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Der Palast der Träume.
Berlin, 1909: Die junge Lehrerin Margarete hat gerade ihre erste Stelle angetreten, als sie Alfred begegnet, dem Sohn von Flora und Leonhard Tietz. Die beiden verlieben sich und wollen ein neues Leben in Köln beginnen. Doch Alfreds Familie steckt in Schwierigkeiten: Mehr und mehr Warenhausgegner haben sich gegen sie verschworen, und die Anfeindungen schlagen bald auch in Gewalt um ...
Das große Finale der Familiensaga rund um die Kaufhaus-Dynastie »Hertie«.
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Seitenzahl: 426
Für Alfred, Sohn und Stammhalter von Flora und Leonhard Tietz, ist es Liebe auf den ersten Blick, als er im Warenhaus seines Onkels in Berlin der schönen Margarete begegnet. Die junge Frau ist liebenswert und gebildet, außerdem setzt sie sich von ganzem Herzen für die Belange der Armen ein. Doch während Alfred und Margarete einander näherkommen, hat die Familie Tietz immer mehr mit Anfeindungen anderer Geschäftsleute zu tun – Anfeindungen, die mit der Zeit einen antijüdischen Beiklang bekommen ...
Susanne von Berg ist das Pseudonym des Schriftstellers Andreas Schmidt, der durch seine zahlreichen veröffentlichten Kriminalromane deutschlandweit seit vielen Jahren eine große Stammleserschaft erreicht. Andreas Schmidt lebt und arbeitet als freier Autor und Journalist in seiner Heimatstadt Wuppertal.
Die ersten Bände der spannenden Kaufhaussaga »Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht« und »Das Kaufhaus – Zeit der Wünsche« liegen im Aufbau Taschenbuch vor.
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Susanne von Berg
Das Kaufhaus – Zeit des Wandels
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Kapitel 40
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Kapitel 42
Kapitel 43
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Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Impressum
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Versonnen stand Flora mit ihrer Skizze am offenen Fenster der Villa Tietz. Sie ließ ihre Gedanken schweifen, während ihr Blick über den parkähnlichen Garten glitt. Zwei Gärtner, offensichtlich ein Meister und sein Lehrling, beschnitten die Büsche, die die mit Kies belegte Einfahrt säumten. Das Zwitschern einer Amsel ertönte aus einem der großen Bäume. Der Spätsommer ging mit milden Temperaturen in den Herbst über, und schon bald würde sich die Dunkelheit wie ein Samttuch auf das Villenviertel des Kölner Vorortes senken.
An manchen Tagen fühlte Flora sich wie in einem Traum, der nach jahrelangem Warten endlich in Erfüllung gegangen war. Einen Moment lang schloss sie die Augen und sog tief die Abendluft ein. Sie vergaß das Blatt Papier in ihrer Hand und dachte an ihre Anfänge in Stralsund zurück. An damals, vor vielen Jahren, als sie mit ihrem Verlobten Leonhard das kleine Weiß- und Posamentierwarengeschäft von Albert Holst übernommen hatten. Mit ihren Ideen hatten sie den Einzelhandel revolutioniert. Bei ihnen konnte die Kundschaft den Laden ohne Kaufzwang betreten, es gab erstmals ein volles Umtauschrecht und feste Preise. Dafür hatten sie das Anschreiben und den Kauf auf Rechnung abgeschafft und auf Barzahlung bestanden, um so beste Preise beim Wareneinkauf zu erhalten. Das Konzept hatte sich schnell bewährt, und schon nach kurzer Zeit mussten sie sich einen größeren Laden suchen. Nach ein paar Jahren konnten sie zudem einen weiteren Laden in Schweinfurt eröffnen. Die Filiale leitete Floras Bruder Sally gemeinsam mit seiner Frau Anna. Auch hier konnten sie schnelles Wachstum verzeichnen und suchten bald nach weiteren Standorten. Leonhard war in Elberfeld und Barmen fündig geworden, zwei rasant wachsenden Städten mit hoher Kaufkraft. Hinzu kam, dass an der Wupper zahlreiche Hersteller und Lieferanten ihren Sitz hatten.
Über die Jahre hinweg hatten Flora und Leonhard stets ein glückliches Händchen bewiesen. Nachdem sie einige Zeit im Tal der Wupper gelebt hatten, entschieden sie sich für einen Umzug nach Köln am Rhein.
Auch hier hatten sie klein angefangen, um das Risiko so gering wie möglich zu halten. Schon nach drei Jahren war das Geschäft in der Innenstadt aus allen Nähten geplatzt, und Leonhard hatte ein neues, viel größeres Kaufhaus an der Stelle errichten lassen, wo die Hohe Straße und die Schildergasse aufeinandertrafen. Fast zeitgleich eröffneten sie allein in Köln vier weitere Filialen. Vor vier Jahren war auch das Kaufhaus an der Hohen Straße zu klein geworden, und angesichts ihres Erfolges hatten Leonhard und Flora nicht gezögert, angrenzende Grundstücke zu erwerben, um das Kaufhaus vergrößern zu können. Inzwischen war aus ihrem kleinen Laden in Stralsund ein großer Konzern geworden. Und in Köln hatte Leonhard Flora endlich ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen können: Eine eigene Villa, von der sie schon als junge Frau geträumt hatte. Im Kölner Stadtteil Marienburg waren in den letzten Jahren inmitten einer parkähnlichen Umgebung unzählige neue, prachtvolle Häuser für wohlhabende Unternehmer entstanden.
Zunächst hatten Flora und Leonhard mit ihren Kindern in gutbürgerlichen Verhältnissen an der Hardefußstraße zur Miete gewohnt. Irgendwann war Leonhard von einem befreundeten Architekten auf das neue Villenviertel angesprochen worden. Er hatte nicht gezögert, ein Grundstück in Marienburg zu erwerben und den Architekten mit der Planung der Villa Tietz zu beauftragen. Nun lebten sie also seit einigen Monaten in ihrem eigenen Haus am Rande der Kölner Innenstadt. Am liebsten hätte Flora die ganze Welt umarmt, so glücklich war sie, als sie in diesem Augenblick daran dachte, was sie gemeinsam geschafft hatten. Aus dem jungen Kaufmannspaar waren erfolgreiche Großunternehmer geworden.
Ein tragisches Ereignis hatte ihre Ehe allerdings überschattet: Floras und Leonhards erstgeborener Sohn Heinrich war im Alter von zehn Jahren an einer unheilbaren Krankheit gestorben und hatte ein tiefes Loch in ihren Herzen hinterlassen. Immer, wenn Flora an Heinrichs Tod dachte, spürte sie einen schweren Bleigürtel, der sich um ihre Brust legte. Erst gestern war sie auf dem jüdischen Friedhof in Bocklemünd gewesen, um frische Blumen auf sein Grab zu legen.
Nun war es ihr jüngerer Sohn Alfred, der eines Tages das Unternehmen seiner Eltern übernehmen würde. Erst vor Kurzem hatte Leonhard ihn in den Vorstand berufen, wo er mit seinen sechsundzwanzig Jahren das jüngste Mitglied war.
Luise, seine vier Jahre jüngere Schwester, hatte sich im letzten Jahr mit Oskar Eliel, einem ehrgeizigen Juristen, verlobt. Sie war nur noch selten zu Hause. Gerhard absolvierte gerade seine Lehre im Unternehmen, er war jetzt fünfzehn Jahre alt und konnte es kaum erwarten, auf der Vorstandsetage mitzuwirken. Änne, ihre jüngere Tochter, wusste schon jetzt, dass sie mit den Kaufhäusern ihrer Eltern nichts zu tun haben wollte. Ihr schwebte anderes vor. Flora musste lächeln, als sie an die Siebzehnjährige dachte, die langsam flügge wurde und sich bereits für Männer interessierte. Alle waren wohlgeratene Kinder, fleißig, strebsam und vor allem ehrlich. Flora und Leonhard konnten stolz auf ihren Nachwuchs sein.
