Empörung und viel zu melodramatisch, und trotzdem ist sein Buch faszinierend. Und am Ende stellt der Leser sich die bange Frage: Kann es sein, daß alles so war?

The Washington Post, Welt der Bücher 22. April 1970, Seite 3

In Sarajevo! läßt Kastler den Schüssen vom August 1914 dieselbe Behandlung angedeihen, die seinen Blitzkrieg im letzten Jahr zum Bestseller machten.

Die Kräfte, die in der Julikrise im Jahre 1914 aufeinanderprallten, gleich nach der Ermordung des Erherzogs Ferdinand durch den Verschwörer Gabrilo Princip, werden abstrahiert, neu angeordnet und von Mr. Kastler mit so viel Leben erfüllt, daß am Ende niemand als Engel hervortritt und das Ganze zu einem Triumph des Bösen wird. Der Held des Autors — in diesem Fall ein britischer Agent, der sich in eine serbokroatische Untergrundorganisation eingschlichen hat, welche die melodramatische Bezeichnung Die Einheit des Todes trägt — löst die einzelnen Schichten der Täuschung eine nach der anderen ab, so wie man eine Zwiebel häutet, Schichten, die von den Provokateuren des Reichstags, des Foreign Office und der Deputiertenkammer angebracht wurden. Die Marionetten werden als das offenbart, was sie sind, und die Drähte, an denen sie hängen, werden bis zu den industriellen und wirtschaftlichen Interessen zurückverfolgt, die sie auf allen Seiten des Konflikts bewegen.

Und so kommt einer dieser selten diskutierten Zufälle zum anderen.

Mr. Kastler scheint an einem Verschwörungskomplex hohen Grades zu leiden. Er setzt sich damit auf faszinierende Weise auseinander, ohne daß die Lesbarkeit darunter leiden würde. Sarajevo! sollte noch populärer werden als Reichstag!

The Los Angeles Times, die Bücherspalte 4. April 1971, Seite 20

Gegenschlag! ist der bisher beste Roman Kastlers, obwohl die vielfach verschlungene Handlung aus Gründen, die ich nicht zu durchschauen vermag, auf einem ungewöhnlichen Irrtum in den Recherchen beruht, den man von diesem Autor nicht erwarten würde. Sie befaßt sich mit geheimen Operationen der Central Intelligence Agency in bezug auf ein sich ausbreitendes Schreckensregiment einer auswärtigen Macht in einer Universitätsstadt in New England. Mr. Kastler sollte wissen, daß der CIA nach ihrer Charta aus dem Jahre 1947 jegliche Inlandstätigkeit verboten ist.

Sieht man von dieser Unstimmigkeit ab, ist Gegenschlag! hervorragend. Kastlers bisherige Bücher haben bereits bewiesen, daß er hochgradige Spannung erzeugen kann, daß man sich manchmal wünscht, schneller lesen und blättern zu können. Aber in diesem Werk kommt noch eine Charakterisierung hinzu, die für ihn neu ist.

Kastlers detailliertes Wissen über die letzten Feinheiten des Spionage- und Abwehrgeschäfts feiert hier wieder einmal Triumphe — und das trotz seines Irrtums in bezug auf die CIA.

Doch dabei läßt er es nicht bewenden — mit der gleichen Akribie befaßt er sich auch mit den Empfindungen seiner Akteure — und dies in einer absolut atemberaubenden Situation, die deutliche Parallelen zu den Rassenunruhen aufweist, die vor einigen Jahren in Boston zu einigen Morden führten. Kastler hat sich endgültig in die erste Reihe der zeitgenössischen Autoren geschoben.

Die Handlung selbst ist verwirrend einfach: Ein Mann wird dazu ausgewählt, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, auf die er kaum vorbereitet ist. Er wird gründlich von der CIA ausgebildet, aber während der ganzen Ausbildung wird keinerlei Versuch unternommen, den grundlegenden Fehler zu beheben. Wir begreifen bald: Dieser Fehler soll zu seinem Tode führen. Ein kompliziertes Netz ineinander übergreifender Verschwörungen. Und ebenso wie bei Kastlers früheren Büchern, fragen wir uns auch diesmal: Ist das die Wahrheit? Ist dies wirklich geschehen? War es vielleicht so?

Herbst. Bucks County, ein Meer von gelben, grünen und goldenen Tönen. Kastler lehnte an der Motorhaube eines silberfarbenen Mark IV Continental, den Arm um die Schultern einer Frau gelegt. Sein Gesicht war jetzt voller, die ausgeprägten Züge schienen weniger miteinander in Konflikt zu stehen, wirkten weicher und waren doch noch scharf geschnitten. Seine Augen waren auf ein weißes Haus gerichtet, das am Fuß einer langgewundenen Zufahrt lag, die über die wogenden Felder führte. Und zu beiden Seiten der Zufahrt ragte ein hoher, weißer Zaun.

