Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht - Susanne von Berg - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht E-Book

Susanne von Berg

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Laden der Zukunft.

Stralsund, 1879: Die junge Schneiderin Flora zieht mit ihrem Verlobten Leonhard Tietz in die schöne Hansestadt. Für ihr Brautkleid findet sie im Textilwarengeschäft eines alten Kaufmanns die feinsten Stoffe, doch der betagte Besitzer steht seit dem tragischen Tod seiner Frau kurz vor dem Bankrott. Flora beschließt spontan, ihm ihre Hilfe als Ladenmädchen anzubieten. Als es dann in Leonhards Beziehung mit seinem Jugendfreund und Geschäftspartner zu kriseln beginnt, treffen Flora und er eine Entscheidung, die ihr Schicksal für immer verändern wird … 

Das berührende Schicksal einer Familie und die unglaubliche Erfolgsgeschichte der Kaufhaus-Dynastie »Hertie«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 632

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Cover for EPUB

Über das Buch

Stralsund, 1879: Frisch verlobt und überglücklich bauen die junge Flora und ihr Leonhard sich in der Hansestadt eine Existenz auf. Während Flora voller Elan die anstehende Hochzeit plant und bei einem betagten Kaufmann als Ladenmädchen aushilft, hat Leonhard mit einem alten Schulfreund die Leitung eines Textilwarenherstellers übernommen. Als die Geschäftsbeziehung zu scheitern droht, wendet er sich voller Sorge an seine Verlobte. Gemeinsam entwickeln sie einen Plan: Was, wenn Leonhard und Flora auf eigenen Beinen stehen und gemeinsam ein ganz neues, innovatives Kauferlebnis schaffen? Flora weiß auch schon genau, wo sie anfangen können – und ahnt nicht, dass sie damit den Grundstein für ein wahres Kaufhaus-Imperium legt.

Über Susanne von Berg

Susanne vom Berg ist das Pseudonym des Schriftstellers Andreas Schmidt, der durch seine zahlreichen veröffentlichten Kriminalromane deutschlandweit seit vielen Jahren eine große Stammleserschaft erreicht. »Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht« ist sein erster historischer Roman und der Auftakt einer spannenden Familiensaga. Andreas Schmidt lebt und arbeitet als freier Autor und Journalist in seiner Heimatstadt Wuppertal.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Susanne von Berg

Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Unablässig trommelte der Regen auf das schräge Dach des kleinen Hauses in der Ossenreyer Straße. Das Gewittergrollen drang aus weiter Ferne an die Ohren des alten Mannes. Immer wieder schien das zuckende Wetterleuchten durch das kleine Fenster im Schlafzimmer. Das Unwetter war schnell ins Landesinnere weitergezogen, nachdem es sich über den Dächern von Stralsund ausgetobt hatte.

Nur der Regen war geblieben.

In dieser Nacht lag Albert Holst lange wach. Fröstelnd zog er sich die einfache Decke bis zum Kinn. Seine Bartstoppeln raschelten leise, als der Stoff seinen Hals streifte. Normalerweise hatte das monotone Pladdern der Tropfen eine beruhigende Wirkung auf ihn, doch diesmal ließen ihm seine Sorgen keine Ruhe. Mit klopfendem Herzen lag er auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke, die sich als schwarzes Rechteck vom Grau des spärlich eingerichteten Schlafzimmers abhob.

Das kleine Geschäft für Kurz- und Weißwaren im Erdgeschoss des Hauses lief schlecht, seitdem seine Frau von ihm gegangen war. Margarete, die Liebe seines Lebens, war im vergangenen Herbst an einer mehrwöchigen Lungenlähmung im Alter von sechsundfünfzig Jahren gestorben. Sie hatte den Laden mit Herz und Verstand geführt, wusste um die Vorlieben ihrer vornehmlich weiblichen Kundschaft und kannte nahezu jede Kundin mit Namen. Seitdem ihr freundliches Lachen für immer verstummt war, waren auch die Kunden weggeblieben.

Doch wenn er ehrlich war, lief der Laden schon länger nicht mehr gut. Angefangen hatte es vor etwa vier Jahren. Mit der Eröffnung eines Kaufhauses der Familie Wertheim an der Mühlenstraße waren bei Holst die Umsätze eingebrochen. Halb Stralsund war geblendet von dem pompösen neuen Geschäft, das die Brüder Hugo und Georg Wertheim eröffnet hatten – unglücklicherweise mit dem gleichen Sortiment, mit dem sich Margarete und Albert Holst ihren Lebensunterhalt verdienten. Dennoch war es seiner Frau immer gelungen, ihre Kundinnen von den Vorteilen eines Einkaufs bei Holst zu überzeugen. Seit ihrem Tod wurden es täglich weniger Kunden, die den Weg in den kleinen Laden fanden.

Albert geriet mehr und mehr unter Druck, denn die Lieferanten warteten vergeblich darauf, dass er endlich seine Außenstände beglich. Tuchmacher, Färber und Knopfhersteller mahnten offene Rechnungen an und bereiteten dem in die Jahre gekommenen Geschäftsmann schlaflose Nächte.

Warum, dachte er verzweifelt, warum bist du so früh von mir gegangen, meine Liebe?

Nie würde er den keuchenden Husten vergessen, unter dem sie zuletzt gelitten hatte. Jede Nacht war er von ihrem Husten geweckt worden, hatte ihr Beistand geleistet, war bestrebt gewesen, ihre schweren Stunden ein wenig zu lindern. Alles vergeblich. Er hatte nichts tun können, um Margaretes Leben zu retten.

Achtundsechzig Jahre alt war Holst jetzt, sie waren neununddreißig Jahre lang verheiratet gewesen. Im nächsten Jahr hätten sie ihre Rubinhochzeit feiern können. Zwei Kinder hatten ihre Liebe besiegelt. Doch keins von beiden fühlte sich dazu berufen, in die Fußstapfen der Eltern zu treten. Während seine Tochter Johanna seit letztem August mit Heinrich Bolten, einem angesehenen Advokaten, verheiratet war und sich für ihr kleinbürgerliches Elternhaus zu schämen schien, verdingte sich Julius als Tagelöhner am Hafen. Er lebte von einem Tag auf den anderen und zeigte keinerlei Interesse am Geschäft der Eltern, das sie in jahrzehntelanger Arbeit mühevoll aufgebaut hatten. Julius arbeitete überall dort, wo Hilfe im Hafen gefragt war. An einem Tag entlud er Frachter, am nächsten half er den Männern in der Werft beim Bau neuer Schiffe, am dritten Tag schuftete er als Kesselreiniger unter Deck. Strukturen und ein geregelter Alltag waren ihm fremd. In den Augen seines Vaters war Julius ein Taugenichts, von dem er keine Unterstützung erwarten konnte. Auch eine Frau gab es nicht in Julius’ Leben, jedenfalls wusste Albert Holst nichts davon. Und es wunderte ihn nicht, denn Julius versoff seinen Lohn üblicherweise gleich nach der Arbeit in einer der Schankwirtschaften am Hafen, um dann betrunken in seine sicherlich recht bescheidenen vier Wände zu wanken, wo er seinen Rausch ausschlief.

Albert Holst wusste nicht einmal genau, wo sein Sohn lebte, ob er ein einzelnes Zimmer zur Miete bewohnte oder ob er sich eine Wohnung leisten konnte, wovon aber nicht auszugehen war. Julius war und blieb ein hoffnungsloser Fall.

Es war zum Verzweifeln.

Als Margarete erkrankte, war ihm also nichts anderes übrig geblieben, als sich neben ihrer Pflege auch noch allein um den Laden zu kümmern. Oft hatte er tagsüber bis zur Erschöpfung geschuftet, um dann nachts vom Husten seiner Frau geweckt zu werden, wodurch ihm jede Möglichkeit verwehrt blieb, neue Kraft zu sammeln. Alles unter einen Hut zu bringen, war ihm nur leidlich gelungen. Die Warenbestände im Kontor waren inzwischen fast aufgebraucht, so dass er seinen Kundinnen nicht mehr allzu lange etwas verkaufen können würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Lieferanten sich von ihm lossagen würden und er keine neue Ware mehr geliefert bekäme.

Eine einsame Träne rann über sein Gesicht, während Albert sich an die letzten Wochen im Leben seiner Frau erinnerte. Von Tag zu Tag war es ihm schwerer gefallen, sowohl ihre Pflege als auch die Arbeit im Laden zu bewältigen. Der letzte, schwerfällige Atemstoß, mit dem Margarete ihr Leben ausgehaucht hatte, war schließlich fast eine Erleichterung gewesen. In diesem Augenblick hatten ihre Gesichtszüge zum ersten Mal seit Langem wieder völlig entspannt gewirkt. Albert Holst hatte im Moment ihres Todes sogar geglaubt, den Ansatz eines Lächelns in ihren Mundwinkeln zu erkennen. Ein letztes Mal hatte er liebevoll über ihre Wangen gestreichelt, wie er es immer gern getan hatte. Mit einem Kuss hatte er sich von ihr verabschiedet, bevor seine Welt zusammengebrochen war. Von nun an galt es, sich im Leben allein zurechtzufinden.

Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die Bettdecke fortstieß und sich aufsetzte. »Nein«, sagte er laut, während er in die neben dem Bett stehenden Filzpantoffeln schlüpfte, »so geht das nicht weiter.« In ihm keimte ein Entschluss, der ihm das Herz brach.

