Die Zeit der Frauen – Eine große Erfindung - Susanne von Berg - E-Book
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Die Zeit der Frauen – Eine große Erfindung E-Book

Susanne von Berg

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Beschreibung

Träume, Liebe und der Erfindergeist einer Frau.

Ostwestfalen, 1896: Katharina träumt von einem unbeschwerten Leben in der Stadt, denn als Tochter eines Landwirts weiß sie, was die täglichen Arbeiten auf dem Hof und für die Familie einer Frau abverlangen. Dann verliebt sie sich in den technikbegeisterten Carl, der mit ihrer Hilfe eine Milchzentrifuge entwickelt. Katharina erkennt als Erste, welches Potenzial in der Idee steckt. Doch Katharina und Carl müssen für ihr Glück und für den Erfolg ihres kleinen Betriebs kämpfen. Noch ahnen sie nicht, dass sie den Grundstein für eine bahnbrechende Erfindung gelegt haben, die das Alltagsleben von Millionen Frauen verändern wird … 

Die neue Saga von Erfolgsautorin Susanne von Berg um die Geschichte des bekanntesten deutschen Waschmaschinenherstellers.

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Seitenzahl: 433

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Über das Buch

Katharinas Weg scheint vorgezeichnet. Sie wird einmal den elterlichen Hof im ostwestfälischen Clarholz übernehmen. Als ihr Vater Pläne schmiedet, um den Hof zu erweitern, erkennt sie, dass eine erfolgreiche Bewirtschaftung nur möglich bleiben wird, wenn sie sich Neuerungen öffnen. Dann lernt sie Carl kennen, dessen Technikbegeisterung ihr sofort auffällt, und sie verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Gemeinsam entwickeln sie eine Maschine, die die Arbeit auf dem Hof revolutioniert: eine Milchzentrifuge. Mit seiner bahnbrechenden Idee will sich das junge Paar selbstständig machen. Doch Katharinas Vater lehnt die Beziehung der beiden ab – er wünscht sich einen Landwirt zum Schwiegersohn. Kann Katharina ihn von Carl und ihrer Erfindung überzeugen?

Über Susanne von Berg

Susanne von Berg ist das Pseudonym des Schriftstellers Andreas Schmidt, bekannt durch zahlreiche Kriminalromane. Er lebt und arbeitet als freier Autor und Journalist in seiner Heimatstadt Wuppertal.

Im Aufbau Taschenbuch sind die Bände der Kaufhaussaga »Das Kaufhaus – Zeit der Sehnsucht«, »Das Kaufhaus – Zeit der Wünsche« und »Das Kaufhaus – Zeit des Wandels« lieferbar.

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Susanne von Berg

Die Zeit der Frauen – Eine große Erfindung

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

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Kapitel 15

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Kapitel 20

Kapitel 21

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Kapitel 30

Kapitel 31

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Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Impressum

Wer von dieser großen Saga begeistert ist, liest auch ...

Kapitel 1

Bernhard Zumwinkel wusste nicht, wie lange er schon wach neben seiner schlafenden Frau lag und ihren gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Er fand nicht in den Schlaf, Theresas Gesundheitszustand bereitete ihm die größten Sorgen. Sie litt an einer seltenen, noch nicht erforschten Lungenkrankheit, die sie immer wieder heimsuchte. Die Abstände wurden kürzer, und Doktor Johann hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es sich wohl um eine todbringende Krankheit handelte. Dabei war Theresa doch erst Anfang vierzig. Bernhard konnte es kaum fassen, dass seine geliebte Frau wohl nicht mehr lange leben würde.

Mit feucht schimmernden Augen wandte er den Kopf nach links, um sie zu betrachten. Theresa lag eingerollt auf der Seite, die weinrote Decke hatte sie bis zu den Schultern hochgezogen. Ihre Gesichtszüge wirkten entspannt, im Gegensatz zu ihrem Mann verfolgten sie die Ängste nicht bis in den Schlaf. Ein Gewicht schwer wie Blei legte sich um Bernhards Herz, als er daran dachte, wie sie sich kennengelernt hatten. Nach einem halben Jahr wurde Hochzeit gefeiert, wenig später war Theresa schwanger. Katharina, ihre einzige Tochter, war inzwischen fast erwachsen. Bernhard hatte den Zumwinkel-Hof von seinen Eltern übernommen. Seitdem bewirtschafteten sie das Gut mit wachsendem Erfolg.

Seit Generationen waren die Zumwinkels rechtschaffene und zufriedene Menschen, die von der Milchwirtschaft und der Schweinemast gut leben konnten.

Doch was nutzt der ganze Erfolg, wenn meine geliebte Theresa nicht mehr lange leben wird?, fragte sich Bernhard und versuchte vergeblich, die betrüblichen Gedanken zu verdrängen. Es würde schwer werden, den Hof ohne seine Frau fortzuführen, daran änderten auch die Feldarbeiter, die Knechte und die Mägde nichts. Bei der Arbeit auf dem Hof wurden viele Hände gebraucht. Knechte, Mägde, seine Tochter, alle mussten anpacken. Theresa war die gute Seele des Hofes, wenn sie ging, würde auch der Zumwinkel-Hof nicht mehr das sein, was er mal war. Ein schwerer Seufzer kam über Bernhards Lippen. Doch noch ist es nicht so weit, und ich werde alles Erdenkliche tun, um meine Theresa vor dem Tod zu bewahren, schwor er sich. Er löste den Blick von seiner Frau und sah sich im Halbdunkel der Schlafkammer um. Das Zimmer mit der niedrigen Decke wurde vom großen Ehebett mit dem aufwändig gedrechselten Kopfende beherrscht, dem der massive Kleiderschrank gegenüberstand. Links und rechts neben dem Bett gab es Nachtkonsolen, über dem Bett hing ein Bild der Jungfrau Maria, gleich neben dem sorgfältig geschnitzten Holzkreuz. Die Tagesdecke aus Spitze, das Spitzendeckchen auf der Kommode, die Bilder an den Wänden, ja sogar die weißblaue Tapete mit dem filigranen Blumenmuster, die Gardinen vor den kleinen Fenstern, all das hatte Theresa damals liebevoll ausgesucht. Seit ihrem Einzug auf dem Hof hatte Bernhard nicht gewagt, etwas zu verändern, und das war gut so. Alles in diesem Raum trug ihre Handschrift.

Sekundenlang starrte Bernhard zu der von Holzbalken gestützten Decke auf. Die schrecklichen Ängste um seine Frau wurden überlagert von der Sorge, wie es mit dem Hof weitergehen würde, wenn sie nicht mehr da war. Seine Gedanken wanderten zu Katharina, die langsam ins heiratsfähige Alter kam. Doch ihre Tochter hatte bislang keinerlei Interesse an Männern gezeigt. Zu sehr nahm sie die Arbeit auf dem Hof in Besitz. Katharina schuftete wie ein Mann, sie arbeitete von früh bis spät und lebte für den Zumwinkel-Hof. Trotzdem war es nicht üblich, dass Höfe von Frauen geleitet wurden. Sie brauchte einen Mann. Ihm und Theresa war ein Sohn versagt geblieben. Zu schwach war Theresa schon nach der ersten Geburt gewesen, sodass eine weitere Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko für sie dargestellt hätte. Sie mussten ohne Stammhalter auskommen und setzten alle Hoffnungen darauf, dass Katharina eines Tages einen Mann finden würde, mit dem sie den Hof fortführen konnte.

Ein Mann muss her, dachte Bernhard betrübt. Einer, der der Hofübernahme und allen Aufgaben des Alltags gewachsen ist. Er musste sich um die Nachfolge Gedanken machen, bevor es zu spät war. Ein schwaches Lächeln huschte um seine Mundwinkel, als ihm eine Idee in den Sinn kam. Es dauerte einen Moment, bis er seine Gedanken geordnet hatte. Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, drehte auch er sich auf die Seite, betrachtete Theresa mit zufriedenem Blick, zog sich die Decke bis zum Kinn und schlief ein.

