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Eine alte Barkasse, die von zwei Freundinnen zu einer schwimmenden Buchhandlung umgestaltet wird. Ein romantischer Neuanfang in Hamburg für eine junge Frau, die wieder Vertrauen in die Liebe finden muss – Das kleine Bücherschiff ist ein unwiderstehlich charmanter Liebesroman voller Humor.
Miri und Katja erfüllen sich einen Lebenstraum: eine eigene Buchhandlung! In einer alten Barkasse am Hamburger Hafen finden sie genau den Ort dafür. Mit Leidenschaft und Hingabe bauen die beiden Freundinnen den ramponierten Kahn zum Bücherschiff um. Auch privat geht es für Miri bergauf, mit ihrem Nachbarn Henning könnte sie sich mehr vorstellen als nur freundlichen Small Talk im Treppenhaus. Doch dann kommt eins zum anderen: Die Miete für die schwimmende Buchhandlung wird erhöht, das Schiff soll luxussaniert werden – ausgerechnet von Hennings Architekturbüro. Für Miri und Katja bricht eine Welt zusammen – können sie ihr Bücherschiff vor den Immobilienhaien retten?
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Seitenzahl: 505
Tessa Hansen
Das kleine Bücherschiff
Roman
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5003.
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-77810-3
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1 Olivia Jones hängt schief
Kapitel 2 Ein Opfer für den Partygott
Kapitel 3 Die Nachbarschaft an Bord
Kapitel 4 Verliebt mit Schockeffekt
Kapitel 5 Mit dem Bücherschiff auf Kaperfahrt
Kapitel 6 Dinner mit Hindernissen
Kapitel 7 Kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht
Kapitel 8 Unerwarteter Besuch
Kapitel 9 Laue Sommernächte
Kapitel 10 Von Kraken und Seehasen
Kapitel 11 Hektische Zeiten
Kapitel 12 In die Wanten
Kapitel 13 Land unter an Bord
Kapitel 14 Spione unter uns
Kapitel 15 Bücherschiff oder Luxushausboot?
Kapitel 16 Gesundheitliche Schwankungen
Kapitel 17 Nicht dein Vater
Kapitel 18 Lauscher an der Wand
Kapitel 19 Ein aalglatter Fiesling
Kapitel 20 Folgenschwere Entscheidungen
Kapitel 21 Eins gibt das Andere
Kapitel 22 Das Ende von allem
Kapitel 23 Ein Sturm ungeahnten Ausmaßes
Kapitel 24 Ein abwechslungsreiches Liebesleben
Epilog
Informationen zum Buch
Das kleine Bücherschiff
Kapitel 1
»Wir haben's gleich. Nur noch ein kleines Stück.« Miri schnaufte. »Danach machen wir erst mal Pause.«
Katja nickte stumm.
Noch einmal holten sie tief Luft und hievten den Ohrensessel in einer gemeinsamen Kraftanstrengung über die Gangway. Zum Glück war dies das letzte Möbelstück, das sie heute an Bord bringen mussten.
Als der Sessel endlich an seinem Platz im Inneren der Hafenbarkasse stand, ließ sich Miri mit einem Aufstöhnen in das Polster plumpsen.
»Puh!« Katja strich sich die schweißnassen Haare aus der Stirn. »Ich stinke wahrscheinlich wie ein Iltis.«
»Aber nicht doch. Eine Dame stinkt nicht. Sie duftet höchstens wie ein Iltis.« Miri grinste schief. »Hätte ich gewusst, wie viel Arbeit die Einrichterei macht, wäre ich noch ein paar Wochen in Stade geblieben. Es herrschte zwar Grabeskälte in der Praxis, aber eine Weile hätte ich sicher noch durchgehalten.«
»Du hättest mir die ganze Arbeit allein überlassen? Danke, nein! Aber du hättest es keinen Tag länger mit deinem Ex in derselben Praxis ausgehalten. Ich weiß sowieso nicht, wie du so ruhig bleiben konntest. Ich hätte diesem Karsten Frohn und seiner Sexmaus längst den Hals umgedreht.« Katja hob die Hände und erwürgte die Luft neben Miri.
»Vertrag ist Vertrag, und Kündigungsfristen sind Kündigungsfristen. Ich habe kurz darüber nachgedacht, mich krankschreiben zu lassen. Aber Dr. Senkenbach, unser gemeinsamer Chef, konnte schließlich nichts dafür. Na ja, nun ist es vorbei.« Miri schickte einen Stoßseufzer zum Himmel. »Und hier ist es so viel schöner.«
Tatsächlich nahm ihre Umgebung langsam die Form an, die sie sich vor sechs Monaten ausgemalt hatten.
»Immerhin hatte Karsten das perfekte Timing, oder wie meine Oma immer sagt: ›Wenn sich eine Drehtür schließt, öffnet sich anderswo ein Kellerfenster.‹ Stell dir vor, ich hätte ihn erst ein paar Wochen später mit Sandra erwischt, dann wäre die Barkasse vielleicht schon vermietet gewesen, und wir hätten niemals diese Chance bekommen.«
»Schickst du dem untreuen Urologen jetzt eine Danksagung?« Katjas Kopfschütteln zeigte deutlich, wie sie zu Miris Exfreund stand.
»Die Karte ist schon in der Post.« Die Ironie troff nur so aus Miris Worten. »Dankbar bin ich ihm sicher nicht. Dem Schicksal aber schon. Nicht jede bekommt die Chance, ihren Jugendtraum zu leben. Wir planen die Buchhandlung, seit wir in der Siebten waren. Und jetzt stehen wir kurz davor, sie endlich zu eröffnen.«
Einen Moment lang betrachtete Miri den frisch renovierten Salon des ehemaligen Lastkahns. Schon bald würden Kunden herumstöbern, hier auf der alten Barkasse im Oevelgönner Museumshafen, die Katja und Miri zu einer schwimmenden Buchhandlung umgebaut hatten. Was nur ging, da die Miete des Kahns so unfassbar günstig war und sie die Renovierung und Einrichtung selbst gestemmt hatten. Aber ihren ungewöhnlichen Traum in die Tat umzusetzen, war jede Mühe wert gewesen.
Als Jugendliche hatten sie den Film Notting Hill gesehen und sich prompt in den kleinen Reisebuchladen verliebt. Genauso eine Spezialitätenbuchhandlung würden sie später eröffnen, hatten sie sich damals vorgenommen, am besten in einem besonderen Ladenlokal. Irgendetwas mit Geschichte und Atmosphäre sollte es sein, und es sollte ihrer beider Charaktere und Vorlieben widerspiegeln. Katja mochte es bunt, farbenfroh, aber stimmig, so hatte sie auch ihre Wohnung eingerichtet, wie ein gut komponierter Blumenstrauß. Und für Miris Hang zum Chaos wollten sie auch ein Ventil schaffen, vielleicht eine Leseecke mit besonderen Möbeln und hoch aufgestapelten Büchern. Sie müssten lediglich aufpassen, dass Miri dort nicht den ganzen Tag läse und ein Buch nach dem anderen in sich aufsaugte.
Seit sie Buchstaben aneinanderreihen konnte und sich daraus Wörter ergaben, verschlang Miri ein Buch nach dem anderen. Astrid Lindgren hatte sie am meisten gemocht, nur einmal wollte sie wie Ronja Mattisdottir allem trotzen, was sich ihr den Weg stellte, oder sich in Cornelia Funkes Tintenwelt hineinlesen lassen. Zumindest aber wollte sie mit ihrer besten Freundin eine Buchhandlung eröffnen.
Doch dann war alles ganz anders gekommen. Katja war gleich nach dem Schulabschluss nach Hamburg gegangen, um ihrer anspruchsvollen Mutter zu entkommen. Dort hatte sie zwar nach einer Ausbildungsstelle zur Buchhändlerin gesucht, aber nach der dreißigsten Bewerbung aufgegeben und schließlich einen Ausbildungsplatz als Floristin angenommen.
Miri hingegen war in Stade hängen geblieben. Sie war schon immer weniger mutig gewesen als ihre beste Freundin. So hatte sie, als sich in der Kleinstadt keine Möglichkeit fand, Buchhändlerin zu werden, ihren Traum der Realität geopfert und eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in der überregionalen, urologischen Praxis von Dr. Senkenbach angefangen. Dort war sie später auch Karsten Frohn begegnet, als dieser eine Stelle in der Praxis angetreten hatte.
Doch nun erfüllte sich der Traum der Freundinnen. Und das, obwohl sie beide keine Buchhändlerinnen waren. Sie hatten ihr Möglichstes gegeben, um sich die Grundlagen draufzuschaffen. Miri hatte zwei Wochen in einer Buchhandlung mitgearbeitet und sich alle Abläufe erklären lassen, während Katja an einem Buchhaltungskurs und einem Businesscoaching teilgenommen hatte. Dennoch würden sie wahrscheinlich erst nach der Eröffnung feststellen, wo es noch hakte. Aber als gestandene Frauen würden sie schon klarkommen, davon waren sie überzeugt. Mangelndes Wissen würden sie eben durch Engagement und ganz viel Liebe wettmachen. Bei dem Gedanken schlug Miris Herz schneller. Hoffentlich gefiel den Kunden die Barkasse so gut wie ihnen. Bei der Entscheidung, wie ein Bücherschiff von innen aussehen musste, waren sich die Freundinnen schnell einig gewesen: maritim, hamburgisch nordisch und natürlich mit altmodischer Gemütlichkeit. Diesem Motto hatten sie alles untergeordnet. Und jetzt strahlte die alte Barkasse mitsamt den Originalteilen, die Miri und Katja beim Abbau der alten Verschalung entdeckt hatten, in neuem Glanz. Vor allem der Boden und die Vertäfelung aus Teakholz hatten es ihnen angetan. Nun, nach einer gründlichen Überholung, schimmerte das Holz in einem warmen, dunklen Honigton.
