Das Kind - Mirjam Richner - E-Book

Das Kind E-Book

Mirjam Richner

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Beschreibung

«Inspiriert von Peter Bichsel habe ich begonnen, Dinge umzubenennen; ich habe dem Kind eine Vielzahl alltäglicher Wörter mit entfremdeter Bedeutung beigebracht. Doch ich befürchte, dass das Kind intelligent ist, eines Tages in die Welt hinausgeht und innert Stunden die Sprache lernt, die ich ihm nie vermitteln wollte. Die jahrelange Mühsal wäre umsonst gewesen, ein Hohn wäre das, ein Grund mehr, das Kind zu zerbrechen, ihm eine unüberwindbare Angst vor dem Lernen einzuimpfen und sein Gehirn zu blockieren, nachdem es sich am Fehlwissen satt gefressen hat.» [Aus: Das Kind] Mirjam Richner erzählt teilweise verstörende Geschichten mit gnadenlosem Humor. Das unterhaltsame und geistig anregende Werk dreht sich um soziale Experimente, Chancen, Verluste und weittragende Entscheidungen.

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Inhaltsverzeichnis

Wintergoldhähnchen

Kapseln

Hünja und Kunja

Das Kind

In einem Zug

Vater

Gott im Wirtshaus

Sonntagssprache

Giuseppe Favelli

Pulloverhaftigkeit

Wintergoldhähnchen

Walter Neukomm hätte vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen, hätte ihn nicht das Telefonat mit Ruth so sehr aufgewühlt.

Zu beiden Seiten des Waldweges ragten majestätische Bäume auf, deren Kronen etwas Sonnenlicht durchschimmern liessen, sodass der Boden mit goldenen Flecken gesprenkelt war. Vogelstimmen vereinten sich zum Konzert, die Temperatur war lau, man spürte einen Windhauch – bestimmt Föhn, da sich der Luftzug angenehm warm anfühlte –, und ein schwer zu beschreibender Friede hatte sich über die Natur gelegt.

Neukomm schritt zügig voran, atmete gierig die aus würzigen, für ihn aber nicht zuordenbaren Düften bestehende Waldluft ein und murmelte ab und zu Unverständliches. In Gedanken rekapitulierte er das Gespräch mit Ruth; im Kopf fanden sich – wie immer in solchen Situationen – erst nachträglich raffinierte Antwortsätze zu einem ausdrucksstarken, reifen Gebilde zusammen, das nichts mit den gestammelten, defensiven Sätzen des tatsächlich geführten Gesprächs gemein hatte.

Ab und zu kickte Neukomm Tannenzapfen zur Seite, was mehrfach dazu führte, dass er aus dem Tritt geriet und ein Stolpern jeweils nur um Haaresbreite verhindern konnte.

Er wünschte sich, er könnte ein anderer sein, ein grosser Mann womöglich, mit dichtem Bartwuchs; ein Mann, den man sähe und sofort für relevant und kompetent hielte, noch bevor er ein Wort sagen würde. Es müsste ihm ein Zauber anhaften, der die Gesten geschickt und die Worte geistreich erscheinen liesse, ganz von selbst, ohne die Anstrengung, die er von Kindesbeinen an täglich verspürt hatte und die ihn mittlerweile völlig ausgelaugt zurückliess.

Gedankenversunken steuerte Neukomm auf eine grosse Lichtung zu.

Es war der leise, aber doch gut vernehmbare und sich klar von den Vogelstimmen abhebende Singsang, der ihn den Kopf heben liess. Auf der Lichtung befanden sich gut vierzig Leute, Männer und Frauen, alle bis auf zwei mit dem Rücken zu Neukomm.

Beim Anblick ihrer Aufstellung musste Neukomm unwillkürlich an die Verteilung der Härchen bei Ruths Augenbrauenbogen denken: Die Menschen kauerten in einer geschwungenen Linie auf dem Boden, auf der einen Seite mehrreihig, sich zum andern Ende des Bogens hin jedoch zahlenmässig ausdünnend, nicht mehr so dicht beieinander und nur noch einreihig.