Kapitel 2

Was stehst du denn da am Fenster und hältst Maulaffen feil?« Mit gespieltem Vorwurf in der Stimme war Theresa Zumwinkel hinter Lina getreten. Die Bäuerin wollte sehen, was ihre junge Magd derart ablenkte, dass sie für einen Moment ihre Arbeit in der Küche vernachlässigte. Draußen bereiteten sich die Tagwerker gerade darauf vor, die Felder des Hofes zu bestellen. Die Bauernfamilie Zumwinkel hielt Hühner, Schweine und Kühe. Das für die Viehhaltung benötigte Futter wurde auf den eigenen Feldern angebaut. Gerade stand die Heuernte an, eine körperlich anstrengende Arbeit, bei der im Wettlauf mit dem Wetter jede helfende Hand benötigt wurde. Seit einigen Tagen schon brannte die Julisonne gnadenlos vom Himmel über Clarholz und sorgte dafür, dass das vor einigen Wochen mit der Sichel geerntete Gras getrocknet war und eingefahren werden konnte.

»Lina? Hörst du mich?«

Mit rotem Kopf und verschämtem Blick riss sich Lina vom Küchenfenster los. Es war ihr unangenehm, dass die Bäuerin sie dabei ertappt hatte, wie sie dem neuen Knecht sehnsüchtig hinterhergeschaut hatte. Die Arbeiter machten sich gerade daran, den Tag auf dem Feld vorzubereiten. Thomas spannte das Maultier Aurora vor den hölzernen Leiterwagen. Einige Frauen schleppten Körbe heran, die Männer trugen die Werkzeuge zum Fuhrwerk, um es zu beladen.

»Soso, der Thomas hat es dir angetan.« Theresa Zumwinkel schmunzelte. »Der neue Knecht ist ein adretter Kerl, er kann anpacken und drückt sich nicht vor der Arbeit.«

Er kann anpacken, hallte es in Linas Kopf nach, während sie sich peinlich berührt daranmachte, den Frühstückstisch in der großen Küche abzuräumen. Theresas Mann Bernhard hatte ihn eingestellt und dabei Ausschau gehalten nach einem jungen, fleißigen Mann. Ob er dabei auch an einen Nachfolger für die Übernahme des Hofes gedacht hatte, wusste Lina nicht. Und sie würde sich hüten, Theresa danach zu fragen. Lina sammelte sich und machte sich an die Arbeit. Noch immer hing der Duft nach Tee und frischem Malzkaffee in der Küche.

Der große Raum wurde von einem langen, grob geschnitzten Holztisch dominiert, um den sich ein gutes Dutzend Stühle und eine hölzerne Eckbank reihten, die unter dem Fenster zur Straße hin stand und noch einmal Platz für fünf Personen bot. Auf der gegenüberliegenden Seite lag die eigentliche Küche. Es gab Regale mit Tongeschirr und Porzellan, Schränke mit Töpfen, einen großen Spülstein, eine Anrichte und einen recht modernen Herdofen, auf dem gekocht werden konnte. Der Raum war zweckmäßig eingerichtet, die Wände wurden, wie Theresa ihr berichtet hatte, jedes Jahr frisch gekalkt, die kleinen Gardinen an den Fenstern hatte die Bäuerin selbst bestickt.

Lina stapelte das benutzte Geschirr neben dem Spülstein zu abenteuerlichen Türmen. Als sie den Platz abräumte, an dem Thomas gesessen hatte, erwischte sie sich dabei, wie sie kurz innehielt, um tief die Luft einzusaugen. Für einen kurzen Augenblick bildete sie sich ein, dass sie den Knecht noch riechen konnte. Er war groß und kräftig, die Schultern waren breit und die Arme muskulös. Dabei hatte sie sich in den warmen Blick seiner braunen Augen verguckt, auch der Klang seiner Stimme ließ regelmäßig einen angenehmen Schauer ihren Rücken herunterrieseln. Doch das musste niemand mitbekommen. Nun, da die Bäuerin sie offenbar überführt hatte, schämte sich Lina ein wenig für ihre Schwärmerei. Denn längst schon hatte sie mitbekommen, dass sich Thomas nicht im Geringsten für sie zu interessieren schien. Er hatte ein Auge auf Katharina, die hübsche Tochter der Zumwinkels, geworfen.

»Träumst du denn schon wieder?« Theresa, die sich am Spülstein zu schaffen gemacht hatte, stemmte energisch die Hände in die Hüften. Theresa Zumwinkel war von kräftiger Natur, ihre vollen Backen rot wie kleine Äpfel, die blauen Augen sahen mit einem wachen Blick in die Welt, ihre dunkelblonden Haare wurden von einem blassroten Kopftuch größtenteils verdeckt. Obwohl Lina sie schlecht schätzen konnte, vermutete sie, dass die Bäuerin Anfang vierzig war.

»Es gibt viel Arbeit heute, Mädchen.« Bernhard Zumwinkel hatte ihr Lina zur Seite gestellt, da seine Frau schnell krank wurde. Etwas stimmte mit ihrer Lunge nicht, doch woran Theresa litt, wusste Lina nicht. Und sie fand es unhöflich, Theresa danach zu fragen.

»Ich komme schon.« Lina verdrängte die Gedanken an Thomas und nahm der Bäuerin den schweren Zinkeimer aus der Hand. Ohne Worte verstanden sich die beiden Frauen. Mit dem Eimer am langen Arm verließ Lina die Küche und stand im nächsten Moment im Freien, um ihn an der Tränke zu füllen. Draußen brannte die Sonne trotz früher Stunde schon gnadenlos vom fast wolkenlosen Himmel herab. Die junge Magd fürchtete, dass es wieder ein unerträglich heißer Sommertag werden würde. Schon jetzt wärmte die Sonne ihre Haut. Kurz verharrte sie im Schatten des weit ausladenden Daches und ließ den Blick über den Hof schweifen. Unter den Männern und Frauen herrschte Aufbruchstimmung. Nachdem die Kühe bereits vor dem Frühstück gemolken worden waren, hatten sich die Arbeiter um das Vieh gekümmert. Jetzt ging es raus zur Feldarbeit, zur Heuernte.

Lina atmete tief ein und musste die Nase kraus ziehen, als sie den Duft nach Jauche und Mist in die Lungen sog. Aus dem Schweinestall drang ein anklagendes Grunzen. Dabei hatte sie den Schweinen doch schon im Morgengrauen Kartoffeln in den Futtertrog geschüttet, wie fast alles hier auf dem Hof aus eigenem Anbau.

Am Stall wurde gerade Ferdinand, der Ackergaul, mit neuen Hufen versehen. Bernhard Zumwinkel hielt Ferdinand am Strick, während ein Hufschmied mit lederner Schürze ein glühendes Hufeisen mit dem Hammer auf dem zentnerschweren Amboss bearbeitete.

Als der Bauer sie erblickte, nickte er ihr lächelnd zu. Obwohl Lina noch nicht allzu lange auf dem Zumwinkel-Hof lebte, fühlte sie sich hier bereits heimisch. Sie setzte sich in Bewegung und überquerte den Hof, wich dem streng riechenden Rinnsal aus dem Kuhstall aus und machte sich auf den Weg zur Wassertränke. Die Scharniere des Zinkeimers quietschten leise bei jedem Schritt.

Das panische Gackern der Hühnerschar, die sich unter hastigen Flügelschlägen näherte, riss Lina aus ihren Beobachtungen. Die Hühner waren auf der Flucht vor Mattias, dem liebestollen Hahn, der ihnen mit wehendem Kamm nachjagte. Die Hühner rannten Lina geradewegs zwischen die Füße. Der Versuch, dem aufgebrachten Federvieh auszuweichen, scheiterte. Ein erschreckter Schrei entrang sich Linas Kehle, als sie über ihre eigenen Füße stolperte. Wild ruderte sie mit den Armen, ließ dabei den Eimer los, der unter lautem Poltern über den Boden rollte und die Blicke der Arbeiter auf sich zog. Lina verlor das Gleichgewicht, stieß einen weiteren entsetzten Schrei hervor und ging auf die Knie. Um nicht geradewegs auf das Gesicht zu fallen, fing sie den Sturz mit den Händen ab. Ihre Handinnenflächen brannten wie Feuer, auch die Knie schmerzten höllisch. Lina rollte sich auf die Seite und blieb schließlich wie ein Käfer auf dem Rücken liegen. Die Hühner trollten sich und waren bald schon von der Bildfläche verschwunden. Für einen Moment herrschte betroffene Stille auf dem Hof, dann brach unter den Männern und Frauen, die zu unfreiwilligen Zeugen von Linas Missgeschick geworden waren, Gelächter aus.