Das Mädchen in Kastlers Begleitung hielt die Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. Sie war ebenso von dem Anblick beeindruckt wie er. Sie war ziemlich groß, und ihr braunes Haar fiel ihr weich über das fein geschnittene und doch seltsam stark wirkende Gesicht. Ihr Name war Catherine Lowell.

»Es ist genauso, wie du es mir geschildert hast«, sagte sie und faßte seine Hand fester. »Es ist schön. Wirklich sehr schön.«

»Das erleichtert mich aber sehr«, sagte Kastler und blickte zu ihr hinunter.

Sie blickte zu ihm auf. »Du hast es gekauft, nicht wahr? Du bist nicht bloß ›interessiert‹, du hast es gekauft!«

Peter nickte. »Ich hatte Konkurrenz. Ein Bankier aus Philadelphia wollte schon eine Anzahlung leisten. Ich mußte mich entscheiden. Wenn es dir nicht gefällt, wird er es mir sicher abnehmen. «

»Sei nicht albern, es ist einfach himmlisch!«

»Du hast es noch nicht von innen gesehen.«

»Das brauche ich nicht.«

»Gut. Ich würde es dir nämlich lieber auf dem Rückweg zeigen. Die Besitzer sind bis Donnerstag ausgezogen. Hoffentlich sind sie das. Am Freitag nachmittag bekomme ich eine große Lieferung aus Washington. Ich lasse es mir hierher liefern.«

»Die Abschriften?«

»Zwölf Kisten aus der Regierungsdruckerei. Morgan mußte einen Lastwagen schicken. Nürnberg, die Aufzeichnungen der Alliierten Tribunale. Willst du raten, welchen Titel das Buch bekommen soll?«

Catherine lachte. »Ich kann mir Tony Morgan jetzt gut vorstellen, wie er in seinem Büro auf und ab rennt, wie eine Katze in grauem Flanell. Und dann schlägt er plötzlich mit der Faust auf den Schreibtisch und schreit, erschreckt jeden, der ihn hören kann, also die meisten Leute im ganzen Gebäude. ›Ich hab’s! Diesmal machen wir es ganz anders! Nürnberg werden wir’s nennen — mit einem Ausrufezeichen!‹«

Peter lachte mit. »Du machst dich über meinen geheiligten Lektor lustig.«

»Niemals. Wenn es ihn nicht gäbe, würden wir jetzt in eine Mietwohnung im fünften Stock ziehen, ohne Lift, nicht auf eine Farm, die für einen Landedelmann gebaut ist.«

»Und seine Lady.«

»Und seine Lady.« Catherine drückte seinen Arm. »Weil wir von Lastwagen reden, sollten da nicht Umzugswagen in der Einfahrt stehen?«

Kastler lächelte; es war ein verlegenes Lächeln. »Abgesehen von ein paar speziellen Gegenständen, über die es eine eigene Liste gibt, mußte ich es möbliert kaufen. Die ziehen in die Karibik. Wenn du willst, kannst du ja alles rauswerfen.«

»Du liebe Güte, wenn das keine Angabe ist!«

»Wir sind bloß reich«, erwiderte Peter. »Sag nichts dazu, bitte. Komm, fahren wir weiter. Wir haben noch etwa drei Stunden Highway und dann noch zweieinhalb auf Nebenstraßen. Es wird bald dunkel.«

Catherine wandte sich ihm zu, hob ihm das Gesicht entgegen, so daß ihre Lippen sich beinahe berührten. »Ich werde jede Meile, die wir fahren, nervöser werden. Am Ende werde ich Zuckungen haben und zusammenhanglos reden wie ein Idiot. Ich dachte immer, dieser rituelle Tanz, wenn man den Eltern vorgestellt wird, sei seit gut zehn Jahren abgeschafft. «

»Davon hast du nichts gesagt, als ich deine Eltern kennenlernte. «

»Ach du liebe Güte! Die waren so beeindruckt, allein schon davon, im gleichen Raum mit dir zu sein, daß du überhaupt nichts zu tun brauchtest — nur dazusitzen und zu strahlen!«

»Was ich nicht tat. Ich mag deine Eltern. Ich denke, du wirst meine auch mögen.«

»Werden sie mich mögen? Das ist es, was mich beschäftigt.«

»Keinen Augenblick«, sagte Peter und zog sie an sich. »Lieben werden sie dich. Genau wie ich dich liebe. O Gott, ich liebe dich!