Auch einige Klampen und sogar zwei mit Messing umrandete Bullaugen hatten sie retten können. Die Schrauben, die die Fenster verschlossen, hatten gefehlt, aber zum Glück gab es im Museumshafen genug Liebhaber alter Kähne, die ihnen halfen, passende Ersatzteile zu beschaffen.
Überhaupt erwiesen sich die Mitglieder des Hafenvereins immer wieder als extrem hilfreich. Von ihnen hatten Miri und Katja nicht nur die Genehmigung bekommen, das Bücherschiff direkt im Museumshafen zu betreiben, sondern auch die Adressen der Handwerker, an die in den letzten sechs Monaten beinahe ihre ganzen Ersparnisse geflossen waren. Aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Die Barkasse wirkte innen wie außen so einladend, dass es den Freundinnen bei jedem Anschauen den Atem verschlug.
Statt einer Persenning trug die Barkasse nun über die komplette Länge ein festes, tragfähiges Dach, auf das eine Treppe an der äußeren Heckwand führte. Eine umlaufende Reling sicherte den Bereich, sodass sie ihn bei schönem Wetter nutzen konnten. Vielleicht würden sie später dort ein kleines Outdoorcafé eröffnen, aber das war Zukunftsmusik und mindestens Stufe zwei oder drei ihres Businessplans.
Unterhalb des Brückenaufbaus, der ein gutes Stück über den Salon aufragte, gab es eine winzige Schlafkabine, eine ebenso kleine Kombüse und einen telefonzellengroßen Toilettenraum. Der ursprüngliche Salon, der bereits beim Stapellauf vorhanden gewesen war, bildete nun zusammen mit dem Neubau einen großen Verkaufsraum, den man durch die Original-Eingangstür betrat. Miri und Katja hatten sie höchstpersönlich abgeschliffen, gestrichen und an den neuen Zugang angepasst. Nun leuchtete sie von Weitem sichtbar in einem kräftigen Korallenrot.
Auf Miris Wunsch hin hatten sie zu guter Letzt noch eine Dachluke erhalten, die sich im vorderen Bereich des Salons nach oben wegklappen ließ. Sie freute sich schon darauf, sie hin und wieder aufzustoßen und frische Luft ins Innere zu lassen.
»Olivia hängt schon wieder schief.« Katja deutete mit dem Finger auf eine Plüschmöwe, deren Oberkörper, wie von einem Großwildjäger erlegt, auf einem Holzbrett prangte.
Beinahe hätten sie in einem Trödelladen eine echte, ausgestopfte Möwe gekauft, aber Miri gruselte sich vor ausgestopften Tieren – sie hätte schwören können, dass der Blick aus den Glasaugen sie verfolgte, egal, wohin sie sich drehte. Schließlich hatte sie Katja davon überzeugt, dass es besser sei, ihren Kundinnen keine Gänsehaut über den Rücken zu jagen, wenn sie Bücher verkaufen wollten. Ein paar Tage später waren ihnen dann die plüschigen Möwentrophäen begegnet, und sie hatten nicht widerstehen können, gleich drei von ihnen zu kaufen. Miri und Katja hatten sie nach wichtigen Hamburger Persönlichkeiten benannt, beim Schlüsseldienst drei Schilder aus Messing anfertigen lassen und auf dem Holzbrett angebracht.
Miri kicherte leise und trat zu Olivia Jones, der größten der drei Möwen. Sie hing neben einem Bullauge in der linken der drei winzigen Sitznischen, die Miri und Katja zwischen den Bücherregalen eingerichtet hatten. Am Anfang hatte es keine Probleme mit Olivia gegeben, aber seit Miri ihr eine Hochsteckfrisur aus pinkfarbener und hellblauer Wolle verpasst hatte, wirkte Olivia ein wenig pikiert. Ob sie aus Protest oder aufgrund des Ungleichgewichts immer wieder in ihre Schieflage zurückkehrte, so oft man sie auch geraderückte, darüber ließ sich nur spekulieren.
Eine Nische weiter hing Jan Delay neben einem goldgerahmten Bild, auf dem ein majestätischer Dreimaster in voller Takelage über von Gischt gekrönte Wellen brauste. Dass die Möwe auf den Namen des Musikers hörte, lag an dem leicht verknautschten Gesicht des Vogels. Die beiden Freundinnen hatten ihm eine dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, so kam er mit etwas Fantasie seinem Namenspaten ziemlich nahe.
In der rechten Sitznische hatte Sylvie Meis ihren Platz neben dem zweiten Bullauge gefunden. Den Namen hatte sie sich verdient, weil sie der hübscheste der drei Vögel war. Miri hatte ihr zuerst einen Fußball an die Seite geben wollen, aber da diese Episode im Leben der echten Sylvie Geschichte war, hatte sie darauf verzichtet.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach das aufkeimende Gespräch.
»Herein!«, riefen Miri und Katja im Chor.
Die Tür schwang ein Stück auf, und eine kleine, fast ein wenig verhutzelte alte Dame erschien im Türrahmen. »Darf man denn eintreten?«, fragte sie höflich. »Ich weiß, ich sollte nicht so naseweis sein, aber ich sehe Sie beide nun schon jeden Tag, wie Sie das Schiff herrichten. Und dann hat der Handwerker noch all die Regale gebracht. Da dachte ich mir: Da wird es doch sicher bald etwas Hübsches zu kaufen geben.«
»Sie sehen uns bei der Arbeit zu?«, fragte Katja freundlich.
»Ja, ich gehe hier morgens spazieren«, erklärte die alte Frau, wobei sie das »s« in »Spazieren« in der typischen Art des Hamburger Großbürgertums aussprach. »Außerdem wohne ich gleich am Hang. Aus meiner Stube kann ich Ihnen wunderbar zuschauen.« Wieder sprach sie das »s« auf die gleiche stimmlose Weise.
»Ich glaube, Sie lesen gern«, sagte Miri. Wer so neugierig war, der musste einfach Bücher lieben.
»Woher wissen Sie das? Lesen ist eine meiner letzten Leidenschaften. Zu einem guten Liebesroman sage ich niemals Nein.« Eine zarte Röte zog über das Gesicht der Dame.
»Nur so eine Ahnung.« Miri verkniff sich ein Lachen. Sie wandte sich an Katja. »Wollen wir das Geheimnis lüften?«
»Aber natürlich. Bei einer so netten, ersten Interessentin können wir doch gar nicht anders. Aber nur, wenn Sie später unsere erste Stammkundin werden.« Katja lachte herzhaft.
»Wird es eine Buchhandlung?« Die Stimme der alten Dame klang atemlos, und als Miri und Katja einhellig nickten, schlug sie begeistert die Hände zusammen. »Das ist ja wunderbar. Dann kann ich bald jeden Tag frischen Lesestoff bekommen. Eine hervorragende Nachricht. Und wann eröffnen Sie?«
»Ganz bald schon. In nicht mal zwei Wochen ist es so weit. Am Tag des Hafenfests«, antwortete Miri. »Wissen Sie was, Sie bekommen jetzt und hier eine exklusive Führung. Verraten Sie uns Ihren Namen?«
»Aber natürlich, mein Name ist Tietgen.«
»Katja Gerbaum«, stellte Katja sich vor. Sie ließ die Finger über einen der Regalböden gleiten. »Ich liebe dieses Holz. Ein echter Handschmeichler. Der Schreiner, der sie für uns gemacht hat, hat sich darauf spezialisiert, ehemaligen Schiffsdielen neues Leben einzuhauchen. Die Regale hat er eigens für unser Bücherboot angefertigt.« Vom Ergebnis dieser Arbeit waren Miri und Katja mehr als begeistert. Kein Span stach mehr aus dem ehemals zerfurchten Holz hervor und der leicht glänzende Bootslack, mit dem der Handwerker die Bretter versiegelt hatte, lud dazu ein, sie zu berühren. Jedes der Regale maß zweieinhalb Meter in der Höhe und einen Meter in der Breite. Damit die schmalen Möbel nicht bei jeder kleinsten Welle kippelten, hatte der Schreiner sie sorgfältig an Boden und Decke verschraubt.
»Und ich bin Miriam Cornelis«, erklärte Miri, während sie Frau Tietgen durch den Raum führte. Sie wies auf den langen Verkaufstresen gleich rechts der Eingangstür. »Hier spielt sich das Wichtigste ab. Hier wird die Kasse stehen, und hier werden wir die Neuheiten präsentieren, unsere Lieblingsbücher und besondere Empfehlungen.« Sie gingen die Theke entlang und hielten am hinteren Ende vor drei u-förmig angeordneten Regalen inne, in denen später die Kinderbücher stehen sollten. Zwischen diesen Regalen und der hinteren Wand, in der sich auch die Tür zu den Nebenräumen befand, blieb dann noch genug Platz für eine Spielecke.
»Und gegenüber …«, ergriff Katja wieder das Wort, »… befinden sich über die volle Länge die Bücherregale für die Erwachsenenlektüre. Wie genau wir das Sortiment anordnen, haben wir allerdings noch nicht entschieden. Aber es dreht sich alles ums Meer.«
Sie schritt an den zwölf Regalen vorbei, von denen jeweils drei mit etwas Abstand zueinander u-förmig angeordnet waren, wodurch sich zwischen den vier Blöcken Platz für drei winzige Sitznischen ergab. Auf diese Weise nutzten sie die gut fünfzehn Meter lange Fläche so gut wie möglich aus, auch wenn es ein wenig beengt wirken konnte, aber das gehörte eben zum Charme der schwimmenden Buchhandlung.
