Das Kaufhaus – Zeit der Wünsche - Susanne von Berg - E-Book
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Das Kaufhaus – Zeit der Wünsche E-Book

Susanne von Berg

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Beschreibung

Der Tempel des Konsums. 

Stralsund, 1885: Flora und Leonhard Tietz sind Eltern geworden. Doch nicht nur die Familie wächst, auch ihr Laden in Stralsund ist längst zu klein geworden. Händeringend suchen sie eine größere Immobilie. Schließlich finden sie ein geeignetes Objekt in Schweinfurt. Schon wenige Tage nach der Eröffnung muss der neue Laden wieder schließen – das Warenhaus Tietz ist ausverkauft. Von diesem Erfolg beflügelt, wagen Flora und Leonhard einen großen Schritt … 

Die Familiensaga rund um die Kaufhaus-Dynastie »Hertie« geht weiter!

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Über das Buch

Seit Flora und ihr Mann Leonhard einen zum Scheitern verurteilten Laden zu einem riesigen Erfolg gemacht haben, sind fünf Jahre vergangen, und die Geschäfte laufen besser denn je. Voller Elan planen die beiden eine Expansion und suchen nach einem Standort für eine weitere Filiale, wobei ihnen Leonhards Onkel behilflich ist. Doch innerhalb der Familie kriselt es, denn „Onkel Hertie“ hatte auch Leonhards Bruder Hilfe angeboten – nur um das Startkapital für dessen Laden frühzeitig zurückzufordern. Voller Sorge um ihre Zukunft und die ihrer Kinder fragt Flora sich, worauf sie sich da eingelassen haben ...

Über Susanne von Berg

Susanne von Berg ist das Pseudonym des Schriftstellers Andreas Schmidt, der durch seine zahlreichen veröffentlichten Kriminalromane deutschlandweit seit vielen Jahren eine große Stammleserschaft erreicht. Andreas Schmidt lebt und arbeitet als freier Autor und Journalist in seiner Heimatstadt Wuppertal.

Der erste Band seiner spannenden Kaufhaussaga »Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht« liegt im Aufbau Taschenbuch vor.

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Susanne von Berg

Das Kaufhaus – Zeit der Wünsche

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Nachwort

Impressum

Wer von dieser großen Saga begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Oscar Tietz lag trotz der späten Stunde hellwach in seinem Bett und lauschte dem dumpfen Donnergrollen, das aus weiter Entfernung an seine Ohren drang. Ein greller Blitz hatte kurz zuvor die Dunkelheit für den Bruchteil einer Sekunde zerrissen.

Eins, zwei, drei, vier, zählte er. Obwohl er damit gerechnet hatte, zuckte er bei dem markerschütternden Donnerhall zusammen. Nun zog die Unwetterfront offenbar auf Gera zu, denn die Abstände zwischen Blitz und Donner verkürzten sich. Im nächsten Augenblick setzte der Regen ein. Bis eben war es noch eine laue Sommernacht gewesen, doch nun zog ein frischer Wind auf.

Oscar erhob sich aus seinem Bett und tappte barfuß zum offenen Schlafzimmerfenster, um es zu schließen. Die Dächer der umliegenden Häuser glänzten bereits nass. Immer wieder zuckten Blitze vom Himmel herab und tauchten die Stadt in ein bizarres Licht. Fröstelnd kroch er ins Bett zurück. Es lag nicht an dem Unwetter, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf fand. Die Sorgen, die ihn plagten, machten ihm schwer zu schaffen. Dabei hätte er sich, wenn alles nach Plan verlaufen wäre, keine Gedanken mehr um seine Zukunft machen müssen.

Vor einiger Zeit war ihm, eher zufällig, ein Durchbruch gelungen. Er hatte beim Experimentieren ein Verfahren entwickelt, mit dem sich Spitze so preisgünstig herstellen ließ wie nie zuvor. Seitdem belieferte er Groß- und Einzelhändler im gesamten preußischen Reich mit Spitzenbändern, und auch der kleine Laden im Erdgeschoss des Hauses war tagsüber gut besucht. Dort kümmerte sich Oscars Cousine Rebecka, genannt Betty, um die Wünsche der zumeist weiblichen Kundschaft.

Seufzend fragte sich Oscar, wie lange der Laden wohl noch bestehen würde. Anfangs hatte ihm Onkel Hermann, begeistert von der Idee des findigen Neffen, das Geld für die Geschäftsgründung zur Verfügung gestellt. Zum Dank hatte Oscar das Geschäft sogar nach seinem Onkel benannt. Doch den anderen Verwandten, allen voran sein Onkel Chaskel, war es wohl sauer aufgestoßen, dass Hermann Tietz das Geld der Familie in eine so »windige Idee«, wie sie es nannten, investierte. Ihrer Forderung, Oscar solle das Geld zurückgeben, bevor es zu spät war, hatten sie immer wieder Ausdruck verliehen. Chaskel hatte seinen Bruder Hermann dazu gebracht, das Startkapital von Oscar zurückzuverlangen. Zwar konnte Oscar dem Onkel die tausend Mark auszahlen, doch seitdem war er nicht mehr in der Lage, die Rechnungen seiner Lieferanten zu begleichen. Seine ersten Geschäftspartner hatten bereits die Lieferungen eingestellt. Auch die Miete für das Wohn- und Geschäftshaus an der Straße Sorge 23 war rückständig, und es war zu befürchten, dass sie früher oder später auf der Straße stehen würden. Stöhnend drehte sich Oscar wieder auf den Rücken, um an die Decke zu starren, die längst einen neuen Anstrich nötig hatte.

Als er den Blick zum Fenster wandte, sah er, dass es draußen bereits langsam hell wurde. Er streckte sich, setzte sich auf und suchte mit den Füßen blind nach seinen Filzpantoffeln. Er schlüpfte hinein und machte sich auf den Weg in das kleine Bad. Auf dem Flur versuchte er, jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, um Betty nicht zu wecken. Seine Cousine hatte ihren Schlaf nötig, denn sie schuftete tagein, tagaus bis zum Umfallen. Eine treue Seele war sie, die Ziehtochter von Onkel Hermann. Ein Lächeln schlich sich auf Oscars Lippen, als er an Bettys Zimmertür vorbeikam. Sie war ein hübsches Mädchen und gescheit obendrein. Oscar mochte sie sehr.

Im Bad angekommen, wusch er sich das Gesicht in der bereitstehenden Waschschüssel. Das kalte Wasser sorgte dafür, dass seine Sinne klar wurden. Er fröstelte, als er sich die Wangen mit Rasierschaum einrieb, um die Schatten der Nacht mit der Rasierklinge zu vertreiben. Kritisch betrachtete er sein Antlitz in dem kleinen Spiegel, der über der Waschschüssel an der Wand hing. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, untrügliche Anzeichen für die Sorgen, die ihn Tag und Nacht umtrieben. Es war zum Verrücktwerden. Seine Geschäftsidee war genial, der Laden lief, und dennoch steckte er in finanziellen Problemen. Immer wieder dachte er an den Tag, als sein Onkel das Geld zurückgefordert hatte. »Es tut mir leid, und ich hoffe, dich damit nicht in Bedrängnis gebracht zu haben, mein lieber Neffe«, klangen die Worte von Hermann Tietz in ihm nach. Doch, dachte Oscar verbittert, du bringst mich damit an den Rand einer Pleite.

Niemand verstand, warum der junge Kaufmann in letzter Zeit so wortkarg und geistesabwesend schien, wenn er sich im Laden blicken ließ. Das alltägliche Geschäft hatte er seiner Cousine Betty überlassen, sie kümmerte sich um die Wünsche der Damen, die im Woll- und Weißwarengeschäft Tietz alles erstehen konnten, um sich ihre Kleider selbst zu schneidern, während er sich um die kaufmännischen Dinge kümmerte. Die Arbeit im gemeinsamen Unternehmen stärkte ihren Zusammenhalt, und sie führte zu einer ungewöhnlichen Konstellation. So lebten sie seit der Geschäftsgründung in einer Wohnung, die sich im Haus neben dem kleinen Ladengeschäft befand. Auch Onkel Hertie hatte hier mit ihnen unter einem Dach gewohnt, doch jetzt war er fortgezogen, um sich eine neue Aufgabe zu suchen – und hatte sein Geld mitgenommen.

Händeringend suchte Oscar nach einer Lösung, um wieder liquide zu werden, doch wenn sich nichts tat, war es bald aus und vorbei mit seiner Geschäftsidee.

Seine Entdeckung, dass eine Baumwollstickerei auf Wolle bei einem Tauchbad in Salzsäure bestehen bleibt, während sich das Wollmaterial auflöst, war ein Segen für seine Umsätze gewesen. Die von der Wolle befreite Baumwollstickerei ließ sich hervorragend als Spitze verkaufen. Seitdem kaufte Oscar billige Wolle ein, um sie als Trägermaterial für seine Spitze zu verwenden. Das war um ein Vielfaches billiger als die originale, teure Brüsseler Spitze. Hermann Tietz war begeistert von der Idee seines Neffen gewesen und hatte ihm für die Geschäftsgründung spontan das Geld zur Verfügung gestellt. Doch jetzt war das Kapital futsch, und auch der Onkel hatte Gera auf Drängen seiner Brüder wieder verlassen. Nur Betty war Oscar noch geblieben.