Mit weichen Knien erhob er sich, um gebeugt in die Küche zu schleichen. Seine Entscheidung würde den Rest seines Lebens verändern. »Ich werde mich von dem Laden trennen müssen, Margarete«, krächzte er. »Auch wenn es ein schmerzlicher Verlust sein wird, so kann ich mit dem Erlös die Schulden abbezahlen und mir eine kleine Wohnung mieten.« Als er die kleine Küche erreichte, wo er sich ein Glas Wasser einschenkte, überlegte er, wer für einen so heruntergewirtschafteten Laden Geld bezahlen würde. Es waren schlechte Zeiten für einen kleinen Geschäftsmann wie ihn. Holst war sicher, dass bald schon große Kaufhäuser wie das der Brüder Wertheim die kleinen Läden verdrängen würden. Vielleicht hatte sein Schwiegersohn Heinrich eine Idee, an wen man den Laden verkaufen könnte. Immerhin arbeitete er in Schwerin als ein sehr erfolgreicher und angesehener Treuhänder.

»Was habe ich nur aus unserem Laden gemacht, Margarete?«, murmelte er. Der Gedanke daran, das gemeinsame Lebenswerk zerstört zu haben, brach Albert Holst fast das Herz.

Kapitel 2

Kinderlachen schallte Flora Baumann entgegen, als sie um die Straßenecke bog. Eine ganze Reihe neuer Bürgerhäuser bestimmte in diesem Viertel von Stralsund das Stadtbild. Hier lebte der gehobene Mittelstand, zu dem sich auch die junge Frau zählen konnte – bei Weitem keine Selbstverständlichkeit, war sie doch erst vor wenigen Monaten mit ihrem Verlobten Leonhard aus dem beschaulichen Birnbaum in die aufblühende Hansestadt am Strelasund gezogen. Zwei Jahre hatte er sich Zeit gelassen, bevor er ihr einen Antrag gemacht hatte. Mit einem glücklichen Lächeln erinnerte sie sich an jenen Abend, als Leonhard vor ihr auf die Knie gegangen war und sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle. Selten zuvor hatte Flora ihn so nervös erlebt. Vor Glück weinend hatte sie seine Frage mit einem lauten »Ja!« beantwortet.

Obwohl sie nun offiziell verlobt waren, hatte ihr Vermieter gezögert, dem jungen Paar einen Mietvertrag zu geben. Immerhin waren die beiden noch nicht verheiratet. Doch Leonhard konnte gut argumentieren. Floras Zukünftiger war mit wachem Verstand gesegnet, er war wortgewandt und voller Charme. Außerdem war er seit Neuestem ein angesehener Fabrikant, denn sie waren nach Stralsund gekommen, damit Leonhard hier an der Seite seines alten Schulfreundes Alfons Wagner die Leitung der angeschlagenen Firma »B. Winkelmann« übernehmen konnte, einem Unternehmen für die Herstellung von Weißwaren. Auch dass er sich zuvor von Floras Vater Abraham den Segen für die Hochzeit hatte geben lassen, war für das Ansehen beim Vermieter von Vorteil gewesen.

Jetzt lebten sie also in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung.

Wann immer Flora an den Kompagnon ihres Mannes dachte, beschlich sie ein ungutes Gefühl. Sie mochte Alfons nicht sonderlich, was vermutlich an den lüsternen Blicken lag, mit denen er sie immer taxierte. Dabei war er selbst liiert mit seiner Lissy, einer arroganten Frau mit schriller Stimme und kalten Augen, die Flora nicht besonders mochte.

Sobald Flora mal mit Alfons allein war, machte er anzügliche Bemerkungen, die sie als sehr unangenehm empfand. Oft schon hatte sie ihn in die Schranken weisen müssen. Doch der Mut, Leonhard von dem seltsamen Verhalten seines Geschäftspartners zu erzählen, fehlte Flora bislang. Alfons Wagner war arrogant und selbstverliebt, doch Flora wollte nicht, dass etwas zwischen die beiden Kameraden kam, und so schwieg sie. Schließlich wusste sie um die langjährige Freundschaft der Männer und wollte ihr Verhältnis nicht trüben.

Flora blieb stehen und verdrängte die düsteren Gedanken. Sie hatte den Nachmittag im Haus ihrer Freundin Paula verbracht, um gemeinsam mit einigen anderen jungen Frauen zu musizieren, so, wie sie es zwei Mal in der Woche taten. Paula war die einzige Tochter der Malerin Antonie Biel, einer modern denkenden Frau, die mit ihrer Weltanschauung nicht nur auf Gegenliebe stieß, besonders bei den Herren der feinen Gesellschaft.

Beim Gedanken an die unterhaltsamen Stunden bei Paula huschte ein Lächeln über Floras volle Lippen. Sie blinzelte in das warme Licht der tief stehenden Sonne und erfreute sich an der milden Luft des Sommerabends. Es roch nach Lavendel, und wenn sie genau hinhörte, glaubte sie, den Gesang der Möwen am nahen Meer hören zu können. Flora setzte ihren Weg fort und schob dabei ihren ganzen Stolz, ein himmelblaues Veloziped, über den Bürgersteig. Dabei erfreute sie sich an den neugierigen Blicken der Jungen, deren Gelächter sie schon gehört hatte, als sie um die Straßenecke gebogen war. Als sie sich der kleinen Truppe näherte, unterbrachen die Knirpse ihr Spiel, um das Fahrrad der vornehm gekleideten Dame in Augenschein zu nehmen. Doch das Interesse der Kinder war nur von kurzer Dauer, dann wandten sie sich wieder ihrem Spiel zu und tollten vor einem der Bürgerhäuser herum. Es dauerte gar nicht lange, bis ein hagerer Mann mit Schiebermütze und einem grauen Arbeitskittel auf die Straße trat und die Kinder ungehalten fluchend verscheuchte.

Als Albert Krause, der Hausmeister, Flora erblickte, senkte er schuldbewusst das Haupt und murmelte eine Entschuldigung ob seiner harschen Worte in Anwesenheit einer Dame. »Man muss achtgeben, dass sie einem nicht auf dem Kopf herumtanzen«, fügte er rechtfertigend hinzu, nahm verlegen die Mütze vom Kopf und hielt sie eingerollt hinter dem Rücken.

Mit ihren vierundzwanzig Jahren konnte Flora sich noch gut an ihre eigene Kindheit erinnern. Die Streiche der Jungen hatten sie zum Lächeln gebracht. Mit erhobener Augenbraue wandte sie sich an den strengen Hausmeister. »Waren Sie denn niemals ein Kind?«, fragte sie. Bevor der verdutzte Mann antworten konnte, setzte sie ihren Weg fort. Im übernächsten Haus lag ihre Wohnung. Nicht in der Beletage, denn die war unbezahlbar für das junge Paar. Ihr Domizil befand sich in der zweiten Etage des großen Hauses. Die großzügig angelegten Räumlichkeiten besaßen keine eleganten Stuckornamente an den Decken, und auch die Fenster waren etwas kleiner als die der Wohnungen ein Stockwerk tiefer. Immerhin waren die Wände und Decken mit einer getönten Leimfarbe gestrichen worden, um ihrem Domizil ein wenig Behaglichkeit zu verleihen. Leonhard hatte seiner Verlobten sämtliche Freiheiten gelassen, um die Zimmer so gemütlich wie möglich einzurichten. Er war stolz auf sie gewesen, als er gesehen hatte, mit welchem Engagement sie sich dieser Aufgabe gewidmet hatte.

Dabei wurde Leonhard nicht müde, ihr zu versichern, dass es sich bei der Wohnung nur um eine Übergangslösung handele. Er hatte seiner Braut eine vornehme Stadtvilla versprochen, in der sie in naher Zukunft leben würden. Doch so eilig hatte es Flora damit gar nicht. Sie war glücklich in ihrem ersten gemeinsamen Zuhause und schon nach wenigen Tagen konnte sie sich einen Alltag ohne ihn gar nicht mehr vorstellen.

Hinter dem Rücken des Paares spekulierten die ganze Familie und ihre engsten Freunde bereits, wann sich wohl der Nachwuchs ankündigen würde. Doch damit wollten sich die jungen Leute noch ein wenig Zeit lassen. Flora Baumann und Leonhard Tietz standen momentan im Begriff, sich ihr gemeinsames Leben aufzubauen. Abgesehen davon war ihr Leo in manchen Belangen nicht gerade entscheidungsfähig. Immerhin hatte sie ganze zwei Jahre auf ihn warten müssen, bevor er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.

Leonhard arbeitete viel. Seine Rolle als Teilhaber an »B. Winkelmann Nachfolger« verlangte ein hohes Maß an kaufmännischem Geschick, eine Herausforderung, der er sich aber voller Eifer stellte. Mit leuchtenden Augen schwärmte er ihr von der Villa vor, die er ihnen bald kaufen würde. »Dann werden wir auch genügend Platz haben, um unseren Kindern ein gutes Heim zu bieten«, sagte er immer dann, wenn sie über ihre gemeinsame Zukunft sprachen.