»Ich glaube, hier werden wir Koch-, Sach- und Reisebücher unterbringen.« Miri wies zu guter Letzt auf zwei weitere Regale, die nebeneinander an der Wand zum Bug standen, ehe sie sich der Eingangstür zuwandte und diese für Frau Tietgen öffnete. »So! Und das war es schon«, beendete sie ihre Führung.
Die beiden Freundinnen begleiteten die alte Dame nach draußen.
»Schön, dass Sie da waren«, sagte Katja.
»Herzlichen Dank für den freundlichen Empfang. Ich werde sie weiterempfehlen.« Frau Tietgen schenkte ihnen ein beinahe hoheitsvolles Lächeln, ehe sie vorsichtig über die Gangway tapste. Sie winkte noch einmal, wandte sich um und ging gemessenen Schrittes dem Elbhang entgegen.
Miri und Katja kehrten in den Salon zurück.
»Was für eine zauberhafte Dame. Unsere erste Stammkundin.« Miri wandte sich freudestrahlend den Regalen zu. »Es wird toll aussehen, wenn erst einmal die Bücher drinstehen. Ich freue mich schon auf die ersten Kunden. Ob ihnen unser Sortiment gefallen wird?«
»Ganz sicher. Es gibt doch nichts Passenderes für ein Schiff als das Meer. Und außerdem können wir ja jedes Buch bestellen, wenn jemand etwas Bestimmtes sucht.« Wie immer ging Katja die Dinge pragmatisch an.
Zum Meer passte auch das Mobiliar des Bücherschiffs. Wobei es gar nicht so einfach gewesen war, gute gebrauchte und bezahlbare Möbel im Stil einer alten Hamburger Guten Stube zu finden. Zum Glück hatten sie bei einem Händler in Buxtehude ein winziges dunkelrotes Biedermeier-Sofa mit zwei passenden Sesselchen und zwei kleine, runde Beistelltische aus dunklem Holz mit Wiener Geflecht und Glasplatte gefunden. Darauf noch ein Häkeldeckchen und die Tischchen waren perfekt.
Das Biedermeier-Ensemble passte ausgezeichnet in die Nische unter Sylvie Meis, da diese ein Stück breiter war als die anderen beiden. Lediglich einen der beiden Tische würden sie in die mittlere Nische stellen müssen.
Die beiden Ohrensessel, die sie soeben in der rechten Nische abgestellt hatten, stammten von einem ihrer Nachbarn im Museumshafen. Zugegeben, sie mussten sie extrem dicht zusammenrücken, aber Miri hatte sich nicht davon abbringen lassen, auch wenn es dadurch in der Nische ziemlich eng wurde. Gerade tätschelte sie verliebt den Lederbezug der Sessel. Er changierte in verschiedenen Honigtönen und passte hervorragend zum Teakholz. Insgesamt wirkte das Leder wie weich geknetet und so einladend, dass sie nicht anders konnte, als sich hineinzukuscheln. Miri seufzte leise, als sie darüber nachdachte, wie weit sie und Katja bereits gekommen waren. Schon in wenigen Wochen würden die ersten Kunden den Verkaufsraum bevölkern. Und auch wenn alles andere in Miris Leben gerade eine einzige Baustelle war, gab ihr das Bücherschiff jetzt schon ein derart intensives Gefühl von Heimat und Geborgenheit, dass sich der Rest schon finden würde. Da war sie sich sicher. Nach der jüngsten desaströsen Zeit in Stade konnte Miri den Optimismus, den ihr das gemeinsame Projekt mit Katja gab, gut gebrauchen. Bücherschiff Ahoi, dachte sie lächelnd, nicht mehr lange, und wir kapern die Welt.
Ein paar Tage später durchstreiften Miri und Katja das Souterrain der Hamburger Markthalle, als Miris suchender Blick an einem massiven Schaukelstuhl hängen blieb.
»Guck mal. Den brauchen wir. Wenn der nicht den Ehrentitel ›Vater aller Schaukelstühle‹ trägt, dann weiß ich es auch nicht.« Mit einer ordentlichen Portion Dramatik in der Stimme fuhr Miri fort: »Stell dir folgenden Film vor: Ein alter Seebär sitzt in ebendiesem Schaukelstuhl auf der Terrasse seines Kapitänshauses direkt an der Elbe. In der Hand hält er eine lange, geschwungene Lesepfeife mit einem Meerschaumkopf, der einem Frauenkörper im Stil einer Galionsfigur nachempfunden ist. Hin und wieder führt er die Pfeife zum Mund und pafft ein paar Rauchwölkchen aus, während er dem regen Treiben auf dem Fluss zusieht.«
»Zu teuer!« Katja ließ das Preisschild sinken und schickte sich an weiterzugehen. »Dafür kriegen wir drei andere Stühle.«
Miri blieb stehen und hielt ihre Freundin am Ärmel fest. »Wir brauchen aber nur noch einen Stuhl, sonst wird es zu voll. Nun schau doch mal genau hin. Wir stellen das überzählige Tischchen daneben, darauf einen Pfeifenständer und eine Kapitänsmütze. Das wird perfekt aussehen.«
»Du hast schon recht. Aber …«
Miri fiel ihr ins Wort. »Bitte, bitte.« Sie zog ihren unwiderstehlichsten Schmollmund. Schließlich wusste sie genau, wie sie Katja zum Lachen bringen konnte.
»Manchmal bist du schlimmer als ein Kleinkind.« Grinsend schüttelte Katja den Kopf. »Also dann, meinetwegen, aber nur, wenn du den Preis noch ein gutes Stück runterhandelst.«
»Eine meiner leichtesten Übungen. Du wartest hier draußen und passt auf, dass uns keiner das gute Stück wegschnappt. Und danach kriege ich zur Belohnung einen Lolli.« Miri zwinkerte ihrer Freundin beschwingt zu, schnappte sich das Portemonnaie und drehte sich zur Tür des Geschäfts um.
Keine Viertelstunde später kehrte sie mit einem satten Grinsen auf dem Gesicht zurück. »Sag ich doch. Und wo ist jetzt mein Lolli?«
»Oh Gott, lebt der Mann noch? Oder hast du ihn so sehr überrollt, dass er dir den Sessel vor lauter Not verkauft hat?«, fragte Katja.
»Höchstens mit meinem Charme.« Miri hielt Katja die Geldbörse hin. »Wie versprochen. Der Vater aller Schaukelstühle zum halben Preis! Und er wird geliefert. Allerdings erst nächste Woche.«
»Macht nichts. Wir haben ja noch ein bisschen Zeit bis zur Eröffnung. Du bist großartig.« Katja schenkte Miri eine Umarmung, die Miri aufseufzen ließ. Der kurze Körperkontakt tat ihr gut, hinterließ aber auch einen Stich in ihrem Herzen. Wie lange hatte sie schon niemand mehr umarmt, einfach um Freude zu teilen oder sie zu trösten. In ihrer Kehle saß ein Frosch. Sie räusperte sich leise. Um sich von den traurigen Gedanken abzulenken, zog sie den Zettel mit der Liste aller noch benötigter Dinge aus ihrem Rucksack.
»Dann lass mal sehen, was wir sonst noch brauchen«, sagte Katja und nahm die Auflistung entgegen. »Da wäre also der Rettungsring. Das Bild mit dem Dreimaster haben wir schon, das können wir streichen. Dann brauchen wir nur noch die Kaffeesäcke. Meinst du, wir haben noch Platz für eine Teekiste?«
»Eher nicht«, antwortete Miri. »Wir sollten besser den Verkaufsraum nicht zu vollstellen, wir müssen ja auch noch etwas Platz für die Bestuhlung bei unseren Kaperfahrten mit Lesung einplanen.«
»Stimmt. Dann nur noch die Kasse und die Ausstattung für die Kinderecke. Ich glaube, so weit haben wir's.« Mit einem Strahlen im Gesicht steckte Katja den Zettel ein. »Lass mal schauen, ob wir die Säcke und den Rettungsring nicht gleich hier bekommen.« Mit diesen Worten setzte sie sich in Bewegung und zog Miri, die sich gern von ihrer Freundin mitreißen ließ, hinter sich her.
Mit jedem Tag näherte sich das Bücherschiff mehr der Vollendung. An dem Morgen, an dem der Schaukelstuhl geliefert wurde, richteten Miri und Katja gerade die Kinderecke ein. Auf den Boden lag bereits ein Spielteppich, und an der Wand hing eine Station, an der sie unterschiedlich dicke Leinen befestigt hatten. Als der Lieferant den Stuhl in der mittleren Nische abstellte, fehlten nur noch die Befestigungen für die Anleitungen zum Knüpfen der unterschiedlichsten Schiffsknoten und die beiden Spielzeugkisten, die fertig gefüllt im Lager in der ehemaligen Kajüte auf ihren ersten Einsatz warteten.
Aber zunächst mussten sie natürlich Probeschaukeln.
»Ich zuerst«, rief Miri, schubste Katja beiseite und ließ sich lachend in den Stuhl plumpsen. »Schaukelt sich herrlich«, erklärte sie nach einer Weile andächtigen Vor- und Zurückschaukelns.
»Pass auf, dass du nicht seekrank wirst.« Katja trat ungeduldig auf der Stelle. »So! Und jetzt lass mich.«
Nachdem auch sie den Schaukelstuhl ausgiebig getestet hatte, beendeten sie ihre Arbeit an der Kinderecke. Sie trugen die Spielkisten herein und stellten sie links und rechts des Spielteppichs ab.