In Momenten wie diesen war er froh, dass er keine Familie zu versorgen hatte. Obwohl mit sechsundzwanzig Jahren längst im heiratsfähigen Alter, war ihm die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte, noch nicht begegnet. Oscar fühlte sich von einer ständigen inneren Unruhe umgetrieben.

»Guten Morgen, Oscar, hast du gut geschlafen?«

Erschrocken wirbelte er herum und schnitt sich prompt mit der Rasierklinge. Lautlos war Betty hinter ihm im Bad aufgetaucht. Mit einem Lächeln auf den Lippen stand sie lässig im Türrahmen. Erst, als sie bemerkte, dass sie ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte, verblasste ihr Lächeln.

»Oje«, rief sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken, verzeih mir!«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Oscar und angelte nach dem Tuch, das er sich neben dem Waschtisch bereitgelegt hatte. Die Wunde am Kinn brannte höllisch, doch er wollte nicht allzu wehleidig sein. »Meine Schuld«, bemerkte er und rang sich ein Lächeln ab. »Ich war in Gedanken, und …«

»Ich hätte anklopfen sollen«, entgegnete Betty und trat näher. Sie trug ein weißes, knöchellanges Nachthemd. Während Oscar stillschweigend betete, dass die Blutung am Kinn schnell nachließ, betrachtete er Betty. Sie war eine junge Frau von natürlicher Schönheit. Ihre Haut fand er ein wenig zu blass, dafür faszinierten ihn ihre hohen Wangenknochen und die kleine Nase, die vollen Lippen und ihre wunderschönen smaragdgrünen Augen, in denen er hätte ertrinken können. Die langen roten Haare fielen in sanften Locken auf ihre Schultern und umrahmten ihr liebes Gesicht. Kurz verlor Oscar sich in ihrem Anblick.

Doch sie war seine Cousine. Auch wenn Betty nur die Stieftochter von Onkel Hermann war, der keine eigenen Kinder hatte und sich wohl deshalb so rührend um Betty und um seine Neffen kümmerte. Betty war die Tochter einer gewissen Rosa, von der Onkel Hertie nur selten erzählte. Rosa war offenbar eine von seinen Bekanntschaften im fernen Amerika gewesen, die an einer heimtückischen Lungenkrankheit gestorben war. So hatte Hermann sich ihrer jungen Tochter angenommen und sie mit nach Deutschland gebracht. Ein Seufzen kam über Oscars Lippen, als er an Onkel Hertie dachte. Schnell verdrängte er die beklemmenden Gedanken und erfreute sich wieder an Bettys Anwesenheit. Sie begann, ihn liebevoll zu umsorgen, nahm ihm das Tuch aus der Hand und tupfte die Schnittwunde ab, während er die Rasierklinge zusammenklappte und auf den Waschtisch legte.

»Das tut mir wirklich leid«, hörte er sie sagen.

»Du kannst ja nichts dafür, dass ich in Gedanken war«, erwiderte er mit einem sanften Lächeln, während er sich von ihr versorgen ließ. Er mochte sie sehr gut leiden, nein, er hatte sie gewissermaßen sogar lieb. Und dennoch … Die Leute würden sich die Mäuler über sie zerreißen, sobald bekannt wurde, dass sie … Er verbot sich, den Gedanken zu Ende zu führen, und nahm ihr das Tuch wieder aus der Hand. »Es hat schon aufgehört zu bluten.«

»Ein Glück.« Betty war sichtlich erleichtert.

Für einen Augenblick waren sich ihre Gesichter so nahe, dass sie die Welt um sich herum vergaßen. Erstaunt stellte Oscar fest, dass seine Cousine den Moment der innigen Vertrautheit ebenfalls zu genießen schien. Er war versucht, die Hand zu heben, um ihr schönes Gesicht zu berühren, ihre zarte Haut zu streicheln, doch er hielt sich zurück und unterdrückte das Verlangen. Mit einem Seufzer trat er einen halben Schritt zurück.

»Ich werde uns einen Kaffee aufsetzen«, schlug Betty mit geröteten Wangen vor.

»Einverstanden.« Oscar holte ein paarmal tief Luft. Die Spannung des Augenblicks verblasste nur langsam. Er wusch sich den Rest des Rasierschaums ab und achtete darauf, die Wunde möglichst nicht zu berühren. Im Spiegel beobachtete er seine Cousine, die noch ein paar Sekunden dastand, um ihn zu betrachten, bevor sie sich abwandte und in Richtung Küche verschwand.

Kapitel 2

Sehnsüchtig blickte Flora Tietz auf die monoton tickende Wanduhr in ihrem Büro. Eine Stunde musste sie noch arbeiten, dann wollte Leonhard sie ausführen. Es war der Abend ihres fünften Hochzeitstages, und Leo war der Ansicht, dass dieser Tag entsprechend gewürdigt werden musste. Schon im Vorfeld hatte er sich um alles gekümmert. Nachdem er Magda, ihre Hausdame, gebeten hatte, heute etwas länger zu bleiben, um Heinrich und Alfred zu hüten, hatte er einen Tisch im Gasthaus Lindenhof reserviert, um seine Frau mit einem festlichen Essen zu verwöhnen.

Floras Herz schlug ein paar Takte schneller, wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihren Mann immer noch liebte. Seit ihrer Eheschließung vor fünf Jahren war so unendlich viel passiert, und das Glück war stets auf ihrer Seite gewesen. Noch vor der Hochzeit hatten sie das kleine Weißwarengeschäft von Albert Holst übernommen, um es zu renovieren und mit einem neuen Konzept für die moderne Zeit wiederzueröffnen. Dabei waren ihnen Floras jüngster Bruder Sally und seine Verlobte Anna eine wertvolle Hilfe gewesen. Schon am Tag der Eröffnung war ihnen die Stralsunder Kundschaft zugetan. Schnell hatten sie mehr Personal einstellen müssen, doch auch das hatte nicht genügt, und bereits im Folgejahr hatte das junge Paar sich dazu entschlossen, ein größeres Ladenlokal in der Ossenreyer Straße anzumieten.

Es bot deutlich mehr Platz für eine ansprechende Warenpräsentation und verfügte über ein ausreichend großes Lager, um die Materialien bereitzuhalten. Doch auch hier wurde es in letzter Zeit immer enger. Das Kaufhaus Tietz hatte sich innerhalb des ersten Jahres einen Namen machen können. Sogar Georg Wertheim beneidete Flora und Leonhard um ihren Erfolg. So lieferten sich die Konkurrenten Wertheim und Tietz schon seit der Eröffnung des Geschäfts ein Wettrennen, in dem es täglich um die Gunst der Kundschaft ging.

Flora und Leonhard Tietz waren inzwischen Eltern geworden, und ihre beiden Söhne Heinrich und Alfred Leonhard bereiteten ihnen viel Freude. Der Laden warf genug Umsatz ab, um sich ein Kindermädchen leisten zu können, das sich tagsüber um die Kinder kümmerte. Wobei, streng genommen war Magda viel mehr als nur ein Kindermädchen, denn sie ging Flora auch bei der täglichen Hausarbeit zur Hand.

Magda war ein zierliches Ding mit blasser Haut und hellblauen Augen. Die aschblonden Haare waren tagsüber von einer Haube bedeckt, ihre mädchenhafte Figur konnte man unter der weißen Schürze nur erahnen. Magda war ruhig, zuvorkommend und zurückhaltend, jedoch fand sie stets den rechten Ton, wenn es darum ging, Heinrich und Alfred zu bändigen. Darüber hinaus war sie eine begnadete Köchin und konnte backen wie keine andere. Dass sie ganz nebenbei die anfallenden Arbeiten in der Wohnung mit erledigte, war ein Segen für Flora, denn wenn sie spätabends heimkehrte, war sie oft zu erschöpft, um sich noch um die Wäsche oder ums Putzen der Wohnung zu kümmern. Leo sprach immer von der guten Seele, die er in Magda sah.

Bei aller Arbeit taten Flora und Leonhard ihr Bestes, auch die beiden Jungen nicht aus den Augen zu verlieren, und das war besonders für Flora sehr wichtig. Im nächsten Jahr wurde sie dreißig Jahre – die Zeit verging wie im Fluge, und sie wollte nicht immer nur mit Arbeit beschäftigt sein.

In den vergangenen Wochen war Leonhard mit ihrem Bruder Sally quer durch das Kaiserreich gereist, um die besten Materialien für ihr Geschäft einzukaufen. Gestern war die Lieferung eingetroffen. Jetzt platzte das Kontor im Keller des Hauses aus allen Nähten. Die fleißigen Kommis hielten das Lager stets auf Vordermann. Selbst jetzt, da sie wieder Unterstützung von Sally und Leonhard bekamen, gab es immer noch genug zu tun. Es galt, die frisch eingetroffene Lieferung zu kommissionieren, die Qualität zu überprüfen und einzulagern, bevor sie in die Regale des Ladens geräumt wurden.