»Haltet eure Mäuler!«, gellte eine Stimme über den Hof. Sofort verstummten die Stimmen. Als Lina den Kopf hob, sah sie, dass es sich bei dem Sprecher um Thomas handelte. Er war offenbar gerade damit beschäftigt gewesen, Aurora, das gutmütige Maultier, vor den Karren zu spannen, als Lina nur wenige Schritte von ihm entfernt gestürzt war. Er musste alles gesehen haben. Wie peinlich, dachte Lina bestürzt.

»Was soll das, ihr Idioten?«, rief Thomas aufgebracht. »Seht ihr nicht, dass Lina sich verletzt hat?« Thomas schüttelte missbilligend den Kopf, um Lina zu Hilfe zu eilen. Mit wenigen, ausladenden Schritten war er bei ihr und ging neben ihr in die Hocke. Sorge lag in seinem Blick. »Tut dir was weh?«, fragte er mit einfühlsamer Stimme.

»Nein«, log Lina, die sich keine weitere Blöße mehr geben wollte, doch ihr Lächeln misslang. Als er ihr die Hand hinhielt, griff sie beherzt zu und ließ sich von ihm aufhelfen. Nachdem sie einigermaßen sicher stand, reichte er ihr den Eimer. Lina bedankte sich peinlich berührt für seine Hilfe und klopfte sich den Staub von der Schürze. Es war ihr unangenehm, dass er mitbekommen hatte, wie ungeschickt sie sich angestellt hatte.

»Ich bin eine Närrin«, murmelte sie und ärgerte sich über ihr Missgeschick.

Thomas schüttelte den Kopf.

»Nein«, erwiderte er. Als er sie anlächelte, schlug Linas Herz gleich ein paar Takte schneller. Langsam erholte sie sich von dem Schrecken.

»Das waren diese verrückten Viecher«, fuhr Thomas fort, der nicht bemerkte, wie sie ihn ansah. Er war ein sehr anziehender Mann mit einem wachsamen Blick und dichtem, etwas zu langem Haar. Die obersten beiden Knöpfe seines Hemdes standen offen, auch die Ärmel hatte er hochgekrempelt. So sieht ein Mann aus, der ordentlich zupacken kann. Wie gern hätte sie seine starken Arme berührt, doch so etwas ziemte sich nicht. Außerdem hätte er sie wohl für verrückt gehalten, wenn er etwas von ihren eigenartigen Annäherungsversuchen mitbekommen hätte.

Thomas hatte nichts bemerkt. Mit seinem kantigen Kinn deutete er auf die Stelle, an der die Hühner verschwunden waren. »Sie sind dir geradewegs zwischen die Füße gelaufen, weil sie vor dem aufgeblasenen Gockel fortgelaufen sind.«

»Und ich war wohl kurz abgelenkt …« Am liebsten wäre Lina vor Scham im Boden versunken, doch unter ihren Füßen tat sich kein Loch auf.

»Hauptsache, es geht dir wieder gut«, antwortete Thomas. Sein Blick streifte die Arbeiter, die auf ihn warteten. Es schien, als wäre es ihm plötzlich peinlich, dass sie ihn mit Lina sahen. »Ich muss dann jetzt auch los, sonst macht der Bauer Ärger.«

»Gewiss.« Lina nickte verständnisvoll. Sie war froh, dass sein Interesse bereits wieder der bevorstehenden Arbeit galt. Thomas nickte ihr ein letztes Mal zu, dann wandte er sich an die Feldarbeiter, eine Handvoll Männer und Frauen, die mit geschulterten Werkzeugen zum Abmarsch bereitstanden. Thomas pfiff auf den Fingern und gab den Leuten ein Zeichen. Eine Magd führte das Maultier, der Leiterwagen setzte sich knarrend in Bewegung. Lina klaubte den verbeulten Zinkeimer auf und stand mitten auf dem Hof, um der Gruppe nachzublicken. Dann ging sie zur Tränke und tauchte den Eimer ins Wasser. Als sie den Kopf zur Seite wandte, stellte sie fest, dass Bernhard Zumwinkel sie sorgenvoll betrachtete. »Alles in Ordnung?«, schallte seine tiefe Stimme über den Hof, die nur durch das metallische Klimpern vom Hammer des Hufschmieds unterbrochen wurde.

»Ja, danke – Thomas hat mir geholfen«, rief Lina zurück und sah an der Miene des Bauern, dass ihm das nicht zu passen schien. Warum das so war, wusste Lina nicht, und so machte sie, dass sie zurück in die Küche kam, wo Theresa sicher schon auf sie wartete.

*

»Das war doch Absicht.« Schmunzelnd nahm Theresa ihr den randvollen Eimer aus der Hand, um das Wasser in den Spülstein zu schütten. Danach setzte sie sich an einen der einfachen Stühle am großen Tisch und beobachtete die Magd. Ihr Atem ging rasselnd, sie benötigte eine kleine Pause.

»Was war Absicht?« Lina legte kurz die Stirn in Falten, während sie mit dem Abwasch begann. Es tat gut, sich mit der Arbeit abzulenken. Sekundenlang war das Klappern des Geschirrs im Wasser das einzige Geräusch in der Küche.

»Dass du ausgerechnet vor den Augen des Knechts gestürzt bist.« Theresa zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Du wusstest doch, dass Thomas genügend Anstand besitzt, um dir zu helfen.«

Lina errötete erneut. Sie hatte gehofft, den unangenehmen Zwischenfall vergessen zu können. »Ich wünschte, es wäre so.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sie sich die aufgeschürften Handflächen. »Doch Thomas interessiert sich nicht im Geringsten für mich.«

»Vielleicht kann er sein Interesse einfach nicht so zeigen.« Theresa zuckte die Schultern. Mit dem Kinn deutete sie auf Linas Wunden. »Lass mal sehen.«

»Es geht schon wieder.« Lina trocknete die Hände an einem Tuch ab und trat an den Tisch, um sie der Bäuerin zu zeigen. Theresa begutachtete ihre Wunden. »Da muss eine Salbe drauf«, stellte sie mit fachlichem Blick fest.

»Aber die Arbeit …«, setzte Lina an, wurde jedoch durch eine Handbewegung der Bäuerin unterbrochen.

»Die kann warten«, bestimmte Theresa. »Zuerst versorgen wir deine Wunden. Ich kann es mir nicht leisten, dass du krank wirst, nur weil eine Meute verrückter Hühner dich zu Fall gebracht hat, Kind.« Ihre resolute Stimme duldete keinen Widerspruch, und so fügte sich Lina ihrem Schicksal. Die Bäuerin erhob sich und trat an einen der Schränke. Sie suchte in einer Schublade nach der Dose mit der Creme, dann kehrte sie zum Tisch zurück und machte sich daran, Linas Wunden damit einzureiben. »Du musst warten, bis alles eingezogen ist«, sagte sie. »Ich kümmere mich um den Abwasch.« Sie durchquerte die Küche und trat an den Spülstein, um mit Linas begonnener Arbeit fortzufahren.

»Was steht denn heute noch an?«, fragte Lina, die sich ein wenig unwohl fühlte, weil die Bäuerin arbeitete, während sie auf der Eckbank saß und zum Zusehen verdammt war.