»Da möchte ich gern noch mal zehn sein.« Lächelnd betrachtete Miri die Spielsachen. Vom Brettspiel mit dem Thema Meerjungfrau bis hin zu Puzzles mit Schiffsmotiven und einigen Stofftieren war alles vorhanden, um Kinder zu beschäftigen, damit die Eltern in Ruhe in den Regalen stöbern konnten. Natürlich blieben Miri und Katja auch bei den Stofftieren dem Thema Meer treu. Es gab einen Wal, einen Seehund, einen Seestern und eine Trottellumme, zumindest hatte Miri beschlossen, dass es sich bei dem kleinen schwarzen Vogel um eine solche handeln musste.
Eine gute Woche vor der Eröffnung widmeten sie sich ihrem letzten, größeren Projekt: Sie bauten eine ehemalige Hausbar aus Mahagoni zu ihrem Verkaufstresen um.
»Was für ein elender Lärm.« Miri hielt sich die Ohren zu, während Katja, die gut mit der Bohrmaschine umgehen konnte, Löcher in die Front des riesigen Möbelstücks bohrte. Miri hatte es genossen, sich im Verlauf des Projekts Bücherschiff viele handwerkliche Fähigkeiten anzueignen, aber ein Herz für laute, unhandliche Maschinen würde sie nie entwickeln.
»Ich bin gleich fertig«, brüllte Katja gegen das Kreischen des Bohrers an. »Danach schraube ich noch die Halter an, nur bei der Reling musst du mir helfen.«
Gemeinsam schoben sie die insgesamt fünf Meter langen Messingrohre durch die Halterungen, ehe Katja die halbrunden Endstücke aufschraubte.
»Du bist echt gut mit Werkzeug«, sagte Miri. »Wo hast du das eigentlich gelernt?«
»Selbst ist die Frau. Wenn du erst einmal eine Weile Single bist, kommt das von ganz allein. Es ist praktischer und billiger, es einfach mal selbst zu probieren, als immer auf die Hilfe eines Kollegen oder Nachbarn zu hoffen oder einen Handwerker zu bestellen.«
»Nicht schlecht. Ob ich auch mal so gut damit werde?«, fragte Miri, während sie sich mit dem dicken Tau abmühte, mit dem sie die Kanten ihres Verkaufstresen abpolstern wollten.
»Irgendwann bestimmt, vielleicht nur nicht mehr in diesem Leben.« Katja lachte und nahm Miri das Seil aus der Hand. »Lass mich mal, sonst sind wir übermorgen noch dran.« Miri schnaubte entrüstet. Aber Katja hatte schon recht, trotz ihrer wachsenden Übung mochte Miri die dekorativen Arbeiten im Vergleich zu den handwerklichen deutlich lieber.
»Ich bin fertig«, verkündete Katja eine gute Stunde später, in der Miri ein letztes Mal die Kinderecke nach ihren Wünschen sortiert hatte. »Jetzt das silberne Schätzchen.« Mit vereinten Kräften schleppten sie eine riesige, silbrig glänzende Registrierkasse aus der Kajüte in den Salon.
Eine aufgeregte Hummelschar summte in Miris Bauch, als sie die Handkurbel drehte. Es klingelte, und die Schublade öffnete sich. »Yeah!« Begeistert sprang sie auf und ab. Dann wies sie nach oben. »Und nun zu guter Letzt die Decke. Nächste Woche müssen wir dann nur noch die Bücher einräumen.«
Es dauerte nicht lange, den Rettungsring über der Kinderspielecke anzubringen. Danach ehrten sie Hamburgs Geschichte als Importhafen, indem sie in dem Bereich zwischen den Bücherregalen und dem Verkaufstresen einige Kaffeesäcke unter die Decke spannten. Und damit auch der Geruch stimmte, stellten sie gut versteckt eine Schale mit ein paar frischen Kaffeebohnen in das Regal unter ihrem neuen Tresen.
»Wie das riecht. Köstlich«, sagte Katja. »Apropos Kaffee. Erinnere mich daran, dass wir noch eine Kaffeemaschine kaufen.«
Miri lachte. »Unbedingt. Kaffee ist die halbe Miete. Aber solange noch keiner da ist, sollten wir mit Prosecco anstoßen.« Sie holte eine Flasche und zwei Gläser aus der Kombüse. Jetzt da die Arbeiten kurz vor der Vollendung standen, durchschritt sie den Raum geradezu beschwingt vor lauter kribbelndem Glücksgefühl.
»Jetzt braucht die Barkasse nur noch einen Namen«, sagte Katja.
»Ich habe schon haufenweise Ideen«, erwiderte Miri. »Aber lass uns das später besprechen. Jetzt sollten wir erst einmal anstoßen.«
»Es ist toll geworden, oder?« Katja strahlte.
»Irremegasupertoll. Ein Bücherschiff zum Verlieben.« Miri hob ihr Glas und prostete Katja zu. Noch vor ein paar Monaten hätte niemand daran gedacht, dass sie, eine Arzthelferin aus dem kleinen Stade, so etwas auf die Beine stellen könnte. Eine Träne der Rührung kitzelte in Miris Augenwinkel. Dennoch blickte sie Katja fest in die Augen, als sie auf das Bücherschiff anstießen. Endlich war sie wieder mit ihrer besten Freundin vereint. Nun fehlte nur noch ein Partner. Miri seufzte leise. Ja, ein Mann an ihrer Seite wäre schön, einer mit dem sie ihr Glück und ihren Alltag teilen konnte. Hoffentlich würde sich Ein Bücherschiff zum Verlieben auch als das passende Motto für ihr Privatleben erweisen.
Katja nickte leise lächelnd, vielleicht, weil sie die kurze melancholische Anwandlung auf Miris Gesicht gelesen hatte. »Auf unser Bücherschiff«, prostete sie. »Mögen wir mit Liebe überschüttet werden!«
Kapitel 2
»Aua! So'n Sprottenschiet!« Miri schob ihre Haare aus dem Blickfeld, ehe sie mit dem Daumen über ihre Fußsohle rubbelte. Zum Glück war sie nur in einen Stein getreten, hier mitten auf der Sternschanze hätte es ebenso gut eine Glasscherbe sein können.
Es war Samstagfrüh kurz nach Sonnenaufgang, ein paar Tage, nachdem Miri und Katja letzte Handgriffe an ihr Schiff gelegt hatten. Auf der Freifläche gegenüber dem Schulterblatt, nicht weit entfernt von Katjas Wohnung, bauten gerade die letzten Marktverkäufer ihre Stände auf. Überall standen LKW und Transporter, deren Fahrer Obst, Gemüse oder Brot ausluden, ehe sie von einem Mann in der Uniform des Ordnungsamtes zum anderweitigen Parken weggeschickt wurden. Dazwischen wuselten vereinzelte Käufer herum, während Mitarbeiter der Straßencafés, die ab sechs Uhr Frühstück anboten, Tische und Stühle nach draußen räumten. In diesem Punkt blieb sich das berühmte Hamburger Arbeiterviertel treu. Auch wenn es sich an vielen Stellen längst zur schicken Meile gewandelt hatte, in der statt Antifa und Hausbesetzer die ›Reichen und Schönen‹ Einzug gehalten hatten.
Miri, die gerade von einer Party heimkehrte, zu der sie Felix, Katjas Hipsternachbar, mitgenommen hatte, ließ ihren Blick über die Rote Flora gleiten. Das besetzte, ehemalige Theater beherbergte heute ein autonomes Kulturzentrum, das fast ein wenig verloren anmutete, wie es mit all seinen Graffiti, Plakaten und Spruchbändern zwischen den gepflegten Gründerzeitbauten hervorstach. Obwohl oder gerade weil das Gebäude mit dem zurückgesetzten Eingangsbereich und der roten Fassade stets ein wenig schmuddelig wirkte, mochte Miri es besonders, bewies es doch, dass es den Kleinen dieser Welt hin und wieder gelang, gegen die Großen zu bestehen.
Ein typischer Samstagmorgen auf dem Schulterblatt, dem Zentrum der Sternschanze, mit dem Geruch nach frisch gebackenem Brot, Kaffee und Fisch und einer beinahe infernalischen Lautstärke, zumindest für Miri, in der sich langsam eine gewisse Bettschwere breitmachte. Sie konnte kaum fassen, dass sie jetzt in Hamburg lebte, und wie lebendig die Stadt selbst am frühen Morgen war. Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ein Quietschen begleitete jeden ihrer Schritte. Es kam von dem eiernden Rad eines Einkaufswagens, den sie nach einem morgendlichen Spontaneinkauf aus dem Supermarkt hatte mitgehen lassen. Und es nervte. So sehr, dass Miri beinahe gegen das Rad getreten hätte. Zum Glück wurde sie sich noch rechtzeitig ihrer nackten Füße bewusst. Ihre Schuhe oder besser der eine Schuh, der ihr nach der Party geblieben war, steckte in ihrer Handtasche. Die wiederum lag neben Fertigpizza, Brot, Käse, einigen Rotweinflaschen und dem ehemals schicken Glitzerjäckchen, das am Vorabend seinen großen Auftritt gehabt hatte, im Wagen. Allerdings glich es heute Morgen eher einem zerknitterten Putzlumpen als einem modischen Accessoire. Es bestand wenig Hoffnung, die Rotweinflecken jemals wieder rauszubekommen. Ein Schicksal, das in den letzten Wochen diversen von Miris Lieblingsklamotten zuteilgeworden war. Genau genommen, seit sie in Hamburg lebte. Zu Hause in Stade hatte sie stets gut auf die teuren Stücke aufgepasst, was so viel hieß, dass sie ein einsames Dasein im Kleiderschrank fristeten, wo sie auf den einen besonderen Anlass warteten, der niemals kam.