Eine Zeit lang hatte Leonhards jüngerer Bruder Oscar sich bei ihnen als Kommis verdingt. Vieles konnte man Oscar vorwerfen, doch an Fleiß hatte es ihm nie gemangelt. So war er mit dreizehn Jahren von seinen Eltern zu Onkel Chaskel in die Lehre nach Prenzlau geschickt worden. Seine Lehrjahre waren alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen. Er hatte unermüdlich und an sechs Tagen in der Woche im Lumpenlager seine Arbeit verrichtet, um nachts noch stundenlang mit anderen Kontorarbeitern über der Buchhaltung zu brüten. Doch Lehrjahre waren schließlich keine Herrenjahre, und bei seiner Arbeit war es Oscar immerhin gelungen, sich auch in Sachen Warenkunde zu bilden. Er lernte, die Materialien voneinander zu unterscheiden und sie angemessen zu bewerten. Nach der Lehrzeit hatte ihn sein Onkel vor die Tür gesetzt mit den Worten: »Jetzt sei ein guter Kommis, aber nicht bei uns.« Als Abschiedsgeschenk hatte der alte Chaskel ihm einen Hut und einen Stock gegeben und ihn weggeschickt, anstatt ihm eine feste Anstellung zu geben. So stand der junge Kaufmann erst einmal vor dem Nichts. Von dem Moment an war das Verhältnis zwischen Onkel und Neffen gestört gewesen.

Nachdem Oscar eine Zeit lang hier und da eine Anstellung gesucht hatte, war er in Stralsund aufgetaucht und hatte seinen Bruder um Arbeit gebeten. Leonhard hatte, gutmütig, wie er war, nicht lange gezögert und Oscar eine Chance gegeben. Flora hatte ihm dabei den Rücken gestärkt. Sie wusste, wie wichtig ihrem Mann der Zusammenhalt innerhalb der Familie war.

Da Oscar fleißig im Kontor gearbeitet hatte, war er schon bald als reisender Handelsvertreter eingesetzt worden. Den Vorschlag, Oscar könne Leonhard bei den Reisen vertreten, hatte Flora gemacht, damit ihr Mann mehr Zeit bei ihr in Stralsund verbringen konnte. In der Folgezeit hatte Oscar Kunden, aber auch Großhändler und Hersteller besucht. Dabei gehörte es zum Tagesgeschäft, dass die Konkurrenten versuchten, sich gegenseitig die besten Kunden abspenstig zu machen. Oscar hatte Kampfgeist bewiesen, als Georg Wertheim einen lukrativen Kunden in Ludwigslust hatte stehlen wollen. Nicht nur durch geschäftliches Kalkül motiviert, hatte Oscar dem alten Carl Meister versprochen, seiner äußerst attraktiven Tochter eine Anstellung als Ladenmädchen in Stralsund zu besorgen, wenn dieser sämtliche Geschäftsverbindungen zu Wertheim abbräche.

Zurück in Stralsund, hatte Oscar ihnen die junge Hannah Meister als seine enge persönliche Freundin vorgestellt. Somit hatten weder Leonhard noch Flora Bedenken, sie als Ladenmädchen einzustellen. Im Nachhinein hatte sich diese Entscheidung als Fehler herausgestellt, denn dass dem Weißwarengeschäft Tietz aus dieser an Bestechung grenzenden Abmachung ein bedeutender Vorteil entstand, erzürnte Georg Wertheim, als dieser von dem fragwürdigen Geschäft erfuhr. Es hatte einen mittelprächtigen Skandal gegeben, der Leonhard dazu gezwungen hatte, seinen Bruder zu entlassen, um den Ruf des noch jungen Geschäfts nicht über Gebühr zu strapazieren.

Jetzt lebte Oscar unter einem Dach mit seinem Onkel Hermann und seiner Cousine Betty in Gera, wo sie zu dritt ein Weißwarengeschäft mit Schwerpunkt auf Spitze gegründet hatten.

Flora hatte Oscars Weggang bedauert, denn während seiner Anstellung bei ihnen hatte Leo weniger reisen müssen und mehr Zeit mit ihr und den Kindern verbringen können. Sie würde sich wohl nie ganz daran gewöhnen, dass Leonhard wieder so oft auf Reisen war und sie die Geschicke des Ladens allein lenken musste.

Seufzend legte Flora den Stift zur Seite und betrachtete ihre Notizen. Die Männer befanden sich unten im Kontor, um die frisch eingetroffenen Stoffe zu kommissionieren und für den Verkauf vorzubereiten. Leo war auch im fünften Jahr nach der Geschäftsgründung voller Tatendrang. Er freute sich über die tatkräftige Unterstützung von Floras Bruder Sally, der in der Familie Baumann wegen seiner Abenteuerlust als schwarzes Schaf galt, und seiner Verlobten Anna, die als Ladenmädchen arbeitete. Die beiden hatten sich während der Sommerfrische auf der Insel Rügen kennen- und lieben gelernt. Anna und Leonhard war es gemeinsam gelungen, aus dem abenteuerlustigen Wildfang einen erwachsenen Mann zu machen, der bereit war, Verantwortung zu tragen, und der ein vorbildliches Pflichtgefühl an den Tag legte. Umso verwunderlicher erschien Flora der Umstand, dass Sally sich bisher nicht getraut hatte, Annas Vater Johann Abel um die Hand seiner Tochter zu bitten. So lebten die beiden in wilder Ehe zusammen, eine Tatsache, die in der Gesellschaft des Öfteren auf Ablehnung stieß. Doch für Sally und Anna war das Leben, so wie es war, goldrichtig.

Das Gleiche konnte Flora von dem Leben mit ihrer Jugendliebe behaupten. An Leonhards Seite hatte sie schon als junges Mädchen die beschauliche Provinz Birnbaum, in der sie aufgewachsen waren, verlassen, um in Stralsund ein neues Leben zu beginnen. Leo war wortgewandt und schlau, er war wissensdurstig, und er liebte Musik und Tanz. Dass er sich in der jüngsten Vergangenheit nicht nur als guter Ehemann, sondern auch als fürsorglicher und liebevoller Vater erwiesen hatte, machte Floras Glück vollkommen. Sie freute sich schon sehr auf ihr Rendezvous heute Abend. Anna hatte ihr versprochen, die Kasse abzurechnen, so dass Flora den Laden pünktlich verlassen konnte.

Ein leises Klopfen an der angelehnten Bürotür riss Flora aus ihren Gedanken. Sie richtete sich auf, rief »Herein!«, und glättete den Stoff ihres himmelblauen Kleids.

Es war Anna, die den Kopf zögerlich durch den Türspalt steckte. »Ich stör ja nur ungern, aber im Laden ist Besuch für dich.«

»Für mich?« Während Flora sich erhob, überlegte sie verwundert, wer sie hier im Geschäft besuchen wollte. Als einzige Möglichkeit kam ihr ihre beste Freundin Paula in den Sinn. Paula war die Tochter der berühmten Malerin Antonie Biel, die zwischen Berlin und Stralsund pendelte, um ihre Ausstellungen zu begleiten.

»Ein Herr«, erklärte Anna zu Floras Überraschung. »Er hat explizit nach dir gefragt.«

Flora folgte Anna durch den Korridor in Richtung Ladenlokal. Von hier aus hörte sie die Männer unten im Kontor miteinander reden. Der Duft von Farbe und Stoffen drang durch die offen stehende Kellertür nach oben.

An dem Vorhang, der den Laden vom hinteren Teil des Geschäfts trennte, blieb Flora kurz stehen, um sich zu sammeln. Dann schob sie den samtenen Vorhang zur Seite und trat ins Geschäft. Tatsächlich stand dort ein Mann, der ihr gerade den Rücken zukehrte, um die Auslagen des großen Schaufensters in Augenschein zu nehmen. Er trug einen dunklen Anzug mit langem Gehrock und hielt den Zylinder an der breiten Krempe hinter dem Rücken. Sein Haar war grau und akkurat geschnitten. Den Gehstock mit dem silbernen Griff hatte er sich lässig in die Armbeuge gehängt. Der Griff mündete in die Nachbildung eines stolzen Schwanenkopfs und verlieh dem Stock ein hochwertiges Aussehen.

Flora zögerte. »Sie wollten zu mir?«

Anna war inzwischen in ein Gespräch mit einer Kundin vertieft, einer stattlichen Frau mit einem weit ausladenden Hut auf dem Kopf, der farblich wundervoll mit ihrem dunkelgrün schimmernden Kleid harmonierte. Sie interessierte sich offenbar brennend für die neueste Kollektion Brüsseler Spitze und nahm Annas Aufmerksamkeit vollkommen in Beschlag.