»Gleich werden wir das Mittagessen für die Arbeiter vorbereiten und es ihnen beizeiten aufs Feld bringen.« Theresa wandte sich mit einem Lächeln zu ihr um. »Das kannst du heute übernehmen.«

Lina wagte nicht, ihre Freude offen zu zeigen, hoffte aber darauf, Thomas bei der Arbeit sehen zu können. Vielleicht widmete er ihr dann ein wenig Aufmerksamkeit. »Und dann?«

»Müssen wir buttern. Und später werden wir die Kammern für die Maurer vorbereiten, die übermorgen anreisen.«

»Maurer?« Lina runzelte die Stirn.

»Ja, Maurer. Morgen wird ein Trupp ankommen. Die Männer werden während der Bauzeit auf dem Hof wohnen.«

»Was soll denn gebaut werden?«

»Bernhard möchte den Hof vergrößern, deshalb soll eine neue Scheune gebaut werden, das braucht seine Zeit.« Theresa sprach langsamer, Lina bemerkte, dass die Bäuerin wieder kurzatmig war, und stellte keine weiteren Fragen. Ihre erste Saison als Magd auf dem Zumwinkel-Hof hatte sie sich ein wenig anders vorgestellt, doch die Arbeit als rechte Hand der Bäuerin bereitete ihr trotzdem große Freude. Die Freizeit war knapp, an den meisten Tagen fiel sie abends todmüde in das einfache Bett ihrer spärlich eingerichteten Kammer. Selten nur fand sie Zeit für die Stickerei, die sie im vergangenen Winter für sich entdeckt hatte. Doch Lina fühlte sich wohl auf dem Hof, der Bauer und die Bäuerin waren freundlich, auch die anderen Arbeiter behandelten sie gut. So gab es für Lina keinen Grund, sich zu beschweren. An manchen Tagen fühlte sie sich wie die zweite Tochter der Zumwinkels, und auch Katharina behandelte sie wie eine Schwester. Nein, einen Grund zum Klagen gab es wirklich nicht. Wäre da nur nicht der hübsche Knecht, der sie mit Missachtung strafte.

Kapitel 3

Brauchst du Hilfe?«

Erschrocken fuhr Katharina herum, vernahm die tiefe Stimme von Thomas dicht hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie das Lächeln in seinem Gesicht. In seiner Hand hielt er die Sense, mit der er eben noch gearbeitet hatte. Der würzige Duft nach frischem Heu lag in der Luft, ein seichter Wind strich über das Feld und sorgte für etwas Abkühlung. Katharina war damit beschäftigt gewesen, die schweren Heuballen mit einer Gabel auf den Leiterwagen zu wuchten, wo sie von Alfred, einem wortkargen, aber sehr kräftigen Feldarbeiter, angenommen und gestapelt wurden. Dort oben tarierte er die Ballen gewissenhaft aus, damit der schwer beladene Wagen auf dem Rückweg zum Hof nicht umkippen konnte.

Katharina ruhte sich gerade einen Moment von der unter der sengenden Hitze des Vormittags körperlich anstrengenden Arbeit aus. Das hatte Thomas offenbar zum Anlass genommen, ihr seine Hilfe anzubieten. Doch Katharina war es gewohnt, mit anzupacken. »Nein danke«, sagte sie höflich, »es geht schon.« Natürlich war ihr nicht entgangen, dass der neue Knecht schon seit seiner Ankunft ein Auge auf sie geworfen hatte. Schon mehrmals hatte sie sich gefragt, ob sein Interesse ihr galt oder der Tatsache geschuldet war, dass sie die Tochter des Bauern war.

Doch Katharina war nicht an ihm interessiert und wusste mitunter nicht, wie sie ihm das höflich, aber bestimmt beibringen sollte. Als einziges Kind auf dem Zumwinkel-Hof arbeitete sie von früh bis spät und hatte bisher keinen Gedanken an einen Mann, an dessen Seite sie alt werden wollte, verschwendet. Vielleicht, so überlegte sie, weil er mir noch nicht begegnet ist. Thomas, so viel stand fest, war es jedenfalls nicht. Er war ein grobschlächtiger Kerl, er sprach laut und war selbstverliebt. Vater mochte ihn trotzdem, weil er hart arbeiten konnte.

Seitdem ihr Vater ihn eingestellt hatte, schwänzelte Thomas ständig um sie herum. Dabei wurde er nie aufdringlich, denn er verfügte, das musste Katharina ihm lassen, durchaus über gute Manieren. Thomas war alles andere als ein roher Klotz, und dennoch interessierte sie sich nicht für ihn. Katharina hatte gehofft, dass sie sein Interesse auf Lina lenken konnte. Die junge Magd war unsterblich in Thomas verliebt, das hatte Lina ihr neulich sogar gebeichtet. Doch Thomas schien kein Interesse an ihr zu haben. Katharina überlegte für einen Moment, wie sie dem Glück der beiden ein wenig auf die Sprünge helfen konnte.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, riss Thomas’ Stimme sie aus den Gedanken. Noch immer lag ein Lächeln auf seinem braungebrannten Gesicht. Er schob sich den Strohhut mit der breiten Krempe in den Nacken.

»Mir die Sprache verschlagen?« Katharina lachte herzhaft. »Wo denkst du hin?«

Thomas wirkte ein wenig gekränkt und wich einen halben Schritt zurück.

»Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, aber«, sie deutete auf die im Sonnenlicht blitzende Klinge der Sense, »ich denke, dass du damit weitermachen solltest.«

»Was ist denn jetzt?«, ertönte die Stimme von Alfred, der hoch oben auf dem Leiterwagen wartete. Mit grimmiger Miene lehnte er an der Reling des hölzernen Wagens und blickte zu ihnen herunter. »Geht es nicht weiter?«

»Doch, doch.« Katharina legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem vierschrötigen Arbeiter hinauf, der sich zu langweilen schien. Dann wandte sie sich Thomas zu. »Du siehst, ich werde gebraucht.«

»Gut.« Das Lächeln auf Thomas’ Lippen erlosch, er zuckte die breiten Schultern. »Wenn du Hilfe brauchst, bin ich für dich da.« Sichtlich enttäuscht wandte er sich zum Gehen. »Ruf einfach.«

»Danke, das ist lieb von dir.« Das meinte Katharina ehrlich. Ein wenig tat Thomas ihr leid, weil sie ihn trotz all seiner Bemühungen immer wieder zurückwies. Doch es wäre unfair gewesen, ihm falsche Hoffnungen zu machen. So stand sie da und beobachtete Thomas, wie er seine Arbeit wieder aufnahm, bevor auch sie die schweren Heuballen in hohen Bögen auf den Wagen wuchtete und Alfred mit neuer Arbeit versorgte. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder ins Schwitzen geriet.

Bernhard Zumwinkel, der das Geschehene aus ein paar Metern Entfernung beobachtet hatte, legte die Arbeit am Heuklopfer nieder und trat zu seiner Tochter. Mit der einfachen Maschine hatte er das Heu zu handlichen Ballen gebunden. Bevor er sie ansprach, gab er Alfred ein Zeichen. »Kleine Pause«, rief er ihm zu. Der Arbeiter wagte es nicht, dem Bauern zu widersprechen. Seufzend setzte er sich auf die bereits gestapelten Heuballen und nahm den Hut ab, um sich den Schweiß mit dem Ärmel seiner Arbeitsjacke von der Stirn zu wischen.

Bernhard nahm seine Tochter zur Seite, sodass Alfred sie nicht belauschen konnte. Erst, als sie sich außerhalb der Hörweite befanden, sprach er weiter. »Gefällt er dir nicht?«, fragte er und klang dabei fast besorgt. Katharina betrachtete ihren Vater – einen leicht untersetzten Mittfünfziger mit kantigem Gesicht und kahlem Kopf, der sie aus seinen graublauen Augen abwartend ansah.