»Hier steckst du also.« Unbemerkt hatte Leonhard den Raum im ersten Stockwerk der Villa betreten. Flora fuhr zu ihm herum. »Oje«, sagte er zerknirscht, »habe ich dich erschreckt?« Vorsichtig schloss er die Tür des Arbeitszimmers hinter sich und trat zu ihr.
Flora nickte, doch sie war ihm nicht böse. Immerhin war sie es gewesen, die sich ihrem Tagtraum hingegeben und dabei ihre Umgebung vergessen hatte.
»Das tut mir leid, Bella.« Nach all den Jahren nannte er sie noch immer so – Bella, Schöne.
»Nicht schlimm, Liebster.« Sie lächelte ihn an.
Er trat zu ihr ans offene Fenster und folgte ihrem Blick in den Garten. »Schön haben wir es, nicht wahr?«, sagte sie.
Die Gärtner hatten ihr Tagewerk beendet und waren von der Bildfläche verschwunden. Nun lag der Garten verlassen da, und die Schatten der alten Bäume wurden langsam länger.
»Ja«, stimmte Leonhard ihr zu. »Wir haben das unfassbare Glück, hier unseren Traum leben zu können.«
»Unsere Villa Tietz«, schwärmte Flora leise, »wir haben es geschafft, Leo.«
»Wir haben eine Menge geschafft, und darauf dürfen wir stolz sein, Bella.« Erst jetzt schien er das Blatt Papier zu bemerken, das sie in Händen hielt. »Was ist das?«, erkundigte er sich.
»Ach, das«, meinte Flora leichthin, »nur eine Skizze für unsere Reklame im Winter, bis dahin ist noch viel Zeit.«
»Darf ich sie sehen?«
»Natürlich.«
Er nahm ihr die Skizze ab und warf einen Blick darauf. Seit sie ihren ersten gemeinsamen Laden eröffnet hatten, war die Reklame und die Dekoration der Schaufenster Floras Herzensangelegenheit gewesen. Doch inzwischen hatte eine ganze Armada von professionellen Schaufensterdekorateuren ihre Arbeit übernommen, denn zu groß war die Anzahl der Schauflächen, die wöchentlich neu zu bestücken waren.
»Weiße Woche bei Tietz«, las Leonhard halblaut die Überschrift. »Preiswerte Unterwäsche und Bademode, großer Sonderverkauf.« Er lächelte Flora an. »Das ist gut«, lobte er sie. »Damit erreichen wir sicher viele Käufer.«
»Ich denke, wir sollten die weiße Woche Anfang nächsten Jahres einplanen«, schlug Flora vor.
»Dann ließe sich das Sortiment sogar erweitern«, stimmte Leonhard ihr zu. Sie sah mit gerunzelter Stirn zu ihm auf. »Nun«, sagte er feixend, »nach den Feiertagen wird so manches Tischtuch nicht mehr weiß gewaschen werden können, so manches Geschirr wird bei Familienfeiern zu Bruch gegangen sein. Das könnten wir doch auch mit aufnehmen.«
Flora musste nicht lange nachdenken, um Gefallen an seiner Idee zu finden. »Recht hast du«, stimmte sie ihm zu, »vielleicht sollte ich noch praktischer denken.«
»Oh, das tust du bereits, liebste Bella.« Mit einem stolzen Lächeln auf den Lippen legte er ihren Reklameentwurf auf die breite Fensterbank aus Marmor und schloss Flora in seine Arme. »Du bist großartig in dem, was du tust«, sagte er und sah ihr dabei so tief in die Augen, dass ihr trotz der vielen gemeinsamen Jahre noch ein wenig schwindelig wurde. Sie liebte ihn wie am ersten Tag, und in all den Jahren hatten sie zusammen gute wie schlechte Zeiten gemeistert. Ihre Kinder waren zu wundervollen Menschen herangewachsen und standen bereit, um irgendwann in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten.
»Manchmal kann ich unser Glück kaum fassen«, gab Flora zu.
Fragend legte Leonhard den Kopf schräg. »Unser Glück?«
»Ja«, nickte sie und breitete die Arme aus. »All das ist der Lohn für unsere jahrzehntelange Arbeit.«
»Das hätte ich ohne dich niemals geschafft«, flüsterte er mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. Sie waren ein gutes Gespann, konnten einander blind vertrauen und wussten, was sie aneinander hatten.
»Da hast du natürlich recht, Liebster.« Mit einem verschmitzten Lächeln sah sie zu Leonhard auf. Obwohl sie beide in den letzten Jahren gealtert waren – sein dichtes dunkles Haar hatte sich zu einem grauen Kranz zurückgezogen und Falten zierten sein Gesicht –, war er immer noch ganz der Leo, in den sie sich als junges Mädchen verliebt hatte. Er war zu einem wohlhabenden Unternehmer geworden, dem rund fünftausend Angestellte unterstellt waren, er genoss Ruhm und Anerkennung in der Gesellschaft, und dennoch hatte er sich etwas Jungenhaftes bewahrt, etwas, das Flora an ihre ersten Jahre in Stralsund erinnerte.
Auch an ihr war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Das einst dunkelbraune Haar war von silbernen Strähnen durchzogen, und an manchen Tagen meinte sie wahrzunehmen, dass ihr Gesicht im Spiegel ein wenig ausgemergelt wirkte. Dennoch waren sie immer noch ineinander verliebt und glücklich – auch dass die Geschäfte gut liefen, verlieh ihnen immer wieder neue Kraft. Und in diesen Tagen stand der nächste große Schritt an: Leonhard hatte Alfred nach Berlin geschickt, um den Börsengang des Unternehmens vorzubereiten. Schon bald würde das Tietz, wie ihre Kaufhäuser liebevoll im Volksmund genannt wurden, zu einer Aktiengesellschaft werden, die sich auch im Ausland würde behaupten müssen. Alfred hatte bereits eine Kaufmannslehre und weiterführende Ausbildungen absolviert, um eines Tages das Unternehmen seiner Eltern weiterführen zu können. Er war strebsam und fleißig wie sein Vater, kreativ und besonnen wie seine Mutter. Sicher würde er sich später gut an der Spitze des Konzerns machen.
Mit Stolz dachte Flora an ihren ältesten Sohn. Nur der Umstand, dass es noch immer keine Frau an seiner Seite gab, bereitete ihr Sorgen. Doch Leo versicherte ihr stets, dass ihm nur die richtige Frau begegnen müsse. Wann das der Fall sein würde, konnte er ihr aber auch nicht sagen.
Alfred Leonhard Tietz hatte Berlin nach einer langen Bahnfahrt erst am späten Abend erreicht. Die Lichter der Großstadt ließen keine Zweifel daran, dass er sich in einer Weltstadt befand. Zu gern wäre er noch ein wenig um die Häuser gezogen, um das Ambiente auf sich wirken zu lassen, doch nach einem üppigen Abendmahl war Alfred todmüde in das weiche Bett seines Zimmers im Hotel Esplanade an der Bellevuestraße gefallen und auf der Stelle eingeschlafen.
Heute Abend, so nahm er sich nach dem Aufstehen vor, würde er von seinem luxuriösen Privatbad Gebrauch machen, doch jetzt gingen die Geschäfte vor.
Trotz der kurzen Nacht hatte Alfred keine Zeit gehabt, auszuschlafen. Stattdessen hatte er sich in aller Frühe vom Zimmermädchen wecken lassen, hatte sich auf die Schnelle frisch gemacht und sein Frühstück im großen Saal des Hotels eingenommen. Nun stand er gesättigt und bereit für den Tag am offenen Fenster seines Zimmers. Blind band er sich den Knoten seiner mintgrünen Seidenkrawatte und betrachtete das bunte Treiben auf der Straße zu seinen Füßen. Fuhrwerke und Automobile lieferten sich zwischen den elektrischen Straßenbahnen waghalsige Wettrennen, und so mancher Fußgänger, der die Straße überquerte, konnte froh sein, unbeschadet auf der anderen Straßenseite anzukommen.