Der Mann riss sich vom Anblick der Auslage los und wandte sich zu Flora um. Durch die Gläser seines Zwickers sahen zwei amüsiert funkelnde Augen sie an. »Flora«, sagte er mit seinem angenehm tiefen Timbre, während er näher trat. »Gut siehst du aus!« Sein Lächeln war entwaffnend.

»Onkel Hertie!« Flora konnte es kaum glauben. Hermann Tietz, den sie in der Familie wegen seines mehrjährigen Amerikaaufenthaltes liebevoll Onkel Hertie nannten, sah blendend aus. Er war seinerzeit Leonhards Mentor gewesen, als es um die Eröffnung ihres ersten Geschäfts gegangen war. Und auch um Leos Bruder Oscar hatte er sich väterlich gekümmert.

»Flora«, sagte Hermann erfreut, wobei der prächtige ergraute Schnurrbart bei jeder Silbe wippte, »schön, dich zu sehen!«

»Was treibt dich in unser beschauliches Stralsund?« Flora ahnte, dass es nicht ausschließlich die Sehnsucht nach seiner Familie war, die ihn hierhergetrieben hatte. Meistens hatte er bei seinen Besuchen einen Hintergedanken.

»Ich wollte mal nach dir und nach meinem Neffen schauen«, sagte Hermann Tietz mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen. »Und natürlich nach Heinrich und dem kleinen Alfred.«

»Das ist alles?« Flora musste lachen.

»Die Seeluft tut mir gut«, behauptete Hermann. »Es ist eine Wohltat, am Strand entlangzuwandern, den Blick in die Ferne zu richten und den frischen Wind von der See zu genießen.«

»Wie schön.« Flora gab vor, ihm zu glauben. Früher oder später würde sie schon den wahren Grund des Besuchs erfahren. »Wie lange bleibst du denn?«

»Nun, ich denke, ein paar Tage werde ich es in Stralsund aushalten.« Onkel Hertie zwinkerte ihr vergnügt zu.

Als Flora bemerkte, dass die Kundin ihrem Gespräch sichtlich interessiert lauschte, senkte sie die Stimme. »Komm mit nach hinten«, raunte sie Onkel Hertie zu. »Leo wird Augen machen, wenn er dich sieht.«

»Davon bin ich überzeugt.« Hermann lachte, als er ihr durch den weinroten Vorhang nach hinten folgte. Und Flora wurde den Verdacht nicht los, dass Onkel Hertie mal wieder etwas im Schilde führte.

Kapitel 3

»Was bedrückt dich, Oscar?« Voller Sorge betrachtete Betty ihn, während sie ihm einen Kaffee einschenkte. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass ihn etwas bewegte. Oscar war wortkarg und wirkte an diesem Morgen in sich gekehrt, mitunter sogar geistesabwesend.

Ihr konnte er nichts vormachen, darüber war sich Oscar im Klaren. Mit rotem Kopf rang er sich ein Lächeln ab und zuckte mit den Schultern. In der kleinen Küche duftete es nach frischem Brot und Kaffee. Betty stand am Küchenofen und war gerade damit beschäftigt, zwei Eier in einer Schüssel mit Milch zu verquirlen, um ihm seinen geliebten Matzenbrei zuzubereiten. Doch Oscar verspürte keinen Hunger. Lustlos nippte er an seinem Kaffee, während er nach den richtigen Worten für eine Antwort suchte. Er wollte ihr keine Angst einjagen, indem er sie wissen ließ, wie viele Sorgen er sich um die Existenz ihres Geschäfts machte. Bisher hatte er die kaufmännischen Belange immer von Betty ferngehalten. Doch nun, so schien es, hatte sie ihn durchschaut. »Du hast etwas auf dem Herzen, oder?«, half sie ihm auf die Sprünge, als sie sich zu ihm an den Küchentisch setzte.

Er betrachtete sie nachdenklich. »Du kennst mich gut, Betty.«

»Wie sollte es auch anders sein?« Sie rollte mit den Augen. »Wir leben unter einem Dach wie ein Ehepaar, wir arbeiten den ganzen Tag Seite an Seite im Laden.«

»Recht hast du.« Lächelnd nahm er ihre zierliche Hand und drückte sie sanft. Dann verblasste sein Lächeln. »Es ist so, dass mir die Auszahlung von Onkel Hertie schwer zu schaffen macht«, eröffnete er ihr. Dabei achtete er auf jede Regung in ihrem Gesicht. »Seine Brüder haben das eingesetzte Geld zurückverlangt, und ich habe es ihm geben müssen.«

»Und jetzt sind wir pleite.«

»Das könnte man so sagen.« Oscar nickte. »Doch ich kann das Geschäft nicht aufgeben, Betty, denn daran hängt unsere ganze Existenz. Nur weiß ich nicht mehr ein noch aus, und das macht mir schwer zu schaffen.« Ein tiefes Seufzen kam über seine Lippen.

»Wir werden einen Ausweg finden, Oscar.« Betty beugte sich zu ihm hinüber. »Es geht immer irgendwie weiter.« Er spürte für einen kurzen Moment ihren Atem auf seiner Haut. Es war ein eigenartiges Gefühl, der geliebten Cousine so nahe zu sein, und Oscar lehnte sich ein wenig zurück. »Aber wie?«, fragte er. »Wie soll es mit dem Geschäft weitergehen, wenn die Lieferanten sich weigern, uns zu beliefern, solange wir mit den Rechnungen im Rückstand sind?«

Betty, der offenbar aufgefallen war, dass ihm ihre Nähe unangenehm gewesen war, erhob sich, um zurück an den Herd zu treten. Sie nahm einen Holzlöffel aus dem Wandregal und setzte ihre Arbeit fort.

Nachdenklich betrachtete Oscar ihren schlanken Rücken. Ihm wollten die rechten Worte nicht in den Sinn kommen, und so schwieg er betreten.

»Wir werden eine Lösung finden, Oscar«, sagte sie schließlich in die Stille hinein, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Ich lasse mir etwas einfallen.«

Kapitel 4

Leonhard machte tatsächlich große Augen, als Flora ihn ins Büro rief und er dort auf seinen Onkel traf. Die Männer fielen sich voller Herzlichkeit in die Arme, wobei Hermann Tietz seinen eher kleinen und schmalen Neffen beinahe erdrückte.

»Flora«, sagte Leo schließlich, während er sich die Kleider richtete. »Darauf müssen wir anstoßen.«

Flora runzelte die Stirn und sah bedeutungsvoll auf die Uhr. »Um diese Zeit schon?«

»Der Anlass ist es wert«, bemerkte Leonhard augenzwinkernd und stellte zwei Gläser bereit. »Du trinkst doch ein Glas koscheren Wein mit mir, werter Onkel?«

»Da lasse ich mich nicht zweimal bitten«, lachte Hermann Tietz, legte seinen Zylinder auf den Schreibtisch, hängte den Spazierstock mit dem Griff an die Tischkante und zog sich einen der vier gedrechselten Mahagonistühle heran, die Leo von einer Reise nach Kassel mitgebracht hatte. Ein wohliges Seufzen kam über seine Lippen, als er in das bequeme Polster sank und die Hände auf die rundgeschliffenen Armlehnen legte.

Flora gab sich geschlagen und trat an das Kabinett in der Ecke des Büros, um eine Flasche des Muskatweins hervorzuholen, die Leonhard für besondere Zwecke bereithielt. Flora entkorkte die Flasche und befüllte die zwei Gläser auf dem kleinen Mahagonitischchen neben Hermann. »Sagt«, eröffnete der Onkel das Gespräch, »wie ist es euch in der Zwischenzeit ergangen?«

Flora setzte sich auf den hölzernen Drehstuhl am Fenster, um dem Gespräch der Männer zu lauschen.

Leonhard setzte sich zu seinem Lieblingsonkel und lächelte. »Wir können nicht klagen«, antwortete er. »Die Kundschaft hält uns die Treue, denn zum Glück verkauft Georg Wertheim sein Sortiment nicht zu den attraktiven Konditionen, wie wir sie seit dem Tag unserer Eröffnung anbieten. Das verschafft uns einen Vorteil.« Die Männer prosteten sich zu und nippten von ihrem Wein. »Und wie du siehst, mussten wir uns bereits vergrößern.« Leonhard breitete die Arme aus. »Der Laden von Herrn Holst wurde schnell zu klein. Hier haben wir genügend Platz.«

»Euer Fleiß hat sich also gelohnt«, stellte Hermann mit anerkennendem Blick fest. Er trank noch einen Schluck von seinem Wein und seufzte genießerisch. »Ein herrlicher Tropfen, lieber Neffe. Hast du mal darüber nachgedacht, Wein ins Sortiment aufzunehmen?«

Leonhard musste lachen. »Der Wein ist in der Tat köstlich«, sagte er, »jedoch verbietet uns das aktuelle Sortiment die Ausweitung um Wein. Alles auf einmal geht nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass es eines Tages möglich sein wird.«

Hermann lächelte nachdenklich, bevor er sich Flora zuwandte. »Und wie geht es dir als Ladenbesitzerin?«

»Auch ich bin glücklich mit dem, was wir uns hier aufgebaut haben«, erwiderte Flora wahrheitsgemäß. »Und dennoch«, sie warf ihrem Mann einen Blick zu, »könnten wir uns vorstellen, noch mehr zu schaffen.«

»Die Kaufkraft der Kundschaft in Stralsund ist gewissermaßen begrenzt«, stimmte Leonhard ihr zu. »Wir haben gute Umsätze und erfreuen uns breiter Bekanntheit sowie einer großen Stammkundschaft – und trotzdem …« Leo suchte nach den richtigen Worten. »Ich bin mit Flora einer Meinung, wir könnten noch mehr erreichen.«

»Aber nicht in Stralsund?« Onkel Hertie schien zu begreifen, worauf sein Neffe hinauswollte.