Sie waren ausnahmslos dunkel gekleidet. Einigen hing prächtig glänzendes Haar über die Rückenpartie.

Neukomm blieb wie angewurzelt stehen und starrte zu den beiden Männern, deren Gesichter ihm zugewandt waren. Der eine sagte etwas, und all die kauernden Menschen hielten in ihrem Gesang inne und wandten sich mit synchron verlaufenden Bewegungen zu Neukomm um.

«Lasst euch nur nicht von mir stören!», hätte ein Walter Neukomm, dem der zuvor beschriebene Zauber eigen gewesen wäre, mit lauter, ruhiger Stimme und einem selbstbewussten Kopfnicken gesagt und wäre weitergegangen. Der reale Neukomm aber blickte verlegen zu diesen Menschen, wollte sich dann abwenden und den eben abgeschrittenen Weg zurückgehen, erstarrte jedoch in der Bewegung, als einer der beiden Männer eine Pistole auf ihn richtete.

War die Waffe echt? Neukomm wusste es nicht. Der Brustkorb wurde von einem seltsamen Gefühl dominiert; Neukomm hätte es nicht direkt als schmerzhaft beschrieben, jedoch durchaus als äusserst unangenehm.

Das Atmen fiel ihm schwer, das Herz schien zwischen zwei kalten Metallplatten eingespannt zu sein, den Magen erfüllte ein Kribbeln, das ihn halb verrückt werden liess. Die Beine fühlten sich an wie Holzpflöcke; die Kniegelenke waren arretiert.

Neukomms Miene hingegen konnte man nicht viel entnehmen; die Gesichtszüge waren aufgrund schlechter Erfahrungen seit dem Jugendalter tief verhärmt.

«Ich habe nichts gesehen», beteuerte Neukomm mit dünner Stimme just in dem Moment, als ein Singvogel zu einem fröhlichen und gut hörbaren Triller ansetzte und damit die Worte übertönte.

Der Bewaffnete winkte Neukomm mit der Pistole zu sich heran, und Neukomm schritt in dem ungelenken Gang, den seine Knie diktierten, auf ihn zu.

Im Gehen setzte Neukomm erneut an: «Wer seid ihr?»

Und wiederum, als würde er ihn verhöhnen wollen, stimmte der Vogel zum Reviergesang an. Ein Wintergoldhähnchen? Neukomm drehte irritiert den Kopf, verrenkte sich fast den Hals, um das Tier zu erspähen, doch er sah den Vogel nicht. Stattdessen stolperte er und stürzte.

Als er sich erheben wollte, fiel ein Schatten über ihn; es war der Bewaffnete, der ihm die behandschuhte Linke entgegenstreckte, um ihm auf die Beine zu helfen. Neukomm ergriff die Hand, zog sich hoch und bedankte sich.

Der Mann sagte ein langes, fremdländisch klingendes Wort, das Neukomm sofort, nachdem er es gehört hatte, wieder vergass.

«Wir glauben an die Wiedergeburt», erklärte der Bewaffnete und vollführte eine Handbewegung, welche die kauernden Menschen und auch seinen stehenden Kollegen einschloss.

«Schön», sagte Neukomm höflich, und der Singvogel schwieg ausnahmsweise, als hätte er geahnt, dass nur eine Belanglosigkeit Neukomms Mund verlassen würde.

«Wir glauben an die Wiedergeburt», murmelten die Kauernden, jede Silbe langziehend, monoton.

«Und wir sind hier, um gemeinsam unser irdisches Dasein zu beenden und in eine neue Existenzform einzutreten.»

«In eine neue Existenzform einzutreten», wiederholte der Sprechchor.

«Aha», sagte Neukomm.

Die Menschen drehten sich in die ursprüngliche Position zurück. Auch dieses Mal verliefen die Bewegungen synchron; wie von einem einzigen Bewusstsein gesteuert. Der Bewaffnete zog Neukomm am Ellenbogen vor die Gruppe.