Die Sonne drang fahl durch die diesige Luft und warf ihren milchigen Schein auf die prächtigen Fassaden der umliegenden Wohn- und Geschäftshäuser. Alfred streckte den Kopf weit aus dem Fenster und sog die Großstadtluft ein. Gut gelaunt pfiff er ein Lied vor sich hin, schlüpfte in ein Jackett und begutachtete sein Aussehen in einem großen Spiegel, der an der Wand neben der Tür befestigt war. Zuletzt griff er nach seinem modischen Zylinder aus gelbem Bast, setzte ihn ein wenig schief auf den Kopf und trat hinaus in den Korridor des Hotels.
Für heute stand ein Besuch bei seinem Onkel Oscar auf dem Programm. Lange schon hatte Alfred den Bruder seines Vaters nicht mehr gesehen, und er freute sich auf das Treffen, wenngleich es auch von geschäftlicher Natur war.
Bevor Alfred die Aktien des Tietz-Konzerns von einem Makler zeichnen ließ, hatte sein Vater ihm aufgetragen, die Verträge einiger gemeinsamer Lieferanten von Oscar unterzeichnen zu lassen. Seit Jahren kauften alle Häuser des Konzerns bei den gleichen Lieferanten ein. Durch die Abnahme von Waren in großen Mengen konnte man zu günstigen Konditionen einkaufen. Die Preise gab man an die Kundschaft weiter, und so profitierten alle von der Preispolitik bei Tietz. Doch dazu brauchte es oft seitenlange Verträge, die hochbezahlte Advokaten formuliert hatten. Das alles wollte Alfred mit seinem Onkel besprechen, bevor ihn sein Weg zum Aktienmakler führte. Es galt also keine Zeit zu verlieren, wollte er nicht mit leeren Händen nach Köln zurückkehren.
Margarete war beeindruckt von dem neu eröffneten Warenhaus Hermann Tietz. Staunend betrachtete sie das gewaltige Gebäude, das mit seiner edlen Sandsteinfassade trotz seiner Größe Leichtigkeit und Eleganz ausstrahlte, statt plump, schwer oder gar überladen und kitschig zu wirken. Fast wie ein Palast erhob das Kaufhaus sich mitten in der Hauptstadt.
Margarete trat aus dem Schatten der Berolina-Statue, die das bunte Geschehen rund um den Alexanderplatz aus elf Meter Höhe völlig unbeeindruckt zu beobachten schien, und näherte sich dem Gebäudekomplex, um mit großen Augen die unendlich scheinende Schaufensterfront des Tietz zu betrachten. Sie konnte sich kaum sattsehen an den vornehm dekorierten Auslagen. Das bunte Treiben um sie herum nahm die junge Frau überhaupt nicht wahr, so sehr faszinierte sie die üppige Warenpräsentation des großen Kaufhauses. Hier hatte sich wohl eine ganze Armada fachkundiger Dekorateure ausgetobt. Echte Orientteppiche, verwegene Hutkreationen aus Paris und knallbunte Sonnenschirme aus reiner Seide brachten die Menschen, die an den großen Fenstern entlangflanierten, zum Staunen. Zwischen den Glasflächen wurde das Gebäude von massiven und reich verzierten Steinsäulen gestützt.
Voller Ehrfurcht schritt Margarete an den Fenstern vorbei und fühlte sich dabei ein wenig wie bei einem Bummel durch Paris, so, als würde sie das legendäre Au Bon Marché zum ersten Mal mit eigenen Augen sehen. Doch dies war nicht Paris, sondern Berlin. Und es war nicht das Au Bon Marché, sondern das Tietz. Dennoch, und darüber war sich Margarete im Klaren, war dies ein wahrer Konsumtempel, in dem kein Wunsch unerfüllt blieb – vorausgesetzt, man hatte das nötige Kleingeld.
Doch davon konnte Margarete nur träumen. Zwar verfügte ihr Vater Albert über ein gutes Einkommen als angestellter Kaufmann, doch das Geld war immer knapp. Dennoch hatte Margarete die Höhere Töchterschule besuchen können, auch wenn sie sich dabei oft wie eine Außenseiterin vorgekommen war unter all den anderen Mädchen, die aus gutem Hause stammten. Davon hatte Margarete sich jedoch nicht aufhalten lassen, denn sobald sie mit der Schule fertig war, wollte sie Menschen in Not helfen. Aus diesem Grund waren eine pädagogische Ausbildung und das Studium der sozialen Arbeit der nächste logische Schritt für Margarete gewesen. Nebenbei arbeitete sie schon seit einiger Zeit in der Volksküche des Frauenvereins. Und all die Mühen hatten sich gelohnt: Morgen war es endlich so weit, und sie würde eine Stelle als Lehrerin in einer Schule der städtischen Armenhilfe antreten. Ihr Vater Albert und Emma, ihre Mutter, waren sehr stolz auf Margarete und ihr soziales Engagement.
Margarete war heute hergekommen, um sich neu einzukleiden. Als Lehrerin benötigte sie passende Kleidung, und so trug sie all ihr Erspartes in ihrer Geldbörse mit sich. Als Margarete den Blick ehrfürchtig über die Fassade des Warenhauses schweifen ließ, spürte sie, dass hier Welten aufeinanderprallten. Alles funkelte und glänzte, alle Waren gab es im Überfluss. Umso schlimmer, dass es Menschen in der Stadt gab, die sich kaum eine warme Mahlzeit am Tag leisten konnten. Doch obwohl Margarete der Opulenz des Geschäfts durchaus kritisch gegenüberstand, es half nichts, sie musste sich für die neue Anstellung einkleiden, und im neuen Warenhaus Hermann Tietz sollten die Preise besonders niedrig sein.
Ihre Ansprüche waren dabei eher bescheiden:
Ein schlichter Rock, dazu ein oder zwei einfache Blusen und eine Jacke für kältere Tage. Doch während Margarete nun die nicht enden wollende Schaufensterfront abschritt, begann sie zu zweifeln, dass sie hier an der richtigen Adresse war. Zu groß das Angebot, zu vielfältig die Auswahl; es würde ihr sicher schwerfallen, das Richtige zu einem guten Preis zu finden. Dennoch nahm Margarete all ihren Mut zusammen und trat durch den monumental anmutenden Haupteingang des Warenhauses.
Mit dem Betreten des Tietz war ihr, als tauche sie in eine andere Welt ein. Das Gebäude glich einer Kathedrale, so hoch waren die Decken und so hell das Tageslicht, das durch die Fenster ins Innere drang. Margarete kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Sie konnte die zahlreichen Eindrücke, die sie schon auf den ersten Metern sammelte, kaum verarbeiten. Zwischen den Regalen und Verkaufstischen wuselten Ladenmädchen in tiefgrünen Uniformen herum, sie richteten das Sortiment ansprechend her, berieten die vorwiegend weibliche Kundschaft und präsentierten den Frauen das, wonach sie suchten. Überall duftete es nach frischer Farbe und neuen Stoffen. Allein die Damenschuhabteilung war so groß wie eine ganze Mietskaserne in Margaretes Wohnviertel. Schuhkartons stapelten sich mehrere Meter hoch, die dazu gehörenden Schuhe wurden ansprechend in den Regalen präsentiert und standen in allen Größen zur Verfügung.
Kurz war Margarete vom gleißenden Lichtschein im Innern geblendet. Sie hielt inne und versuchte, das schillernde Ambiente zu erfassen. Ein imposanter Lichthof eröffnete das Einkaufserlebnis, gestützt von grünmarmorierten Säulen. Die Geländer der Treppen bestanden aus glänzendem Messing, an der hohen Decke funkelten unzählige Kronleuchter, die auch nach Einbruch der Dunkelheit dafür sorgten, dass die dargebotenen Waren in einem magischen Licht erstrahlten.