»Ich habe schon mit neuen Standorten außerhalb der Stadt geliebäugelt«, räumte Leonhard ein. »Um uns neue Märkte zu erschließen.«

Flora beobachtete Onkel Hertie aufmerksam.

»Ein gewagter Plan«, murmelte er nachdenklich. »Doch durchaus sinnvoll.«

»Der Erfolg unseres Geschäfts ermutigt uns, das Wagnis einzugehen«, erklärte Flora. »Derzeit suchen wir nach einer geeigneten Stadt, in der wir ein zweites Geschäft eröffnen können.«

»Dabei will ich das Risiko zu Anfang gering halten«, warf Leonhard ein. »Ein kleines Ladenlokal zur Miete sollte also genügen. Wenn unser Plan von Erfolg gekrönt ist, können wir am neuen Standort expandieren.«

»Das klingt alles sehr vernünftig, Leonhard.« Wieder nippte Hermann an seinem Muskatwein. Flora bemerkte, dass ihn etwas zu beschäftigen schien.

»Wann musst du zurück zu Oscar und Betty?«, fragte Leonhard.

Sein Onkel blickte ruckartig zu ihm auf. »Gar nicht«, antwortete er. Seine Stimme war emotionslos, doch Flora sah, dass in seinen Augen ein trauriger Ausdruck lag. Etwas musste in Gera vorgefallen sein.

»Aber das Geschäft dort lief doch so gut?«

»Das tut es immer noch, liebe Flora«, bekräftigte Hermann. »Der Laden ist nur selten leer, und Oscar kommt kaum mit der Produktion neuer Spitze hinterher.«

»Aber?«

»Mein Bruder Chaskel hat verlangt, dass ich mir das Geld, das ich Oscar seinerzeit zur Verfügung stellte, zurückhole. Es handle sich schließlich um das Kapital der ganzen Familie, und es sei ein Unding, dass ich es für die verrückten Ideen des abenteuerlustigen Oscar ausgebe.« Onkel Hertie sah Flora und seinen Neffen bedauernd an. »Es tat mir in der Seele weh, das Geld von deinem Bruder zurückzuverlangen, das kannst du mir glauben.«

»Liegt ihr seither miteinander im Streit?« Flora konnte sich gut vorstellen, dass der Haussegen nach so einer Aktion schief hing.

»Nein, das nicht. Aber es überschattet unser Verhältnis ein wenig, wie ihr euch vorstellen könnt.« Hermann schüttelte das ergraute Haupt. »Und dennoch würde ich Oscar und Betty gern weiterhin zur Seite stehen.«

»Du hast also deine Zelte in Gera abgebrochen?« Leonhard betrachtete seinen Onkel über den Rand des Weinglases hinweg.

»So könnte man es sagen, ja.« Hermann senkte den Blick. »Aber wenn sich eine Türe schließt, tut sich eine neue auf, heißt es immer.«

Flora sah die Wehmut in seinem Blick. »Du kannst erst einmal bei uns wohnen.«

»Nein, nein, das kann ich nicht annehmen.« Hermann hob abwehrend die freie Hand. »Ich bin im Hotel untergekommen, dort kümmert man sich reizend um mich.«

»Aber …«, widersprach Leonhard, brach aber ab, als er das energische Kopfschütteln seines Onkels bemerkte.

»Es geht mir gut damit«, versicherte Hermann Tietz ihm.

»Wie geht es denn jetzt weiter mit Oscar?«, wechselte Leonhard das Thema.

»Ursprünglich hatte auch er daran gedacht, einen zweiten Laden zu eröffnen, auch wenn ich nicht weiß, ob er das jetzt noch umsetzen kann. Er wollte sich in Bayern nach einem Standort umschauen, eventuell in München.«

»Ich möchte meinem Bruder auf keinen Fall Konkurrenz machen«, überlegte Leonhard. »Der Süden scheidet bei unserer Suche also aus.«

»Mein Angebot, euch behilflich zu sein, steht.« Onkel Hermann leerte sein Glas in einem letzten großen Schluck. Flora nahm es ihm aus der Hand. »Wenn du deinem Bruder nicht auf den Schlips treten willst, müsst ihr euch an den Norden halten.«

Flora atmete tief ein. »Sollten wir es nicht zunächst hier in der Nähe versuchen? Wie wäre es mit Rostock?«

Leonhard und Hermann tauschten einen Blick, schüttelten dann aber die Köpfe. »Nicht erstrebenswert«, fand Hermann. »In Rostock ist die Käuferschicht noch begrenzter als hier in Stralsund, das wäre keine Herausforderung für euch.« Er sah ins Leere. »Man müsste erkunden, wo zahlungskräftige Kundschaft zu gewinnen ist.«

»Solange es nicht München ist«, betonte Leonhard noch einmal.

»Nein, nein.« Hermann schüttelte nachsichtig den Kopf. »Macht euch keine Sorgen, meine Lieben, Onkel Hertie steht euch zur Seite.«

*

Flora musste zugeben, dass sie sich ihren Hochzeitstag anders vorgestellt hatte. Die romantischen Pläne, die Leonhard geschmiedet hatte, waren mit dem Auftauchen von Onkel Hermann nichtig geworden. Doch die Freude angesichts des Wiedersehens überwog, und auch Anna und Sally hatten sich am Abend zu ihnen gesellt. Während die Frauen in der großen Küche damit beschäftigt waren, das Essen zuzubereiten, hielten sich die Männer im Salon der großen Wohnung auf. Bei einem weiteren Glas Wein schmiedeten die Männer Zukunftspläne für das Geschäft.

Magda hatte sich vor einer Stunde zurückgezogen, nachdem sie die Jungen gebadet und ins Bett gebracht hatte. Onkel Hertie hatte ihnen zuvor noch schnell eine gute Nacht gewünscht. »Ihr zwei könnt wirklich stolz auf eure Eltern sein«, hatte er den Kindern ins Ohr geflüstert.

»Ich mag deinen Onkel Hermann sehr«, bemerkte Anna, während sie das geschabte Rind- und Kalbfleisch in den Topf gab, in dem sich schon die geriebenen Semmeln befanden.

Flora, die gerade eine Zwiebel schnitt, nickte mit tränenden Augen. »Er ist Leos Lieblingsonkel. Immer, wenn sie zusammen sind, kommt etwas Gutes dabei heraus.«

»Stimmt es eigentlich, dass er eine Zeit lang in Amerika war?«

»Das ist richtig, er hat dort seine Lehre gemacht und viele Ideen gesammelt, die uns allen hier jetzt zugutekommen.«

»Warum nennt ihr ihn eigentlich immer Onkel Hertie und betont das so komisch?«

Jetzt musste Flora lachen. Diese Frage hatte sie sich zu Anfang auch immer gestellt. »Es ist wohl eine Eigenart der Amerikaner, solche Namen zu erfinden, wenn sie die echten Namen nicht richtig aussprechen können«, erklärte Flora und wischte sich mit der Schürze eine Träne ab. »Bei Onkel Hermann haben sie einfach die ersten Silben aus seinem Vor- und Nachnamen zu einem Wort zusammengefügt.«

»Her-Tie«, sprach Anna langsam aus. »Stimmt!« Auch sie musste nun lachen, während sie den Topf auf den Ofen hob und mit einem Holzlöffel darin zu rühren begann. »Und mit amerikanischem Akzent kommt dann so etwas wie Hördy dabei heraus.«

Abwechselnd sprachen die beiden jungen Frauen das lustige Wort aus und kicherten dabei haltlos.

»Lacht ihr über mich?«

Sie hatten nicht bemerkt, dass Hermann die Küche betreten hatte. Peinlich berührt drehten sie sich zu ihm um. »Ich habe Anna gerade erklärt, wie es zu deinem Spitznamen kam«, erklärte Flora verlegen.

»Ach das!« Leonhards Onkel lachte schallend. »Ja, die verrückten Amerikaner. Aber sie haben viele gute Ideen, die ich mir abgeschaut habe.«

»Warum bist du eigentlich dorthin gereist?«, fragte Flora und gab die Zwiebeln in den Topf. Sie putzte sich die Hände an einem rot-weiß karierten Tuch ab und trank einen Schluck Wasser.

