Robin - Mirjam Richner - E-Book

Robin E-Book

Mirjam Richner

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Beschreibung

Robin krankt am Menschsein, schon seit der Kindheit. Um der Depression zu entfliehen, unternimmt sie eine Reise in die Bretagne, wo sie auf die selbstsichere Estelle und den stets höflichen Louis trifft. Beide Beziehungen heilen und verletzen die Protagonistin zugleich. Erfüllt von Suizidgedanken zieht sich Robin schliesslich zurück, campiert zwischen Ginster und Felsen und betrachtet die bretonischen Landschaften und das unwegsame Gelände in ihrem Inneren.

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Für Maurice André Velati

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

1

Der Wind zerrt an Haaren und Kleidern.

Würden Sie mir eine Landkarte vorlegen, so könnte ich Ihnen darauf nicht zeigen, wo ich mich befinde, zumindest nicht ohne längeres Suchen. Wissen Sie, ich erkenne so etwas nicht auf Karten.

Wie gerne würde ich Ihnen erzählen, ich hätte mein Handy in den Atlantik geworfen; ich möchte in Ihren Augen tollkühn erscheinen. Oder wahnsinnig; das wäre mir auch recht.

Ich heisse Robin. Wäre ich als Junge zur Welt gekommen, würde ich Pascal heissen. Verrückt, nicht wahr? Als Jugendliche habe ich mich immer mit den Worten «Ich heisse Robin – und man schreibt’s, wie man’s sagt: mit Doppel-N und H» vorgestellt. Oder mit «Robin, wie das Gemüse».

Nein, das stimmt nicht, bitte entschuldigen Sie. Das ist mir spontan eingefallen; ich weiss nicht, warum ich Ihnen das erzählt habe. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ein humorvolles Kind gewesen zu sein – obwohl: Ein humorvolles Kind war ich; es mangelte an genuiner Fröhlichkeit. Wahrscheinlich hat da schon alles begonnen. Oder noch früher, vielleicht schon im Mutterleib oder noch vor meiner Zeugung, möglicherweise gar Generationen zurück in eine Zeit, in der Krokodile noch Fische gewesen waren.

Sie ahnen es; ich bin eine von denen, die plappert, um Nervosität zu überspielen; ich kann Ihnen nicht ohne Weiteres sagen, was mich bedrückt.

Die vier Personen und das konturlose Ich in meinem Verstand sind immerzu am Erzählen.

Mr. Greedy hat mir täglich gesagt, was ich noch alles bräuchte. Zum Beispiel Kleider. Oder noch ein Stück Schokolade und noch eines. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich überborde nicht; ich bin beispielsweise nicht dick – schlanker geht natürlich immer, aber dick bin ich wirklich nicht – und habe auch keinen begehbaren Kleiderschrank. Aber ich habe von allem mehr, als ich brauche.

Das konturlose Ich hat Mr. Greedy zurückgedrängt.

Mr. Worried ist nach wie vor sehr präsent. Ständig erzählt er, was in der Vergangenheit alles schiefgelaufen ist und welche Kleinigkeiten zu existenzbedrohenden Problemen auswachsen könnten.

Mr. Worried ist mir ans Herz gewachsen, trotz allem. Natürlich nervt er, aber er will mich ja nur schützen, will vorbeugen und vorwegnehmen, indem er zuverlässig warnt. Immerzu muss er Daten auswerten, kommt nicht zur Ruhe – kein Wunder, ist er stets angespannt. Verletzend, wie wenig er mir zutraut; manchmal verliert er sich in Nörgeleien und Geschimpfe über meine scheinbare Unfähigkeit. Er ist die Mutter meines Verstandes und zugleich sein Sorgenkind.