Inzwischen hatte Flora das Rad im Keller abgestellt. Als sie die Treppe in die oberen Stockwerke betrat, schallte ihr laute Musik entgegen. Sie ahnte, dass die Klänge aus ihrer Wohnung kamen. Die Befürchtung bewahrheitete sich, als sie oben angekommen war und die Tür öffnete. Schnell machte Flora, dass sie hineinkam und die Tür hinter sich schloss. Die Musikkapelle ertönte aus dem riesigen Blechtrichter des Grammofons, einer neuartigen Erfindung, mit der man Musik von einer Tonscheibe abspielen konnte. Emil Berliner, ein Freund von Leo, hatte ihm einen Prototyp seiner Entwicklung anlässlich der bevorstehenden Hochzeit geschenkt. Für Leonhard, der Musik über alles liebte, war das ein Geschenk von unschätzbarem Wert. Er war sich sicher, dass Emil Berliner und seiner Erfindung noch ein Siegeszug um die ganze Welt bevorstand. Immer wieder hatte er seinem Freund empfohlen, ein Patent auf die einzigartige Maschine anzumelden.

»Leo!«, rief Flora gegen das Grammofon-Orchester an. »Leo, ich bin zu Hause!« Sie setzte den leichten Sommerhut ab und legte ihn auf die Kommode. Verliebt betrachtete sie das gute Stück, das Leo ihr von einer Reise nach Rügen im Frühjahr mitgebracht hatte. Seitdem trug sie den Hut an fast allen warmen Tagen. Dabei störte es sie nicht im Geringsten, dass diese Hutart eigentlich der Sommerfrische vorbehalten war.

»Leo!«, rief sie etwas lauter. Als sie keine Antwort bekam, durchschritt sie eilig den langen Korridor und fand ihren Verlobten schließlich im lichtdurchfluteten Wohnzimmer. Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben und saß mit einem verzückten Lächeln in seinem bequemen Sessel am Fenster. Leonhard war völlig in seiner Musik versunken.

Kurz hielt Flora inne, um ihn zu betrachten. Leonhard war nicht sonderlich groß und von drahtiger Statur. Das dunkle Haar war dicht, der Spitzbart sorgsam gestutzt. Wenn sie ihn ansah, verliebte sie sich jedes Mal aufs Neue in ihn, denn obwohl sein Gesichtsausdruck mitunter streng wirkte, war er ein herzensguter Mensch mit einer guten Portion Humor, einer hohen Auffassungsgabe und vielseitigen Interessen. Sie liebte das warme, angenehme Timbre seiner Stimme und den Blick aus seinen braunen Augen. Sein herzliches Lachen war ansteckend, und sie konnten bis tief in die Nacht angeregte Gespräche miteinander führen, in denen sie über Gott und die Welt sinnierten. Gut erinnerte sie sich noch an ihr allererstes Treffen, das eher zufällig in einem kleinen Laden im verschlafenen Birnbaum, ihrem Heimatdorf, stattgefunden hatte. Flora war mit ihrer Schwester Julie dort gewesen, um Stoff und anderes Zubehör für ein neues Kleid zu kaufen. Als sie ein wenig ratlos vor dem Regal mit den Knöpfen standen, war Leonhard plötzlich hinter den beiden Frauen aufgetaucht. »Ich würde die mittelgroßen aus Elfenbein nehmen, sie passen hervorragend zum Stoff.« Der warme, wissende Klang seiner Stimme hatte Flora vom ersten Moment an berührt. Sie waren ins Gespräch gekommen, wobei sie und Leonhard sich begeistert über alles ausgetauscht haben, was mit Stoffen und Mode zu tun hatte. Währenddessen war der Besitzer des kleinen Geschäfts in eine wilde Feilscherei mit einer anderen Kundin verwickelt gewesen.

»So etwas müsste man verbieten«, hatte Leonhard befunden, als das Gespräch zwischen dem Ladenbesitzer und seiner Kundin immer lauter und hitziger geworden war.

Flora konnte ihm nur zustimmen und hatte seine Einladung zu einem gemeinsamen Kaffee am nächsten Tag nur allzu gern angenommen. Sie dachte sehr gern zurück an dieses erste Rendezvous.

Gedankenverloren hatte Leonhard nun die Fingerspitzen beider Hände aneinandergelegt und wiegte den Kopf leicht im Takt der Musik aus dem Lautsprecher. Mit einem glücklichen Lächeln trat sie von hinten an den Sessel, beugte sich über Leonhard und hielt ihm die Augen zu, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Erschrocken fuhr er auf und schüttelte ihre Hände ab. »Wer ist – was soll denn das?«

Als er sie erkannte, entspannten sich Leonhards Gesichtszüge. »Bella«, sagte er sichtlich beruhigt. Dennoch wirkte er für einen Moment verärgert. »Du hast mich erschreckt«, bemerkte er, ehe er ihr ein sanftes Lächeln schenkte. Flora trat an das Grammofon und nahm die Nadel von der Platte, bevor sie zu ihrem Mann zurückkehrte und sich schwungvoll auf die Lehne des Sessels setzte. Eine entspannende Stille breitete sich im Wohnzimmer aus. Nur das Kinderlachen von der Straße drang gedämpft an ihre Ohren.

»Die Musik war sehr laut«, sagte Flora schließlich.

»Man sollte jeden Tag ein schönes Lied hören, ein gutes Gedicht lesen und ein treffliches Gemälde sehen«, erklärte Leonhard. Als Flora nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Das hat Goethe geschrieben, und seine Worte hätten trefflicher nicht sein können.« Er deutete auf ein Buch, das auf dem Tisch lag. »Gelesen habe ich bereits, danach in der Musik die nötige Zerstreuung gesucht … jetzt fehlt nur noch ein Gemälde.« Er schaute sich suchend um, schien aber kein passendes Bild zu finden.

»Ein Gemälde?«, wiederholte Flora. An den Wänden hingen Landschaftsbilder in Öl, die die Umgebung von Stralsund zeigten und von Flora bei der Einrichtung der Wohnung sorgsam ausgewählt worden waren.

»Ja.« Leonhard nickte. »Am liebsten wäre mir ein Gemälde von dir, Bella.«

»Von mir?« Flora legte die Stirn in Falten.

»Selbstredend, Liebste. Du bist in meinen Augen die schönste Frau der Welt, deshalb wäre es mehr als angemessen, ein Gemälde von dir anfertigen zu lassen. Indes, ein geeigneter Maler will mir partout nicht einfallen.«

Flora errötete. Insgeheim hatte sie schon darüber nachgedacht, sich malen zu lassen, um ihm das Bild irgendwann zu einem passenden Anlass zu schenken. Doch bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, denn einen geeigneten Maler kannte sie ebenfalls nicht. Zwar war die Mutter ihrer Freundin Paula eine begnadete Malerin, jedoch hatte Antonie Biel sich auf Landschaftsbilder spezialisiert. Außerdem war es Flora ein wenig peinlich, sich von der Mutter ihrer Freundin malen zu lassen.

»Ein Bild von dir würde sicher unsere Wohnung verschönern«, schwärmte Leonhard gerade. Er hatte eine besonders liebenswerte Art, ihr Komplimente zu machen.

»Vielleicht lerne ich irgendwann einen Maler kennen, bei dem ich mich wohlfühle, und werde ihm Modell stehen – mit deinem Einverständnis natürlich.«

»Nichts lieber als das.« Leonhard nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf den Handrücken. »Erzähl, wie war es bei Paula?«

»Wunderbar!«, schwärmte sie. Paulas Eltern lebten in einer vornehmen Villa am Stadtrand. Dort gab es einen eigenen Raum, in dem sich die jungen Frauen zum gemeinsamen Proben trafen. Die Instrumente blieben im Musikzimmer und mussten nicht ständig hin- und hertransportiert werden, das war sehr praktisch. Flora war die Violinistin der kleinen Damenkapelle. Sie musizierten allerdings mehr aus Freude an der Musik als aus der Ambition heraus, eines Tages vor Publikum zu spielen. Wahrscheinlich würde es nie zu einem öffentlichen Auftritt kommen, denn so etwas schickte sich für Damen nicht.

Die Gesellschaft sah selbstbewusste Frauen immer noch mit Argwohn, denn das sogenannte schwache Geschlecht sollte sich um das Haus und den Nachwuchs kümmern. Nur wenige waren berufstätig und unternahmen in ihrer Freizeit Dinge, die ihnen am Herzen lagen oder gar Spaß machten. Floras fast schon emanzipiertes Verhalten wurde von ihrem Vater kritisch beobachtet, doch die Haltung ihrer Mutter war anders. Flora hatte den Eindruck, dass Berta Baumann heimlich ein wenig stolz war auf ihre modern denkende Tochter, ohne darüber freilich jemals ein Wort zu verlieren.

»Paula wird zu unserer Hochzeit kommen«, fuhr Flora fort. »Ist das nicht wundervoll?«

»Wie schön.« Leonhard lächelte. »Sicher kommt sie nicht allein?«

»Es gibt keinen Mann in ihrem Leben.« Flora zuckte mit den Schultern. »Mein Gott«, stieß sie plötzlich hervor. »Mein Hochzeitskleid!«

Leonhard runzelte die Stirn. »Was ist damit?«

»Ich muss ein Kleid kaufen. Aber wo soll ich eines herbekommen? Der mir vertraute Schneidermeister in Birnbaum ist so weit weg.«

»Ich bin sicher, dass es in der Stadt zahlreiche Schneider gibt«, entgegnete Leonhard.