Hermann Tietz wirkte nachdenklich. Er sank auf die Holzbank am Fenster. »Deutschland hat mir als junger Mann nicht mehr gefallen«, sagte er mit einer für ihn untypischen Melancholie in der Stimme. »Das Deutsche Reich war mir zu undemokratisch, und die Stimmen, die sich gegen unsere Religion aussprachen, wurden immer lauter.«

»Und auf dem amerikanischen Kontinent hatte man nichts gegen Juden?« Flora setzte sich zu ihm.

»Man ist dort jedenfalls viel toleranter als hier«, erklärte er lächelnd. »Ich bin dort gut zurechtgekommen. Die Amerikaner sehen viele Dinge anders. Und ich mag ihre Leichtigkeit und ihre Art, Geschäfte zu machen.« Er bat Flora um ein Glas Wasser. »Ich habe dort viel Geld verdient, wovon ich einiges Oscar für sein Geschäft in Gera bereitgestellt habe. Der Rest kam von meinen Brüdern.« Er wirkte nachdenklich. »Euch hingegen habe ich nichts gegeben, außer klugen Ratschlägen.«

»Das ist schon in Ordnung«, versicherte Flora ihm. »Leo hat das Geld aus der Abfindung seiner Teilhaberschaft von Winkelmann in die Gründung des Ladens investiert.« Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch erinnerte sie sich an Leonhards Schulfreund Alfons Wagner, mit dem er die angeschlagene Firma einst übernommen hatte. Wagner hatte Flora nachgestellt und sie zu einer Affäre überreden wollen, obwohl er selbst verheiratet war. Schließlich hatte das zum Bruch zwischen den Geschäftspartnern geführt, und Flora war froh, dass sie Wagner seitdem nicht mehr begegnet war. »Und deine Ratschläge waren Gold wert«, fügte sie hinzu und lächelte Onkel Hertie an.

»Sie beruhen auf den Ideen, die ich in Amerika gesammelt habe«, erwiderte Onkel Hermann. »Dort haben sie große Warenhäuser, in denen es alles zu kaufen gibt, was das Herz begehrt.«

»Unvorstellbar«, meinte Anna.

»Warum?« Hermann sah zu dem Ladenmädchen hinüber. »Die Idee hat durchaus ihren Charme. Man bekommt, wenn man mehrere Dinge erstehen möchte, die Möglichkeit, alles in einem einzigen Laden zu finden.« Jetzt schmunzelte er. »Und wenn es regnet, bleibt man beim Einkaufen trocken.«

»Wie groß muss ein derartiges Geschäft dann wohl sein?«, fragte Anna fasziniert.

»So groß wie ein ganzes Haus.« Hermann blickte versonnen. »Schon seit meiner Rückkehr aus Amerika träume ich davon, ein derartiges Warenhaus auch hier im Deutschen Reich zu eröffnen.«

Flora lachte. »Bei jedem anderen würde ich das als Luftschloss abtun, aber bei dir glaube ich fest daran, dass du es in die Tat umsetzen wirst.«

»Ach, liebe Flora, wenn es nur so einfach wäre.« Er seufzte. »Ein derartiges Haus zu bauen, setzt hohes Eigenkapital voraus. Geld, über das ich gerade nicht verfüge. Aber träumen kann man ja.« Er erhob sich und stellte das leere Wasserglas zurück. »Und jetzt«, sagte er, »gehe ich zu den Männern zurück.« Im Türrahmen wandte er sich noch einmal zu Flora und Anna um. »Wir müssen Pläne schmieden.«

Während Flora ihm nachblickte, versuchte sie sich vorzustellen, was der Onkel ihres Mannes da plante. Doch sprach sie ihn noch nicht darauf an. Alles zu seiner Zeit, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und ihre Mutter war eine sehr weise Frau.

Kapitel 5

Der Abend war hereingebrochen, und sie saßen trotz später Stunde noch beieinander. Da es längst dunkel war, hatten sie es sich zu fünft im Schein der Petroleumlampe in der Küche gemütlich gemacht. Die Glocke der Nikolaikirche schlug zehn Uhr, und eigentlich war es höchste Zeit, in die Betten zu kriechen.

Nach Leonhards anfänglichen Zweifeln hatte Flora ihren Mann darin bestärkt, das Angebot seines Onkels anzunehmen, sie bei der Geschäftsvergrößerung zu unterstützen. Doch sie suchten immer noch nach einem geeigneten Standort für eine Filiale.

»Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ihr euer Glück im Süden versuchen solltet«, bemerkte Hermann Tietz und sah Anna, Flora, Sally und Leonhard ernst an.

»Aber es ist nicht erstrebenswert, Oscar in Bayern Konkurrenz zu machen«, warf Leonhard erneut ein. Flora wusste, dass die gute Beziehung zu seinem Bruder ihm wichtiger war als geschäftliche Interessen.

»Wo genau will Oscar denn eine Niederlassung eröffnen?« Anna beugte sich über den Tisch. Bisher hatte sie der Unterhaltung schweigend beigewohnt.

»Er denkt über München und Amberg nach«, antwortete Onkel Hertie und wirkte für einen kurzen Moment etwas melancholisch. »Er wird seinen Weg gehen, hoffe ich. Wie er das alles bezahlen will, ist mir allerdings schleierhaft.«

»Mutig ist er, das muss man ihm lassen«, sagte Leonhard und zwinkerte Flora zu. »Aber das liegt wohl in der Familie.«

»Wohl wahr, und darum bin ich überzeugt, dass auch ihr das Wagnis eingehen werdet, euch zu vergrößern.« Hermann betrachtete sie beide, dann wanderte sein Blick zu Sally und Anna. »Was sind eure Pläne?«

Anna errötete etwas. »Wie meinen Sie das?«

»Wo seht ihr euch in drei, vier Jahren?« Der erfahrene Kaufmann betrachtete die jungen Leute mit prüfendem Blick.

Sally nahm Annas Hand und lächelte sie verliebt an, schwieg jedoch.

»Vielleicht sind wir bis dahin eine richtige Familie?«, meinte Anna zaghaft.

Sally zuckte kaum merklich zusammen. Flora musste sich ein Lächeln verkneifen. Sie kannte ihren kleinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er es nicht eilig hatte mit der Familienplanung.

Hermann Tietz faltete seine großen Hände auf der Tischplatte. »Passt das denn zu euren beruflichen Plänen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wärt ihr in der Lage, euch ein Kindermädchen zu leisten?«

Sally und Anna wechselten einen Blick. »Darüber haben wir uns offen gestanden noch keine Gedanken gemacht«, räumte Sally schließlich ein.

Sekundenlang war das muntere Prasseln des Feuers im Ofen das einzige Geräusch in der Küche, dann seufzte Hermann und lächelte das junge Paar nachsichtig an. »Das ist verständlich in eurem Alter, aber langsam solltet ihr darüber nachdenken, ob ihr Geld für Hausangestellte zusammenbekommen würdet.«

»Das halte ich für eher schwierig«, befand Anna nachdenklich. »Mein Lohn wird kaum genügen, und auch Sally als Kontorist ist sicher nicht in der Lage, Personal einzustellen.«

»Was wäre die logische Folgerung?«

»Dass wir uns beruflich weiterentwickeln«, erkannte Sally. »Wir müssen genug Geld verdienen, um damit eine Familie ernähren und Personal einstellen zu können.«

»So sehe ich das auch.« Hermann schien zufrieden mit der Antwort des jungen Mannes. »Also strebt ihr andere Karrieren an?«

»Wir würden Leo und meine Schwester niemals im Stich lassen«, widersprach Sally eilig. »Wir haben den beiden so viel zu verdanken, und ich weiß, dass Leo und Flora uns brauchen.«

»Das ist wahr.« Leonhard nickte. »Ihr zeigt stets lobenswerten Einsatz, der viel zu unserem Erfolg beigetragen hat.«

Onkel Hertie betrachtete seinen Neffen mit einem Funkeln in den Augen. »Könntest du die beiden denn entbehren?«

»Äußerst ungern.« Leo nahm den Zwicker von der Nase, um die runden Gläser zu polieren. Dann wandte er sich an seinen Schwager und Anna. »Aber ihr müsst euren eigenen Weg gehen, dabei wollen wir euch nicht aufhalten.«

»Willst du uns etwa loswerden?« Sally wirkte ein wenig beleidigt.

»Natürlich nicht.« Leonhard hielt den Zwicker prüfend vor die Laterne und setzte ihn mit einem verschmitzten Lächeln wieder auf. »Aber wenn ihr euch weiterentwickeln und uns gleichzeitig erhalten bleiben wollt, dann gibt es nur einen Weg.«

»Was hast du vor, Leo?«, fragte Flora, die ahnte, worauf ihr Mann hinauswollte.