Langsam schritt Margarete durch die Gänge und bewunderte die Präsentation der Frauenkleider. Dabei blieb ihr Blick an einem knöchellangen Kleid aus cremefarbenem Stoff hängen. Die Vorderseite war üppig mit floralen Applikationen aus zartem Rosa verziert. Angetan strich sie mit den Fingerkuppen über die Blütenpracht.
»Das ist wunderschön«, hörte sie sich flüstern. Margarete wagte kaum, einen Blick auf das Preisschild im Nacken des Kleides zu werfen. Es war sicherlich unbezahlbar. Ohnehin war es viel zu prächtig, fast schon ein festliches Abendkleid, nichts für den Alltag in einer Schule geeignet. Margarete beschloss schweren Herzens, sich nach etwas Schlichterem umzuschauen. Wenn sie sparsam war, würde ihr Geld vielleicht sogar für eine zweite Bluse reichen, dann hatte sie etwas zum Wechseln. Als sie einen halben Schritt zurücktrat, rempelte sie jemanden an, der offenbar hinter ihr gestanden hatte.
Erschrocken und peinlich berührt zugleich fuhr Margarete herum und blickte in das erstaunte Gesicht eines jungen, äußerst attraktiven Mannes. Auch er schien erschrocken zu sein und hob beschwichtigend die Arme. Die Aktentasche, die er bei sich getragen hatte, war zu Boden gefallen, der Inhalt hatte sich um ihn herum auf dem Boden verteilt. Hastig ging er in die Hocke, um die Papiere einzusammeln und sie zurück in die Tasche zu stopfen.
»Es tut mir leid, meine Dame«, rief er.
Margarete schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, entgegnete sie, »mir muss es leidtun, ich bin einfach einen Schritt zurückgetreten, ohne mich umzuschauen.« Sie ging neben ihm in die Hocke und half ihm, die Papiere zusammenzusuchen. Allzu gern hätte sie einen Blick darauf geworfen, doch es ziemte sich nicht, neugierig zu sein, und darum drehte sie die Blätter so, dass sie nur die unbeschriebenen Rückseiten sehen konnte.
»Schon gut, ich hätte auch vorsichtiger sein können«, sagte der junge Mann. »Bitte um Verzeihung, Gnädigste.« Dankbar nahm er ihr den Papierstapel aus der Hand und schob ihn in die Aktentasche, die er schnell verschloss, bevor er sich aufrichtete. Nun standen sie sich lächelnd gegenüber, beide mit hochroten Köpfen. Er klemmte sich die Aktentasche unter den Arm und schob verlegen die Hände in die Hosentaschen.
Margarete betrachtete ihn. Er mochte in ihrem Alter sein, vielleicht ein wenig älter, seine Augen waren von einem tiefen Rehbraun, er war frisch rasiert und sein Anzug saß perfekt, ebenso der gelbe Bastzylinder auf seinem Kopf. Offenbar handelte es sich um einen Geschäftsmann, womöglich auf dem Weg zu einem Termin. Doch was tat er dann hier im Tietz?
Er schien von ihrem Anblick ebenso angetan zu sein wie sie von seinem, denn er lächelte freundlich.
»Ich bitte noch einmal um Verzeihung«, sagte er in das etwas peinliche Schweigen hinein, dann wanderte sein Blick zu dem prächtigen Kleid, das Margarete in Augenschein genommen hatte, bevor sie ihn angerempelt hatte.
»Ein Traum«, befand er und schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Im Stil des Pariser Modeschöpfers Paul Poiret, eine äußerst gelungene Mischung aus Empire und Reformkleid.«
»Sie scheinen sich auszukennen«, stellte Margarete überrascht fest. Sie kannte nicht viele Männer, die Ahnung von Mode hatten.
»Nun ja – ich interessiere mich für vieles«, antwortete er ausweichend und senkte für den Bruchteil einer Sekunde den Blick. Dann lächelte er wieder. »Probieren Sie es an.«
»Wie bitte?« Margarete glaubte, sich verhört zu haben.
»Probieren Sie es an«, wiederholte er und schien es ernst zu meinen. »Ich bin sicher, Sie werden darin wie eine Prinzessin aussehen.«
»Sie sind mir vielleicht ein Charmeur«, entgegnete Margarete kokett. »Aber so ein Kleid ist nicht das, weswegen ich hergekommen bin.« Sie suchte nach den rechten Worten, um ihm zu erklären, dass sie im Grunde auf der Suche nach Arbeitskleidung war, als sie sein enttäuschtes Gesicht sah und hastig hinzufügte: »Außerdem werde ich es mir kaum leisten können.«
»Das ist nicht gesagt. Sicherlich soll es einem feierlichen Anlass dienen?«
Margarete schüttelte den Kopf. »Ich bin nur zufällig daran hängengeblieben, weil es mir so gut gefallen hat.« Sie seufzte und riss sich vom Anblick des Kleides los. »Eigentlich suche ich etwas Einfacheres, von eleganter Schlichtheit, für dem Alltag. Praktisch sollte es sein, ohne wie ein Kohlensack auszusehen, und …«
Er lachte, doch sein Lachen klang nicht herablassend, sondern warm und ansteckend. »Madame, ich bin sicher, Sie würden auch in einem Kohlensack hinreißend aussehen.«
Margarete musste lachen. Dieser Mann war wirklich reizend. Sie mochte seinen Humor. »Sie schmeicheln mir, Herr …«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte er rasch, ohne sich vorzustellen. Er ließ seinen Blick über das Sortiment gleiten. »Retour à la Simplicité«, fügte er auf Französisch hinzu. »Zurück zur Einfachheit, das ist die Modedevise für dieses Jahr aus Paris.«
»Bei Ihrem Wissen nehme ich an, Sie sind vom Fach?«
Seine ausweichende Art war geheimnisvoll und wirkte seltsam anziehend auf Margarete. Wer ist er und was tut er hier?
»Offen gestanden, nein«, antwortete er, während sein Blick wieder auf den Rock aus Libertyseide und die mit reichlich bestickten Verzierungen fiel.
»Ich benötige etwas für den Alltag«, wiederholte sie, »nichts Extravagantes, auch wenn das hier …«, sie strich zärtlich über das prächtige Kleid, »wahrlich traumhaft ist.«
»Ein so schönes Kleid verdient es, von einer Frau wie Ihnen getragen zu werden«, sagte der Fremde sicher. »Ich meine es ernst, ziehen Sie es an – wenigstens probeweise.« Er nahm das Kleid vom Ständer und hielt es ihr hin.
Margarete trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. Sie spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. »Wirklich?«, stammelte sie nervös, »aber warum …«
»Weil ich es gern an Ihnen sehen würde. Ein einziges Mal nur.« Als Margarete keine Anstalten machte, seinem Wunsch zu folgen, lächelte er sie jungenhaft an. »Tun Sie es für mich.«
»Wer sind Sie denn überhaupt?«, fragte Margarete, um Zeit zu gewinnen. Einerseits würde sie das vornehme Kleid liebend gern einmal anprobieren, andererseits erschloss sich ihr nicht der Sinn dahinter, es einem fremden Mann vorzuführen.
»Das spielt doch keine Rolle«, sagte er. »Ich möchte Ihnen einfach bei der Auswahl Ihres Kleides behilflich sein.«
»Dann sind Sie ein Verkäufer?«
Er schüttelte den Kopf.
»Aber das da«, Margarete zeigte auf das Traumkleid, das er sich nun lässig über den rechten Unterarm geworfen hatte, »kann ich mir wie gesagt sowieso nicht leisten. Bitte hängen Sie es zurück, es kommt bedauerlicherweise nicht für mich infrage.«
Er schien kurz nachzudenken, betrachtete erst sie, dann das Kleid und hob ein wenig enttäuscht die Schultern. »Ich kann Sie nicht zu Ihrem Glück zwingen«, sagte er mit bedauerndem Blick. »Dennoch hätte ich mich gefreut, wenn Sie …«
Seine offenkundige Enttäuschung ließ sie zögern.