Flora druckste einen Moment lang herum. »Sie sind mir … alle nicht so recht sympathisch«, räumte sie ein.

Leo schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. »Dann näh dir selbst eins.«

»Wie bitte?«

»Näh dir dein eigenes Hochzeitskleid.« Leonhard vollführte eine ausladende Geste. Mit einer fiktiven Nadel nähte er ein imaginäres Kleid. »Du verfügst über das nötige Geschick und Können.«

Flora musste zugeben, dass sie über diese Möglichkeit noch nicht nachgedacht hatte. Aber sie gab ihrem Verlobten recht. Sie nähte tatsächlich gern und war eine begnadete Schneiderin. Warum also sollte sie sich nicht ihr eigenes Hochzeitskleid nähen können?

»Den Stoff kann ich dir aus der Fabrik mitbringen«, schlug Leonhard ihr vor. Er schien ihr anzusehen, dass ihr der Gedanke gefiel. Jetzt schweifte sein Blick durch den Raum zum Grammofon. »Sag, Bella, warum hast du die Musik ausgemacht?« Offensichtlich war er derart in seinen Gedanken an Floras Kleid versunken gewesen, dass er die Stille im Raum erst jetzt wahrnahm.

Flora musste lachen. Sie strich ihm zärtlich über das Gesicht. »Weil sie zu laut war. Ich habe befürchtet, dass sich die Nachbarn beschweren würden.«

»Das wäre bedauerlich.« Leo wirkte ernst. Sein Blick glitt ins Leere. »Aber Musik hilft mir dabei, meine Gedanken zu ordnen.«

Flora betrachtete ihn und stellte fest, dass ihn etwas zu beschäftigen schien. »Welche Gedanken musst du ordnen?«

Leonhard seufzte und schien kurz nach den rechten Worten zu suchen, bevor er ihr antwortete. »Ich trage mich mit dem Gedanken, das Unternehmen zu verlassen.«

Es ist wegen mir, durchfuhr es Flora. Ihr Herz fing an zu rasen. Leonhard und Alfons kommen nicht zurecht, weil ich zwischen ihnen stehe. Ahnte Leonhard etwas vom fragwürdigen Verhalten seines Partners? Sie war von schweren Vorwürfen geplagt und versuchte, ihre Gedanken vor Leonhard zu verbergen.

»Aber eure Übernahme von ›B. Winkelmann‹ war doch einer der Gründe, warum wir nach Stralsund gekommen sind«, erinnerte Flora ihn. Sie trat an das Fenster und sah hinunter auf die Straße. Der Hausmeister war schon wieder damit beschäftigt, die spielenden Kinder zu verscheuchen, eine alte Frau schlurfte in gebückter Haltung in Richtung Innenstadt.

»Ich weiß«, nickte Leonhard. »Dennoch haben sich Dinge ergeben, die es sinnvoll erscheinen lassen, dass Alfons und ich beruflich getrennte Wege gehen.« Er erhob sich ebenfalls vom Sessel und trat neben sie. Im Spiegelbild des Fensters betrachtete Flora ihn.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragte sie zaghaft.

Leo schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Wir sind nach wie vor gute Freunde.«

»Woran liegt es dann, dass du dich neu orientieren möchtest?« Flora verstand nicht, wie ihr Verlobter auf die Idee gekommen war, die gemeinsam geführte Firma nach so kurzer Zeit wieder verlassen zu wollen.

Leonhard hielt ihrem fragenden Blick stand, schien zerknirscht zu sein und schwieg. »Ich weiß nicht genau, wie ich es in Worte fassen soll«, sagte er schließlich.

»Sag es einfach.«

»Alfons sagte mir schon mehrmals, dass Lissy wohl Probleme mit dir habe.«

»Lissy?« Flora machte große Augen. »Das hat er gesagt?« Wagners Ehefrau war Flora gegenüber immer recht kühl gewesen, und wenn die beiden Frauen in der Begleitung ihrer Männer aufeinandertrafen, betrachtete Lissy Flora stets voller Argwohn und Eifersucht. Offenbar wusste sie, dass ihr Mann ein Schürzenjäger war und keine Gelegenheit verstreichen ließ, einer anderen Frau Avancen zu machen. Aber dass sie sich nun bei ihrem Mann offen über Flora beklagte, war neu.

»Lissy ist eine alberne Pute«, meinte Flora. »Hast du ihr gesagt, dass wir im Herbst heiraten werden?«

Jetzt musste Leonhard lachen. »Damit hat es wohl nichts zu tun. Ich werde die Firma verlassen, weil es äußerst unprofessionell ist, wenn private Probleme in den Geschäftsalltag einfließen und das gute Miteinander gefährden.«

»Aber die Geschäfte laufen doch gut«, gab Flora zu bedenken. »Alfons und du, ihr habt Winkelmann zu einem florierenden Unternehmen gemacht.« Sie fixierte ihren Verlobten mit ihrem Blick. »Warum willst du wirklich gehen, Leo?«

»Ich habe meine Gründe«, erwiderte Leonhard ausweichend. Flora fühlte sich immer unwohler. Erst als Leonhard sanft ihre Hand ergriff, wich die Anspannung etwas von ihr.

Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um Leonhard vom Verhalten seines Geschäftspartners zu berichten, doch Flora brachte es nicht übers Herz.

»Meinst du, es ist die richtige Entscheidung, die Firma zu verlassen?«, fragte sie stattdessen.

»Ich bin mir sogar absolut sicher«, antwortete er. »Auch wenn ich gerade nicht weiß, was ich als Nächstes tun werde, finde ich zunehmend Gefallen an diesem Plan, der uns eine neue Freiheit bietet.« Leonhard beugte sich zu ihr herunter. »Ich will ehrlich sein: Es ist unerträglich, dass Lissy offenbar Probleme mit dir hat. Ich möchte nicht, dass familiäre Belange das Verhältnis zwischen Alfons und mir trüben.« Er lächelte sie an. »Deshalb, Bella, gibt es für mich nur diesen Ausweg.«

Flora spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Die Leichtigkeit, die sie durch den Nachmittag begleitet hatte, war längst verflogen, und sie fühlte sich schrecklich.

Leonhard kannte sie gut genug, um zu bemerken, dass Flora Bedenken hatte. »Sorge dich nicht«, sagte er beschwichtigend.

»Aber was willst du denn als Nächstes tun?«

Er seufzte und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Ich würde als Ablösesumme dreitausend Taler bekommen, wenn ich mich von Alfons auszahlen lasse. Damit haben wir in der nächsten Zeit ein gutes Auskommen.«

»Das ist also der Preis für deine Unabhängigkeit«, murmelte Flora. Sie wusste, dass Leo seine Entscheidung bereits getroffen hatte. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

»Was denkst du?«, fragte Leonhard.

»Ich denke, du solltest deinem Herzen folgen«, erwiderte Flora, und meinte es auch so. Obwohl ihr der Gedanke, dass Leonhard vorübergehend kein Einkommen haben würde, Sorge bereitete, musste sie einfach daran glauben, dass er wieder Arbeit finden würde.

Leonhard lächelte dankbar. »Wir werden etwas Neues finden«, versicherte er ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Flora hätte ihn am liebsten in die Arme geschlossen, all ihre Probleme vergessen und sich einem richtigen Kuss hingegeben, doch die Sorge um ihre Existenzsicherheit war noch immer nicht ganz verschwunden. »Hast du denn schon eine Idee, was du machen möchtest?« Sie versuchte, in seinen Augen die Antwort zu lesen. Jetzt wusste sie, warum er in den letzten Tagen oft wortkarg und gedankenverloren durch das Haus gewandelt war. Mitunter hatte sie den Eindruck gehabt, dass er ihr gar nicht zugehört hatte, wenn sie mit ihm sprach. Offenbar hatte er sich tagelang mit seiner Entscheidung gequält.

»Wir finden bestimmt etwas, um unseren Lebensunterhalt auch in Zukunft zu bestreiten, ohne am Hungertuch nagen zu müssen«, witzelte er. »Ich werde schon keine Laufbahn als Zeesenfischer einschlagen müssen.« Er lachte leise. »Ohnehin streiten sich die pommerschen Fischer gerade mal wieder mit den Schleswig-Holsteinern wegen der Bestände. Das ist kein vielversprechender Beruf.«

»Ich mag aber Fisch.« Flora lächelte. »Natürlich sollst du nichts tun, was du nicht magst, Leo.«

»Das ist lieb von dir«, erwiderte er mit einem spitzbübischen Lächeln. »Aber mal im Ernst: Hast du Vorschläge?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber sicher werden wir etwas finden, das für einen gestandenen Geschäftsmann wie dich angemessen ist.«

»Wir könnten nach Amerika auswandern, so wie Onkel Hermann es getan hat, um …«

»Ich möchte nicht auswandern«, entgegnete Flora schnell. »Stralsund ist jetzt unsere Heimat, nicht Amerika.« Für Flora fühlte sich die Vorstellung, das Land zu verlassen, eigenartig an. Sie war in Deutschland aufgewachsen, hier lebte ihre Familie. Aber sie wusste, wie er auf diese Idee kam. Sie erinnerte sich noch gut an Leonhards Erzählungen, in denen er voller Stolz von seinem Onkel Hermann sprach, der ein Jahrzehnt lang in Nordamerika gelebt und der Familie in seinen Briefen von den neumodischen, großen Warenhäusern dort berichtet hatte. Flora erinnerte sich sogar daran, dass ihr künftiger Schwager Oscar den Wunsch geäußert hatte, auch hierzulande so ein riesiges Kaufhaus zu eröffnen.