Das ist richtig, Genesis. Dieser Peter Kastler läßt sich von der Regierungsdruckerei alles kopieren, was mit Nürnberg zu tun hat. Die Sachen sollen an eine Adresse in Pennsylvania geliefert werden.

Uns betrifft das nicht, Banner. Venice und Christopher sind da meiner Meinung. Wir werden nichts unternehmen. Das ist die Entscheidung.

Das ist ein Fehler! Jetzt befaßt er sich schon wieder mit dem Deutschland-Thema..

Lange nachdem die Fehler begangen wurden. Es gibt da keine Verbindung. Wir haben Jahre vor Nürnberg deutlich erkannt, was wir anfänglich nicht sahen. Es gibt keine Verbindung zu uns. Zu keinem von uns, auch zu Ihnen nicht.

Aber sicher können Sie da nicht sein.

Wir sind sicher.

Was meint Bravo?

Bravo ist außer Landes. Er ist nicht informiert worden und wird auch nicht informiert.

Warum nicht?

Aus Gründen, die Sie nicht betreffen. Das geht einige Jahre zurück. Ehe wir von Inver Brass berufen wurden.

Das ist falsch, Genesis.

Und Sie sind überarbeitet, und das ist unnötig. Man hätte Sie nie gerufen, wenn Ihre Sorgen berechtigt wären, Banner. Sie sind ein außergewöhnlicher Mann. Daran hatten wir nie Zweifel.

Trotzdem ist es gefährlich.

Der Verkehr auf der Pennsylvania Turnpike schien um so schneller zu fließen, je dunkler es wurde. Nebelschwaden schoben sich plötzlich über die Straße, verzerrten die Scheinwerferbalken der entgegenkommenden Fahrzeuge. Dann peitschte Regen so schnell auf die Windschutzscheibe, daß die Scheibenwischer nicht mehr mitkamen.

Man spürte die zunehmende Nervosität, auch Kastler spürte sie. Fahrzeuge rasten vorbei, hinterließen Schwaden von Gischt; die Fahrer schienen zu spüren, wie sich ein paar Stürme auf das westliche Pennsylvania zuschoben, und ihr Instinkt trieb sie nach Hause.

Die Stimme aus dem Radio des Continental war präzise und eindringlich.

Wir empfehlen allen Pkw-Fahrern, die Straßen in der Gegend Jamestown-Warren zu meiden. Sollten Sie unterwegs sein, empfehlen wir, die nächste Ausfahrt zu benutzen. Wir wiederholen: die Sturmwarnungen vom Lake Erie sind jetzt bestätigt worden. Winde von Orkanstärke ...

»In etwa vier Meilen ist eine Ausfahrt«, sagte Peter und blickte durch zusammengekniffene Augen durch die Windschutzscheibe. »Die nehmen wir. Zwei- oder dreihundert Meter weiter ist ein Restaurant.«

»Woher weißt du das?«

»Wir sind gerade an einem Pittsfield-Schild vorbeigekommen; das war früher immer eine Wegmarke für mich. Das bedeutete, daß ich noch eine Stunde Fahrt bis nach Hause hatte.«

Kastler begriff nie, wie es dazu kommen konnte; es war eine Frage, die ihn den Rest seines Lebens quälen würde. Der Regen peitschte wie eine Wand herunter, eine undurchsichtige Wand wie ein Wasserfall. Der schwere Wagen schlingerte förmlich, wie eine kleines Boot im sturmgepeitschten Meer.

Und plötzlich bohrten sich Scheinwerferbalken blendend durch das Heckfenster, brachen sich grell im Spiegel. Weiße Punkte erschienen vor seinen Augen, verdeckten selbst den Regenguß vor dem Glas. Nur das blendende, weiße Licht sah er noch.

Dann war es neben ihm! Ein riesiger Sattelschlepper überholte ihn auf der gefährlichen Straße, mitten im peitschenden Regen! Peter schrie den Fahrer durch das geschlossene Fenster an; der Mann war verrückt. Sah er denn nicht, was er da tat? Konnte er den Mark IV nicht im Sturm sehen? War er von Sinnen?

Das Unglaubliche geschah. Der mächtige Sattelschlepper schob sich auf ihn zu! Dann kam der Aufprall; das stählerne Chassis seines Anhängers krachte gegen den Continental. Metall schmetterte gegen Metall. Der Verrückte drängte ihn von der Straße! Der Mann war betrunken oder von dem Sturm in Panik getrieben! Durch den peitschenden Regen konnte Kastler die Umrisse des Fahrers oben auf seinem Sitz erkennen. Er sah den Mark IV gar nicht! Er wußte nicht, was er tat!