»Ich denke an die geplante Filiale.«

»Die ihr leiten solltet.« Hermann blickte Sally und Anna wohlwollend an. »Wir trauen euch zu, einen Laden zu führen.«

»Wir?« Sally machte große Augen. »Wir ganz allein?«

»Natürlich mit Hilfe von Ladenmädchen, Kontoristen und Buchhaltern, später auch mit einem Kutscher, der die Transporte der Waren übernimmt.« Leonhard strahlte. »Ich bin sicher, dass euch die Leitung eines eigenen Geschäfts liegen wird.«

Sally bedachte seine Verlobte mit einem fragenden Blick. »Schaffen wir das, mein Herz?« Als Anna eifrig nickte, stimmte auch Sally dem Vorschlag zu. »Also gut«, sagte er voller Tatendrang. »Wir sind dabei.«

»Bleibt noch die Frage nach dem geeigneten Standort«, kam Leonhard auf das ursprüngliche Thema zurück. »Wo soll es demnächst ein zweites Tietz-Geschäft geben?«

»In Schweinfurt«, platzte es aus Anna heraus. »Wie wäre es mit Schweinfurt?«

Kapitel 6

»Ich gebe dir alles, was ich habe.« Betty strahlte Oscar erwartungsvoll an. Ihr Cousin betrachtete sie mit zweifelndem Blick. Seit Onkel Hermann sich aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen hatte, war der kleine Laden immer mehr in Schwierigkeiten geraten. Das, was vor zwei Jahren mit einer einzigartigen Geschäftsidee begonnen hatte, stand nun kurz vor einem tragischen Ende.

»Onkel Hertie fehlt hier an jeder Ecke«, bemerkte er voller Trauer. Er wusste nicht mal, wohin es seinen Onkel inzwischen verschlagen hatte, was ihn sehr bekümmerte. Durch die unverhoffte Rückzahlung des Startkapitals musste die Eröffnung einer Filiale in Süddeutschland zudem auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Zunächst einmal galt es, in Gera zu überleben. Obwohl Oscar seinem Onkel nicht böse war, fühlte er sich doch von ihm alleingelassen.

Betty indes war schmerzhaft bewusst geworden, dass sie an seiner Misere nichts ändern konnte, indem sie ihm gut zuredete. Sie wusste, wie verzweifelt Oscar war und dass er schon seit Wochen nicht mehr durchschlief. Auch tagsüber war er sehr in sich gekehrt und nachdenklich. Betty fühlte sich ihm verpflichtet, denn nach Hermanns Rückzug war sie die Einzige aus der Familie, die ihm noch die Treue hielt. Und ihn so leiden zu sehen, zerriss ihr das Herz.

An diesem Abend saßen sie im Schein einer Petroleumlampe in der kleinen Küche beisammen, um den Tag ausklingen zu lassen. Für Betty war es ein Tag voller Überlegungen und Zweifel gewesen. Doch ihr Entschluss stand fest. Sie hatte eine Lösung für Oscars Probleme. »Ich gebe dir alles«, wiederholte sie, als er sich in Schweigen hüllte.

Betty achtete auf jede Regung in seinem Gesicht. Sie hatte den Eindruck, als suche er peinlich berührt nach den rechten Worten.

»Ich will dir helfen, damit das Geschäft bestehen bleiben kann«, half sie ihm auf die Sprünge.

»Aber du hast doch selbst kaum etwas«, widersprach er.

Ihr Herz klopfte schneller vor Aufregung. »Trotzdem«, antwortete sie schnell, bemüht, ihn zu überzeugen. »Ich würde es nicht ertragen, wenn wir den Laden schließen müssten.«

Oscar lächelte traurig. »Das ist lieb von dir, Betty, aber wovon willst du das alles hier bezahlen?« Er breitete die Arme aus.

»Von meiner Mitgift.« Jetzt war es raus. Die Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen, und sie hatte lange darüber nachgedacht. Doch sie war sicher, dass es das Richtige war, ihm dieses Angebot zu unterbreiten. Jetzt, wo sie ihren Plan ausgesprochen hatte, fühlte sie sich erleichtert. Gespannt wartete sie auf seine Reaktion.

Er fuhr mit den Händen über das strahlend weiße Tischtuch, wischte imaginäre Krümel beiseite und starrte in das Licht der Petroleumflamme. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. »Von deiner Mitgift?«, wiederholte er schließlich.

Betty nickte. Da es außer Oscar keinen Mann in ihrem Leben gab, hatte sie ohnehin keine Verwendung dafür.

Oscar stieß ein ungläubiges Lachen aus.

»Was ist daran so lustig?« Ein wenig pikiert erhob Betty sich, marschierte durch die Küche und blieb mit in die Hüften gestemmten Händen am Fenster stehen. Es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Schnell wurde Oscar wieder ernst. Er stand auf, trat vor sie, sah ihr tief in die Augen und nahm sie schließlich sanft in den Arm. »Dann müssen wir auch heiraten.«

Damit hatte Betty nicht gerechnet. Ein angenehmer Schauer rieselte ihren Rücken hinunter. Sie, das Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, dessen sich Hermann Tietz nach dem Tod ihrer Mutter angenommen hatte, sollte selbst eine Tietz werden? Sie sah zu Oscar hoch und versuchte, auf seinem Gesicht abzulesen, ob er den letzten Satz ernst gemeint hatte und sich nicht nur einen Scherz mit ihr erlaubte. »Wäre das denn so schlimm?«, fragte sie bange.

Oscar strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und betrachtete sie mit seinen warmen braunen Augen. Sie hatte den Eindruck, dass er sich seiner Worte erst jetzt richtig bewusst wurde.

»Wäre das so schlimm?«, wiederholte sie mit nun tränenerstickter Stimme. Betty hatte alles auf eine Karte gesetzt und sich in den letzten Tagen immer wieder das Leben an Oscars Seite vorgestellt. Sie war sich sicher, dass er der Mann war, an dessen Seite sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.

»Nein, Betty, bitte versteh mich nicht falsch.« Oscar nahm ihr Gesicht in seine Hände und beugte sich zu ihr hinab. »Es ist eine wunderschöne Vorstellung, dich zu heiraten.«

Durch ihre Tränen erkannte Betty sein sanftes Lächeln. Ihr fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Sie wusste, wie gewagt es für eine Frau war, einem Mann einen Antrag zu machen, doch offenbar war Oscar ihr nicht böse über den Rollentausch.

Zärtlich streichelte er ihr Gesicht, wobei sie bemerkte, dass seine Hand zitterte. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut und fühlte erneut diesen wohligen Schauer, der ihren Rücken hinunterrieselte. Seine Nähe tat so gut. In seinen Armen fühlte Betty sich geborgen, und es war für den Augenblick, als wäre die Welt stehen geblieben. Sie nahm ihren Mut zusammen, hob sich langsam auf die Zehenspitzen und berührte seinen wunderschön geschwungenen Mund mit ihren Lippen. Erst zaghaft und forschend, dann voller Leidenschaft. Er stöhnte auf, legte eine Hand auf ihren Hinterkopf und erwiderte ihren Kuss.

Bettys Herz pochte wie verrückt. Es fühlte sich so wundervoll an, von Oscar berührt und geküsst zu werden. Sie betete, dass dieser Moment niemals enden möge. Doch nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie sich schließlich voneinander. Bettys Augen glänzten vor Freude.

»Weinst du?«, fragte er erschrocken und wich einen halben Schritt zurück.

»Nein«, lachte sie, »ich weine nicht, keine Sorge.« Belustigt sah sie ihn an. »Warum sollte ich jetzt weinen? Wo wir doch gerade so einen traumhaften Augenblick erlebt haben, der uns für immer in Erinnerung bleiben wird, mein geliebter Oscar.«

Er zuckte ein wenig zusammen, als die letzten beiden Worte aus ihrem Mund kamen. Sie biss sich verlegen auf die Unterlippe. Jetzt ist es raus, dachte sie leicht panisch. Ich habe ihm meine Liebe gestanden! Sie wagte kaum, ihn anzusehen.

»Heißt das … Soll das heißen, dass du mich liebst?«, fragte er verblüfft.

Betty nickte ernst. Ihre gute Laune war wie weggewischt, und ihr kamen wieder die Tränen. »Ja, Oscar, das tue ich.« Sie schniefte. »Doch niemand wird hinter uns stehen, wenn wir das der Welt offenbaren.«

»Warum nicht?«

»Weil wir verwandt sind, Oscar, darum. Was werden die Leute sagen?« Betty schluchzte auf. So sehr der Himmel eben noch voller Geigen gehangen hatte, so sehr verzweifelte sie nun. Niemals hätte sie ihrem Cousin ihre Liebe gestehen dürfen! Doch nun war es zu spät. Bevor sie noch etwas sagen konnte, senkte er seine Lippen wieder auf ihren Mund. Sie ließ ihn gewähren und erwiderte seinen Kuss, der schnell in ungeahnter Leidenschaft entbrannte.