»Hier sehe ich keine Zukunft für uns, deshalb erscheint mir der Gedanke an eine Auswanderung zumindest eine Überlegung wert«, erklärte Leonhard.

»Vielleicht hättest du besser den Fuhrbetrieb deines Vaters übernommen«, erwiderte Flora ein wenig trotzig.

Leonhard schüttelte den Kopf. »Das Geschäft hätte nicht viel abgeworfen.«

Insgeheim gab Flora ihm recht. Von ihrem Bruder Wilhelm, der ebenfalls einen kleinen Fuhrbetrieb in Posen besaß, wusste sie, dass der Transport von Waren kein sehr einträgliches Geschäft war.

»Bald werden die Pferdefuhrwerke von Automobilen abgelöst«, sagte Leonhard. »Das ist die Zukunft, die ganze Welt befindet sich im Wandel, Carl Benz arbeitet, seitdem er letztes Jahr einen Zweitaktmotor erfunden hat, mit Hochdruck an einem neuartigen Motorwagen. Falls du wirklich möchtest, dass ich Vaters Betrieb übernehme, könnten wir uns mit der Ablösesumme ein Automobil leisten, das in der Lage ist, Lasten zu befördern.«

Flora wusste um seine kaufmännischen Fähigkeiten. Er war scharfsinnig und pragmatisch und würde sicher das Beste aus dem Fuhrbetrieb herausholen. Wenn es ums Geschäft ging, konnte ihr Mann kämpfen wie ein Löwe. Dennoch sah sie ihn nicht in der Funktion eines Fuhrunternehmers. Sie beschloss, einzulenken und sich von seiner Zuversicht anstecken zu lassen. »Uns wird schon noch etwas Besseres einfallen«, sagte sie.

»Dann werden wir also nicht der erste Fuhrbetrieb mit Automobilen sein«, bemerkte er und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Aber vielleicht fällt meiner klugen Frau etwas ähnlich Innovatives ein.« Er zwinkerte ihr zu.

Flora schüttelte amüsiert den Kopf. »Lass mir nur ein wenig Zeit zum Nachdenken, dann fällt mir ganz bestimmt etwas ein.« Flora hatte bereits eine Vorstellung, doch es war noch zu früh, mit Leonhard darüber zu reden. Gute Ideen brauchen ihre Zeit, hatte ihre Mutter immer gesagt.

*

Flora wusste nicht, wie lange sie schon so regungslos neben Leonhard lag. Sie hatte sich im Bett halb aufgerichtet und stützte ihr Kinn mit der Hand ab, um ihren künftigen Gatten besser betrachten zu können. Leonhard schien nicht zu bemerken, dass sie ihn im Schlaf beobachtete. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb, die Hände hatte er wie im Gebet gefaltet. Flora war versucht, die Hand auszustrecken, um ihm über die Haare zu streichen. Doch damit hätte sie ihn vielleicht geweckt, und das wollte sie nicht. Leonhard arbeitete hart, und er brauchte seinen Schlaf.

Obwohl es sicher schon sehr spät war, fand Flora keine Ruhe. Sie war hellwach und musste ständig an das Gespräch mit Leonhard und seine bevorstehende Trennung von Alfons Wagner denken. Sie war sicher, dass Alfons seinem Partner nahegelegt hatte, das gemeinschaftlich geführte Unternehmen zu verlassen. Vermutlich aus gekränkter Eitelkeit, da Flora ihm immer wieder eine Absage erteilt hatte, sobald er versucht hatte, sich ihr zu nähern. Vor ihrem geistigen Auge tauchte Wagner auf. Flora spürte förmlich seinen lüsternen Blick auf ihrem Körper. Ihr Herz klopfte ein paar Takte schneller, und am liebsten hätte sie ausgeholt, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen.

Langsam verblasste das Bild wie eine Wolke am strahlend blauen Himmel. Jetzt war da nur noch das fahle Licht des Mondes, das sich seinen Weg durch den Spalt der Gardine in das Schlafzimmer bahnte und das schwere Mobiliar in kaltes Licht tauchte.

Sie sorgte sich um die gemeinsame Zukunft mit Leonhard. Nur wegen der Firma hatten sie Birnbaum verlassen, um sich in Stralsund niederzulassen. Sie hatten vorgehabt, sich hier eine Existenzgrundlage für ihr gemeinsames Leben zu schaffen. Eine Grundlage, die in der Leitung der Firma »B. Winkelmann Nachfolger« ein trügerisch sicheres Fundament gefunden hatte.

Und nun drohte dieser Traum wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Mit jedem Moment hasste Flora Alfons Wagner ein wenig mehr. Er würde die Schuld tragen, wenn Leonhard keine angemessene Stellung fand. Flora überlegte, ob sie Wagner zur Rede stellen sollte. Obwohl Leonhard ihr versichert hatte, dass der Entschluss, das Unternehmen zu verlassen, allein auf seinen Wunsch hin gefasst wurde, so war Flora sicher, dass Alfons Wagner ihn in seiner Entscheidung bekräftigt hatte.

Kapitel 3

Unschlüssig stand Flora ein paar Tage später vor einem kleinen Geschäft in der Ossenreyer Straße, das mit Kurz- und Posamentierwaren handelte und alles anbot, was man zum Schneidern und Nähen brauchte. Paula hatte ihr empfohlen, den Kaufladen von Albert Holst aufzusuchen, um sich mit dem nötigen Material für ihr Hochzeitskleid auszustatten. »Geh zum alten Holst, da wirst du fündig«, waren ihre Worte gewesen.

Voller Vorfreude dachte Flora an die Hochzeit. Im Herbst war es so weit. Nur ihre ungewisse Zukunft warf einen Schatten auf den glücklichen Tag. Gestern war Leonhard sich mit Alfons Wagner einig geworden. Für die Ablösesumme von dreitausend Talern würde er das Unternehmen zum Monatsende verlassen. Dann lagen die Geschicke der Firma »B. Winkelmann Nachfolger« einzig und allein in den Händen von Alfons Wagner. Doch zuvor würde Leonhard eine mehrtägige Reise antreten, um sich bei den besten Kunden und Lieferanten persönlich zu verabschieden. Leonhard war sicher, dass er den einen oder anderen Kontakt zu einem späteren Zeitpunkt seiner Karriere noch einmal gebrauchen könnte, doch bisher fehlte ihm ein konkreter Plan.

Flora atmete tief durch und verdrängte die düsteren Gedanken. Eigentlich kannte sie ihren Verlobten gut genug, um zu wissen, dass Leonhard schon bald eine neue berufliche Aufgabe finden würde, mit der er ihren Lebensunterhalt sicherte. Sie hatte begriffen, dass es ihm wichtig war, auf eigenen Beinen zu stehen, ohne sich mit einem Geschäftspartner abstimmen zu müssen. Diese Gedanken irrten durch ihren Kopf, während Flora jetzt vor dem heruntergekommenen Haus stand, in dessen Erdgeschoss sich das Kurzwarengeschäft befand.

Vorgestern hatte sie damit begonnen, ihr Hochzeitskleid zu entwerfen. Das Schneiderhandwerk hatte Flora von ihrer Mutter Amalie gelernt, die aus einfachen Verhältnissen stammte und schon früher die Kleider ihrer Kinder selbst genäht hatte. Abgesehen davon, dass Flora so keine Unsummen für ein gekauftes Kleid ausgeben musste, bereitete es ihr große Freude, sich für ihre Hochzeit ein eigenes Kleid zu nähen, eines, das es nur ein einziges Mal auf der Welt geben würde. Flora hatte schon eine genaue Vorstellung, wie ihr Brautkleid aussehen sollte. Bei der Beschaffung des hochwertigen, pastellfarbenen Stoffes war ihr Leonhard behilflich gewesen. Aus seiner Lehrzeit und durch die Geschäftsbeziehungen, die er für »B. Winkelmann Nachfolger« unterhielt, kannte er zahlreiche Tuchmacher, die ihm noch einen Gefallen schuldeten. Die restlichen Materialien für das Kleid hoffte sie, hier im Geschäft von Albert Holst zu bekommen. Doch der Zustand des Hauses schaffte wenig Vertrauen. Die Fensterscheiben waren staubblind, die Farbe an Fenster- und Türrahmen blätterte bereits. Der Laden machte keinen sonderlich einladenden Eindruck, daran änderte auch das kleine Schild über dem Eingang nichts, das ein außergewöhnlich gut sortiertes Warensortiment anpries. Das Schild selbst war verwittert, und an den Kanten hatte sich unansehnlicher brauner Rost gebildet.

»Es ist ein Jammer, dass der Laden vielleicht bald schließen muss«, hörte sie eine Frauenstimme. Flora wandte sich um und sah zwei Frauen, die ein paar Meter weiter standen und sich angeregt unterhielten.

»Der alte Holst hat eben zu lange seine Rechnungen nicht beglichen, nun ist der Laden pleite und er kann bald nichts mehr verkaufen. Er ist ohnehin nicht mehr der Jüngste, vielleicht ist es an der Zeit, den Laden abzugeben«, meinte die jüngere der beiden Frauen.