Das Helferlein ist mein Favorit. Es ist klein, drahtig, androgyn und besticht durch Verlässlichkeit und Rationalität. Eine gewisse Kälte ist ihm eigen, doch nicht zu seinen (oder meinen?) Ungunsten, steuert es doch wichtige Prozesse mit der angemessenen Nüchternheit. Nicht selten nimmt es Mr. Worried den Wind aus den Segeln, indem es wortlos das Ruder übernimmt. Entschuldigen Sie – diese Wortbilder passen nicht zueinander. Aber Sie wissen natürlich, was ich meine. Und wenn nicht, so ist das auch in Ordnung. Ich darf nicht erwarten, dass mich jemand versteht, schon gar nicht heutzutage. Ich meine natürlich: schon gar nicht mich.

Die vierte Person nenne ich Imaginary Friend. Der Imaginary Friend erfindet permanent Gespräche. Zum Soundso hätte man noch Diesunddas sagen können. Kennen Sie das? Er baut ganze Dialoge auf – selbstverständlich in Abwesenheit einer weiteren Partei (es sei denn, er spricht mit dem konturlosen Ich). Ein Schachspieler, der sowohl Weiss als auch Schwarz so listig wie möglich zu bewegen versucht und sich in schier unlösbaren Konstellationen verliert. Völlig sinnlos; ich wage zu behaupten, dass sich noch nie ein reales Gespräch an das Drehbuch des Imaginary Friends gehalten hat. Dazu sind die anderen Menschen wohl zu eigensinnige Schauspieler – ich meine: Schachspieler.

Manchmal gleitet das Ich zum Imaginary Friend, blickt hoch und hält einen zeigefingerartigen Klumpen an die lippenartigen Ränder (Ränder, die stets im Fluss sind; unfassbar). Das hilft für ein paar Minuten, dann geht das innere Geplapper wieder los.

Das Ich schwimmt durch eine warm-gelbe, dickflüssige Ursuppe, in der die anderen Personen stehen. Die Flüssigkeit reicht ihnen etwa bis zu den Knien, einzig das Helferlein steht bis zur Hüfte darin.

Mr. Greedy befindet sich ganz hinten am Rand (an welchem Rand?), Mr. Worried nicht ganz mittig (leicht links) hinten. Das Helferlein ist eher im Vordergrund, auch links. Der Imaginary Friend ist ganz vorn, zentral, direkt am Rand.

Wenn ich Ihnen das so schildere, fällt mir auf, dass ich, abgesehen vom geschlechtsneutralen Helferlein und dem konturlosen Ich, drei Herren in meinem Verstand beherberge. Droht mir ein Abrutschen in den Wahnsinn?

Ich glaube, dass das Ich – in seiner ganzen Unfassbarkeit – gut ist. Ich glaube, es könnte vieles und möchte das Beste. Zumindest für andere, an manchen Tagen vielleicht auch für sich selbst. Aber ich kann das nicht abschliessend beurteilen, ist es doch nur eines von insgesamt sechs Elementen meines Verstandes (sofern man die Ursuppe ebenfalls als Element betrachtet).

Ich habe das noch nie jemandem erzählt; das ist ja auch nichts, das man jemandem erzählt.

Die Touristen plaudern und schiessen Fotos (Hemingway hat sich in den Kopf geschossen). Ich möchte alleine sein, auch im Kopf – ausser vielleicht noch mit Ihnen; Ihr Schweigen beruhigt mich.

Das Leben ist mit einem riesigen Magneten an mein Denken getreten und hat sensible Daten gelöscht. Und viele fehlerhafte Dateien, die sich oft nicht mehr öffnen lassen – und auch nicht komplett entfernen, ein Hohn! – finden sich auf dem Laufwerk R; die Liste ist endlos. Administratorrechte fehlen mir. Ich weiss, das sollte nicht sein, bin ich doch der Superuser, aber so ist es nun mal, schon seit der Geburt.

Ich bin verzweifelt, ich kann so nicht weitermachen; ich verstricke mich in Fachsimpeleien, obwohl es so simpel wäre.

2

Er sagte mit ernstem Blick, ich nähme alles viel zu ernst, und ich lächelte die Worte weg, zumindest die Hülle. Den Kern nahm ich auf und verglich ihn mit anderen Kernen, etwa mit «Ich liebe deinen Humor» oder mit «Wenn du einmal in derselben Menge weinen musst, in der du bisher gelacht hast...».