»Ein Kleid selbst anzuziehen, wäre ohnehin unschicklich«, sagte sie langsam. Sie befand sich in einer Zwickmühle. So verlockend der Gedanke war, das Kleid für einen Moment zu tragen, so verwerflich wäre es, sich hier auszuziehen und hineinzuschlüpfen. »Für so etwas gibt es Probierdamen«, gab sie zu bedenken. »Sie führen solche Kleider hier bei den Modeschauen auf.«
»Mir geht es nicht darum, das Kleid an irgendeinem Mannequin zu sehen – ich möchte, dass Sie es tragen.« Verschwörerisch zwinkerte der Mann ihr zu. Da war er wieder, sein unwiderstehlicher Charme.
»Ich weiß nicht …« Margarete hatte immer noch Zweifel, doch sie spürte, wie sie der charismatischen Ausstrahlung ihres Gegenübers von Sekunde zu Sekunde mehr erlag.
Er schien zu spüren, dass ihr Widerstand dabei war zu schmelzen wie Wachs in der Sonne. »Es gibt hier Umkleidekabinen.« Er beugte sich zu ihr herüber und flüsterte, als würde er ihr ein Geheimnis verraten. »Und ich weiß, wo sie sich befinden.«
Margarete musste lachen. »Sie wissen, wo sich die Probierdamen umziehen?«
»Selbstverständlich.«
»Wie kann das sein?«
Er zuckte mit den Schultern und legte dann den Zeigefinger der rechten Hand auf die Lippen. »Ich darf das eigentlich nicht verraten, aber …«
»Sie arbeiten also doch hier?« Margarete fragte sich, was er mit dem Kaufhaus zu tun hatte. Wenn er kein eifriger Verkäufer war, der ihr das sündhaft teure Kleid aufschwatzen wollte, dann musste ihn etwas anderes mit dem Tietz verbinden.
»Sozusagen«, räumte er mit zerknirschter Miene ein und schob sie sanft in den hinteren Bereich der Abteilung.
»Aber nicht als Verkäufer.«
»Nein.« Unter der breiten Krempe seines Zylinders errötete er.
»Was tun Sie dann hier?« Margarete bemerkte nur nebenbei, dass sie vor einem dunkelgrünen Samtvorhang angelangt waren, der einem Schild nach dem Personal vorbehalten war.
»Sie werden es nicht glauben«, behauptete der junge Mann, während er sich umsah, als müsse er sich davon überzeugen, dass sich keine ungebetenen Zuhörer in der Nähe aufhielten.
»Verraten Sie es mir trotzdem.«
»Ich bin der … ich arbeite hier als …«, er zögerte und sah sich noch einmal um, bevor er fortfuhr, »ich bin der Ladendetektiv.« Er versteckte seine lederne Aktentasche hinter dem Rücken, fast so, als würden sich darin geheime Unterlagen befinden. Oder die Namen und Adressen der Ladendiebe, die er bereits beim Klauen erwischt hatte.
Jetzt war es also raus. Margarete musste lachen. »Das erklärt einiges«, befand sie amüsiert.
»Was zum Beispiel?« Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
»Dass Sie sich hier auskennen und wissen, wo es zu den Umkleidekabinen geht.«
»Stimmt.« Er nickte mit ernstem Gesichtsausdruck. Dann grinste er. »Was ist denn nun hiermit?«
Mit bedeutsamer Miene deutete er auf das Kleid. »Sie sollten es anziehen, um …«
»Um was?« Mit einem koketten Augenaufschlag machte sie ihn sprachlos. Margarete empfand Gefallen an diesem Katz-und-Maus-Spiel. Der junge Mann war ihr sympathisch. Etwas Grundehrliches lag in seinen Augen.
»Um es wenigstens einmal getragen zu haben«, stammelte er, nun doch ein wenig verlegen. »Manchmal muss man verrückte Dinge tun, sonst bereut man sein Leben lang, sie nicht getan zu haben.«
Amüsiert stellte Margarete fest, dass ihm die Argumente ausgingen. Schließlich bat er sie einfach: »Tun Sie es für mich.«
Margarete fragte sich, was ihm daran lag, sie in diesem Kleid zu sehen. Natürlich waren seine charmanten Worte schmeichelhaft, aber hatte er wirklich Interesse an ihr, oder war er nur ein Frauenheld? Zweifelnd betrachtete sie erst den Detektiv, dann das Kleid über seinem Arm. Der Gedanke, dass sie es einmal tragen durfte, war unwiderstehlich.
»Also gut«, sagte sie, einem Impuls folgend. »Ich werde es anziehen, um Ihnen einen Gefallen zu tun.« Die Verlockung, einmal den wundervollen Stoff auf ihrem Körper zu fühlen, war zu groß. Und wenn sie dem hübschen jungen Mann damit einen Gefallen tun konnte – warum nicht?
Margarete freute sich an seinem breiten Grinsen und ließ sich von ihm zur Umkleidekabine geleiten, die sich hinter dem dunkelgrünen Vorhang befand. Dort angekommen nahm sie ihm das Kleid ab. »Aber Sie warten draußen, verstanden?«
»Selbstverständlich.« Er nickte eifrig. »Ich kann es kaum erwarten, Sie in dem Kleid zu sehen.«
»Aber nicht gucken, bevor ich Sie rufe.«
Margarete musste trotz ihres strengen Tonfalls lächeln. Einen Mann wie ihn hatte sie noch nie erlebt. Er war unbekümmert wie ein kleiner Junge und hatte sichtlich Freude an ihrer Begeisterung für das Traumkleid. Eigentlich passten der teure Maßanzug, seine Lederschuhe und der modische Hut gar nicht zu ihm. Ein wenig sah er aus wie ein Bankier oder ein Advokat, aber nicht wie ein Warenhausdetektiv. Zudem wirkte er gebildet und verfügte trotz seines eigenartigen Auftretens über gute Manieren.
Mit diesen Gedanken im Kopf verschwand sie in der Umkleidekabine. Als sie in Strümpfen, Unterhose und ihrem Leibchen vor dem Spiegel stand und an den attraktiven Mann dachte, der draußen auf sie wartete, schlug ihr Herz schneller. Sie kam sich ein wenig verrucht vor, das Kleid nur ihm zuliebe anzuziehen. Was war nur los mit ihr?
*
Ungeduldig marschierte Oscar Tietz in seinem Büro auf und ab. Wo steckt der Junge nur? Eigentlich war er es von seinem Neffen gewohnt, dass er zu Verabredungen pünktlich erschien. Am Fenster blieb Oscar stehen und zog eine Taschenuhr aus seinem schwarzen Cutaway-Sakko hervor. Die winzigen Glieder der Kette schmeichelten seinen Händen. Er ließ den Sprungdeckel aufschnappen, um einen Blick auf das reichlich verzierte Ziffernblatt werfen zu können.
Herm. Bock, Breslau,
Blücherplatz 19,
stand in geschwungenen Lettern am oberen Rand, während sich im unteren Bereich der Sekundenzeiger auf einem eigenen, winzigen Ziffernblatt im Kreis drehte. Zehn Minuten war Alfred nun schon zu spät. Unter Oscars Enttäuschung mischte sich langsam Sorge, denn er kannte den Sohn seines Bruders Leonhard als äußerst zuverlässig.
Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen, durchzuckte es Oscar, während er die Uhr zuklappte und sie wieder in die Tasche gleiten ließ. Um sich abzulenken, warf er einen Blick in den Hof. Dort wurden gerade die Lastwagen der Lieferanten abgeladen, die neue Waren brachten.
Einige Ladenmädchen standen schwatzend beisammen und genossen in ihrer Pause die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Jahres. Ein Kontorist stand mit einem Klemmbrett neben zwei Arbeitern, die einen der Wagen entluden. Jemand brüllte Anweisungen über den Hof und prompt legten die Packer mehr Tempo an den Tag.