»Was willst du hören?« Katharina atmete aus. Es war offensichtlich, dass er einen Narren an Thomas gefressen hatte. Und ihr war es nicht entgangen, dass er den Knecht bereits als Schwiegersohn betrachtete. »Warum liegt dir so viel daran, mich mit dem Knecht zu verkuppeln?«

Bernhard lächelte sanft. »Weil er ein guter Mann für dich wäre.« Er legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter und blickte ihr tief in die Augen. »Du kommst langsam ins heiratsfähige Alter, ich werde den Hof nicht mehr ewig führen können, und deine Mutter ist krank.«

»Deshalb soll ich einen Knecht heiraten?«

»Er kennt sich mit Landwirtschaft aus«, verteidigte sich Bernhard Zumwinkel. »Und er hat ein Auge auf dich geworfen.«

»Er ist immer höflich und hilfsbereit.« Katharina seufzte. »Aber ich werde ihn nicht heiraten, weil ich ihn nicht liebe. Trotz seiner Fähigkeiten und seiner guten Manieren gefällt er mir nicht, Vater.«

»Nichts für ungut.« Bernhard wiegte den massigen Kopf. »Aber mir ist daran gelegen, dass meine Tochter ein glückliches Leben führen kann.«

»Das weiß ich zu schätzen.« Katharinas Lächeln misslang. »Aber ich entscheide selbst, wie ich leben möchte. Dir geht es doch darum, dass die Nachfolge des Hofes gesichert ist«, fügte sie ein wenig bissig hinzu. »Mach dir bitte keine Sorgen um mich, Vater. Ich bin sicher, dass mir der Mann fürs Leben noch begegnen wird.« Damit ließ sie ihren Vater stehen. Für Katharina war das Gespräch beendet, und sie hoffte inständig, dass er sie verstanden hatte. Sie würde Thomas nicht heiraten, komme, was wolle.

Kapitel 4

Gekränkt hatte Thomas sich zurückgezogen. Der Knecht legte seine Wut in die gleichmäßigen Hiebe, die er mit der messerscharfen Klinge der Sichel ausübte. Er liebte die Arbeit mit der elastisch schwingenden Sense und die Kraft der höllenscharfen Klinge und legte weiter an Tempo zu.

Bald schon lief ihm der Schweiß von der Stirn, doch es tat gut, sich an der Sense zu verausgaben. Er hatte nicht vor, sich von der Tochter des Bauern abweisen zu lassen. Sie gefiel ihm, und er würde nicht von ihr ablassen, bevor er sie von seinen Qualitäten überzeugt hatte. Abgesehen von dem Umstand, dass sie bildschön und wortgewandt war und sich im heiratsfähigen Alter befand, war Katharina die einzige Tochter der Zumwinkels und würde irgendwann den Hof übernehmen. Das war seine Chance, das Dienstbotendasein abzulegen und einen Hof zu führen. An der Seite von Katharina, die sich irgendwann damit abfinden würde, dass er der einzig richtige Mann in ihrem Leben war. Es war zum Verzweifeln – trotz seiner mehrfachen Annäherungsversuche wies sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zurück. Er war nicht länger bereit, ihre Abneigung zu akzeptieren. Verzweifelt suchte er nach einem Weg, um ihre Gunst zu erlangen. Doch sosehr Thomas auch darüber nachdachte, wie ihm das gelingen konnte, ihm wollte kein passender Weg einfallen. Vielleicht sollte er den Bauern von seinen Qualitäten überzeugen. Er war auf einem Hof aufgewachsen, wusste, wie ein landwirtschaftlicher Betrieb funktionierte, und fühlte sich längst imstande, einen Hof eigenmächtig führen zu können. Dazu brauchte es niemanden mehr, der ihm sagte, was zu tun war.

Unbarmherzig brannte die Sonne vom wolkenlosen Spätsommerhimmel hernieder. Das Hemd klebte ihm am Leib. Keuchend unterbrach Thomas seine Arbeit. Er stützte sich auf dem langen Holzstiel der Sense ab und wagte einen Blick zurück zum Leiterwagen. Dort stapelte Alfred noch immer die Heubündel, die Katharina ihm auf den Wagen wuchtete. Sie war derart in ihrer Arbeit versunken, dass sie nicht mitbekam, wie der Knecht sie beobachtete. »Warte nur ab, kleine Katharina«, zischte Thomas leise, »eines Tages werde ich dich von mir überzeugen, wir werden heiraten und Kinder bekommen.« Er spuckte ins Gras, dann nahm er die Arbeit wieder auf. Er würde Katharina Zeit lassen, keinen Druck ausüben und auf die passende Gelegenheit warten, um sich in ihrem Leben unentbehrlich zu machen. So leicht ließ er sich nicht abspeisen.

*

Spät am Abend hatte Katharina es sich auf dem Bett ihrer einfach eingerichteten Kammer bequem gemacht. Die Räume der Bauernfamilie und die der Mägde lagen im Wohnhaus des Hofes, während die Knechte und die Tagelöhner eng zusammengepfercht in ärmlichen Kammern hausten, die gleich neben den Stallungen lagen.

Thomas hatte man eine bescheidene Kammer in einem der Ställe, gleich über dem Vieh, zugeteilt. Auf dem Zwischenboden des Stalls war er immer in der Nähe der Milchkühe und konnte Tag und Nacht nach dem Rechten sehen, wenn es einem der Tiere nicht gut ging. Gerade fand Katharina den Gedanken, ihn nicht im Wohnhaus zu wissen, beruhigend. Der Knecht war auf eine seltsame Weise aufdringlich, seine Absichten waren leicht zu durchschauen.

Beruhigt lehnte Katharina sich zurück. Um diese Zeit herrschte Stille im Wohnhaus, und Katharina nutzte die ruhige Stunde, um ein wenig zu lesen. Die kleine Petroleumlampe auf dem Nachtschränkchen verbreitete einen anheimelnden Lichtschein. Auf ihrem Schoß lag Der grüne Heinrich von Gottfried Keller, einem Schweizer Dichter. Obwohl sie die Geschichte des jungen Mannes, der dem bürgerlichen Leben entfliehen wollte, um Künstler zu werden, faszinierte, gelang es Katharina nicht, sich auf den Inhalt des Romans zu konzentrieren. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem eigenartigen Gespräch mit ihrem Vater auf dem Feld zurück. Hatte er ernsthaft geglaubt, dass sie Thomas heiraten würde, um das Fortbestehen des Hofes zu sichern?

Der Gedanke daran betrübte sie. Schon als kleines Mädchen hatte sie ihren Vater abgöttisch geliebt, ihm immer versprochen, auf dem Hof anzupacken wie ein Mann, wenn sie erst einmal alt genug dazu war. Und in all den Jahren hatte sie ihn nie enttäuscht. Der Hof lief gut, das war der Lohn für all den Fleiß, und Vater würde noch in diesem Jahr mit der Erweiterung beginnen. Und dennoch träumte Katharina an manchen Tagen vom unbeschwerten Leben in der Stadt. All ihre Schulfreundinnen waren weggezogen aus Clarholz, dem kleinen Dorf in Ostwestfalen. Früher waren sie gemeinsam durchs Dorf gezogen. Heute waren sie längst erwachsen und lebten jetzt in Paderborn und Bielefeld, zwei ihrer besten Freundinnen sogar in Berlin und in Köln. Katharina fühlte sich, als wäre sie die Letzte, die hier in der ostwestfälischen Provinz versauern würde. Der Glanz und die Lichter einer großen Stadt – wie wundervoll musste es sein, im Trubel der Urbanität leben zu dürfen. Doch davon war Katharina weit entfernt. Ihr Lebensweg stand fest: Eines Tages würde sie heiraten und an der Seite ihres Mannes den elterlichen Hof weiterführen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Oder gab es auch für sie die Möglichkeit, ein anderes Leben zu führen? Manchmal beneidete sie die Mädchen aus der Nachbarschaft, die nach der Schule und einer Lehre nichts mehr im dörflichen Clarholz gehalten hatte. Berlin, München, Hamburg, alles große Städte, in die sie gern einmal reisen würde. Doch wenn es ihr so erging wie ihrer Mutter, dann würde sie für solche Reisen gar keine Zeit finden. Der Hof wollte unterhalten, das Vieh versorgt werden. Es war undenkbar, die Arbeiter auch nur ein paar Tage zurückzulassen. Sie würde da sein müssen für den Zumwinkel-Hof, komme, was wolle. Ihr Vater hatte klargemacht, dass er schon daran dachte, ihr den Hof zu übergeben. Nicht zuletzt auch wegen ihrer Mutter. Theresa war lungenkrank, sie vertrug keinen Staub, und davon gab es auf dem Hof eine Menge. Schlimme Hustenattacken überkamen sie mit zunehmender Regelmäßigkeit. Bei den letzten Anfällen hatte sie sogar Blut gespuckt und über Herzschmerzen geklagt. Ein paar Tage hatte sie, unfähig zu arbeiten, das Bett gehütet. Die Ärzte waren ratlos, ihnen blieb nichts, außer Theresa zu empfehlen, an die See zu fahren. Die Luft dort, betonten sie immer wieder, würde eine Wohltat für sie sein. Doch den Hof zu verlassen, das kam Theresa nicht in den Sinn. Lange würde sie es hier nicht mehr aushalten können, und Bernhard machte keinen Hehl daraus, dass ein Leben als Bauer ohne seine Frau für ihn undenkbar war.