Dann trat er an einen jungen Mann heran, der rechts aussen positioniert war und schoss ihm in die Stirn. Obwohl der Knall ohrenbetäubend laut war, zuckte ausser Neukomm keiner zusammen. Der junge Mann kippte nach hinten.

Die Vogelstimmen setzten aus.

«Ich habe nichts gesehen», sagte Neukomm. Diesmal klang die Stimme fest und klar. Doch es war ihm, als hätte sich das Gehirn in Quecksilber verwandelt, das bei jeder Kopfbewegung unangenehm träge hin und her schwappte und ihn von innen heraus langsam vergiftete.

«Ihre Position ist hier», sagte der Bewaffnete und deutete mit dem Pistolenlauf auf eine Stelle etwa in der Mitte des Bogens. Zwei der Kauernden rückten etwas auseinander, um Neukomm Platz zu machen.

«Nein», sagte Neukomm freundlich, während das Quecksilber im Innern stieg, «nein, ich muss nach Hause.»

Der Bewaffnete schüttelte mit bedauerndem Gesichtsausdruck den Kopf und meinte mit einer Freundlichkeit, welche jener von Neukomm in nichts nachstand: «Nein, das müssen Sie nicht.»

«Wie heissen Sie?», fragte Neukomm, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

Der Mann nannte einen fremdländischen Namen, der in Neukomms Ohren fast wie «Ruth» klang, jedoch nicht ganz; das U war weniger klar, eher ein nasales A.

Der monotone Singsang setzte wieder ein.

Neukomm zuckte mit den Schultern und ging zur freigewordenen Stelle. Die Kniegelenke schienen plötzlich ihre Funktionalität zurückgewonnen zu haben, und Neukomm kauerte nieder.

Da sein Gleichgewichtssinn stark unterentwickelt war, brauchte er beide Hände zum Abstützen. Von weitem wirkte er wie ein Sprinter, der sich in Startposition gebracht hatte.

Der Bewaffnete erschoss die nächste Person; eine Frau mit schönem, langem Haar. Der zweite Mann stand weiterhin unbeteiligt da – Neukomm hätte zu gerne gewusst, was die Rolle dieses Menschen war.

Ab dem dritten Schuss zwang sich Neukomm, die anderen zu imitieren und nicht mehr auf die Szenerie zu schauen. Auch stimmte er in den Singsang ein. Nach weiteren Minuten traute er dem Gleichgewichtssinn bereits so sehr, dass er die eine Hand nicht mehr zum Stützen brauchte, sondern damit – genau wie die anderen dies taten – die Beine umschlang.

Einmal kippte ein Mann ohnmächtig um, noch bevor der Schuss ertönte; Neukomm nahm es aus dem Augenwinkel wahr.

Der Bewaffnete näherte sich der Mitte des Bogens. Neukomm wurde schmerzlich bewusst, dass er mit der sandfarbenen Flanelljacke sehr aus der Gruppe herausstach, und als der Bewaffnete schliesslich mit der Pistole auf Neukomm zielte, gebot dieser ihm mit einem entschuldigenden Lächeln und erhobener Hand Einhalt.

Langsam richtete sich Neukomm auf, entledigte sich in vollendeter Ruhe der Kleidung – das mentale Quecksilber war wieder gesunken – und legte sie ordentlich gefaltet auf den Waldboden. Die Kühle liess ihn frösteln, und zum ersten Mal seit Jahren hatte er eine Gänsehaut. Er ging zu einem der Toten hin, zog ihm den schwarzen Mantel aus – dies gestaltete sich schwieriger als erwartet; die Arme des Toten schienen sich absichtlich gegen die Entkleidung zu sperren – und hüllte sich darin ein.

Nun ging er wieder an den ihm zugewiesenen Platz zurück, lächelte dem Bewaffneten aufmunternd zu und wartete auf den Knall, der Sekunden später tatsächlich folgte.

Kapseln

Er habe in den Rebbergen im Elsass mit Adriana geschlafen, hat mir Edon erzählt, sie sei lange auf ihm geritten, während ihn Steinchen in den Rücken gestochen hätten.