Jetzt ein zweiter, dröhnender Aufprall mit solcher Gewalt, daß Peters Fenster zersprang. Die Räder des Mark IV blockierten, der Wagen schoß nach rechts, auf ein Vakuum der Dunkelheit zu, jenseits des Banketts.

Die Motorhaube hob sich im Regen; dann taumelte der Wagen über die Böschung, stürzte nach unten.

Catherines Schreie übertönten das Geräusch des zersplitternden Glases, des sich verbiegenden Stahles, als der Continental sich mehrmals überschlug. Jetzt kreischte Metall gegen Metall, so als kämpfte jeder Streifen, jedes Blech darum, den Aufprall zu überstehen.

1

Die fünfte Limousine rollte langsam durch die dunklen, von Bäumen gesäumten Straßen von Georgetown. Sie hielt vor einer Marmortreppe an, die durch in Stein gehauenes Blattwerk zu einem zwanzig Meter entfernten Eingang in einer Säulenhalle führte. Dieser Eingang strahlte ebenso wie der Rest des Hauses den Eindruck stiller Größe aus, den das gedämpfte Licht hinter den Säulen, die den Balkon darüber trugen, noch verstärkte.

Die vier vorangehenden Limousinen waren in Abständen von drei bis sechs Minuten gekommen; die Abstände waren Absicht. Man hatte sie von fünf verschiedenen Verleihfirmen von Arlington bis Baltimore gemietet.

Sofern ein Beobachter in jener stillen Straße den Wunsch verspüren sollte, die Identität des jeweiligen Passagiers eines jeden Fahrzeugs zu erfahren, würde ihm das nicht gelingen. Man konnte keinen durch den Mietvertrag ausfindig machen, und keiner der Chauffeure hatte einen seiner Fahrgäste zu Gesicht bekommen. Eine undurchsichtige Glasscheibe trennte den Fahrer von seinem Passagier, und keiner durfte den Sitz hinter dem Steuer verlassen, während der Passagier den Wagen betrat oder verließ. Man hatte die Fahrer sorgfältig ausgewählt.

Alles war auf die Sekunde genau abgestimmt wie ein Orchester und in Einklang gebracht worden. Zwei Limousinen waren zu Privatflugplätzen gefahren worden, wo man sie eine Stunde lang abgesperrt und unbewacht an bestimmten Stellen der Parkplätze abgestellt hatte. Als die Stunde um gewesen war, waren die Fahrer zurückgekehrt — im Wissen, daß die Passagiere inzwischen Platz genommen hatten. Die anderen drei Fahrzeuge waren auf die gleiche Weise an drei unterschiedlichen Orten bereitgestellt worden: der Union Station von Washington, dem Shopping Center von McLean, Virginia, und dem Country Club in Chevy Chase, Maryland — dem der betreffende Passagier nicht angehörte.

Zu guter Letzt stand für den Fall, daß ein Beobachter in jener stillen Straße in Georgetown den Versuch machen sollte, die aussteigenden Passagiere zu beeinträchtigen, eine blondhaariger Mann im Schatten des Balkons über der Säulenhalle an der Marmortreppe, um ihn daran zu hindern. Der Mann trug ein transistorisiertes Hochleistungsmikrofon an einem Riemen um den Hals und konnte durch dieses Mikrofon Befehle zu anderen Männern auf der Straße durchgeben, wobei er sich einer Sprache bedienen würde, die nicht Englisch war. Er hielt einen Karabiner in der Hand, an dessen Lauf ein Schalldämpfer befestigt war.

Der fünfte Passagier stieg aus der Limousine und ging die Marmortreppe hinauf. Das Automobil rollte lautlos davon; es würde nicht zurückkehren. Der blonde Mann auf dem Balkon sprach leise ins Mikrofon; die Tür unter ihm wurde geöffnet.

Der Konferenzsaal lag im oberen Stockwerk. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, die Beleuchtung indirekt. In der Mitte der östlichen Wand stand ein antiker Franklin-Ofen, hinter dessen eisernem Gitter man ein Feuer glühen sehen konnte, obwohl es ein lauer Frühlingsabend war.