Ihr Gegenüber, eine rundliche Dame im richtigen Alter, um die Mutter der Jüngeren zu sein, nickte. »Er arbeitet sonst bis zum Umfallen. Nach dem tragischen Tod seiner Frau steht er ganz allein da.«

»Hat er denn keine Kinder?«, fragte die Jüngere. Sie trug ein knöchellanges dunkelblaues Kleid und einen dazu passenden kleinen Hut, unter dessen Rand ihre blonden Locken hervorlugten.

»Das schon, aber was für welche!«, schnaubte die Ältere. »Der Julius ist ein Taugenichts, für den sich der Vater sicherlich schämt. Und die einzige Tochter hat einen Juristen in Schwerin zum Mann genommen und kümmert sich kaum um ihren Vater. Die Kinder vom alten Holst werden sich die Verantwortung für einen heruntergewirtschafteten Laden sicher nicht aufbürden wollen.« Sie kicherte, als hätte sie einen köstlichen Witz erzählt. Als ein Fuhrwerk mit klimpernden Milchkannen vorüberrumpelte, ging die Unterhaltung der beiden Frauen im Lärm unter. Der Kutscher schimpfte mit seinen Tieren, die müde und schwach wirkten und kaum mehr die Kraft hatten, das schwere Gefährt durch die engen Straßen der Stadt zu ziehen.

Floras Neugier war geweckt. Als das Pferdefuhrwerk weitergezogen war, trat sie zu den beiden Frauen und grüßte freundlich. »Sie werden entschuldigen«, sagte sie höflich, »aber zufällig habe ich Ihr Gespräch mitgehört. Der Laden soll verkauft werden?« Sie deutete auf die Front des kleinen Geschäfts.

»In der Tat, Fräulein, in der Tat.« Die ältere der beiden Fremden nickte. »Es ist ein Jammer, aber der Besitzer ist nun in einem Alter, wo er es gesundheitlich nicht mehr allzu lange schaffen wird, den Laden zu führen.« Sie seufzte. »Dabei habe ich hier immer so gern eingekauft.« Sie klang, als wäre die Schließung des Ladens bereits beschlossene Sache.

»Was macht diesen Laden denn so besonders?«, fragte Flora. »Sie werden verzeihen, aber sehr einladend sieht das Geschäft nicht gerade aus.«

Mit dieser Frage schienen die beiden Frauen nicht gerechnet zu haben, denn sie wechselten einen Blick miteinander, bevor die jüngere antwortete. »Das Sortiment«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. »Man bekommt alles, was man sucht.«

Flora beschloss, diese Aussage gleich zu überprüfen. Sie war gespannt, ob der Ladeninhaber all ihre Wünsche erfüllen würde. »Mehr nicht?«, fragte sie skeptisch.

Die Frauen machten große Augen und betrachteten Flora, als wäre sie nicht recht bei Trost. »Was meinen Sie – mehr nicht?«, fragte die rundliche Dame fassungslos.

»Nun, es muss doch noch einen bestimmten Grund geben, warum Sie ausgerechnet hier«, Flora deutete auf die schäbige Fassade des Geschäfts, »Ihre Kurzwaren erstehen, und nicht in einem anderen Laden.«

»Nein, eigentlich nicht«, antwortete die Ältere. »Es liegt wohl vor allem an den lieb gewonnenen Gewohnheiten, dass dies meine erste Adresse ist.« Jetzt lächelte sie. »Und ich kann feilschen, wenn ich es für angebracht halte.«

»Und man kann anschreiben lassen«, fügte die Jüngere hinzu und fing sich sogleich einen bösen Blick von ihrer Begleiterin ein. »Der Herr Holst nimmt es dabei nicht so genau, wenn ich die Rechnung mal ein paar Tage später bezahle«, fügte sie hinzu.

Flora verabschiedete sich von den schwatzhaften Frauen. Am liebsten hätte sie den beiden gesagt, dass sie es mit ihrer schlechten Zahlungsmoral mit verschuldeten, wenn der Inhaber des Ladens um seine Existenz kämpfen musste, doch sie biss sich auf die Zunge. Sie raffte ihren Rock mitsamt der Schürze zusammen, um die beiden ausgetretenen Steinstufen zu erklimmen, die zum Eingang führten. Als sie die Hand auf die Türklinke legte, spürte sie förmlich die Blicke der beiden Frauen in ihrem Rücken. Kurz überlegte sie, sich noch einmal umzudrehen, entschied sich aber dagegen und betrat das Geschäft.

Sollen sie doch denken, was sie wollen, dachte sie noch, dann hatte sie die beiden auch schon vergessen. Eine kleine Glocke über der Ladentür kündigte ihre Ankunft an. Drinnen roch es muffig. Durch die winzigen Fensterscheiben drang nicht viel Sonnenlicht hinein. Der kleine Laden wurde beinahe von den dunkelbraunen, deckenhohen Regalen erdrückt. An einer Stellage lehnte eine Leiter. Am hinteren Ende des Verkaufsraums gab es eine hohe, ebenfalls dunkelbraune Verkaufstheke. Links befand sich ein Regal mit größeren Fächern, die unter der Last zahlreicher Stoffballen in allen nur denkbaren Farben ächzten.

Ein dunkelblauer, bodenlanger Vorhang trennte den Laden vom hinteren Teil des Geschäfts. Flora vermutete dort das Kontor und ein Büro. Insgesamt kein sehr ansprechender Ort. Sie überlegte, ob Paula ihren Rat, hier einzukaufen, wirklich ernst gemeint hatte. Im rückwärtigen Teil des Kaufmannsladens rührte sich etwas. »Ich komme.« Eine heisere Männerstimme, die vermutlich dem Inhaber gehörte und von einem krächzenden Husten begleitet wurde. Schwere, schlurfende Schritte näherten sich.

»In Ordnung«, entgegnete Flora mit erhobener Stimme, um einen freundlichen Ton bemüht. Am liebsten hätte sie das Geschäft fluchtartig verlassen. Es war eine eigenartige Beklemmung, die sie erfasst hatte. Wahrscheinlich lag das an der bedrückenden Enge des kleinen Ladens. Noch ist es nicht zu spät, dachte sie just in dem Moment, als der Vorhang zur Seite geschoben wurde und ein Mann mit wirren, ergrauten Haaren und einem Backenbart auf der Bildfläche erschien. Sein Alter vermochte sie nicht zu schätzen. Das musste Albert Holst sein. Er machte auf Flora den Eindruck, als laste ein tragisches Schicksal auf seinen Schultern. Es fiel ihr schwer, das Alter des Ladenbesitzers zu schätzen. Er mochte Ende fünfzig oder auch Mitte sechzig sein. In jedem Fall ein alter Mann, hart vom Leben gezeichnet.

Argwöhnisch musterte er sie über den Rand seines Zwickers und strich sich die schwulstigen Hände an der braunen Schürze ab. Dunkle Ringe lagen unter seinen wässrigen Augen.

Flora rang sich ein freundliches Lächeln ab.

Anstatt seine Kundin nach ihren Wünschen zu fragen, nickte er ihr bloß mit versteinerter Miene zu.

»Sicherlich können Sie mir Knöpfe verkaufen«, begann Flora.

Der Mann nickte. »Aber selbstredend.« Holst kehrte ihr den Rücken zu, um sich an einem der Regale hinter dem Tresen zu schaffen zu machen. »Welche Größe? Welche Farbe? Und aus welchem Material sollen die Knöpfe sein?« Während Flora noch überlegte, kehrte Holst mit einigen Musterplatten zum Tresen zurück, die er schweigend vor ihr ausbreitete. Auf den Platten waren Knöpfe aller Art und Couleur zu Präsentationszwecken befestigt. Flora betrachtete die Besätze, allesamt wunderschöne kleine Kunstwerke. »Suchen Sie sich etwas aus, das Ihren Anforderungen entspricht«, brummte Holst.

»Haben Sie vielen Dank.« Flora war überwältigt von der Vielfalt der Knöpfe, die Holst, der Inschrift der blassblauen Musterplatten nach zu urteilen, von einem französischen Hersteller gekauft hatte. Jules Potelle, so der Name des Fabrikanten, präsentierte Metallknöpfe mit gefälschten Diamanten, die im Zwielicht des Ladens kaum ihre ganze Schönheit entfalten konnten. Zudem gab es Knöpfe aus Strohpappe, aus Emaille und aus verschiedenen Edelmetallen. Flora tippte nach einigem Überlegen auf einen Scheibenknopf in Form einer Muschel aus glitzerndem Perlmutt. »Davon hätte ich gerne fünf Stück.«

»Ist recht.« Albert Holst trat wieder an das Regal und kehrte mit einem Setzkasten zurück, in dem sich wohl die gewünschten Knöpfe befanden. Durch den Zwicker auf seiner Nase studierte er die Aufschrift der vergilbten Etikette. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, nahm er fünf Stück aus dem kleinen Fach und legte sie auf den Ladentisch. Seine Miene hellte sich ein wenig auf, als er Floras dankbares Lächeln sah. »Darf es sonst noch etwas sein?«

Kurz überlegte Flora, dann fiel ihr ein, was sie noch brauchte. »Ich suche Klöppelspitze, haben Sie welche da?«

»Aber natürlich.« Holst schien weiter aufzutauen. Seine verkniffenen Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, und Flora glaubte sogar, den Ansatz eines Lächelns in seinem Gesicht zu sehen. Vermutlich lag es am Umsatz, den sie ihm gerade in Aussicht stellte. Klöppelspitze war recht teuer und konnte üblicherweise nur von wohlhabenden Damen erworben werden, doch für ihr Hochzeitskleid wollte Flora edle Materialien verwenden. Sie war glücklich über den Umstand, dass sie die aufwendige Sticktechnik von ihrer Mutter gelernt hatte. Damit würde sie dem festlichen Kleid sicher eine ganz besondere Note geben können.