Lieber in einer wilden Nacht dem Partygott geopfert, als ewig ungetragen im Schrank gehangen, tröstete sich Miri, während sie sich langsam auf dem Bürgersteig fortbewegte. Nur um ihr liebstes Paar Peeptoes – die bequemen mit der silbergrauen Schnürung – würde sie sicher noch die eine oder andere Träne weinen. Hätte sie sie nur nicht ausgezogen. Aber selbst der bequemste Schuh wurde irgendwann zur Qual, wenn man ununterbrochen auf der Tanzfläche herumhüpfte. Deshalb hatte Miri die Peeptoes irgendwann sorgsam in einer Ecke verstaut und barfuß auf den schönen Altbaudielen weitergetanzt. Anscheinend nicht sorgsam genug, denn als sie sie in den frühen Morgenstunden hatte anziehen wollen, waren die Schuhe verschwunden – und das auf einer Hausparty! Selbst nach intensiver Suche hatte sie leider nur einen ihrer Lieblinge wiederfinden können.
Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, wie sie zunächst erfolglos unter die mattschwarzen, deckenhohen Designerregale gespäht hatte. Zum Glück hatte sich die Wohnung da schon merklich geleert. Ein paar Plastikbecher lagen herum, auf den Klötzen aus rohem Holz, die als Couchtische dienten, stapelten sich leere Gläser. Ein einzelnes Paar drehte sich im Klammerblues auf der freien Fläche vor zwei Sofalandschaften, auf denen locker eine Fußballmannschaft Platz gefunden hätte. Mehr Mobiliar gab der Raum nicht her. Leider auch keine silbergrauen Peeptoes.
Auf einem der Couchmonster wand sich ein Paar in einer Art ekstatischem Kuschelmodus. Miri hatte einen Seufzer ausgestoßen, ehe sie sich mit Todesverachtung auf den Boden geworfen hatte, um unter das freie Sofa zu kriechen. Vergebens! So hatte sie ihre ein Meter siebzig zu der zweiten Couch geschoben. Das Paar, das darauf rummachte, als gäbe es kein Morgen, ließ sich nicht stören, als Miri den Schuh hervorangelte. Sie hatte kurz darüber nachgedacht, sich demonstrativ zu räuspern, doch das wäre noch peinlicher gewesen. Selbst jetzt, als sie wieder daran dachte, spürte sie, wie ihr die Hitze in ihre Wangen stieg. Es gab einfach Dinge, die verkniff man sich in der Öffentlichkeit, fand sie, auch wenn sie wusste, dass Katja angesichts dieser Einstellung einmal mehr über sie schmunzeln würde. Sie seufzte leise. Wie sehr sie sich auch bemühte, die coole Großstadtfrau zu sein, tief in ihr steckte weiterhin das Kleinstadtmädchen, das sich nach Liebe sehnte und nicht nach einem One-Night-Stand. Immerhin, einen der Schuhe hatte Miri gefunden.
Es war kurz nach sechs auf dem Rückweg von dieser Party gewesen, als Miri auf die geniale Idee verfallen war, den Taxifahrer zu bitten, an der Ecke mit dem 24-Stunden-Supermarkt zu stoppen. Genial vor allem, weil es dort einen halbwegs guten Kaffee gab, und mit einem Becher heißen, dampfenden Kaffees in der Hand shoppte es sich gleich doppelt so gut. Immer noch ein wenig euphorisch vom vielen Wein fühlte Miri sich nicht einmal unwohl zwischen all den frisch geduschten Frühaufstehern, die durch die Reihen reich gefüllter Regale flanierten. Es ging einfach schneller, wenn sie auf dem Heimweg Nachschub für den Kühlschrank und zum Vorglühen für den kommenden Abend einkaufte. So blieb mehr Zeit zum Schlafen, für eine große Dosis Koffein am späten Nachmittag und eine Pizza Quattro Formaggi. Wie immer, wenn Miri an Käsepizza dachte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie liebte geschmolzenen Käse.
Eigentlich hatte sie gleich geahnt, dass es keine gute Idee war, für den restlichen Weg nach Hause den Einkaufswagen mitzunehmen, aber um alles in den Händen zu tragen, hatte sie viel zu viel eingekauft. Übermüdet und immer noch ein wenig angetrunken hatte sie keine andere Lösung gesehen, als den Einkaufswagen kurzerhand mitzunehmen. Denn Tüten, die sie nicht selbst mitgebracht hatte, kamen aus Umweltschutzgründen nicht infrage, egal, ob Plastik oder Papier. Blieb also für den Transport nur der Einkaufswagen, den sie ja lediglich auslieh. Spätestens morgen würde Miri ihn zurückbringen. Sie hoffte, dass keine der Kassiererinnen bemerkte, wie sie mit dem Wagen davonhastete. Galt das Mitnehmen von Einkaufswagen eigentlich als Diebstahl?
Als Miri kurze Zeit später hinter der Roten Flora in die ruhigere Juliusstraße einbog, versperrte ihr ein Hindernis den Weg. Anscheinend hatte ein Haufen übereinandergeklebter Konzertplakate der Gewalt des Gewitters, das zwei Nächte zuvor getobt hatte, nicht standgehalten und sich von der Wand gelöst. Miri hielt Ausschau nach einer Möglichkeit, das Plakatnest zu umgehen, doch es gab kein Durchkommen, weder auf dem Gehweg noch über die Straße. Die Autos standen zu dicht – Parkplätze waren rar gesät in diesem Viertel.
Zum Glück waren die meisten Nachtschwärmer und Frühaufsteher, die um diese Uhrzeit unterwegs waren, freundliche Menschen. Ein Mittvierziger mit Vollbart und Sparkassenanzug, der kurz nach Miri in die Juliusstraße eingebogen war, fackelte nicht lange. Mit einem Ächzen hob er den Einkaufswagen an und setzte ihn oben auf den Plakatberg. Von dort ließ er ihn vorsichtig hinabrutschen, ehe er Miri galant, wenn auch ein wenig unbeholfen, die Hand hinhielt und ihr hinüberhalf.
Anfangs, als Miri vor wenigen Wochen nach Hamburg gezogen war, hatte sie sich noch gefürchtet, wenn sie allein nach Hause gehen musste, selbst, wenn es draußen bereits hell war. Inzwischen fühlte sie sich viel sicherer, zumindest, solange weitere Menschen auf der Straße waren. Sie lächelte dem Mann zu und bedankte sich freundlich, bevor er eilig weiterhastete. Wahrscheinlich arbeitete er für irgendeinen fiesen Sklaventreiber, bei dem er um Punkt sieben auf der Matte stehen musste.
Miri legte eine kurze Pause ein und betrachtete die Menschen um sich herum. Eine bunte Mischung lebte in diesem Stadtteil. Vom Hipster mit gestyltem Bart, Holzfällerhemd und handgefertigten Manufaktur-Hosenträgern bis zum langhaarigen, leicht angeschmuddelten Althippie in gebatikter Tunika, die in allen Regenbogenfarben leuchtete, über Mütter mit Babytragen und Kindern an der Hand war alles dabei. Und Miri mittendrin, dazugehörig, angekommen in ihrem kleinen persönlichen Stück Großstadtleben.
Eine Frau musterte Miri im Vorbeigehen, so wie Miri die anderen Passanten angesehen hatte, und schüttelte amüsiert den Kopf. Aus einem Impuls heraus, bei dem wohl auch noch ein gehöriger Schuss Restalkohol mitmischte, hob Miri die Hand, dann warf sie mit einem eleganten Kopfschwung ihre Locken zurück, bevor sie der Dame lachend zuwinkte. Wie die Queen oder doch eher Cinderella für Arme, ging es ihr durch den Kopf. Sie kicherte, als die Passantin bereits weitergegangen war. Wenn ihr Ex sie jetzt sehen könnte! So selbstbewusst und euphorisch war sie schon lange nicht mehr gewesen, was allerdings möglicherweise auch daran lag, dass die letzte Zeit mit ihrem untreuen Urologen alles andere als glücklich gewesen war. Karsten hatte sich wirklich als Sargnagel für ihr Selbstbewusstsein entpuppt.
Zurück zu Cinderella, sagte sie sich, um diese unschönen Gedanken zu vertreiben. Und wer wusste es schon: Vielleicht fand sich ja gerade hier in Hamburg demnächst der Prinz, der ihr glückstrahlend den zweiten Schuh an den Fuß steckte. Was gar nicht so unwahrscheinlich war, schließlich hatte sie in der Wohnung der Gastgeber einen Zettel hinterlassen, für den Fall, dass sich ihr bestes Stück beim Aufräumen nach der Party wiederfände. Wobei, ob ein Prinz sich melden würde, war gar nicht mal sicher. Es könnte sich ebenso gut um eine Prinzessin handeln, was daran lag, dass Miri nicht die geringste Ahnung hatte, bei wem sie in der vergangenen Nacht zu Gast gewesen war. Sie war einfach der Einladung von Felix gefolgt, der wiederum kannte jemanden, der jemanden kannte, oder so ähnlich. Nach dem riesigen Fiasko mit ihrem Ex brauchte Miri einfach ein bisschen Abwechslung, lachende Menschen um sich herum und eine Gelegenheit, die Traurigkeit, die manchmal in ihr hochkam, wenn sie an Karsten und das gruselige Ende ihrer Beziehung dachte, einfach wegzutanzen.
In Stade hätte sie sich niemals getraut, auf einer wildfremden Party aufzutauchen. Aber hier in Hamburg nahm man die Dinge nicht so bierernst, und Miri hatte schon vor ihrer Abreise fest vorgehabt, sich von der lebenslustigen Stimmung mitreißen zu lassen. Bisher hatte sie die Entscheidung herzuziehen nicht bereut, auch wenn sie im Moment noch mit Katjas schmaler Couch vorliebnehmen musste. Ein Glück, dass sie so schlank war.