In der Mitte des Raums stand ein großer, kreisförmiger Tisch. Um ihn saßen sechs Männer, deren Alter von Mitte der Fünfzig bis in die Achtzig reichte. Zwei fielen in die erste Kategorie: ein Mann mit südlich wirkenden Zügen und ergrauendem, gewelltem Haar und ein Mann mit sehr bleicher Haut und einem nordischen Gesicht und dunklem, geradem Haar, das glatt über seine breite Stirn nach hinten gekämmt war. Er saß zur Linken des Sprechers der Gruppe, der in der Mitte Platz genommen hatte. Der Sprecher war ein Mann Ende der Siebzig; ein Haarkranz umgab seinen sonst kahlen Kopf, und seine Züge wirkten müde — oder verwüstet. Gegenüber dem Sprecher hatte ein schlanker, aristokratisch wirkender Mann mit dünn werdendem, weißem Haar und einem perfekt gestutzten, weißen Schnurrbart Platz genommen. Er mochte reichliche siebzig Jahre alt sein. Zu seiner Rechten saß ein großer Neger mit einem mächtigen Kopf und einem Gesicht, das man sich gut aus ghanaischem Mahagoniholz geschnitzt vorstellen konnte. Zu seiner Linken schließlich der älteste und gebrechlichste Mann im Saal; ein Jude mit einer Yarmulke auf dem haarlosen, hageren Schädel.

Alle ihre Stimmen waren weich, ihre Sprache gepflegt, die Augen aufmerksam und durchdringend. Jedem der Männer sah man eine stille Vitalität an, die aus außergewöhnlicher Kraft rührte.

Und jeder war unter einem einzigen Namen bekannt, der für alle am Tisch Anwesenden eine besondere Bedeutung hatte. Kein anderer Name wurde je in diesem Kreis gebraucht. In einigen Fällen hatte das betreffende Mitglied den Namen nahezu vierzig Jahre benutzt; in anderen Fällen war er weitergegeben worden, wenn Vorgänger gestorben waren und man Nachfolger gewählt hatte.

Es waren nie mehr als sechs Männer. Der Sprecher war als Genesis bekannt — tatsächlich war er bereits der zweite Mann, der den Namen trug. Früher war er als Paris bekannt gewesen, eine Identität, die jetzt der Südländer mit dem ergrauenden, welligen Haar übernommen hatte.

Andere waren als Christopher, Banner und Venice bekannt. Und dann war da Bravo.

Dies waren die Männer von Inver Brass.

Jeder hatte den gleichen Aktendeckel vor sich liegen und darauf ein einziges Blatt Papier. Abgesehen von den Namen in der linken oberen Ecke der Seite wären die übrigen, mit Maschine geschriebenen Worte für jeden anderen außer diesen Männern bedeutungslos gewesen.

Genesis sagte jetzt: »Wichtiger als alles andere ist, daß die Akten um jeden Preis sichergestellt und vernichtet werden. In diesem Punkt darf es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Wir haben endlich ermittelt, daß sie in einem Schranksafe untergebracht sind, der in die Stahlwand des begehbaren Kleiderschrankes links hinter dem Schreibtisch eingelassen ist.«

»Das Schloß des Kleiderschrankes wird von einem Schalter in der mittleren Schublade aus gesteuert«, sagte Banner mit leiser Stimme. »Der Safe wird von einer Serie elektronischer Relais geschützt, von denen das erste von seiner Wohnung aus ausgelöst werden muß. Ohne dieses erste Relais läßt sich keines der anderen betätigen. Um einzubrechen, wären zehn Dynamitstäbe erforderlich; für den Einsatz eines Schneidbrenners werden etwa vier Stunden geschätzt, wobei der Alarm bereits ausgelöst wird, wenn die Temperatur der Umgebung des Safes um nur wenige Grad ansteigt. «

Auf der anderen Tischseite fragte Venice, dessen schwarzes Gesicht in der schwachen Beleuchtung kaum zu sehen war: »Ist die Position des ersten Relais bestätigt worden?«

»Ja«, antwortete Banner. »Im Schlafzimmer. In dem Regal über dem Kopfteil.«

»Wer hat es bestätigt?« fragte Paris, das südländische Mitglied von Inver Brass.

»Varak«, antwortete Genesis vom Südende des Tisches. Einige Köpfe nickten langsam. Der greisenhafte Jude rechts von Banner fragte diesen: »Und was ist mit den anderen?«

»Die medizinischen Akten der Zielperson wurden aus La Jolla in Kalifornien besorgt. Wie Sie wissen, Christopher, lehnt er es ab, sich in Bethesda untersuchen zu lassen. Die letzte kardiologische Analyse deutet auf geringfügige Hypochlorämie hin, ist aber in keiner Weise gefährlich. Allerdings könnte die Tatsache für sich schon genügen, um zu rechtfertigen, daß man ihm die erforderliche Digitalisdosis beibringt, aber dabei besteht natürlich die Gefahr, daß das bei einer Autopsie herauskommt.«

»Er ist ein alter Mann.« Das kam von Bravo, einem Mann, der selbst älter als die betreffende Person war. »Warum sollte eine Autopsie in Betracht gezogen werden?«