»Was können Sie mir empfehlen?«, fragte Flora.

Holst überlegte nur kurz, dann sagte er: »Die Brussels lace, feinste Brüsseler Spitze, mit der Sie auf jedem Ball glänzen werden, meine Dame.«

Flora lächelte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sie das Material für ihr Hochzeitskleid benötigte. Der knorrige Ladenbesitzer zwinkerte ihr zu. »Zwar ist Brussels lace nicht ganz günstig, doch Sie erhalten höchste Qualität für Ihr Geld.«

Er hat meine Gedanken erraten, freute sich Flora. Vielleicht ist es seine Fähigkeit, den Kundinnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen, die den Laden für manche zur ersten Adresse im Ort gemacht hat. Zufrieden lächelte sie und nannte Albert Holst die Menge, die sie zur Verzierung ihres Kleides benötigte. Der Ladenbesitzer nahm ihre Bestellung entgegen und maß die Spitze ab, um sie danach neben die Knöpfe auf den Ladentisch zu drapieren. »Bitte sehr, die Dame.« Er rechnete die Summe zusammen und nannte Flora den Preis für ihren Einkauf.

»Ich würde gern anschreiben.« Flora kam sich ein wenig schäbig vor, doch sie wollte die Geduld des Kaufmanns auf die Probe stellen. Sie erinnerte sich an das Gespräch der zwei Damen vor dem Geschäft und wollte sehen, wie der Ladeninhaber auf ihre Bitte reagieren würde.

»Auf gar keinen Fall.« Mit grimmiger Miene schüttelte Albert Holst den Kopf.

»Warum nicht? Man erzählte mir, dass Sie bei Ihren Kundinnen anschreiben.«

Holst ließ sich von ihrer gespielt verzweifelten Miene nicht erweichen. »Eben«, grollte er. »Eben. Das habe ich viel zu lange gemacht, das ist jetzt nicht mehr möglich. Ich muss auf Barzahlung bestehen.« Nun rang er sich wirklich ein kleines Lächeln ab. »Ich kenne Sie doch gar nicht, Fräulein.«

Noch nicht, dachte Flora und beglich die Rechnung. Ihr war eine Idee gekommen. Noch kennen wir uns nicht, Albert Holst, doch das wird sich schon bald ändern. Als sie ihre Einkäufe eingepackt hatte und auf die Straße trat, waren die beiden schwatzhaften Damen von vorhin verschwunden. Ein letztes Mal wandte sich Flora um und betrachtete die Fassade des Geschäftshauses. Ja, das Haus befand sich in einer wahrhaft erbärmlichen Verfassung. Und dennoch spürte Flora, dass dieser kleine Laden das Potenzial für etwas ganz Besonderes hatte.

*

Am Abend saß Flora lange in der Stube, um an ihrem Kleid zu arbeiten. Sie hatte große Freude dabei, denn das Material aus dem Geschäft von Albert Holst ließ sich sehr gut verarbeiten. Während sie im Schein der Petroleumlampe auf dem Tisch fleißig nähte, dachte sie an das Gespräch der beiden Frauen, das sie am Vormittag mitgehört hatte. Flora musste sich eingestehen, dass sie das tragische Schicksal von Albert Holst bewegte. Wie schrecklich musste es sein, einen gemeinsam gelebten Traum nach dem Tod der geliebten Frau aufgeben zu müssen.

Kurz unterbrach Flora ihre Arbeit und ließ den Blick zum Fenster wandern. Die Dunkelheit hatte sich bereits wie ein samtenes Tuch über die Häuser der Stadt gelegt. In den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser brannte schwaches Licht. Die Menschen saßen noch beisammen, um den Tag ausklingen zu lassen. Flora hingegen verbrachte den Abend allein. Leonhard war noch in der Fabrik, um die bevorstehende Reise zu planen. Es sollte seine letzte große Fahrt für »B. Winkelmann Nachfolger« werden. Flora graute es bei der Vorstellung, dass ihr Verlobter tagelang unterwegs sein würde. Sie war gerne mit ihm zusammen und gab ihn nur ungern her. Zu sehr hatte sie sich schon jetzt an den Alltag mit ihrem Leo gewöhnt.

Flora fiel es schwer, sich wieder auf die Arbeit an ihrem Hochzeitskleid zu konzentrieren. Über der Beschäftigung hatte sie längst die Zeit vergessen gehabt, doch nun spürte sie, dass ihr der Rücken schmerzte und die Augen brannten. Schwerfällig erhob sie sich aus Leonhards Lieblingssessel und musste lachen, weil sie sich wie eine alte Frau bewegte. Als der Schmerz nachließ, durchquerte sie die verlassene Wohnung, holte eine Packung Zündhölzer aus dem Büfett in der Küche und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. Sie nahm eines der Hölzer aus der Schachtel, riss es an und zündete zwei weitere Lampen an.

Wo bleibt nur Leo?, fragte sie sich mit einem sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Da von ihrem Mann nichts zu sehen war, schloss sie die Vorhänge und betrachtete den anheimelnden Lichtschein in der Stube, der die unheimlichen Schatten vertrieben hatte. Die große Tasche für seine Reise hatte sie ihm bereits gepackt. Sogar an den kleinen Reisesekretär hatte sie gedacht. Leo liebte die Schatulle aus edlem, dunkel gebeiztem Vogelaugenahorn. Er hatte das Schreibkästchen von seinem Vater zur bestandenen Kaufmannslehre geschenkt bekommen. Seitdem nahm Leo es auf all seine Reisen mit. So konnte er an jedem Ort der Welt Briefe schreiben und seinen Papierkram erledigen.

Als Floras Blick wieder auf das Nähzeug fiel, kam ihr das Gespräch mit Albert Holst in den Sinn. Sie erinnerte sich an die unendliche Trauer, die sich hinter seiner mürrischen Miene verborgen hatte. Holst war ein seltsamer alter Mann mit einem schweren Schicksal. Sie hatte es nicht gewagt, ihn darauf anzusprechen. Warum auch – er war für sie ein Fremder und sie eine Kundin, die er zum ersten Mal gesehen hatte. Warum hätte er sich ihr anvertrauen sollen?

Und warum bewegte sie sein Schicksal so nachhaltig?

Flora seufzte, während sie wieder in den Sessel sank und die einzelnen Teile ihres Hochzeitskleides durch die Finger gleiten ließ. Dabei stahl sich ein verzücktes Lächeln auf ihre Lippen. Wie angenehm weich der Stoff war, den Leonhard ihr mitgebracht hatte. Die Gedanken an Albert Holst gerieten schnell wieder in Vergessenheit. Mit den Einzelteilen des Kleides im Arm sprang sie vom Sessel auf und tanzte damit durch die Stube. Kurz überlegte sie, das Grammofon aufzuziehen, um ein wenig Musik zu hören. Ach, wie schön wäre es, wenn Leo jetzt bei mir sein könnte, dachte sie sehnsüchtig. Ohne ihn würde sie die Musik nicht richtig genießen können, und sie verwarf den Gedanken wieder. Sie blieb stehen und verharrte für einen Augenblick nachdenklich inmitten der großen Stube, dachte an die nahende Hochzeit und freute sich wie ein kleines Kind auf das Lichterfest. Ihr Blick fiel auf den achtarmigen Chanukkaleuchter auf der großen Kommode. Ein wenig freute sie sich auch auf diesen Winter. Es würde der erste Winter sein, den sie mit Leonhard in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung verbringen konnte.

Flora erschrak, als es klingelte. Das Schrillen riss sie aus ihren Gedanken, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie blickte zur Haustür, die über eine moderne Seilzugklingel verfügte, so dass Besucher sich schon von der Straße aus ankündigen konnten. Doch wer kam um diese Zeit noch zu ihr? Bestimmt ist es Leo, dachte sie hoffnungsvoll. Vielleicht hatte er seinen Schlüssel vergessen. Sie warf die Einzelteile des Kleids auf die Sessellehne und durchschritt eilig das Wohnzimmer und den langen Korridor. Ohne zu zögern, riss sie die Wohnungstür auf. Im Treppenhaus stand eine groß gewachsene Gestalt, die Flora erschrocken zurückweichen ließ.

»Welch ein betörender Anblick zu später Stunde.«

»Du?« Um ein Haar hätte Flora dem Besucher die Tür vor der Nase zugeknallt. Vor ihr stand Alfons Wagner. Wie immer trug er einen perfekt sitzenden Anzug, das Haar war ordentlich gekämmt und die schwarzen Schuhe glänzten, als hätte er sie vor seinem Besuch mit einer Speckschwarte eingerieben. Alfons war ein stattlicher Mann, gut zwei Köpfe größer als Leonhard, dazu breitschultrig und mit stolz erhobenem Haupt. In seinen Augen lag eine Spur von Hohn, als er Flora jetzt betrachtete. Das Lächeln, das wie auf seinen Lippen festgemeißelt war, erreichte seine veilchenblauen Augen nicht. Eine Duftwolke von würzigem Tabak umgab ihn. Flora glaubte, sich daran zu erinnern, dass Alfons zu besonderen Gelegenheiten Zigarren rauchte.