Ich stelle nun den neuen Kern aufs Regal zu ähnlichen Kernen, direkt unter «Ich liebe deinen Humor». Oder soll ich umräumen? Die Ernst-Kerne über den Humor-Kernen einordnen? Und was ist mit «Du denkst zu viel»? Möglicherweise gehört dies in die Kategorie Ernst. Oder doch zum Humor, der ja nichts anderes ist als ein Posieren mit dem Intellekt?

Vor meiner Abreise räumte ich alles gründlich auf. Ich muss nicht zurückkehren; alles ist sortiert und angeschrieben, und diese Ordnung würde im Falle meines Ablebens Bewunderung hervorrufen, würde mir als bezeichnende Charaktereigenschaft zugeschrieben werden, obwohl gerade dieses penible Aufräumen Ausdruck von Konturlosigkeit ist.

Mir fiel die Aufgabe zu, die Trauerkarte zu schreiben, da ich das Personalwesen innehatte. Sofern man ein Personalwesen innehaben kann. Nein, verzeihen Sie, ich muss mich korrigieren: Ich weiss, dass man das Wesen des Personals nicht erfassen und schon gar nicht innehaben kann, auch nicht das eigene Wesen. Man betraute mich mit einem Arbeitsgebiet, das sich Personalwesen nennt und dessen Aufgaben unter anderem das Ausstellen von Arbeitsverträgen, das Schreiben von Geburtstagsbriefen und das Einführen von neuen Mitarbeitern – vorzugsweise nicht in die eigene Scheide – umfasst. Ha, da sehen Sie’s: Ich habe Humor! Oder war das Pietätlosigkeit? Zumindest kein Posieren mit dem Intellekt.

Ich frage mich, ob wir uns duzen sollen. Gut möglich, dass es dafür noch zu früh ist; noch kennen wir uns kaum, doch wir könnten das Kennenlernen von der anderen Seite her aufgleisen; von einem Du her. Weich und trotz vermeintlicher Nähe unverfänglich.

Natürlich beklage ich mich nicht darüber, dass ich damals die Trauerkarte schreiben musste. Ich suchte und fand Worte, weil mich der fremde Tod erschütterte. Er glich den Toden, die ich immer wieder gedanklich wälzte; hin und her gespielt zwischen Mr. Worried, der dies für eine durchaus valable Option hielt – sofern nicht dieses und jenes schieflaufen würde – und Mr. Greedy, der nicht satt wurde am Leben. Das Helferlein mischte nie mit, wusste es doch, wann die Grossen etwas unter sich austragen mussten.

Und beim Schreiben der Zeilen für die Angehörigen gingen mir Lichter auf.

Irrlichter.

Manche Mitarbeitende – bei Bedarf kann ich sogar genderneutral erzählen – standen am Tresen und fragten nach der Trauerkarte und ob sie unterschreiben dürften. Andere nickten mir zu, zogen die Augenbrauen in die Höhe und machten mit einem imaginären Kugelschreiber lächerliche Schreibbewegungen in die Luft.

Manche sprachen mit klarer Stimme, beherrscht, andere flüsterten, als wäre der Tod ein Geheimnis, das es zu bewahren gälte.

Die Unterschriften waren wunderbar verschieden: einige ganz am Rand, klein und gequetscht, einige üppig, grossspurig, ungeniert Platz beanspruchend. Wackelig und krakelig, schwungvoll, eckig, elegant, unlesbar, vor- oder zurückgeneigte Buchstaben; alles war dabei.

Ein grosser, bärtiger Mann unterschrieb mit einer Schulmädchenschrift. Mühselig war der Schreibprozess; das sah ich genau. Ich dankte dem Bärtigen für die Unterschrift; ich unterstellte ihr, ein Kraftakt gewesen zu sein. Ein Kraftakt wegen eines fremden Todes, obwohl man sich die Kraft für das eigene Leben aufsparen müsste.