Eine Gestalt schob sich in Miris Blickfeld und unterbrach ihren Gedankenfluss. Es handelte sich um einen Mann in Bluejeans und Leinenhemd, der nun dicht an den Einkaufswagen herantrat. Miri zog überrascht die Luft durch die Zähne. Wow! Das war nicht irgendein Mann. Ein kantiges Kinn, dunkle Haare, die zum Anfassen einluden, und Augen, so blau wie das Meer, wenn der Abend dämmerte. Ein gelungener Kontrast zu dem Lächeln, das um seine Lippen spielte, fand Miri. So ein Mann am frühen Morgen war nicht nur rein optisch eine ziemliche Überraschung. Mit großen Augen starrte sie ihn an.
Reiß dich zusammen, schau woandershin, Miriam!, befahl sie sich, allerdings mit mäßigem Erfolg. Ob unter dem lässigen Hemd wohl ein Sixpack steckte? Der Fremde lächelte Miri an, und sie konnte nicht anders, als verzaubert zurückzulächeln.
Während sie noch überlegte, warum er bei ihr stehen geblieben war und ob er sie vielleicht ansprechen wollte, ließ er eine Hand in die Hosentasche gleiten. Ob er jetzt sein Smartphone hervorzog, um sie nach ihrer Nummer zu fragen?
Doch zu ihrer Verwunderung hielt er ihr statt seines Handys einen Zwanzigeuroschein entgegen.
»Kaufen Sie sich neue Schuhe davon«, sagte er freundlich.
Miris Gedanken stockten. Was hatte er gerade gesagt?
»Ich weiß, es ist nicht viel, nehmen Sie es als Grundstock.« Er lächelte immer noch. »Bestimmt kommen bald bessere Zeiten«, fügte er hinzu. »Sie sind noch jung, Sie schaffen das.«
»Was schaffen?«, fragte sie verwirrt. Wovon redete er denn nur?
»Wieder auf die Beine zu kommen«, antwortete er ermutigend und steckte den Geldschein in den inzwischen leeren Kaffeebecher, den Miri mangels Mülleimer im Einkaufswagen deponiert hatte.
Jetzt erst begriff Miri, was er meinte. »Ähm …« Mehr brachte sie nicht hervor. Er hielt sie für eine Obdachlose! Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und ihre Ohren heiß wurden. Bestimmt leuchtete ihr Kopf wie das rote Ampelmännchen.
Einen Augenblick stand sie stocksteif da. Dann schaltete ihr Instinkt auf Fluchtmodus, ihre übliche Reaktion auf unlösbar peinliche Situationen. Sie senkte den Kopf und setzte sich abrupt in Bewegung, so schnell es der quietschende Einkaufswagen zuließ. Erst als sie die nächste Kreuzung hinter sich gebracht hatte, erlaubte sie sich anzuhalten. Schwer atmend blickte sie sich um. Hinter ihr war niemand, auch nicht der schöne Mann. Erleichtert und zutiefst beschämt atmete Miri ein paarmal bewusst ein und aus, um dieses fiese Schamgefühl loszuwerden. Das sollte helfen, unangenehme Bilder und Gedanken loszulassen – behauptete zumindest ihre Yogalehrerin. Wie peinlich, dass ausgerechnet dieser gut aussehende Mann von ihr gedacht hatte, sie könne sich keine Schuhe leisten.
Mehr oder weniger gesammelt wollte Miri gerade die letzten paar Hundert Meter in Angriff nehmen, als ihr Blick auf den Zwanziger fiel, der in dem leeren Kaffeebecher steckte. Warum um alles in der Welt hatte sie das Geld mitgenommen, als sie geflohen war? Sie war einfach zu verwirrt gewesen von seiner Annahme, sie wäre pleite, schließlich bewiesen ihre schicken Klamotten und der sündhaft teure Longbob, den sie sich vor einer Woche hatte schneiden lassen, das Gegenteil! Mist! Sie hätte ihm den Zwanziger zurückgeben sollen, ehe sie geflohen war. Hatte er allen Ernstes eine Obdachlose in ihr gesehen?
Dass der Kerl die fehlenden Schuhe überhaupt bemerkt hatte … Okay, da war noch der Einkaufswagen. Und wahrscheinlich die Ränder unter ihren Augen und vielleicht noch das nach der durchtanzten Nacht etwas verwischte Make-up. Dennoch … Kein Grund, ihr Geld anzubieten! Irritiert und zugleich verärgert stopfte Miri den Zwanziger in die Handtasche, zog stattdessen das Smartphone daraus hervor und betrachtete sich im Selfie-Modus.
Was sie sah, ließ sie schlucken. Statt einer souveränen Großstadtfrau starrte ihr eine übernächtigte Pandabärin mit Lippenstiftresten in den Mundwinkeln entgegen. Wo waren die sorgfältig geschminkten Smokey Eyes geblieben? Und was war mit ihrem Outfit geschehen? Sie sah aus, als hätte sie in ihrer Kleidung geschlafen. Auf dem weißen Top prangte ein enormer Rotweinfleck, der rote Minirock wirkte billig im hellen Tageslicht. Kein Wunder, dass der Kerl sie für eine Obdachlose gehalten hatte. Sie bot alle Attribute, sah man einmal davon ab, dass sie nur wenig Habe und stattdessen Lebensmittel mit sich herumfuhr.
Mit einem Mal breitete sich bleierne Müdigkeit in Miri aus. Sie ließ den Blick über ihre Umgebung schweifen. Ein paar Hundert Meter entfernt beleuchtete die Morgensonne eine hellblaue Fassade. Dahinter lag Katjas Appartement. Die kleine Seitenstraße schien sich herausgeputzt zu haben, so sauber und adrett wirkten die Gebäude. Ein frisch renovierter Altbau reihte sich an den anderen. Hier ein bisschen Gründerzeit, dort ein wenig Jugendstil, an jeder Etage ein schmiedeeiserner Balkon. Miri seufzte. Hoffentlich schliefen die Nachbarn noch. Ein Walk of Shame, ob wahrhaftig stattgefunden oder nur in den Köpfen der Beobachter, war niemals nachbarschaftstauglich. Wenn ihr jemand begegnete, würde sie im Boden versinken.
Was für ein Traumtyp-Desaster! Typisch Murphys' Law, nach dem bekanntlich stets das Schlimmste passierte, was in diesem Augenblick denkbar war, so wie eine herunterfallende Toastscheibe grundsätzlich auf der Marmeladenseite landete. Andere Frauen leisteten sich vielleicht einen Bad-Hair-Day, sie hingegen präsentierte sich kurzerhand als Obdachlose. Resigniert fuhr sie sich durch die Haare. In Sachen Traumtyp lief wirklich einiges schief. Entweder machte sie sich öffentlich zum Eimer, oder sie erwischte einen selbstverliebten Kerl wie den untreuen Urologen, der sie leichten Herzens gegen eine andere eintauschte.
Während sich Miri wieder in Bewegung setzte, fasste sie einen Entschluss: So wie das Bücherschiff einen Neustart für ihre Karriere bedeutete, gelänge ihr hier in Hamburg auch ein Neustart für die Liebe. Männer wie Karsten konnten ihr gestohlen bleiben, sie würde es schon noch allen zeigen! Mit diesen ermutigenden Gedanken stapfte sie Katjas Wohnung entgegen und einer heißen Dusche, die sie hoffentlich wieder in Cinderella verwandelte.
Kapitel 3
»Großartig!« Glücklich atmete Miri die warme Sommerluft ein, während sie die Szenerie in dem alten Hamburger Innenhof auf sich wirken ließ. »Tolles Fest! Schade, dass ich erst nächste Woche hier einziehe.« Neben Katja stand sie vor der Einfahrt zum Hof eines Altbaus in der Nähe des Rathenauparks. Nur noch eine Woche, und sie würde genau hier in ihre eigene Wohnung einziehen. Vor dem weißen Gebäude mit dem Jugendstil-Stuck über den großen Fenstern hatten die Anwohner Tische und Stühle aufgebaut. Darauf standen bunt zusammengewürfeltes Geschirr und Windlichter. In dem großen Baum in der Mitte des Hofes hingen Girlanden, Wimpel und Lichterketten, die sicherlich in den Abendstunden eingeschaltet würden.
»Du hättest heute dennoch keine Zeit.« Katja lachte. »Nicht vergessen, wir wollen hier nur kurz anhalten. Unser Bücherschiff wartet.«
»Das vergesse ich ganz bestimmt nicht. Dazu bin ich viel zu aufgeregt.« Miri klatschte in die Hände wie ein Kind. »Lass mich das noch zwei Minuten in Ruhe genießen, und dann geht's weiter.«
Während sie auf dem Weg zum Hafen durch Ottensen flanierten, genossen sie das bunte Treiben in den Straßen. Viele Menschen nahmen an dem Nachbarschaftsfest teil, das ganze Viertel hatte sich herausgeputzt, an jeder Ecke fanden sich Essbuden, Verkaufsstände und zahlreiche Getränkeausschänke. Die Polizei hatte die Gegend großzügig abgesperrt, sodass kein fahrendes Auto die festliche Stimmung trüben konnte. Überall auf den Straßen standen Tische, auf denen sich Speisen und Getränke türmten. Ein leichter Windzug trieb die verschiedenen Gerüche vor sich her. Da lag ein Hauch von Vanille und Waffeln in der Luft, aber auch der Duft von gegrilltem Fleisch und Fisch.