Ich will mir das alles nicht vorstellen, ich brauche das nicht zu hören; mit fünfzehn interessiert einen so etwas nicht, oder vielleicht doch, aber mich nicht, zumindest nicht jetzt.

Man braucht nicht viel, denke ich und wische mir über die Wange; vielleicht schöne Schuhe und Menschen, die einen lieb haben. Irgendwelche Leute können das sein, ja, es müssen nicht unbedingt Mutter und Vater sein, auch andere können einen lieb haben, vielleicht sogar intensiver, weil sie nicht die Trotzphase miterlebt und auch nicht den Joint in der Nachttischschublade entdeckt haben.

Ich schäme mich.

Das Licht ist ausgegangen, und ich sitze auf dem Toilettendeckel und lausche den Geräuschen des Schulhauses. Es ist nicht komplett dunkel, das ist es nie. Manchmal rauche ich spätabends im Garten, und auch dann ist es nicht dunkel, so als würde sich die Dunkelheit doch nicht trauen.

Jemand kommt herein. Das Licht geht an. Ein Schnaufen, wie von einem Tier. Nilpferde sind gefährlich. Eine Kabinentür öffnet sich, schliesst sich, wird abgeriegelt. Klicken der Gürtelschnalle, Rascheln von Kleidung. Ein Stöhnen. Ich schlage mir die Hand vor den Mund; ein Kichern will sich mir entwinden, gleichzeitig bin ich beschämt. Niemand weiss, dass ich hier bin; man sieht im vorderen Bereich des Raumes nicht, dass diese Kabine besetzt ist.

Das Wasserlassen klingt gepresst, eilig, beschämt mich noch mehr; ich will das nicht hören, ich wünschte, ich hätte einen anderen Ort ausgesucht. Ein Seufzen, Spülung, Kleiderrascheln, Klicken der Gürtelschnalle, Aufschliessen der Tür.

Manche Menschen spülen sofort und ziehen dann erst die Hose hoch. Andere spülen erst kurz bevor sie die Kabine verlassen. Womit das zusammenhängt? Sind jene, die sofort spülen, krampfhaft ordentlich? Oder jene, die sofort die Hose hochziehen, körperfeindlich?

Ich frage mich, ob das Verhalten auf der Toilette mit der Sexualmoral zusammenhängt.

Sie verlässt den Raum. Ohne die Hände zu waschen. Ich stelle mir vor, wie sie den Türgriff umfasst und Bakterien überspringen. Nie wieder werde ich den Griff mit blossen Händen berühren.

Es verunsichert mich, dass ich etwas so Intimes von der Frau weiss. Von welcher Frau? Das weiss ich nicht. Eine Schülerin? Eine Lehrerin? Jemand mit Gürtel, soviel ist klar.

Bei physischem Schmerz schreien die Menschen. Als würde durch das Beanspruchen der Stimmbänder ein Teil des Schmerzes verdrängt. Beschlägt man Pferde, so fügt man diesen auch an anderer Stelle Schmerzen zu, zum Ablenken – das habe ich zumindest mal so gelesen.

Ich sollte schreien, vielleicht wird dadurch auch der innere Schmerz kleiner; ich könnte kotzen, ich möchte dünn sein und schön, ich möchte auf hohen Schuhen laufen können, und jemand müsste mich küssen, irgendwer, sonst sind die Lippen verschwendet.

Ich sei ein hübsches Mädchen, hat er gesagt.

Das Licht geht aus, ich bin bewegungslos, ich kapsle mich ab; ein Igel, ein Krebs, eine Schnecke, eine Muschel.

Hünja und Kunja

Bei der Geburt glich Kunja einem im letzten Moment geborgenen Verschütteten.

Nun, fünfzehn Jahre später, hatte sich an diesem Anblick wenig geändert; zwar war Kunja gewachsen und hatte an Gewicht zugelegt, doch noch immer war der Körper dürr und schwach.

Heftige Schmerzen dem Rückgrat entlang führten dazu, dass sich Kunja nur kriechend fortbewegen konnte.