Der Laden läuft, dachte Oscar zufrieden, bevor er sich abwandte und weiter durch sein Büro tigerte. Während er die lange Seite abschritt, blickte er auf seine Schuhspitzen und zählte die Schritte, in der Ecke angekommen machte er eine Vierteldrehung und schritt die schmalere Seite des Raumes ab. Auch hier zählte er seine Schritte, was eigentlich überflüssig war, da er sein Büro schon unzählige Male mit Schritten durchmessen hatte.
Plötzlich glaubte er, von draußen ein Geräusch zu vernehmen. Oscar blieb stehen und legte lauschend den Kopf schräg. Durch die Bürotür hörte er nur das monotone Klappern der Schreibmaschine von Elsbeth Jakob, seiner Sekretärin. Kurz überlegte Oscar, ob er sie nach dem Verbleiben seines Neffen fragen sollte. Möglicherweise, so überlegte er, hatte er ihr eine Nachricht zukommen lassen. Doch Oscar verwarf den Gedanken, denn Fräulein Jakob war fleißig und dienstbeflissen. Längst hätte sie ihn von so einer Nachricht in Kenntnis gesetzt.
Seufzend umrundete er seinen Schreibtisch und sank mit einem Stöhnen in das weiche Leder des Sessels. Er würde sich wohl oder übel gedulden müssen.
Während er auf Alfred wartete, schweiften seine Gedanken ab. An manchen Tagen konnte er kaum glauben, was er in den letzten Jahren alles erreicht hatte. Allein in Berlin besaß er nun drei Warenhäuser. Nach den letzten, mageren Jahren in München war er nach Berlin gegangen, um sein Glück in der Hauptstadt zu versuchen. Und mit der Hilfe seines Onkels Hermann war es ihm gelungen, die neuen Volkskaufhäuser aus dem Boden zu stampfen. Mehr als dreitausendfünfhundert Männer und Frauen standen nun auf seiner Lohnliste, und allein in Berlin hatte er den Warenhäusern zwei Berufsschulen angegliedert, um hier für Nachwuchs zu sorgen. Mit Wehmut dachte er an seinen geliebten Onkel Hertie, der viel mehr für ihn gewesen war als nur ein Mentor. Ohne ihn, darüber war Oscar sich im Klaren, hätte er es nie so weit gebracht. Nun waren er und Betty schon seit zwei Jahren auf sich allein gestellt, denn Onkel Hermann war im Alter von siebzig Jahren an einer Arterienverkalkung gestorben.
Oscar seufzte. Wäre Onkel Hertie nicht gewesen, wäre sein Leben anders verlaufen. Vor mehr als dreißig Jahren konnte Oscar nur mit der finanziellen Hilfe seines Onkels sein erstes kleines Geschäft in Gera eröffnen. Fortan war Hermann immer an seiner Seite gewesen. Und er hatte seine Ziehtochter Rebecka, genannt Betty, aus Amerika mitgebracht, in die Oscar sich verliebt hatte. Das, was damals als ein Skandal begonnen hatte, war längst zu einer wunderbaren Liebesgeschichte geworden, denn Betty war inzwischen Oscars Frau und die Mutter seiner Söhne. Seinem Onkel zu Ehren hatte Oscar sein Geschäft Warenhaus Hermann Tietz genannt.
An manchen Tagen fühlte er sich einsam, so ganz allein an der Spitze eines immer noch wachsenden Konzerns, der sich den täglichen Herausforderungen zu stellen hatte, um nicht an der Konkurrenz, den immer lauter werdenden Stimmen der Kritiker und den immer neuen Gesetzen, die ihm das Leben schwermachten, zu scheitern.
Umso wichtiger war ihm der Austausch und die Zusammenarbeit mit den anderen Familienmitgliedern, die ähnliche Geschäfte führten wie er. Zusammenhalt war das Gebot der Stunde.
Und damit kehrten Oscars Gedanken zum anstehenden Besuch seines Neffen zurück. Oscar war gespannt, was Alfred zu berichten hatte. Immer wieder gab es aus Köln gute Neuigkeiten. Sein Bruder Leonhard und seine Schwägerin Flora waren vor einiger Zeit schon an den Rhein gezogen, um den Konzern von dort aus zu leiten. Auch die Firmenzentrale der Leonhard-Tietz-Warenhäuser befand sich längst in Köln.
Oscar stützte das Kinn in die Hände. Es war wirklich höchste Zeit, dass Alfred auftauchte, denn er hatte viel mit dem Sohn seines Bruders zu besprechen.
*
Die Augen des jungen Mannes wurden groß, als Margarete aus der Umkleidekabine trat. Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Sie sehen traumhaft aus in diesem Kleid, meine Dame.« Die Aktentasche hielt er immer noch hinter seinem Rücken.
Wieder spürte Margarete, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Es schmeichelte ihr, wie angetan der fremde Mann von ihrem Anblick war. Bisher hatte ihr kein Mann je gesagt, dass sie traumhaft aussah. Vielleicht sollte sie es besser dem Kleid zuschreiben, nicht ihrem eigenen Aussehen. Er meint bestimmt das Kleid, ermahnte sie sich und trat einen Schritt vor. Dabei gab sie sich größte Mühe, prinzessinnenhaft zu schreiten.
»Sollten Sie nicht Diebe jagen?«, fragte Margarete kokett. »Während wir hier stehen, werden draußen im Warenhaus vielleicht wertvolle Gegenstände unbemerkt gestohlen.«
Er beachtete ihren Einwand gar nicht. »Wie kann es sein, dass Sie in diesem Kleid engelsgleich aussehen und gleichzeitig das Auftreten einer vornehmen Dame besitzen?« Er schüttelte den Kopf, als würde er seinen Augen nicht trauen.
Margarete musste lachen. »Nun übertreiben Sie mal nicht.« Energisch stemmte sie die Hände in die Hüften. »Spiegel?«, fragte sie.
Er runzelte verwirrt die Stirn.
»Gibt es hier einen Spiegel, in dem ich mich betrachten kann?« Jetzt, wo er sie überredet hatte, das Kleid anzuziehen, wollte Margarete sich auch darin sehen.
»Aber selbstredend, die Dame.« Der Warenhausdetektiv trat beiseite und gab den Blick auf einen großen Ankleidespiegel frei.
Jetzt konnte Margarete sich im Spiegel bewundern. Der fremde Mann, dessen Namen sie nicht einmal kannte, sah ihr dabei zu, offenkundig ganz verzaubert von ihr. Und Margarete versuchte zu sehen, was er sah. Das Kleid schmeichelte ihrem Körper und betonte ihre Kurven auf äußerst vorteilhafte Weise. Sanft umhüllte sie der weiche Stoff und fiel in einer sanften Prinzessform von den Schultern bis zur Taille, um unten in der Form eines umgekehrten Blütenkelchs auszulaufen.
Ihr fehlten die Worte, so anmutig sah sie in diesem Kleid aus. Fast war es Margarete, als wäre die Person im Spiegelbild gar nicht sie, sondern eine adelige Dame.
»Ich sehe, jetzt verstehen Sie mich«, freute sich der junge Mann und trat einen halben Schritt näher. »Das müssen Sie kaufen.«
Margarete lachte. »Das sagen Sie als Angestellter des Warenhauses, nehme ich an?«
»Gott bewahre, das sage ich als ein Bewunderer«, rief er und hob beschwichtigend die Hände mit der Tasche. Dabei achtete er darauf, sie nicht erneut fallen zu lassen.