Kapitel 7

»Dass wir darauf nicht selbst gekommen sind!« Leonhard schüttelte perplex den Kopf. »Schweinfurt befindet sich zurzeit im Aufbruch, es ist eine der bayerischen Städte mit der höchsten Kaufkraft, das habe ich erst neulich in der Zeitung gelesen.«

»Und ich kenne mich dort aus – schließlich bin ich in Schweinfurt aufgewachsen«, sprudelte es aus Anna hervor. »Meine Familie und Freunde leben in der Stadt. Sie können uns sicherlich mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

Flora beobachtete sie und registrierte ihre vor Freude geröteten Wangen. Anna schien die Vorstellung, in ihre alte Heimat zurückzukehren, förmlich zu beflügeln. Mit einem Seitenblick auf ihren Bruder stellte Flora fest, dass auch Sally Anna betrachtete. Ein sanftes Lächeln lag dabei auf seinen Lippen.

»Du guckst wie ein verliebtes Schaf, Bruderherz.« Flora stupste ihn an. »Und – was hältst du von Schweinfurt?«

Bei ihren Worten war Sally das Blut ins Gesicht geschossen. Er räusperte sich. »Schweinfurt«, begann er schließlich, »ist nicht gerade die Stadt, in die es mich ziehen würde, wenn …« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause und sah seine Verlobte an, »wenn ich nicht genau wüsste, dass für dich damit ein Traum in Erfüllung ginge.«

»Das heißt, du bist einverstanden?« Anna biss sich auf die Lippe. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Na klar«, meinte Sally lässig, als ginge es um einen Theaterbesuch oder einen Spaziergang. »Ich bin dabei.«

Anna hielt es nicht mehr an ihrem Platz. Sie sprang von der Bank auf und schlang im Stehen die Arme um Sally, der von ihrem Gefühlsausbruch überrumpelt schien. »Du bist ein Schatz«, rief Anna und küsste ihn stürmisch.

»Mit dir«, sagte er ernst, als sie sich wieder neben ihm niedergelassen hatte und er ihre Hand nahm, »könnte ich an jedem Ort der Welt glücklich sein.« Für seine Worte erntete er ein schwerverliebtes Lächeln.

Hermann, der das junge Paar sichtlich amüsiert beobachtet hatte, räusperte sich. »Schweinfurt«, sagte er gedehnt, »habe ich bislang noch nicht in Erwägung gezogen, aber der Vorschlag der jungen Dame ist einer Überlegung wert.« Er nickte Anna zu.

Obwohl Flora sich für Anna freute, war ihr bei dem Gedanken an eine Geschäftseröffnung im Süden nicht ganz wohl. Sie warf Leonhard einen Seitenblick zu, der dem Gespräch schweigend lauschte. »Was hältst du davon, Leo?«

»Das Frankenland wäre eine Herausforderung für uns, Bella«, antwortete er, »doch wir sind bisher immer gut damit gefahren, Neues zu wagen.« Er drehte das langstielige Weinglas in den Händen. »Je länger ich darüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint mir die Idee. Anna kennt sich dort aus, und sicher werden wir ein Ladenlokal finden, das wir zu einem Tietz-Geschäft machen können. Zunächst wird ein kleiner Laden genügen müssen, aber wenn alles gut funktioniert, können wir uns nach einer größeren Immobilie umsehen.« Er nickte, als hätte er sich selbst überzeugt. »Ja, ich denke, dass Schweinfurt geradezu perfekt für uns ist.«

»Ihr solltet es versuchen«, stimmte Hermann zu.

»Damit wäre das ja geklärt«, lächelte Leonhard. Er sah zu seinem Onkel, der Block und Stift vor sich auf den Tisch bereitlegte.

»Dann können wir uns jetzt also auf die Suche nach einem geeigneten Ladenlokal machen.« Hermann blickte in die Runde, und als niemand einen Einwand hatte, begann er zu schreiben. »Das Konzept«, murmelte er, ohne aufzublicken, »dürfte das gleiche sein wie hier in Stralsund: Kein Kaufzwang, volles Umtauschrecht und Barbezahlung ohne Feilschen.«

»Und beste Preise«, fügte Leonhard voller Stolz hinzu. Er warf Anna einen Blick zu. »Was ist in Schweinfurt die beste Lage? Dort sollte unser neues Geschäft angesiedelt sein.«

»Dann muss es in der Spitalstraße liegen«, antwortete Anna. »Dort gibt es eine Unmenge von Geschäften, wir würden uns perfekt einfügen.« Die blauen Augen des Mädchens leuchteten vor Begeisterung. »Ich könnte mir gut vorstellen, dort ein neues Geschäft zu eröffnen, das mit großen Schaufenstern die Leute neugierig macht.«

Langsam ließ Flora sich von der Euphorie der anderen anstecken. »Auf zu neuen Ufern«, sagte sie und nahm Leonhards Hand. »Dann sollten wir uns schnellstens auf die Suche nach einem geeigneten Objekt machen.«

»Recht hast du, Bella.« Er lächelte sie sanft an. »Anna muss uns bald schon ihr geliebtes Schweinfurt zeigen.«

Sallys Verlobte nickte aufgeregt. »Das wird fein«, meinte sie. »Und einen Plan, wie wir einen Laden finden können, habe ich auch schon.« Alle Augen richteten sich auf die junge Frau. »Ein entfernter Verwandter von mir, Richard Köhler, ist Hausmakler.«

»Das trifft sich ja hervorragend«, sagte Leonhard begeistert. »Dann haben wir professionelle Hilfe vor Ort.«

Anna nickte aufgeregt. »Ich werde ihm gleich einen Brief schreiben und ihm unser Anliegen schildern.«

»Das klingt fast schon zu einfach«, konnte Flora sich nicht verkneifen anzumerken. Leonhard warf ihr einen belustigten Blick zu. In ihrer Ehe war es meist Floras Rolle, eine gesunde Dosis Skepsis mit einzubringen.

Onkel Hertie räusperte sich. »Ich habe da eine Traumvorstellung.« Er lehnte sich zurück und sah bedeutungsvoll in die Runde. »Drüben in Amerika haben sie diese großen Kaufhäuser. Tempel des Konsums, einfach beeindruckend. So etwas möchte ich hier auch einführen.« Ein feines Lächeln spielte um die Mundwinkel des Kaufmanns. »Mit eurer Hilfe. Wir werden riesige Warenhäuser errichten, die in jeder großen Stadt stehen und die Kunden mit ihrem breiten Sortiment begeistern werden.«

Auf Onkel Herties Worte folgte verblüfftes Schweigen. Leonhard brach es als Erster, indem er auflachte. Zunächst war es nur ein amüsiertes Glucksen, das zu einem Lachen aus voller Kehle und schließlich zu einem ausgewachsenen Lachanfall wurde. »Onkel Hertie«, sagte Leonhard, während er sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel wischte, »du bist und bleibst ein liebenswerter Träumer!«

Kapitel 8

Betty liebte den frischen Duft des Sommerregens. Mitten in der Nacht war sie aufgestanden, um das Fenster zu öffnen und tief durchzuatmen. Die Schindeln der umliegenden Häuser glänzten feucht. In keinem der Fenster brannte um diese Zeit noch Licht, die Menschen in Gera schliefen längst. Der Mond tauchte die Szenerie in sein kaltes und geheimnisvolles Licht.

Betty betrachtete die Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es waren teils heruntergekommene und windschiefe Gebäude, an denen der Putz von den Fassaden blätterte. In dieser Gegend wohnte niemand, der über großartigen Reichtum verfügte, und dennoch kaufte man gern bei ihnen ein.

Betty hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. Oscar hatte ihrem Vorschlag zugestimmt. Damit war nicht nur das Überleben des Geschäfts gesichert – sie würden auch den Rest ihres Lebens miteinander verbringen. Ihr Herz vollführte bei dem Gedanken an die bevorstehende Hochzeit einen Freudensprung. Vor lauter Aufregung hatte sie nicht schlafen können, und so stand sie am Fenster ihrer kleinen Schlafkammer und hing ihren Gedanken nach.

Ihr Herz schlug schneller, als sie an den indirekten Heiratsantrag dachte, den sie Oscar heute gemacht hatte. Dass es sich um eine Vernunftehe handeln würde, verdrängte Betty für den Moment. Und vielleicht würde es ja doch mehr werden als das? Schließlich hatte Oscar ihren Kuss erwidert. Doch vielleicht küsste er tagaus, tagein viele Frauen mit solcher Leidenschaft?

Betty wusste schon seit Langem, dass sie Oscar Tietz liebte. Vom ersten Augenblick an hatte sie sich in seine liebevollen Augen verguckt. Sie wollte immer wissen, was er gerade dachte und fühlte, und hing wie gebannt an seinen Lippen. Sie wusste, dass sie mit ihm bis ans Ende der Welt gehen würde. Doch bis vor Kurzem hatte es keine Anzeichen gegeben, dass Oscar ihre Gefühle erwiderte. Sie lebten als reine Zweckgemeinschaft unter einem Dach. Aber seit Onkel Hermann Gera verlassen hatte, war ein unsichtbares Band zwischen Betty und Oscar gewachsen.

Als sie sich das erste Mal geküsst hatten, hatte es sich irgendwie vertraut angefühlt.

Welches Kribbeln seine Nähe erzeugt und wie gut seine Lippen schmecken