»Weil er eben ist, wer er ist«, sagte Paris, der Südländer, dessen Stimme auch verriet, daß er seine Jugend in Kastilien verbracht hatte. »Wahrscheinlich läßt sich das nicht vermeiden. Und das Land würde die Aufregung eines weiteren Attentates nicht ertragen. Das würde zuvielen gefährlichen Leuten den willkommenen Anlaß geben, im Namen des Patriotismus eine Anzahl schrecklicher Dinge in Bewegung zu setzen.«

»Ich behaupte«, unterbrach Genesis, »daß, wenn eben diese gefährlichen Männer — und ich meine damit unzweideutig 1600 Pensylvania Avenue — daß, wenn diese Leute und die Zielperson sich einigen, die Schrecken, von denen Sie sprechen, vergleichsweise winzig sein werden. Der Schlüssel, Gentlemen, befindet sich in den Akten der Zielperson. Und diese Akten werden präsentiert wie rohes Fleisch für hungrige Schakale. Diese Akten in den Händen von 1600 würden zu einer Regierung durch Zwang und Erpressung führen. Wir alle wissen, was jetzt geschieht. Wir müssen handeln.«

»Ich muß mich widerstrebend Genesis anschließen«, sagte Bravo. »Unsere Informationen zeigen, daß 1600 die unattraktiven Grenzen überschritten hat, die wir in früheren Administrationen erlebt haben. Es gibt kaum mehr eine Agentur oder eine Abteilung, die nicht verseucht worden ist. Aber neben diesen Akten wirkt eine Untersuchung durch die Steuerbehörde farblos. Sowohl ihrem Wesen nach und — das ist viel gefährlicher — was den Status der Betroffenen angeht. Ich bin nicht sicher, daß wir über eine Alternative verfügen.«

Genesis wandte sich dem jüngeren Mitglied an seiner Seite zu. »Banner, würden Sie bitte zusammenfassen?«

»Ja, natürlich.« Der schlankwüchsige Mann um die Fünfzig nickte, machte eine kurze Pause und legte dann die Hände vor sich auf den Tisch. »Es gibt hier wenig hinzuzufügen. Sie haben den Bericht gelesen. Die geistigen Prozesse des Subjekts haben sich schnell verschlechtert; ein Internist vermutet Arteriosklerose, aber es gibt keine Möglichkeit, die Diagnose zu bestätigen. Die Akten von La Jolla werden vom Subjekt kontrolliert. An Ort und Stelle. Er schirmt die medizinischen Daten ab. In psychiatrischer Hinsicht gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten: der manischdepressive Zustand hat sich verstärkt und ein Stadium von akuter Paranoia erreicht.« Der Mann hielt inne und drehte den Kopf halb zu Genesis herum, ohne dabei aber jemand anderen am Tisch auszuschließen. »Offen gestanden, genügt mir das schon, um meine Stimme abzugeben.«

»Wer ist zu dieser übereinstimmenden Beurteilung gelangt?« fragte der alte Jude, der als Christopher bekannt war.

»Drei einander unbekannte Psychiater, die aufgefordert wurden, unabhängige Berichte abzugeben. Die Berichte wurden kollektiv von unserem eigenen Mann interpretiert. Das einzig denkbare Urteil war akute Paronoia.«

»Wie haben diese drei Psychiater ihre Diagnose gefunden?« Venice lehnte sich vor und faltete die großen, schwarzen Hände, während er die Frage stellte.

»In einem Zeitraum von dreißig Tagen wurden Infrarot-Telekameras in jeder vorstellbaren Situation eingesetzt, in Restaurants, der Presbyterianischen Kirche, beim Eintreffen und Verlassen aller öffentlichen und privaten Veranstaltungen. Zwei Lippenleser lieferten Abschriften von allem, was gesagt wurde; die Texte waren identisch. Außerdem stehen uns ausführliche und, ich sollte vielleicht sagen, erschöpfende Berichte von unseren eigenen Gewährsleuten im Bureau zur Verfügung. Es gibt keine Möglichkeit, die gezogenen Schlüsse anzuzweifeln. Der Mann ist verrückt.«

»Und was ist mit 1600?« Bravo starrte den jüngeren Mann an.