»So schön es auch wäre, ich denke, das Kleid kann ich mir nicht leisten«, seufzte Margarete. »Außerdem war ich hier, um mir etwas Schlichteres zu kaufen.« Sie überlegte kurz und warf dabei immer wieder sehnsuchtsvolle Blicke in den Ankleidespiegel. »Einen schlichten Rock, dazu eine Bluse und vielleicht eine passende Kostümjacke mit Jabot-Kragen.«
»So etwas finden Sie sicher in der Damenkonfektionsabteilung«, sagte der junge Detektiv. Plötzlich, so schien es Margarete, schien ihm etwas einzufallen, und er warf hastig einen Blick auf die Uhr. »Oje«, sagte er, »ich muss mich jetzt sputen.« In seinem Gesicht waren hektische rote Flecken erschienen. »Sie entschuldigen mich?«
»Natürlich«, sagte Margarete ein wenig verwundert. Sie trat zurück in die Kabine. »Dann ziehe ich mich jetzt wieder um. Es war schön, dass Sie mich zu diesem Traum aus Tüll und floralen Mustern überredet haben, doch es übersteigt mein Budget und erfüllt nicht den Zweck, für den ich Kleidung benötige.«
»Ich bin zutiefst betrübt«, sagte er ernst, stammelte eine weitere Entschuldigung und deutete eine Verbeugung an, bevor er Margarete allein ließ.
»Wie eigenartig«, murmelte Margarete zu sich selbst, als sie sich anschickte, das Abendkleid abzustreifen und wieder in ihre eigenen Kleider zu schlüpfen. Der Mann hatte eine starke Faszination auf sie ausgeübt. Ob das an seiner Erscheinung oder an seinem geheimnisvollen Beruf lag, vermochte sie nicht zu sagen.
»Es gibt Probleme mit dem Neubau in Elberfeld.« Max Baumann betrat das Büro seines Schwagers mit besorgtem Blick. Er drückte die Tür ins Schloss und trat näher. Hastig nahm er den Hut vom Kopf und drehte die breite Krempe in den Händen.
Leonhard Tietz sah von einem Brief an einen Lieferanten im Süddeutschen auf, den er eben geschrieben hatte. Seufzend legte er den Stift zur Seite und sah den Bruder seiner Frau fragend an. Sicher hatte es nichts Gutes zu bedeuten, wenn Max ihn in Köln aufsuchte, um über ihr nächstes großes Projekt im Tal der Wupper zu sprechen.
»Nimm Platz, Max.« Mit dem Kinn deutete er auf einen der beiden Besucherstühle vor seinem imposanten Schreibtisch. »Worum geht es?«
Max zog es vor, stehen zu bleiben. »Die Eigentümer an der Herzogstraße wollen nicht verkaufen.« Er wirkte zerknirscht. »Unsere Anwälte scheinen machtlos zu sein, und so wird das Bauvorhaben durch die in Elberfeld ansässigen Geschäfte verhindert.«
»Sie fürchten unsere Konkurrenz«, murmelte Leonhard nachdenklich. »Die Inhaber der kleinen Spezialgeschäfte fühlen sich in ihrer Existenz bedroht.« Er erinnerte sich an ihre ersten Jahre, damals in Stralsund. Immer wieder war er mit Georg Wertheim, einem Konkurrenten der ersten Stunde, aneinandergeraten.
»Das ist verständlich, aber ich fürchte, darauf können wir keine Rücksicht nehmen«, sagte Max bedauernd und hielt dem Blick seines Schwagers stand.
Leonhard schüttelte den Kopf. »Es widerstrebt mir, andere für unseren Erfolg ins Unglück zu stürzen«, murmelte er. Seitdem das Unternehmen zum Großkonzern geworden war, fühlten sich zahlreiche kleinere Händler in die Enge getrieben.
»Sie werfen uns unlauteren Wettbewerb vor und behaupten, dass wir schlechte Qualität anbieten«, klagte Max.
»Niemand, der bei uns kauft, hat sich bisher über minderwertige Ware beschwert«, stellte Leonhard sachlich fest. »Es sind die Preise, mit denen der Fachhandel nicht mithalten kann.«
»Was schlägst du vor, Leo?« Max zog sich nun doch einen der freien Stühle heran und nahm Platz. Nachdem er die langen Beine übereinandergeschlagen hatte, räusperte er sich und sagte: »Wir müssen in Elberfeld expandieren, der Laden ist schon seit geraumer Zeit zu klein.«
»Gibt es einen alternativen Standort?«
»Ich fürchte, das würde nichts ändern. Wenn wir uns für einen Standort ein paar Straßen weiter entscheiden würden, ist davon auszugehen, dass wir auch dort auf Widerstand der ansässigen Händler treffen.«
»Also würden wir unser Problem nur verlagern.« Leonhard nickte. Er barg das Gesicht in den Händen und dachte angestrengt nach. »Hilft es, ihnen mehr Geld für ihre Grundstücke anzubieten?«, fragte er schließlich.
»Wir entlohnen sie schon jetzt fürstlich«, antwortete Max kopfschüttelnd. »Sie sagen, sie seien nicht käuflich.«
»Verstehe.« Leonhard versuchte, sich in die Lage der kleinen Geschäftsleute in der Elberfelder Innenstadt hineinzuversetzen. Auch sie hatten ihren Stolz, und die meisten hatten wahrscheinlich jahrelang dafür kämpfen müssen, einen kleinen Laden ihr Eigen nennen zu können, der ihnen den Lebensunterhalt sichern sollte. Und dann kam der Tietz-Konzern daher, der sie abfinden und aus ihren Häusern vertreiben wollte.
Das neue Warenhaus im Tal der Wupper war für Leonhard ein Herzensprojekt. Es sollte ein ähnlicher Prunkbau werden wie der an der Düsseldorfer Königsallee, den sie Anfang des Jahres eröffnet hatten. Leonhard hatte bereits einen Architekten beauftragt, der erste Skizzen angefertigt hatte.
Mühsam erhob er sich, um an das Kabinett zu treten. Er musste nicht lange suchen, um die großformatige Zeichnung des Architekten Wilhelm Kreis zu finden. Mit der Papierrolle unter dem Arm kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück und schob einige andere Unterlagen beiseite, um den Entwurf zwischen ihnen ausrollen zu können. Nachdenklich betrachtete er den Entwurf.
Max beugte sich vor, um ebenfalls einen Blick auf die großformatige Zeichnung zu werfen. »Wilhelm Kreis hat sich einmal mehr übertroffen«, räumte er ein.
Leonhard nickte lächelnd. »Damit«, sagte er und tippte auf die prunkvolle Nordpassage des Warenhauses, »werden wir städtebauliche Geschichte schreiben.«
»Du bist und bleibst ein Visionär«, sagte Max und befingerte den Zylinder in seinem Schoß.
Leonhard lachte auf. »So weit würde ich vielleicht nicht gehen, aber die Menschen sollen das Einkaufen neu erleben können.«
»Momentan sind die lokal ansässigen Geschäftsleute aber entschlossen, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen«, erinnerte Max ihn.
Leonhard nickte, seine Miene niedergeschlagen.
»Weißt du, Leo, mir ist daran gelegen, uns den Weg für deinen Traum freizumachen, auch weil ich weiß, wie sehr Flora daran hängt. Doch derzeitig stehen die Zeichen schlecht.«
»Wir brauchen einen Plan, um die Geschäftsleute vor Ort umzustimmen.« Leonhard erhob sich aus seinem Sessel, und eine steile Sorgenfalte erschien auf seiner hohen Stirn, als er ans Fenster trat. Der Himmel über Köln war grau an diesem Tag. Majestätisch erhoben sich die Spitzen des Doms in den wolkenverhangenen Himmel.
»Ich werde mich mit Flora beratschlagen«, beschloss er schließlich, ohne sich zu seinem Schwager umzudrehen. Manchmal hatte seine Frau die besten Ideen. Sie sah viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel als ihre Brüder und ihr Mann. »Deiner Schwester fällt immer etwas ein«, ergänzte Leonhard schmunzelnd und wandte sich mit zuversichtlicher Miene zu Max Baumann um. »Lass uns nur machen.«
Jule war hundemüde, als sie schwer bepackt aus dem großen Lager des Kaufhauses kam, um die frisch eingetroffene Lieferung in die Regale der Damenkonfektionsabteilung einzuräumen. Sie musste einen ganzen Stapel flacher Pappschachteln in die Abteilung für Damenkonfektion tragen. Seit einem halben Jahr arbeitete sie als Ladenmädchen im Tietz, doch so müde wie heute war sie noch nie zur Arbeit gekommen. Die Nacht war kurz gewesen, und John, ihr Liebhaber, war erst im Morgengrauen gegangen. Dabei musste er leise sein, denn eigentlich war Herrenbesuch in ihrer kleinen Wohnung streng verboten.