Hünja war athletisch. Wie eine Katze ging er; majestätisch und kraftvoll. Wenn er durch das Dorf schritt, blickten ihm die Alten nach, und die Frauen umtänzelten und umschwärmten ihn, ohne je erhört zu werden.

Alle zwei Tage begaben sich Hünja und Kunja gemeinsam auf den Berg – Kunja kriechend, Hünja mit rücksichtsvoll langsamem Schritt –, um dem Einen unter den Göttern zu huldigen. Sie brachten Speisen und Tränke und manchmal auch steinerne Skulpturen (Hünja war ein begnadeter Steinmetz) und sprachen dem Einen ihren Dank aus für das Leben und das Essen, für die Musik und die Berge. Und der Eine unter den Göttern schaute mit Wohlgefallen auf die beiden jungen Männer.

Er sah Kunjas Leiden und rechnete es dem Mann hoch an, dass er sich nicht das Leben nahm.

Er sah Hünjas Blühen und freute sich darüber.

Die Menschen im Dorf lebten in der irrigen Annahme – es sei ihnen verziehen; der Mensch ist simpel –, der Eine unter den Göttern würde ausschliesslich auf dem Berg leben, hätte Seine Sinne nur dort platziert, und man müsste Ihn aufsuchen, um wahrgenommen zu werden.

In Wahrheit hatte der Eine unter den Göttern Seine Sinne fast überall. Sinneseindrücke holte Er sich, wie ein Chamäleon Insekten schnappt; die mentale Zunge schnellte hervor und griff Empfindungen im Flug aus der Hirn- und Herzregion der Menschen, und der Eine verspeiste diese Gefühlsregungen mit Hochgenuss. Die Selektion erfolgte willkürlich und versprach dadurch für den Einen einen grösseren Überraschungseffekt und variantenreichere Kombinationen, als selbst ein gefälliger Plan diese hätte hervorbringen können. Und die so Bestohlenen merkten meist nicht, dass ihnen ein Gefühl abhandengekommen war.

Es gab nur einen Ort, an den der Eine die mentale Zunge niemals hinschnellen liess; es war dies das Scheisshaus. Zu abstossend war die geistige Mixtur, die den Menschen an diesem Ort erwuchs; das Konglomerat aus unangenehmen Gerüchen mutierte nicht selten zu boshaften und meist unwahren Gerüchten, an denen der Eine sich nicht laben wollte.

Eines Tages begaben sich Hünja und Kunja zeitgleich zum Scheisshaus und führten dort eine gehaltvolle Konversation.

Hünja (mit geradem Rücken sitzend, das halblange Haar im Nacken zusammengebunden): «Kunja, du und ich, wir besuchen jeden zweiten Tag den Einen unter den Göttern und sprechen Ihm unseren Dank aus.»

Kunja (vorgebeugt, die Knie umschlingend – er könne so besser koten, pflegte er zu behaupten): «Wohl wahr.»

Hünja: «Darf man denn da nicht etwas fordern von dem Einen?»

Kunja: «Vielleicht etwas Kleines?»

Hünja: «Für Ihn etwas Kleines, für uns etwas Grosses.»

Kunja: «Der Eine ist uns nah; was für uns gross ist, mag für Ihn auch gross sein. Woran denkst du, Freund?»

Hünja: «Er soll dich heilen.»

Kunja: «Das ist zu gross.»

Hünja: «Glaubst du, der Eine unter den Göttern kann alles?»

Kunja: «Alles und noch viel mehr.»

Hünja: «Dann soll er dich heilen, Freund.»

Kunja dachte nach. Es würde ihm unangenehm sein, den Einen um Hilfe zu bitten, aber war es ihm nicht auch unangenehm, durch den Dreck zu kriechen?

Und so begaben sich Hünja und Kunja am Tag darauf auf den Berg zum Einen unter den Göttern.

Hünja hatte zwei stattliche Hirsche geschossen und ein fesches Mädel dazu überredet, die toten Tiere mit aromatischen Kräutern zu einem himmlischen Mahl zuzubereiten. Diese Speise bot er nun dem Einen an.