»Ich nehme an, du bist überrascht, mich hier zu sehen, Fräulein Baumann?« Mit einem selbstverliebten Lächeln schickte er sich an, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. »Hier, in deinem Refugium, Fräulein Baumann?« Seine Stimme triefte vor Spott.

»Was soll das?«, fragte Flora ihn spitz. Er sollte nicht bemerken, dass sie sich vor ihm fürchtete.

»Ich dachte, ich statte dir mal einen Besuch ab«, erwiderte er mit falscher Freundlichkeit. Er trat in den Flur, und nur die Höflichkeit hielt Flora davon ab, ihn nicht sofort wieder hinaus ins Treppenhaus zu komplimentieren. Sie bekam es mit der Angst zu tun und fragte sich, ob der Besuch ihr galt oder ob Wagner zu Leo wollte. »Leonhard ist nicht zu Hause«, sagte Flora schnell, um die unangenehme Situation so schnell wie möglich zu beenden.

»Ich weiß.« Wagner lächelte süffisant. »Er arbeitet auch in den letzten Wochen, die wir für ›B. Winkelmann Nachfolger‹ gemeinsam verantwortlich sind, bis zum Umfallen.« Wagner schüttelte den Kopf, wie um sein Bedauern auszudrücken. »Er macht sich den Abschied aus unserem Unternehmen wahrlich nicht leicht«, bemerkte er.

Wut mischte sich unter Floras Angst, mit Wagner allein zu sein. »Es liegt nicht an Lissy«, stellte sie fest. Sie hatte geahnt, dass Leonhard einen anderen Grund hatte, aus der Firma auszuscheiden. »Es geht gar nicht darum, dass deine Frau etwas gegen mich hat.«

»Du bist gescheit«, meinte Wagner voller Ironie. »Ein sehr schlaues Mädchen.« Ein humorloses Lachen kam über seine schmalen Lippen. »Er ist nicht blind, dein Leo«, fuhr er fort, während er die Wohnungstür hinter sich schloss.

Ich sitze in der Falle, schoss es Flora durch den Kopf. Mit angstgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Er schien endlich doch ihre Angst bemerkt zu haben und schüttelte abfällig den Kopf. »Deinem Leo wird nicht entgangen sein, dass mir seine Braut gefällt.«

»Ich bin mit Leonhard verlobt und werde bald schon seine Frau sein«, erklärte Flora trotzig. »Von dir will ich absolut nichts wissen. Und dass du mir so unverschämt den Hof machst, wird auch deiner Lissy nicht entgangen sein.« Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften. »Außerdem bin ich mit Leo sehr, sehr glücklich, aber das weißt du natürlich selbst – immerhin seid ihr seit der Schulzeit befreundet.«

»Natürlich.« Wagner nickte. »Doch drängt sich mir bei allem Respekt die Frage auf, warum der gute Leonhard so lange arbeitet. Bleibt ihm denn nach Feierabend überhaupt noch die Kraft, sich auf angemessene Weise um seine bildschöne Verlobte zu kümmern?«

»Ich wüsste nicht, was dich das anginge«, entgegnete Flora.

»Welch ein Drama«, sagte Wagner mit gespielter Enttäuschung in der Stimme. »Wäre ich ein freier Mann, würde ich mich um deine Gunst bemühen.«

»Zu spät«, antwortete Flora schnippisch. »Ich nehme an, dass du ursprünglich gekommen bist, um Leonhard aufzusuchen.«

»Und ich sagte bereits, dass ich sehr wohl weiß, dass er noch im Kontor sitzt und arbeitet.« Wagner schüttelte den Kopf. »Nein, ich wollte schon zu dir, Flora.«

»Was hast du dir dabei gedacht, Leo so aus eurem gemeinsamen Unternehmen hinauszuekeln?«, zischte Flora.

»Was habe ich?« Wagner tat, als wäre er schwerhörig.

»Du hast ihm nahegelegt, die Firma zu verlassen.«

»Ich bewundere deine lebhafte Phantasie, liebste Flora.« Jetzt lachte er. »Vielleicht möchte dein Leo verhindern, dass wir uns ständig über den Weg laufen – fast, als wäre ihm daran gelegen, dich aus meiner Schusslinie zu bringen.«

Kurz zögerte Flora. Vielleicht enthielten Wagners Worte ein Stückchen Wahrheit. In der Tat verfügte Leonhard über einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Als sie aufschaute, blickte Wagner sie mit steinerner Miene an. »Also gib nicht mir die Schuld«, sagte er schneidend.

Flora schien es, als könne sein bohrender Blick bis in die Tiefen ihrer Seele vordringen. Schnell senkte sie den Kopf. »Wie dem auch sei«, sagte sie, »Sag, was du zu sagen hast, und verschwinde.«

»Warum bist du denn so ruppig?« Wagner ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Dreitausend Taler habe ich deinem Leo versprochen, wenn er das Unternehmen verlässt.«

»Das hat er mir erzählt.«

»Dein Leo wird mir fehlen, wenn er wirklich geht«, behauptete Wagner.

»Du bist ein elender Heuchler«, spie Flora ihm entgegen. »Und jetzt raus mit der Sprache. Warum bist du hergekommen?«

»Um dir ein verlockendes Angebot zu machen, meine Liebe.«

»Da bin ich gespannt.«

»Dein Leo wird in wenigen Tagen eine Reise für ›B. Winkelmann Nachfolger‹ antreten«, eröffnete Wagner ihr. »Er nimmt die Strapazen der Reise auf sich, um von Kunden und Lieferanten persönlich Abschied zu nehmen.«

»Das weiß ich doch längst.« Das Gespräch begann Flora zu langweilen.

»Meine Lissy ist ebenfalls verreist«, fuhr Alfons fort. »Sie ist mit ihrer Schwester und der Frau Mama unterwegs und lässt mich allein in Stralsund zurück.«

»Wie grausam von ihr«, sagte Flora.

Wagner ging nicht auf die spitze Bemerkung ein. »Somit verbindet uns das gleiche Schicksal: Unsere geliebten Partner lassen uns allein zurück.«

»Ich werde es überleben.«

»Wir könnten ebenfalls verreisen und ein paar Tage aufs Land hinausfahren«, schlug Wagner vor.

»Wir?« Flora glaubte, sich verhört zu haben. Sie stellte sich dumm. »Wer ist wir?«

Mit einem schleimigen Lächeln deutete Wagner erst auf sich selbst, dann auf Flora. »Wir«, sagte er feierlich, »Also du und ich.«

»Wie kommst du bloß auf so eine absurde Idee?« Flora war außer sich vor Wut, doch er ließ sich nicht beirren.

»Wir könnten uns eine schöne Zeit machen, und wir wären beide nicht einsam.« Er lachte. »Und bekanntlich soll Reisen ja bilden.«

»Mit dir reise ich nirgendwohin, das ist doch lächerlich. Und jetzt scher dich zum Teufel!« Den letzten Satz schrie sie fast.

Wagner starrte sie finster an. »Nie«, sagte er leise, »nie hätte ich gedacht, dass du so arrogant sein würdest!«

Flora hatte genug. Sie holte aus und verpasste dem Geschäftspartner ihres Verlobten eine schallende Ohrfeige.

Wagner wich zurück und strich sich stumm über die schmerzende Wange, die langsam eine tiefrote Färbung annahm.

»Das, meine liebe Flora«, zischte er, »wirst du bereuen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und schritt aus der Wohnung.

Flora stand wie angewurzelt im Flur. Sie hatte den Schulfreund ihres geliebten Leo geohrfeigt. Erst als sie hörte, wie unten die schwere Haustür ins Schloss fiel, konnte sie sich wieder regen und schloss rasch die Wohnungstür. Ihr Herz raste wie verrückt. Sie war immer noch fassungslos angesichts Wagners Unverfrorenheit, ihr ein solches Angebot zu machen. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, zitterte sie am ganzen Leib. Wo blieb nur Leo?

*

In dieser Nacht fand Flora kaum Schlaf. Hellwach lag sie im Bett neben Leonhard und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen ihres Verlobten. Sie hatte es nicht über sich gebracht, ihm von Wagners Besuch zu berichten. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn geschmiegt, um seine Nähe und seinen Schutz zu spüren. Doch wieder war die Furcht zu groß, dass er aufwachen könnte. Flora wusste, wie dringend er seinen Schlaf benötigte. Morgen schon würde er seine Reise antreten. Mit dem Zug würde er zunächst nach Berlin fahren und dort ein paar Tage bleiben, um die dortigen Geschäftsfreunde zu besuchen. Danach führte ihn sein Weg in den Westen. Schon jetzt wusste Flora, wie schmerzlich sie ihn vermissen würde.

Auch gab sie sich die Schuld an der Entscheidung ihres Verlobten, die Firma zu verlassen. Immer wieder fragte sie sich, ob sie einer der Gründe für die Trennung der Männer war.