Aber deshalb musste er Katharina doch keinen Mann aufzwingen, der ihr gar nicht gefiel, dachte sie empört. Eines Tages würde ihr schon der Richtige begegnen, davon war sie überzeugt. Doch noch war es nicht so weit, und Thomas war es ganz bestimmt nicht. Katharina wusste, dass Lina ein Auge auf ihn geworfen hatte. Ihr konnte es nur recht sein, doch Thomas interessierte sich nicht im Geringsten für die Magd. Katharina kam ihr Einfall vom Vormittag wieder in den Sinn. Vielleicht, so überlegte sie, konnte sie dem Glück von Lina, mit der sie freundschaftlich verbunden war, ein wenig auf die Sprünge helfen. Ein spitzbübisches Lächeln legte sich auf Katharinas Lippen, als sie die Idee reifen ließ. Gleich morgen früh würde sie mit ihrer Mutter sprechen. Sicherlich hatte Theresa keine Bedenken, den Plan ihrer Tochter zu unterstützen. Manchmal, dachte Katharina, muss man der Liebe Beine machen. Und sie würde auch davon profitieren, wenn Lina den Knecht von sich überzeugen konnte.

Energisch schlug Katharina das Buch zu und kletterte aus dem Bett. Die Wände ihrer Kammer wirkten heute besonders eng und es schien, als würden sie Katharina erdrücken wollen. Barfuß und im Nachthemd trat sie ans Fenster, um es zu öffnen. Es war eine sommerlich-milde und sternklare Nacht. In der Ferne hörte sie die Grillen zirpen. Katharina lehnte sich aufs Fensterbrett und genoss den Blick über die umliegenden Felder und den Waldrand, der sich als tiefschwarzer Kamm in der Ferne von den seichten Hügeln abhob. Dies war ihre Heimat, hier war sie aufgewachsen, hier lebte sie, und hier würde sie sterben. Was fehlte, war wohl tatsächlich ein Mann an ihrer Seite, dachte sie mit einem sehnsüchtigen Seufzer. Warum bin ich nicht schon eher auf die Idee gekommen, die beiden zu verkuppeln?, fragte sie sich, als sie das Fenster schloss, um sich wieder ins Bett zu legen. Die leichte Bettdecke umschmeichelte ihre Schultern, als sie sich ein letztes Mal aufrichtete, um das Licht zu löschen, dann sank sie mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck in das Kissen zurück. Es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.

Kapitel 5

Der nächste Morgen begann für Lina mit Herzklopfen. Sie konnte es kaum erwarten, Thomas beim Frühstück wiederzusehen. Vielleicht ergab sich ja heute die Gelegenheit, ein Gespräch mit ihm anzufangen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Fieberhaft überlegte Lina, wie sie es anstellen konnte.

Eilig wusch sie sich mit kaltem Wasser, dann kleidete sie sich an und zog die dunkelblaue Schürze über. Das Klappern von Geschirr drang gedämpft an ihre Ohren. Theresa schien schon fleißig zu sein. Lina beeilte sich, schüttelte das Bett auf und machte, dass sie an die Arbeit kam. Als sie kurz darauf die Küche betrat, war Theresa bereits damit beschäftigt, Kaffee und Tee zu kochen. Auch Brot hatte sie schon gebacken, in der Küche duftete es herrlich. Die Sonne warf goldene Lichtbahnen in den Raum.

»Guten Morgen«, sagte Theresa mit einem mütterlichen Lächeln, als Lina näher trat. Die junge Magd bemerkte voller Sorge, dass es der Bäuerin heute nicht gut zu gehen schien.

»Morgen, Theresa«, erwiderte sie den Gruß und ließ ihren Blick über den großen Tisch gleiten. »Zu früher Stunde schon so fleißig?«

»Ja.« Theresa nickte. »Ich konnte nicht mehr schlafen und habe schon angefangen.«

Im Ofen prasselte ein munteres Feuer. Der Rauch breitete sich unheilvoll in der Küche aus und reizte Linas Atemwege. Auch der Bäuerin schien das zu schaffen zu machen. Sie atmete schwer und hustete immer wieder. Lina trat ans Fenster, um es zu öffnen. »Hier«, sagte sie an Theresa gewandt, »stell dich einen Moment ans Fenster und hol tief Luft, ich kümmere mich inzwischen um das Frühstück.«

Theresa lächelte ihr dankbar zu.

»Geht es dir nicht gut heute?«, fragte Lina besorgt und schob Theresa einen Stuhl hin. Mit einem knappen Kopfschütteln setzte sich die Bäuerin. Ihr Gesicht wirkte aschfahl. Der Blick der stämmigen Frau glitt kurz ins Leere, dann sah sie zu Lina auf.

»Ich habe schlecht Luft bekommen«, sagte sie leise.

»Wir müssen das Fenster immer öffnen, wenn wir kochen.« Lina nickte verständnisvoll. Zwar hatte es in der Nacht einen kurzen Schauer gegeben, doch offenbar hatte der nicht zur Verbesserung der Luft beigetragen. Jetzt war es wieder sommerlich warm und die Luft stickig.

Theresa zuckte die Schultern. »Die verdammte Lunge«, keuchte sie. »Aber ich will nicht klagen, Mädchen, das Leben geht weiter, und die Arbeiter brauchen ein gutes Frühstück, um Kräfte für ihr Tagwerk zu sammeln.«

»Du solltest dich schonen.«

»Ich weiß, Kind, ich weiß.«

Lina machte sich daran, den Tisch zu decken. »Ich übernehme das hier.«

»Aber gleich wirst du abgelöst.« Jetzt huschte der Ansatz eines geheimnisvollen Lächelns über Theresas Mundwinkel.

»Was hat das zu bedeuten?« Lina runzelte die Stirn.

»Du gehst heute mit den Arbeitern aufs Feld.«

»Warum das? Du brauchst mich doch hier!«

»Katharina wird dich vertreten.«

Langsam ahnte Lina, warum Katharina mit ihr getauscht hatte. Die Tochter der Bäuerin wusste von ihrer Zuneigung zum Knecht. Und der Gedanke, den bevorstehenden Arbeitstag mit Thomas auf dem Feld zu verbringen, hatte durchaus seinen Reiz. Lina beschloss, sich bei der nächsten Gelegenheit bei Katharina zu bedanken. Doch jetzt galt es erst einmal, das Frühstück vorzubereiten. Je länger Lina darüber nachdachte, umso besser gefiel ihr die Vorstellung, dass sie heute in der Nähe des attraktiven Knechts arbeiten würde. Es störte sie auch nicht im Geringsten, dass sie in der Hitze des Spätsommers schwere körperliche Arbeit verrichten und abends sicher mit Schwielen an den Händen heimkehren würde.

Ihr Herz klopfte vor Aufregung und Vorfreude, und sie konnte es kaum erwarten.