Hünja (kniend, den Kopf gesenkt, mit lauter Stimme): «Du, der Du bist der Eine unter den Göttern, bitte höre uns an. Eines Deiner Kinder leidet; es ist dies mein Bruder im Herzen, Kunja, dessen Rücken seit Geburt verkrüppelt ist und der so gerne aufrecht durch Deine wunderbare Welt schreiten würde.»

Kunja (liegend, das Gesicht auf die Erde gepresst): «Ja.»

Der Eine unter den Göttern schwieg und liess den Blick in die Ferne schweifen.1

Hünja und Kunja warteten stundenlang. Ab und zu zupfte Hünja ein zartes Fleischstück von einem der Braten. Kunja weinte leise.

Hünja, der ein beinahe übernatürlich feines Gespür für andere hatte, glaubte, der Eine verschlösse sich Kunja. Er selbst, Hünja, fühlte sich vom Einen unter den Göttern geliebt und vermutete, wäre das Gebrechen in diesem Augenblick zu dem seinen geworden, so würde der Eine ihn erhören. Aber konnte denn der Eine nicht fühlen, dass Kunjas Leiden für Hünja auch eine Bürde war? Hünja wusste, dass man die Götter nicht begreifen konnte. Und sie? Konnten sie die Menschen begreifen?

Schliesslich gingen die beiden, und der Eine unter den Göttern schaute ihnen mit leiser Erleichterung nach.2 Er mochte Hünja sehr und beobachtete ihn fast zu jeder Stunde. Er respektierte auch Kunja, jedoch empfand Er für diesen keine Liebe; stets ekelte Ihn die hässliche Gestalt des Mannes, und selbst die Tatsache, dass Er um das gute Herz Kunjas wusste, milderte diese Abscheu keineswegs. Und wenn Er etwas an der Gestalt eines Menschen, der Ihm nicht nahe stand, ändern würde, dann würden sie alle kommen, all die fremden Leute mit ihren Gebrechen und ihren Forderungen. Er hätte keine Ruhe mehr. Nein, sagte Er sich, Er spare sich Wohltaten lieber für jene Einzelnen auf, die Er lieben konnte, weil sie bereits fast alles hatten, und die Ihm trotz des Reichtums in ihrem Leben emsig huldigten.

Erneut kam es zum Gespräch zwischen Hünja und Kunja im Scheisshaus.

Hünja: «Du weisst um meine Fingerfertigkeit.»3

Kunja (Irritation in der Stimme, Tonfall fragend): «Ja.»

Hünja: «Ich fertige dir eine Maske aus Stein mit meinen Gesichtszügen und mir eine mit den deinen. Und dann kriechen wir beide auf den Berg und bitten den Einen erneut um Heilung. Wir tun, als wäre die Heilung für mich, stattdessen käme sie dir zugute.»

Kunja: «Warum soll der Eine dich heilen wollen, wenn Er mich doch auch nicht heilen wollte?»

Hünja: «Weil Er mich liebt.»

Kunja (erschüttert): «Und mich soll Er nicht lieben? Mich, der ich Ihm ja auch immer Speisen und Tränke zubereite und mich viel mühsamer den Berg hinauf kämpfen muss als du?»

Hünja: «Es ist einfacher, den Menschen zu lieben, der bereits alles hat. Wer liebt schon die Schwachen und Krüppel?»

Kunja: «Hünja, Freund, du liebst mich doch!»

Hünja: «Ja, weil ich deinen Geist erkenne. Das kannst du von anderen nicht erwarten.»

Kunja: «Hünja, deinen Gedanken fehlt die Logik. Spielst du dem Einen ein Leiden vor, dann wärst du in Seinen Augen ein Schwacher und ein Krüppel, und deinem Wort zufolge würde Er dich dann nicht mehr lieben und somit nicht heilen.»

Hünja: «Der Eine liebt mich bereits viel zu lange, als dass Er seine Gefühle so abrupt zurückziehen könnte. Vielleicht erscheint Ihm auch das Wiederherstellen eines guten Zustandes als etwas Kleineres als das Erschaffen eines noch nie dagewesenen Wohlbefindens.»