Miri hielt die Nase in den Wind und schnupperte genießerisch. »Yummi!« Sie wandte sich an Katja. »Ich könnte glatt was essen. Hast du auch so einen Hunger?«
»Du hast doch immer Hunger«, erwiderte ihre beste Freundin mit einem Grinsen im Gesicht. »Aber ich muss zugeben, es riecht verführerisch, da könnte ich meine guten Vorsätze fast vergessen.« Im Gegensatz zu Miri, die essen konnte, was und wie viel sie wollte, ohne zuzunehmen, kämpfte Katja dauernd mit ihrem Gewicht. Unnötigerweise, fand Miri. Aber schon auf dem Gymnasium in Stade, wo die beiden seit der fünften Klasse nebeneinandergesessen hatten, war das so gewesen. Es gab Frauen, die beneideten Katja um ihre weichen Rundungen. Nahm man noch die großen braunen Augen, die Stupsnase und die vollen Lippen dazu, stand man vor einer ausnehmend hübschen Frau, die mit dem Charme eines Mädchens von nebenan gesegnet war. Nur leider war Katja, die sonst in allem so selbstbewusst wirkte, was ihr Aussehen betraf, einfach blind. Miri seufzte innerlich und ignorierte Katjas Kommentar, denn weder gut zureden noch streiten half hier etwas, das wusste sie aus Erfahrung.
Einige Minuten später überquerten sie Arm in Arm die Elbchaussee und folgten nun einem der Wege durch die Grünanlage, die den Berg hinab zur Elbe führten. Am Aussichtspunkt Schopenhauerweg hielten sie kurz inne. Jetzt im Sommer gab das dichte Blätterdach nur geringe Teile des Museumshafens preis. Gerade mal das markante quadratische Backsteingebäude des Augustinums, eines noblen Seniorenheims, unter dessen gläserner Kuppel sich ein Café befand, und das Feuerschiff Elbe 3, das das linke Ende des vorgebauten Piers bezeichnete, lugten durch die Bäume. Dafür bot sich eine herrliche Sicht auf die gestapelten Container und die lange Reihe der blau-roten Kräne des modernen Hafens. Wie riesige, stählerne Giraffen standen sie auf vier festen Beinen, den langen Kranhals mehr oder weniger hoch in den Himmel gereckt.
Erst als sie ein Stück weiter hinabgestiegen waren, gaben die Bäume den Blick auf den Museumshafen frei.
»Wow!« Dieses Mal war es Katja, die ehrfurchtsvoll stehen blieb, und Miri konnte ihr nur zustimmen.
Schon an normalen Tagen, vor allem bei schönem Wetter, wimmelte es im Oevelgönner Museumshafen von Besuchern, heute jedoch tummelten sich Menschenmassen an den Kaimauern, genauso wie auf der Brücke und dem Pier.
»Besser hätten wir es nicht hinkriegen können«, sagte Miri, deren Herz mit einem Mal bedeutend schneller schlug. Sie war ein bisschen überwältigt von so viel Andrang.
Katja nickte begeistert. Die Idee, das Bücherschiff gerade an dem Tag zu eröffnen, an dem in Ottensen das Stadtteilfest stattfand, erwies sich als geradezu genial. Zumal die Verantwortlichen des Museumshafens die Feierlichkeiten in den Straßen um ein Hafenfest erweitert hatten.
Das Fest war bereits in vollem Gange, als die Freundinnen das Gelände betraten. Auf einem der Schiffe im linken Hafenbecken war eine Bühne aufgebaut worden, auf der eine Gruppe Musiker im New-Orleans-Jazz-Stil an ihren Banjos zupfte und in die Trompeten blies. Die Musik schien den Besuchern in die Beine zu gehen, denn nicht wenige hatten sich bereits auf die Tanzfläche gewagt.
Zu Miris und Katjas Freude würden dort den ganzen Nachmittag und Abend Live-Bands auftreten und die Eröffnung des Bücherschiffs so auch musikalisch untermalen.
Miri blickte sich um. In den letzten Wochen, so arbeitsreich sie auch gewesen waren, hatte sie sich jeden Tag mehr in den Hafen, seine Schiffe und die Menschen hier verliebt. Sie bewunderte die historischen Arbeitsschiffe im Hafen, allesamt fahrbereit und liebevoll hergerichtet. Da lagen Dampfschlepper und Kutter, ein Kranschiff, ein dampfbetriebener Eisbrecher und das Feuerschiff.
Auch am Kai des Museumshafens standen Kräne, die früher zum Verladen von Lasten genutzt worden waren: ein kleiner grauer, der sich gegen seine modernen Brüder am gegenüberliegenden Containerkai wie ein Krankind ausnahm, und ein noch kleinerer schwarzer Handkurbelkran, den die Kranriesen auf der anderen Seite sicher als Kranbabylein verlachten. Katja liebte diesen süßen, kleinen Kran, zumal zu seinen Füßen die Liegestühle eines Strandcafés darauf warteten, gemütlich einen Kaffee zu trinken.
Abgesehen vom Elbstrand, der nur einen Katzensprung entfernt lag, mochte Miri besonders den roten Leuchtturm, der früher auf der südlichen Landspitze von Pagensand, einer kleinen Insel in der Elbe, den Schiffen heimgeleuchtet hatte.
Normalerweise parkten Autos vor dem Kai. Heute jedoch stand hier ein Kinderkarussell, umringt von Müttern, Vätern und ungeduldig quengelnden Kindern, die es gar nicht erwarten konnten, eine Runde mitzufahren. Neben den ohnehin schon zahlreichen Möglichkeiten sich im Hafen zu verpflegen – da gab es Nuggis Elbkate, das Restaurantschiff Kleinhuis, die Elbterrassen und noch vieles mehr –, hielten heute diverse zusätzliche Fress- und Trinkbuden alles bereit, was das Herz der Hamburger und der Touristen begehrte. Beschwingt nahm sich Miri vor, sich später einen großen Eisbecher zu organisieren. Aber zuerst standen die Vorbereitungen für das Bücherschiff und danach die Eröffnung an.
Sie machten sich daran, die Bücher, die sie am heutigen Tag besonders präsentieren wollten, auf der Theke so zu arrangieren, dass sie gleich ins Auge fielen. Rechts von der silbernen Registrierkasse baute Katja ein paar ausgewählte Novitäten auf, bunt gemischt und bewusst nicht nach Genres sortiert. So stand neben einem neuen Abenteuer der »drei !!!« mit dem Titel ›Krimi, Krabben und ganz viel Nordsee‹, der türkisblaue Gedichtband ›In den Himmel schauen‹ aus dem Insel Verlag. Himmel und Meer passten ganz ausgezeichnet zueinander, hatte Katja erklärt, als sie vor einigen Tagen über die Bestellungen diskutiert hatten.
Gleich nebendran lag ein Stapel Krimis, dessen Cover ein Strandbild mit einer verblühenden Rose zierte. ›Mein Grab im Watt‹ lautete der aussagekräftige Titel. Auch ein Kochbuch hatte es in diese Reihe geschafft: ›Ostfriesland genießt Fisch: Gerichte und Geschichten vom Land am Meer‹.
Auf der anderen Seite der Kasse widmete sich Miri den Klassikern und all jenen, die vielleicht einmal zu solchen werden würden. So fand Melvilles ›Moby-Dick‹ seinen Platz neben Ulrike Renks ›Die Australierin‹, dem ersten Band einer dreiteiligen Auswanderersaga, die zuerst in Hamburg und später in Sidney spielte. Miri hatte sich die Reihe, die schon vor einigen Jahren erschienen war, ausgesucht, weil sie das Nachwort der Autorin ausgesprochen beeindruckt hatte. Darin schilderte sie, wie sie zu der Story gekommen war und wie viel daran auf wahren Begebenheiten beruhte. Außerdem bereicherte Frau Renk mit ihren historischen Familiengeschichten inzwischen regelmäßig die Bestsellerlisten, was sich nur positiv auf die Umsätze des Bücherschiffs auswirken konnte.
Zuletzt fanden noch ein zeitgenössischer Roman, eine romantische Liebesgeschichte und ein humorvoller Krimi auf der Theke einen Platz, allerdings nicht ganz so prominent präsentiert.
Zwei Stunden später waren sie so weit. Die letzten Bücher waren ausgepackt, die Kartons im Lager verstaut und verlockender Kaffeeduft waberte durch den Verkaufsraum.
Zu Miris und Katjas großer Freude hatte vor wenigen Tagen das Hamburger Abendblatt ausführlich über die anstehende Eröffnung der ersten schwimmenden Buchhandlung Hamburgs berichtet. Und tatsächlich schien der Artikel zahlreiche Neugierige angelockt zu haben. Am Kai standen sicher siebzig Wartende, die die große Schiffstaufe zur Eröffnung miterleben wollten.
Miri atmete ein paarmal tief durch, dann schritt sie die Gangway hinunter, um die Sektflasche an der vorbereiteten Vorrichtung zu befestigen. Katja, die neben ihr ging, schien genauso aufgeregt zu sein. Ihr normalerweise leicht dunkler Teint wirkte aschfahl.
Nebeneinander stellten sie sich vor den Bug der Barkasse. Mit einem weiteren tiefen Atemzug hob Miri die Flasche an.
»Hiermit taufen wir dich …«, vereinbarungsgemäß unterbrach sich Katja an dieser Stelle. Sie wollten den Rest des Satzes gemeinsam beenden. »… auf den Namen«, fuhren sie im Chor fort, »›Das kleine Bücherschiff‹.« Mit klopfendem Herzen ließ Miri die Sektflasche los, die auf die Außenwand des Bootes zupendelte. Plonck, ertönte es, als die unversehrte Flasche von der roten Schiffswand abprallte.
»Oh«, erklang der Chor der Zuschauer.