*

Aurora, das graubraune Maultier, schnaubte und entlockte Katharina ein Lächeln. Die Gute war geduldig, mitunter ein wenig dickköpfig. Auf dem Feld verrichtete Aurora schon seit ein paar Jahren treue Dienste. Jetzt glänzte ihr fast schwarzes Fell in der Morgensonne. Nachdem die Arbeiter ihre Heugabeln, Sicheln und Sensen auf den Ackerwagen geschoben hatten, bildeten sie eine Traube hinter dem Fuhrwerk. Sie unterhielten sich leise, um ihre Aufgaben abzusprechen.

Katharina führte das Maultier. »Komm schon«, flüsterte sie in Auroras großes Ohr. Sanft zog sie an dem Strick, den ihr Vater am Geschirr des Tiers befestigt hatte. Nachdem Katharina mit der Zunge geschnalzt hatte, fügte sich Aurora und trabte langsam los. »Braves Mädchen«, lobte Katharina zufrieden. Die Radreifen am Leiterwagen knirschten auf dem Pflaster des Hofes. Bernhard Zumwinkel hatte noch nichts von Katharinas und Linas Tausch mitbekommen – er war mit einem Viehhändler verabredet, dem er die dicke Bertha, eine prächtige Muttersau, verkaufen wollte, und würde erst später aufs Feld kommen.

»Kann es losgehen?« Thomas war fast lautlos zu Katharina getreten. Als sie sich zu ihm umwandte, grinste er jungenhaft und rieb sich voller Tatendrang die Hände. Doch seine Art, Katharina anzusehen, hatte etwas Unsympathisches.

»Sicher.« Katharina nahm sich zusammen. Sie erwiderte sein Lächeln und suchte in der Truppe nach Lina. Die schüchterne Magd hielt sich im Hintergrund auf, so, wie sie es besprochen hatten. Thomas schien sie noch nicht bemerkt zu haben. Jetzt, als Katharina ihr ein Zeichen gab, näherte sie sich der Truppe der Feldarbeiter. Sie wirkte unentschlossen und scheu, als sie auf die beiden zukam. Thomas betrachtete sie mit einem schwer zu deutenden Blick, schwieg aber. Offenbar hatte er Mühe, sich die Überraschung über Linas Anwesenheit nicht anmerken zu lassen. Erfreut schien er jedenfalls nicht zu sein, doch davon ließ Katharina sich nicht verunsichern. »Bist du bereit?«, fragte sie die Magd.

»Ja.« Lina nickte und ließ sich von Katharina den Strick in die Hand drücken, mit dem sie das Maultier vom Hof führte. »Es kann losgehen.«

Aus dem Augenwinkel sah Katharina, wie sich die Miene des Knechts schlagartig verfinsterte. Er näherte sich mit großen Schritten. »Hast du mal einen Moment?«

Katharina nickte. Es war offensichtlich, dass es ihm nicht gefiel, dass Lina an ihrer Stelle für die Feldarbeit eingeteilt war. »Natürlich.«

Thomas zog sie einen Schritt zur Seite. »Was soll das, Katharina? Ist das dein Ernst?«, fragte er, als sie sich außer Hörweite der anderen befanden.

»Wovon redest du?« Katharina runzelte die Stirn und stellte sich dumm. Der Tross hatte inzwischen die Landstraße erreicht und setzte sich in Richtung der Felder in Bewegung. Thomas und Katharina blieben stehen.

»Lina«, zischte Thomas. »Warum ist sie für die Ernte eingeteilt worden?«

»Damit sie mal aus der Küche rauskommt und etwas Neues lernt.« Katharina hatte nicht vor, sich zu rechtfertigen. »Sie muss noch viel lernen und ist mehr als eine Küchenmagd.« Ihrer Familie gehörte der Hof, und dem hatte Thomas sich unterzuordnen, ob ihm das gefiel oder nicht.

Thomas seufzte und blickte zum Himmel hinauf. »Sie stellt mir nach«, behauptete er. »Sie himmelt mich an und lässt keine Gelegenheit aus, in meiner Nähe zu sein.«

Nun musste Katharina lachen. »Meinst du nicht, dass du ein bisschen eingebildet bist?«

Thomas ging nicht auf ihre Frage ein. »Es ist so«, beteuerte er mit verbitterter Miene. »Katharina, was soll ich mit einer Küchenmagd bei der Ernte?«

»Das habe ich dir eben schon erklärt.«

»Sie hat keinen blassen Schimmer von der Feldarbeit«, versicherte Thomas ihr.

»Dann lernt sie es.« Katharina hatte keine Lust mehr, mit ihm zu streiten. »Sie wird euch heute begleiten, daran gibt es nichts zu rütteln. Ich bin sicher, dass sie eine Menge von dir lernen wird, Thomas.« Katharina hielt seinem bohrenden Blick stand.

Thomas dachte einen Augenblick nach. Sein Gesicht hatte eine tiefrote Färbung angenommen. »Ich werde deinem Vater sagen, dass …«

»Das musst du nicht«, fuhr Katharina ihm ins Wort. »Ich werde gleich mit ihm sprechen, lass das meine Sorge sein.«

»Also gut«, zischte Thomas. Er ließ Katharina stehen und stapfte wütend hinter der Truppe her.

»Beeilung«, rief er und klatschte in die Hände. »Heute wird ein langer, harter Tag, es gibt viel zu tun.«

Katharina schüttelte den Kopf. Sie hoffte, dass er sich trotz seiner Wut als guter Großknecht erwies. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie an das bevorstehende Gespräch mit ihrem Vater dachte. Bernhard oblag es, die Arbeiter einzuteilen, und er ließ sich nur ungern in seine Entscheidungen hereinreden. Schnell verdrängte Katharina den Gedanken und machte, dass sie ihrer Mutter in der Küche zu Hilfe eilte. Heute gab es viel zu tun, denn später würden die Maurer anreisen.

*

Thomas raste vor Wut. Ihm war klar, dass Katharina ihm Lina zur Feldarbeit eingeteilt hatte, damit sie in seiner Nähe sein konnte. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass Lina ein Auge auf ihn geworfen hatte. Doch für ihn war es keine Option, sich mit einer Magd einzulassen. Zwar war Lina ein hübsches Mädchen, doch sie reizte ihn nicht. Längst schon hatte er sich für die Tochter des Bauern entschieden. Und je mehr Lina sich ihm anbiederte, umso größer wurde seine Abneigung. Thomas nahm sich vor, Lina das ab sofort auch spüren zu lassen. Er verfolgte ein Ziel, und dabei konnte er sie nicht gebrauchen.

*

Linas Herz klopfte wie verrückt, als sie sich dem Feld näherten. Heute stand die Kornernte an, denn das Vieh des Zumwinkel-Hofes wurde mit Futter aus eigenem Anbau ernährt. Zunächst war unklar, ob sie nach dem nächtlichen Regenschauer das Korn einfahren konnten, doch die Ernte hatte nicht gelitten. Die Sonne brannte schon wieder gnadenlos vom Himmel und hatte das Korn rasch getrocknet.

Kurz blieb Lina stehen, um die Umgebung zu betrachten. Das Feld war gesäumt von Buschwerk und stieg seicht bis zum Waldesrand an. Dunkle Tannen bestimmten das Bild, in den Wipfeln der wenigen Laubbäume zwitscherten die Vögel. Eine herrliche Idylle, wäre da nicht die körperlich anstrengende Arbeit, die ihr bevorstand. Sie hatte mitbekommen, dass Thomas beim Aufbruch noch mit Katharina gesprochen hatte. Für Lina hatte es nach einem Streit ausgesehen, doch sicher war sie nicht. Sie verdrängte die düsteren Gedanken und versuchte, sich auf den bevorstehenden Arbeitstag vorzubereiten. Ein wenig aufgeregt war sie schon – nicht nur wegen Thomas, sondern weil sie noch nie auf dem Feld gearbeitet hatte.

»Was ist?«, hörte sie die Stimme des Knechts aus der Ferne. »Bist du eingeschlafen, oder nimmst du das Arbeitstempo des Maultieres zum Vorbild?« Mit großen Schritten näherte er sich ihr.