»Sie kommen näher, machen laufend Fortschritte. Sie sind schon so weit gegangen, eine formelle interne Übereinkunft vorzuschlagen mit dem offenkundigen Ziel, die Archive in die Hand zu bekommen. Das Subjekt ist mißtrauisch; er hat sie schon alle gesehen, und die in 1600 sind nicht die besten. Aber er bewundert ihre Arroganz, ihren Machismo, und sie streicheln ihn. Das ist übrigens das Wort, das benutzt wird. Streicheln.«

»Wie passend«, erwiderte Venice. »Machen sie Fortschritte?«

»Ich fürchte, ja. Es gibt Beweise, daß das Subjekt dem Oval Office einige Dossiers geliefert hat — oder zumindest die gefährlichsten Informationen, die sie enthalten. Es ist schon zu Übereinkünften gekommen, sowohl im Bereich der Politik als auch in bezug auf die Wahlen. Zwei Bewerber um die Nominierung aus den Reihen der Opposition haben sich bereit erklärt, ihre Bewerbung zurückzuziehen — der eine, weil seine Finanzen erschöpft sind, der andere infolge von Instabilität.«

»Bitte erklären Sie das näher«, entschied Genesis.

»Ein krasser Fehler in Worten oder durch eine Handlung, die ihn aus dem Präsidentschaftsrennen wirft, aber nicht ernsthaft genug ist, um seinen Status im Kongreß zu gefährden. In diesem Fall unvernünftiges Verhalten während der Vorwahlen. Diese Dinge sind sorgfältig überlegt.«

»Beängstigend sind sie«, sagte Paris ärgerlich.

»Sie gehen vom Subjekt aus«, sagte Bravo. »Können wir noch einmal zum Thema Autopsie kommen. Läßt sich das unter Kontrolle halten?«

»Das wird vielleicht gar nicht nötig sein«, antwortete Banner, der jetzt die Hände voneinander gelöst hatte und sie, mit den Handflächen nach unten, auf den Tisch gelegt hatte. »Wir haben einen Mann aus Texas eingeflogen, einen Fachmann für kardiovaskulare Forschung! Er nimmt an, er habe mit einer prominenten Familie an der Ostküste von Maryland zu tun. Ein Patriarch, der langsam seinen Verstand verliert und ungeheueren Schaden anrichten kann, und dessen organische und psychiatrische Symptome nicht voneinander unterscheidbar sind. Es gibt ein Digitalispräparat, das in Verbindung mit einer intravenösen Luftinjektion möglicherweise unentdeckbar ist.«

»Wer überwacht diesen Aspekt?« fragte Venice, der sichtlich nicht überzeugt war.

»Varak«, sagte Genesis. »Er hat das ganze Projekt unter Kontrolle. «

Wieder nickten Köpfe.

»Noch Fragen?« erkundigte sich Genesis.

Schweigen.

»Dann wollen wir abstimmen«, fuhr Genesis fort und holte einen kleinen Block unter dem Umschlag hervor. Er riß sechs Blätter ab und gab fünf nach links weiter. »Die römische Ziffer I bedeutet Zustimmung, II Ablehnung. Wie üblich gilt ein unentschiedenes Ergebnis als Ablehnung.«

Die Männer von Inver Brass machten ihre Zeichen, falteten die Papiere zusammen und gaben sie Genesis zurück. Er breitete sie vor sich aus.

»Das Abstimmungsergebnis ist einstimmig, Gentlemen. Das Projekt läuft.« Er wandte sich Banner zu. »Bitte bringen Sie Mr. Varak herein.«

Der jüngere Mann stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie, nickte der draußen im Korridor stehenden Gestalt zu und kehrte zum Tisch zurück.

Varak trat ein und schloß die Tür hinter sich. Er war derselbe Mann, der auf dem dunklen Balkon über dem Eingangsportal Wache gehalten hatte. Jetzt hielt er nicht mehr den Karabiner in der Hand, aber um seinen Hals hing immer noch das Transistormikrofon, und zu seinem linken Ohr führte ein dünner Draht. Sein Alter war schwer zu bestimmen, irgendwo zwischen Fünfunddreißig und Fünfundvierzig — jene Jahre, die aktive Männer mit starken, muskulösen Körpern so leicht verwischen. Sein Haar war hellblond und kurz geschnitten. Sein Gesicht war breit und hatte hohe Backenknochen, was zusammen mit seinen leicht schräg liegenden Augen auf slawische Abkunft deutete. Im Gegensatz zu seinem Aussehen freilich war seine Sprache weich — mit einem Akzent, der an Boston erinnerte, und einem Sprachrhythmus, der auf Mitteleuropa deutete.

»Ist die Entscheidung getroffen?« fragte er.

»Ja«, antwortete Genesis. »Positiv.«

»Sie hatten keine Wahl«, sagte Varak.

»Haben Sie schon einen Zeitplan aufgestellt?« Bravo beugte sich vor, und seine Augen blickten aufmerksam und doch irgendwie unbeteiligt.