Und das Herz tut mir weh, hier und jetzt, wenn ich an die Eltern des Toten denke, und ich starre auf das Meer, auf die immer gleichen Wellen, die doch immer andere sind.

3

Ich weiss, dass er mich liebt. Ich kann die Liebe nicht annehmen; ich entscheide mich bewusst und unbewusst, diese Liebe zu negieren. Wie könnte ich der Liebe würdig sein?

Und ich weiss, dass ich ihn liebe. Doch auch meiner Liebe misstraue ich. Ich frage mich, ob das Liebe sein kann, ob jemand wie ich überhaupt fähig ist, zu lieben.

So weiss ich also um die Liebe und weiss doch nicht um sie, weil sie sich mir nicht erschliesst und ich mich ihr nicht öffne.

Andere sagen – und Sie erkennen, wie wichtig mir andere sind (mit dem Du möchte ich doch noch warten) –, ich hätte ein grosses Herz und warmherzig sei ich (also ein grosses und sogar warmes Herz, wahrscheinlich so ein richtiger Sportlermuskel) und ich sei feinfühlig.

Mein Leben ist breit, doch ich bewohne nur einen schmalen Streifen davon, links am Rand, und dadurch bewohne ich auch nur einen schmalen Streifen der Gefühle und bewirtschafte nur ein Quäntchen der Gedanken. Alles andere wäre mir zu viel.

Noch vor ein paar Tagen lag ich zu Hause im Bett und erkannte, dass ich auch nur einen schmalen Streifen meines Bettes bewohnte, gewissermassen randständig war, und meine schmalen Schultern schienen zu breit neben seinen breiten Schultern.

Dann stand ich auf und trat ans Fenster, schaute hinaus und dachte zur Entlastung immer dieselben Gedanken. Zum Beispiel, wie laut die Stille der Nacht war.

4

Manchmal bin ich nicht sicher, ob ich Bedürfnisse habe. Früher hatte ich bestimmt welche, doch sie verdorrten, was gut ist, erlaubt es mir doch, weniger mit mir zu tun zu haben. (Stimmt das?)

Sie fragen sich bestimmt, wie ich als Kind war. Vielleicht auch nicht, es ist einerlei: Ich werde Ihnen aus meiner Kindheit erzählen, und Sie dürfen sich gerne zu jedem beliebigen Zeitpunkt abwenden, denn Sie bewohnen Ihr Leben vielleicht in dessen ganzer Breite.

Als Kind hatte ich noch nicht sechs Elemente im Kopf. Ich hatte zwei kleine Mädchen in mir. Sie reichten von der Haut unter dem Zehennagel (dort, wo nie Shampoo hingelangt) durch den gesamten Körper hindurch bis in jede Haarspitze; eine Art Geistwesen unter Haut und Horn. Beide waren unbeschwert und lustig.

Mit der Zeit wurden sie kleiner und stofflicher, zogen sich in den Bauchraum zurück, und das eine Mädchen – bitte fragen Sie mich nicht, wie und warum – wurde verschüttet. Das andere kniete monatelang vor dem Geröllhaufen, sprach mit dem verschütteten Kind, brachte Essen und Trinken und hielt es mit der geistigen und physischen Nahrung am Leben. Ob aus Barmherzigkeit oder Selbstsucht – Einsamkeit ist eine Bitch – sei nun mal dahingestellt.

Das verschüttete Kind war schwach und brauchte andauernd Bestärkung und Liebe in Unmengen (ist das ein Zeichen von Schwäche?); in solch grossen Mengen, wie sie heutzutage niemand mehr kostenlos zu liefern vermag. Zum Glück war das freie Mädchen stark und liebevoll; es tröstete und sprach Mut zu, täuschte Unbeschwertheit vor, versprach, zwei Leben zu leben, ein halbes für sich und eineinhalb für die Verschüttete, und jeden Moment perfekt auszunutzen; das Beste zu wollen und das Allerbeste zu tun.