Lina fuhr zusammen. So aufgebracht hatte sie Thomas noch nicht erlebt. Er schien wütend auf sie zu sein. »Ich komme ja schon«, antwortete sie kleinlaut und sorgte dafür, dass der Leiterwagen wieder Fahrt aufnahm. Brav trabte Aurora an ihrer Seite.

»Wir haben keine Zeit zum Trödeln, denn hier«, Thomas machte eine ausladende Geste mit den Armen über die Felder, »hier wird wirklich gearbeitet.«

»Schon gut«, murmelte Lina enttäuscht über die grobe Art des Knechts. Schweigend legten sie den Rest des Weges zum Feld zurück. Lina spürte, dass Thomas sie nicht aus den Augen ließ. Dabei erkannte sie in seinem Blick eine Kälte, die ihr unheimlich war. Unwillkürlich fragte sie sich, was mit ihm los war, fand jedoch keine Antwort und beschloss, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen. Vielleicht bot sich später noch eine passende Gelegenheit, mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Der Tross hatte das Feld erreicht, das es heute zu bestellen galt. Kaum dass Lina den Ackerwagen zum Stehen gebracht hatte, machten sich die Schnitter daran, ihre Werkzeuge von der hölzernen Ladefläche zu ziehen. Thomas war als Großknecht in Bernhards Abwesenheit für die Gruppe der Arbeiterinnen und Arbeiter verantwortlich. Lina stellte fest, dass er sich sichtlich wohl in seiner Rolle fühlte. Mit knappen Anweisungen teilte er die Männer und Frauen ein. Dann wandte er sich an sie. »Und du bleibst hier und bindest das Korn zu Garben«, wies er sie an. Etwas Abweisendes lag in seiner Stimme. Vergeblich suchte Lina das warme Leuchten seiner Augen und den Ansatz seines jungenhaften Lächelns. Sie wurde nicht schlau aus ihm.

»Kannst du mir erklären, was zu tun ist?«, wagte sie einen zögerlichen Versuch.

Er betrachtete sie amüsiert. »Ich habe anderes zu tun, aber ich werde ein paar Arbeiterinnen bitten, sich um dich zu kümmern.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab.

»Thomas?«

Er blieb wie angewurzelt stehen. »Was?«, fragte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Fragen?«

»Nein.« Sie senkte traurig den Kopf.

»Na dann – auf an die Arbeit.« Er wandte sich nun doch um, nickte ihr knapp zu, schulterte die Sense und ging an den Rand des Feldes. Die anderen Schnitter folgten ihm. Lina beobachtete die Männer. Thomas schritt voran und hieb die Sense in gleichmäßigen Bewegungen durch die Halme.

Das war wohl nichts, dachte Lina enttäuscht. So gut ihr Katharinas Idee auch gefallen hatte – der Plan war nicht aufgegangen. Thomas interessierte sich nicht für sie. Lina stellte resigniert fest, dass sie wohl zu viele Hoffnungen in den Tausch gesetzt hatte. Ich schufte hier draußen, während er mich wieder mit Missachtung straft.

*

»Und du bist sicher, dass es eine gute Idee war, Lina mit aufs Feld zu schicken?« Zweifel lagen in Theresas Stimme. Sie saß am Küchentisch und betrachtete ihre Tochter.

»Natürlich war das eine gute Idee.« Katharina nickte voller Überzeugung. Sie bereitete das Mittagessen vor, während ihre Mutter Möhren und Kartoffeln für die stärkende Mittagssuppe schnitt. Im gleichmäßigen Takt fuhr die Klinge des Küchenmessers auf das Schneidebrett nieder.

»Sie werden sich näher sein, und Thomas ist als Großknecht für die ganze Truppe zuständig, also kann er Lina schlecht ignorieren«, bekräftigte Katharina.

»Was sagt eigentlich dein Vater dazu, dass ihr heute die Aufgaben getauscht habt?« Theresa warf die geschnittenen Möhren in die Tonschüssel, dann widmete sie sich den Kartoffeln.

»Er wird es heute Abend erfahren«, erwiderte Katharina ausweichend. »Wenn ich den Arbeitern das Mittagessen bringe, werde ich ja sehen, wie es den beiden auf dem Feld ergeht.«

»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen«, warnte Theresa sie. »Thomas hat keinerlei Interesse an unserer Magd, daran wird auch der heutige Tag nicht viel ändern, fürchte ich.«

»Wir werden sehen.« Katharina wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Sie war guter Dinge, dass Lina dazu imstande war, Thomas von sich zu überzeugen. Sie war ein lieber Mensch, stets fleißig und dazu alles andere als hässlich. Katharina jedenfalls war sich sicher, dass sie ihn nicht erhören würde. Hatte ihr Vater ihm etwa schon Hoffnungen auf das Erbe des Hofes gemacht? Dann hatte er die Rechnung ohne Katharina gemacht. Lieber würde sie auf das Erbe verzichten, als einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte.

Kapitel 6

Und hier werden wir die nächsten Tage verbringen?« Missmutig betrachtete Carl Thiele den Bauernhof am Rand von Clarholz, der in den Augen des jungen Mannes einen etwas heruntergekommenen Eindruck machte. Längst blätterte die braune Farbe vom Holz des hölzernen Tragwerkes, auch der einst weiße Kalkmörtel der Gefache hatte seine strahlende Reinheit verloren. Die Wetterseite des zweigeschossigen Wohngebäudes war mit Brettern vor Schlagregen geschützt.

»Wochen, Junge, wir werden die nächsten Wochen hier leben«, korrigierte ihn sein Vater mit einem milden Lächeln auf den Lippen.

»Hier – mitten im Nirgendwo?« Der Hof befand sich an der Landstraße, die ein Stück weit parallel zum Axtbach verlief und die Ortschaften Clarholz und Beelen miteinander verband.

Carl wurde das Gefühl nicht los, dass der Auftraggeber nicht sonderlich zahlungskräftig war. Vermutlich würden sie für die Zeit der Arbeiten in einem der Ställe nächtigen müssen. Als er seine Bedenken aussprach, winkte sein Vater belustigt ab.

»Wir sind es doch gewohnt, beim Vieh zu schlafen, Junge.« Gerhard Thiele rang sich ein Grinsen ab. Er hatte den Maurerbetrieb von seinem Vater übernommen. Nebenbei betrieb die Familie noch einen kleinen Bauernhof auf dem ehemaligen Posthof in Herzebrock, doch die Aufträge des Maurerbetriebs sicherten der Familie das Auskommen. »Wir sind hart im Nehmen und werden es auch überleben, im Stall zu nächtigen.«

»Warum kehren wir abends nicht nach Hause zurück?«, versuchte es Carl mit wehleidigem Blick. »Ich meine … so weit liegen Herzebrock und Clarholz doch nun wirklich nicht auseinander.«

»Weil wir so viel Zeit sparen, Junge. Jeden Morgen anzureisen, um spätabends für ein paar Stunden Schlaf nach Hause zu fahren und am nächsten Morgen schon wieder vor dem ersten Hahnenschrei herzukommen, erschien mir nicht sehr sinnvoll.« Gerhard klopfte seinem Sohn aufmunternd auf die Schulter. »Wir haben freie Kost und Logis – was wollen wir mehr?«

»Welch verlockende Aussichten«, stöhnte Carl kopfschüttelnd. Hätte er das gewusst, wäre er lieber in Herzebrock geblieben, um der Mutter auf dem Hof zu helfen. Doch sein Vater setzte große Hoffnungen in ihn. Eines Tages, so wünschte es sich Gerhard, sollte Carl die Meisterprüfung ablegen, um den Maurerbetrieb zu übernehmen. Doch noch war es nicht so weit. Außerdem hatte Carl andere Pläne, als sein Leben damit zu verbringen, Ställe zu mauern. Er träumte vom Leben in der Stadt, um dort imposante Bauwerke zu errichten. Die Welt befand sich im Umbruch, alles wurde größer, schneller und moderner. Da fehlte es sicher überall an geeigneten Gebäuden. Mit dem Baugeschäft würde er die Gesichter der modernen Städte mitgestalten.