»Verdammter Sprottenschiet!« Miri lachte nervös. »Keine Sorge, das war nur die Generalprobe.« Einzelne Gäste stimmten in ihr Lachen ein. »Nu aber richtig.« Ein kleiner Applaus erklang. Miri suchte Katjas Blick, während sie fest die Hand ihrer Freundin drückte. »Diesmal mit Countdown ab drei«, rief sie.
Gemeinsam zählten sie – unterstützt von zahlreichen Zuschauern – rückwärts. »Drei, zwei, eins. Wir taufen dich auf den Namen ›Das kleine Bücherschiff‹!«
Dieses Mal holte Miri weit aus und stieß die Flasche mit angehaltenem Atem und aller Kraft in Richtung der Schiffswand. Das Glas zerplatzte mit einem Knall und entließ eine Fontäne schäumenden Sekts. Erst als Applaus aufbrandete, erlaubte sich Miri endlich weiterzuatmen, während Katja den Stofffetzen entfernte, der das Messingschild verborgen hatte.
»Das kleine Bücherschiff« stand in geschwungener Schrift darauf.
Die Aufregung ließ Miris Kopfhaut kribbeln. Es fühlte sich tatsächlich anders an, nur zu wissen, dass heute offiziell die Eröffnung ihrer Bücherschiffidee samt Taufe stattfand, als es jetzt schwarz auf Messing graviert lesen zu können. In diesem Augenblick begann nun also offiziell ihr Leben als schwimmende Buchhändlerin!
Nebeneinander schritten Miri und Katja über die Gangway zurück an Bord. In einer feierlichen Geste öffneten sie die rote Tür, die zum Salon der Barkasse führte.
»›Das kleine Bücherschiff‹ …«, rief Katja.
»… ist eröffnet«, beendete Miri den Satz, ehe sie hinter ihrer Freundin ins Innere trat. Sie nutzten den kurzen Augenblick, bevor die ersten Kunden eintraten, um einander einen erleichterten Blick zuzuwerfen. So weit hatte schon mal alles geklappt.
Nur wenige Atemzüge später folgten die ersten Gäste.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug. Miri und Katja verteilten Sektgläser, berieten große und kleine Kunden, zeigten staunenden Kindern die Spielecke und erfreuten sich an Geschenken und Unmengen an Blumensträußen, die ihnen zur Eröffnung überreicht wurden. Schon bald hatten sie sämtliche Gefäße, in die man Blumen stellen konnte – vom Eimer bis zum Wasserglas – auf dem Dach der Barkasse verteilt, ein bunter, wunderschön chaotischer Blumenteppich, der besonders Katja begeisterte. Und natürlich verkauften sie auch zahlreiche Bücher.
Überhaupt fand die Auswahl in ihren Regalen bei den Eröffnungsgästen regen Anklang. Die Leute waren hingerissen, und selbst die Gedichtbände, die Katja unbedingt hatte bestellen wollen, wurden ihnen aus den Händen gerissen, allen voran ›Mit Rilke ans Meer‹, einem Buch, in dem sich Rilkes Gedichte mit stimmungsvollen Fotos von Küste und Meer abwechselten. Damit hatte Miri nicht gerechnet. Sie verstand nicht viel von Lyrik, aber zum Glück hatte Katja darauf bestanden, ihr Sortiment auch dahingehend auszuweiten. »Wenn nicht das Meer, der Horizont, die Weite, das, was bei den meisten Menschen Sehnsucht, Fern- oder Heimweh weckt, das Herz für Gedichte öffnet, was dann«, hatte sie gesagt und damit recht behalten.
Schon drei Stunden nach der Schiffstaufe war klar: Dieser Tag könnte für »Das kleine Bücherschiff« und seine Besitzerinnen nicht besser laufen. Zwar verlangsamte sich der Strom der Gäste nach und nach ein wenig, aber immer noch stöberten interessierte Kunden durch das Sortiment, und alle paar Minuten klingelte die Kasse.
Als es einen Moment lang ruhiger wurde, ließ sich Miri erschöpft in einen der Ohrensessel plumpsen. Ausnahmsweise saß mal niemand darin. Ihre Beine taten weh, und sie fühlte sich ganz leer geredet von den vielen Verkaufsgesprächen, die sie geführt hatte. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb machte sich ein glückliches Gefühl von Zufriedenheit in ihr breit. Sie sah sich um. Tatsächlich schienen sie alles richtig gemacht zu haben. Die Gäste liebten das Sortiment, und die Einrichtung hatte so manchen zu Begeisterungsstürmen verleitet. Mal ganz abgesehen von den vielen Menschen, die sich zum Probelesen eine der gemütlichen Sitzgelegenheiten ausgesucht und dort eine Weile verbracht hatten. Wer verweilte, der kehrte zurück. Diese Weisheit hatten sie in einem Marketingratgeber gefunden, den sie als Vorbereitung zu ihrer Selbstständigkeit gelesen hatten. Nach der so harten letzten Phase in ihrem Job als Arzthelferin, wo sie bis zuletzt Seite an Seite mit ihrem betrügerischen Ex hatte arbeiten müssen, fühlte Miri sich nun endlich so, als hätte sie wirklich etwas erreicht. Vor allem etwas, das ihr wichtig war. Bücher waren seit jeher ihre Zuflucht gewesen, besonders in schwierigen Zeiten. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als diese Freude nun weiterzugeben.
Fröhlich schwätzend kam eine größere Gruppe Kunden durch die rote Eingangstür. Miri sprang auf, schnappte sich ein Tablett und ging auf die Neuankömmlinge zu.
»Herzlich willkommen auf unserem einzigartigen ›Kleinen Hamburger Bücherschiff‹! Bei uns finden Sie alles, was mit dem Meer zu tun hat, und noch einiges mehr! Und was wir nicht dahaben, können wir binnen eines Tages bestellen. Natürlich auch zu jedem anderen Thema. Einen Bellini? Oder ein Glas Saft?«, wiederholte sie die Sätze, die sie an diesem Tag schon oft gesagt hatte. Nachdem sie erklärt hatte, wo die verschiedenen Genres zu finden waren, zerstreute sich die Gruppe, um gemütlich durch den Salon zu stöbern.
»Olivia Jones hängt schief«, erklang eine freundliche Frauenstimme hinter Miri.
Miri wandte sich um. Ihr gegenüber stand eine Dame in einem schicken Kostüm und zeigte auf die besagte Möwe. »Diese Möwe führt ein Eigenleben.« Miri trat an Olivia heran und schob die Holzplatte, auf der die Möwe montiert war, wieder in eine gerade Position.
Die Frau lachte. »Sie passt zu Ihrem grandiosen ›Kleinen Bücherschiff‹. Und zu ihrer Namensgeberin«, ergänzte sie. »Wenn ich das richtig sehe, lässt sich die echte Olivia auch nicht in irgendwelche Normen pressen.«
»Es gefällt Ihnen bei uns?« Miri spürte, wie eine leichte Röte in ihre Wangen zog. Sie freute sich immer noch jedes Mal wie eine Seekönigin, wenn jemand ihr ein Kompliment über »Das kleine Bücherschiff« machte.
»Ja, sehr! Ich bin übrigens Julia Kramers vom Hamburger Abendblatt. Vor einigen Tagen habe ich mit Ihrer Partnerin telefoniert«, stellte sie sich vor.
»Freut mich.« Miri schluckte gegen die Aufregung an, die sich in ihr breitmachte. Mit einem Lächeln schüttelte sie die dargebotene Hand der Journalistin. »Ich habe Ihren Artikel gelesen. Er war toll und hat uns viele Gäste beschert.«
»So soll es sein.« Frau Kramers wirkte hochzufrieden. »Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«, fragte sie dann. »Ich dachte mir, wo es doch gerade so gut läuft, schicken wir noch einen Artikel über die heutige Eröffnung hinterher.«
»Das wäre großartig.« Miri sah sich im Raum um. Gerade war es nicht allzu voll, sodass Katja gut ohne sie zurechtkam. »Wie wäre es mit einem Kaffee in der Kombüse? Da können wir in Ruhe reden«, schlug sie atemlos vor. »Ich gehe mal voraus.«
Wenige Minuten später saßen sich Miri und die Journalistin auf den beiden Klappstühlen, die gerade so in die winzige Küche passten, gegenüber, jede eine dampfende Tasse mit frisch gebrühtem Kaffee in der Hand. Nach und nach – nicht zuletzt durch die Freundlichkeit der Journalistin – beruhigten sich auch Miris Nerven wieder. Immerhin, die Aufregung war legitim, schließlich hatte sie noch nie so etwas wie ein Interview gegeben.
»Erzählen Sie mir doch mal ein bisschen was zum Boot, über die Geschichte der Barkasse. Und es wäre schön, wenn die Leser auch etwas darüber erfahren würden, wie aus einer alten Hafenbarkasse Ihr ›Kleines Bücherschiff‹ geworden ist.«
Miri sammelte sich und ratterte kurz die Fakten hinunter: 1938 vom Stapel gelaufen hatte der Kahn Post befördert, ehe er Jahrzehnte später zur touristischen Hafenbarkasse umgebaut worden war. »Die Vorstellung, eine Buchhandlung auf einem Schiff einzurichten, mit dem früher Passagiere durch den Hafen geschippert wurden, hat uns vom ersten Moment an begeistert«, erklärte sie. »Katja hat das Schiff gefunden, bei einem Spaziergang vor gut sechs Monaten. Da war es noch reichlich verfallen, zumindest äußerlich. Das Technische hatte der Eigentümer schon hergerichtet. Nur auf die Renovierung der Aufbauten hatte er wohl keine Lust mehr.«
»Das ist aber sicher beim Hafenverein nicht gut angekommen. Soviel ich weiß, liegen hier ausschließlich restaurierte Schiffe.«