Im Laden herrschte bereits ein buntes Treiben. Vornehme Damen in teuren Kleidern standen neben einfach Scheuerfrauen in der Schlange an der Kasse der Abteilung, Herren in akkuraten Anzügen suchten die Tabakabteilung auf, um sich mit Zigaretten oder Zigarren zu versorgen – oder um eine Zeitung zu erwerben.
Hier, in dem großen Warenhaus von Oscar Tietz, waren sie und John sich vor wenigen Tagen zum ersten Mal begegnet. Mit verzücktem Blick hatte sie die neueste Kollektion von Abendkleidern aus Paris bewundert. Man hatte sie beauftragt, die Kollektion aus dem Kontor zur Verkaufsfläche zu schaffen, wo eifrige Dekorateure sich auf die frisch eingetroffenen Waren stürzten wie Aasgeier auf ein Stück Fleisch. Dennoch hatten es die Dekorateure innerhalb kürzester Zeit fertiggebracht, die exklusiven Stücke aus Paris ansprechend in Szene zu setzen. Jule war entzückt von einer prachtvollen Corsage mit aufwendiger Silberstickerei und funkelnden Perlen am Kragen, als er sie einfach angesprochen hatte. »Ein schönes Stück, oder?«
Die tiefe Stimme mit dem leichten Akzent ließ ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen. Jule wandte sich um und sah in das grinsende Gesicht eines äußerst attraktiven Mannes, der nur unwesentlich älter zu sein schien als sie selbst. Bei der Auswahl seiner Kleidung hatte der Fremde Geschmack bewiesen, und sein Anzug saß perfekt.
»Ick … also nee, wissen Se …«, stammelte Jule perplex. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, doch dass sie als einfaches Ladenmädchen von einem derartig umwerfenden Mann angesprochen wurde, kam nicht alle Tage vor. Sie fragte sich, ob der Fremde sie schon länger beobachtet hatte. Er war einen Kopf größer als sie, der Hut saß neckisch schräg auf seinem Kopf, und in der Tasche seines Sakkos steckte ein strahlend weißes Tuch. Die schwarzen Schuhe glänzten, als hätte er sie eben noch poliert.
»Die Corsage, die Sie bewundern, meine ich«, half er ihr auf die Sprünge. Mit dem Kinn deutete er auf das Kleidungsstück. »Wunderschön, nicht wahr?«
»Ja, det isses, aber ick werd mir det beem besten Willen nich leisten können.« Jule verdrehte die Augen. »Meen Jehalt als Ladenmädchen reicht nich, um mir teure Mode aus Paris zu koofen.«
»Ich könnte Ihnen ein Geschäft anbieten.« Der Mann grinste noch breiter und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. Sein Akzent gefiel ihr, er war wie Musik in ihren Ohren. »Sie probieren die Corsage jetzt an, und wenn sie passt, kaufe ich sie Ihnen.«
Jule wusste nicht, was sie von diesem Vorschlag halten sollte. »Wie meenen Se denn das?«
»So, wie ich es sage.«
»Aber wir kennen uns doch jar nich«, gab Jule zu bedenken. »Warum sollte mir een fremder Mann eene sündhaft teure Corsage koofen?«
»Mein Name ist John«, erwiderte er. »Jetzt kennen Sie mich.«
»Aber … aber det reicht doch nich, um …« Jule fehlten die Worte. So unauffällig wie möglich beäugte sie den attraktiven Mann, der seinem Akzent nach offenbar Engländer oder Amerikaner war. Obwohl er gut Deutsch sprach, war die englischsprachige Einfärbung unüberhörbar. »Haben Sie auch einen Namen, schöne Frau?«
»Jule«, sagte sie mit zitternder Stimme, »ick heiße Jule.«
»Schön, Sie kennenzulernen. Wenn Sie einverstanden sind, kaufe ich Ihnen diese wunderbare Corsage.«
Jule schaute auf das Kleidungsstück. Im Licht der Kronleuchter funkelte die Corsage wie ein Sternschnuppenregen in einer Sommernacht. Sie streckte die Hand danach aus und ließ die Fingerkuppen über den Stoff gleiten.
»Wat muss ick denn dafür tun?«
»Trinken Sie heute Nachmittag einen Tee mit mir.« Aus seinem Munde klang dieses Angebot wie eine Selbstverständlichkeit. »Ich kaufe die Corsage, wir trinken einen Tee miteinander, und Sie tragen das gute Stück für mich.«
Verführerische Bilder tauchten vor Jules innerem Auge auf. Sie sah, wie sie lasziv in der Corsage vor ihm auf und ab tänzelte, wie er ihre Bewegungen fasziniert verfolgte, mit einem schwärmerischen Lächeln auf den Lippen, spürte, wie die Luft plötzlich zwischen ihnen knisterte. Es fühlte sich gefährlich und verlockend zugleich an. Aber ihre Skepsis war noch nicht ganz gewichen. »Mehr nich?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Mehr muss ick nich tun?«
»Nein, das ist alles, ich verspreche es.«
»Ick muss aber bis spät arbeiten, deshalb wird es nix mit Tee in nem Teehaus. Vor halb acht komm ick hier nich raus.«
»Dann lade ich Sie hiermit zu mir nach Hause ein.« Er lächelte. »Dort sind wir auch ungestört.«
Jule zuckte zusammen. »Wie meenen Se det?«, fragte sie mit einem empörten Unterton in der Stimme.
»Sie müssen nicht fürchten, dass man uns beobachtet«, beschwichtigte John sie rasch. »Jule«, fügte er hinzu, »bitte tun Sie mir den Gefallen.«
Sie dachte darüber nach. Ein wildfremder, wenngleich überaus gut aussehender Mann machte ihr ein eigenartiges Angebot. Er lud sie zu sich nach Hause ein und wollte ihr die Corsage kaufen, in die sie sich eben verguckt hatte. Das Einzige, was sie im Gegenzug tun sollte, war, mit ihm einen Tee zu trinken und die Corsage vorzuführen. Es klang zu gut, um wahr zu sein, auch wenn an sich nichts Unmoralisches oder Verwerfliches daran war. Wollte sie das Risiko eingehen?
»Also jut«, sagte sie schließlich. »Ick mach es.« Ihre Hand zitterte, als sie ihm die Corsage überreichte, während er die Geldbörse aus der Innentasche seines Sakkos zog. Er reichte ihr einen Zettel, auf dem seine Adresse stand.
»Hier«, sagte er, »so um acht?«
»Acht Uhr ist perfekt.« Jule nickte mit glühend roten Wangen. »Ick werd’ da sein.«
»Jule – träumst du?«
Die Stimme ihrer Kollegin Marianne riss Jule aus ihren Erinnerungen an John. Als sie sich zu der schwarzhaarigen Schönheit umdrehte, fühlte sie sich ertappt. »Nee«, sagte sie verlegen. »Det heißt … höchstens ein bisschen, also, janz kurz, weil …«
»Schon gut, schon gut«, lachte Marianne. »Wie heißt er denn?« Sie ahnte offenbar, dass ein Mann hinter Jules Tagtraum steckte.
»John«, antwortete Jule mit einem verliebten Seufzen. »John heißt er.«
Mariannes Miene verfinsterte sich schlagartig. »John?«
»Ja, wieso?« Jule wunderte sich über die Reaktion ihrer Kollegin. »Wat is’ daran so schlimm? Er is’ Amerikaner und er …«
»Wohnt in einem der neuen Bürgerhäuser in Neukölln, gleich am Wasser?« Wütend stemmte Marianne die Hände in die Hüften.