»Ja. In drei Wochen. In der Nacht vom 1. Mai; die Leiche wird am Morgen entdeckt werden.«

»Dann wird die Nachricht am 2. Mai verbreitet.« Genesis sah die Mitglieder von Inver Brass an. »Bereiten Sie Erklärungen vor, wo Sie glauben, daß diese benötigt werden. Einige von uns sollten außer Landes sein.«

»Sie vermuten, daß der Tod auf normale Weise gemeldet werden wird«, sagte Varak, und seine weiche Stimme hob sich dabei etwas, um das Gegenteil anzudeuten. »Ohne Kontrollen würde ich das nicht garantieren.«

»Warum?« fragte Venice.

»Ich glaube, 1600 wird in Panik geraten. Diese Kerle würden die Leiche im Kleiderschrank des Präsidenten auf Eis legen, wenn sie glaubten, daß ihnen das die Zeit verschafft, um Zugang zu den Archiven zu bekommen.«

Varaks bildhafte Sprache ließ einige der am Tisch Anwesenden lächeln.

Genesis meinte: »Dann müssen Sie es garantieren, Mr. Varak. Wir werden die Archive haben.«

»Ausgezeichnet. Noch etwas?«

»Nein.«

»Danke«, sagte Gensis und nickte leicht. Varak verließ den Raum schnell. Genesis stand auf und griff nach dem Blatt mit den maschinengeschriebenen Worten in Code. Dann beugte er sich vor und sammelte die sechs kleinen Blätter mit der römischen Ziffer I ein. »Die Sitzung ist geschlossen, Gentlemen. Wie üblich ist jeder von Ihnen selbst für die Vernichtung aller Notizen verantwortlich. «

Einer nach dem anderen traten die Männer von Inver Brass an den Franklin-Ofen. Das erste Mitglied nahm den Deckel mit der Zange ab, die daneben an der Wand hing. Er ließ das Blatt Papier vorsichtig auf die brennenden Kohlen fallen; die anderen taten es ihm gleich.

Die letzten zwei Männer, die sich dem Ritual unterzogen, waren Genesis und Bravo. Sie standen etwas abseits von den anderen.

Genesis sagte leise: »Danke, daß Sie zurückgekommen sind.«

»Sie sagten mir vor vier Jahren, daß ich nicht verschwinden könnte«, erwiderte Munro St. Claire. »Sie hatten recht.«

»Ich fürchte, da ist noch mehr«, sagte Genesis. »Ich fühle mich nicht wohl. Ich habe nur noch sehr wenig Zeit.«

»O Gott ...«

»Bitte. Ich bin es, der Glück hat.«

»Was? Wie?«

»Die Ärzte haben mir zwei oder drei Monate gegeben. Vor zehn Wochen. Ich habe natürlich darauf bestanden, daß sie offen zu mir waren. Sie sind unheimlich akkurat; das kann ich spüren. Ich kann Ihnen versichern, es gibt kein anderes Gefühl, das dem gleichkommt. Es hat etwas Absolutes an sich und damit auch etwas Angenehmes.«

»Tut mir leid. Mehr, als ich in Worte fassen kann. Weiß es Venice?« St. Claires Augen wanderten zu dem hünenhaften Neger hinüber, der sich leise in der Ecke mit Banner und Paris unterhielt.

»Nein. Ich wollte, daß nichts unsere Entscheidung heute abend beeinträchtigt.« Genesis ließ das mit Maschine beschriebene Papier in den gelben Schein des Ofens fallen. Dann knüllte er die sechs Stimmzettel von Inver Brass zu einem Ball zusammen und ließ auch den in die Flammen fallen.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte St. Claire mitfühlend und musterte dabei die eigenartig friedlichen Augen von Genesis.

»Ich schon«, erwiderte der Sterbende und lächelte. »Sie sind jetzt wieder zurückgekehrt. Die Ressourcen, die Ihnen zur Verfügung stehen, sind viel umfangreicher als die von Venice. Oder die eines jeden anderen der hier Anwesenden. Wir wollen einmal annehmen, daß Sie das zu Ende führen, falls ich sozusagen abberufen werde.«

St. Claire blickte auf das Blatt, das er in der Hand hielt. Auf den Namen in der linken oberen Ecke. »Er hat einmal versucht, Sie zu vernichten. Beinahe wäre es ihm gelungen. Ich werde dafür sorgen, daß es durchgeführt wird.«

»Nicht so.« Die Stimme von Genesis klang fest und mißbilligend. »Daran darf nichts Persönliches sein, kein Rachegefühl. Das ist nicht unsere Art; das kann nie unsere Art sein.«

»Es gibt Zeiten, in denen verschiedene Ziele miteinander vereinbar sind. Selbst moralische Ziele. Ich erkenne einfach die Tatsache an. Der Mann ist eine Gefahr.«