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Eine alte Barkasse, die von zwei Freundinnen zu einer schwimmenden Buchhandlung umgestaltet wird. Ein romantischer Neuanfang für eine junge Frau, die wieder Vertrauen in die Liebe finden muss – Winterzauber auf dem kleinen Bücherschiff ist ein unwiderstehlich charmanter Liebesroman voller Humor.
Das kleine Bücherschiff ist eine feste Institution im Hamburger Hafen. Die engagierten Buchhändlerinnen Miri und Katja sind Büchermenschen mit Leidenschaft. Zwischen Stammkunden und Leseempfehlungen ist Katja voll und ganz damit beschäftigt, Miris Hochzeit zu organisieren. Mathis, der Trauzeuge des Bräutigams, funkt ständig dazwischen, anstatt zu helfen. Sein nordisch-rauer Charme und sein verschmitztes Lächeln ziehen Katja überraschend an. Doch als ein Geheimnis aus der Vergangenheit Katja einholt, gerät sowohl ihre aufkeimende Beziehung zu Mathis als auch das kleine Bücherschiff in Gefahr. Gelingt es ihr, die schwimmende Buchhandlung zu retten und Mathis zurückzugewinnen?
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Seitenzahl: 561
Tessa Hansen
Winterzauber auf dem kleinen Bücherschiff
Roman
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5068.
© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78143-1
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1 Das Bücherschiff im Winterkleid
Kapitel 2 Doppelte Rührseligkeit
Kapitel 3 Ein Job mit Verantwortung
Kapitel 4 Selbstmord im Kaufhaus
Kapitel 5 Book January
Kapitel 6 Morgenstund hat Fisch im Mund
Kapitel 7 Kaperfahrt ins Glück
Kapitel 8 Stampi
Kapitel 9 Es stockt im Getriebe
Kapitel 10 Zimtgestöber
Kapitel 11 Ein Sturm zieht auf
Kapitel 12 Bücherflohmarkt
Kapitel 13 Daten für Fortgeschrittene
Kapitel 14 Fetzen und Funken
Kapitel 15 Zweisamkeit
Kapitel 16 Unerwartete Nachrichten
Kapitel 17 Unverhofft kommt oft
Kapitel 18 Gutes Karma – schlechtes Karma
Kapitel 19 Von Eisschollen und unsicherem Grund
Kapitel 20 Willkommen Greta
Kapitel 21 Schwarzes Schaf
Kapitel 22 Roadtrip
Kapitel 23 Jetzt aber hurtig
Epilog
Informationen zum Buch
Winterzauber auf dem kleinen Bücherschiff
Kapitel 1
Als Katja an diesem Morgen den Verkaufssalon des »Kleinen Bücherschiffs«, betrat, brachte sie neben einem kalten Windzug auch einen bis oben hin vollgepackten Rucksack mit. »Es wird Zeit, die Herbstdeko gegen etwas Winterlicheres auszutauschen«, sagte sie statt einer Begrüßung, während sie die korallenrote Tür hinter sich ins Schloss zog. »Winter is coming«, fügte sie mit Grabesstimme hinzu und erntete ein Lachen von Miri, die die Anspielung auf George R. R. Martins ›Game of Thrones‹-Serie natürlich sofort begriffen hatte.
Katja nickte ihrer besten Freundin zu. Miri, die hinter der langen Verkaufstheke aus Mahagoni stand, erwiderte das Nicken, wandte sich aber schnell wieder den Münzen und Geldscheinen zu, die sie gerade in die Kasse zählte.
»So, fertig!«, sagte Miri kurz darauf und wischte sich die Hände an ihrer dunkelblauen Jeans ab. »Wenn wir nicht erst in einer halben Stunde öffnen würden, könnten die Kunden jetzt kommen.« Wie zur Bestätigung ließ sie die antike, silberne Registrierkasse klingeln.
Katja lächelte. Sie erfreute sich jedes Mal an dem Geräusch. Und nicht nur sie, auch die Kunden – vor allem die Kinder – liebten das fröhliche Klingeln.
Die Kasse diente nur der Aufbewahrung des Bargelds. Tatsächlich führten die Freundinnen ihre Kassenabrechnungen am Computer mit einem modernen Warenwirtschaftssystem. So konnten sie direkt bei ihrem Barsortimenter bestellen und natürlich jederzeit auf das Verzeichnis lieferbarer Bücher zugreifen, wenn Kunden nach einem bestimmten Titel oder Autor suchten.
Mit einem Ächzen ließ Katja den schweren Rucksack von ihren Schultern gleiten, ehe sie ihren Steppmantel im Lager deponierte. Dieses sogenannte Bücherlager – obwohl sie darin alles, nur keine Bücher lagerten – hatte in der ehemaligen Schlafkabine der Barkasse notdürftig Platz gefunden. Im Grunde bot sich dort gerade genug Raum für ein paar leere Kartons und einige Bücherkisten, dem wenigen, was sie an Technik oder Dekoartikeln verwahrten, einen schmalen Tisch und einen wackeligen Stuhl. Zusammen mit der winzigen Küche und einem Toilettenraum, der kaum die Ausmaße einer Besenkammer aufwies, lag das Lager unterhalb des Brückenaufbaus, dem unangefochtenen Reich von Kapitän Jansen, an einem winzigen Flur, den man vom Verkaufssalon aus durch eine Tür in der Stirnwand erreichte.
Auf dem Rückweg bog Katja kurz in die Kombüse ab und goss sich eine Tasse Kaffee ein, ehe sie in den angenehm warmen Salon zurückkehrte. »So, es kann losgehen!« Mit einem wohligen Stöhnen streckte sie ihre Gliedmaßen. »Der Rucksack war verdammt schwer.« Sie strich sich mit den Händen über die Schultern der weißen Hemdbluse, die sie zu einer nadelgestreiften Anzughose trug. »Mist! Meine Bluse ist ganz verknittert«, schimpfte sie leise. Mehrfach fuhr sie mit der flachen Hand über die Knitterfalten. Viel erreichte sie allerdings mit ihren Bemühungen nicht. Katja stieß ein unwirsches Grunzen aus. »Hoffentlich glättet sich das noch etwas durch meine Körperwärme.«
»Du bist hübsch genug«, erwiderte Miri kopfschüttelnd. »Die Kunden werden sich kaum abwenden, nur weil deine Bluse nicht perfekt aussieht.«
»Sicher nicht, aber es ist nun mal ein Zeichen von Professionalität, sich ordentlich anzuziehen, finde ich.« Seit sie die Barkasse gekauft hatten, strebte Katja danach, als ernstzunehmende Geschäftsfrau wahrgenommen zu werden. Zwar amüsierten sich ihre Freunde hin und wieder über sie, aber das ignorierte sie tapfer. Kleider machten nun mal Leute und je weniger mädchenhaft sie wirkte, desto besser.
Sie nahm einen großen Schluck aus der Kaffeetasse. »Schmeckt ein wenig anders als sonst, aber sehr lecker. Hast du Kakao reingetan?«
»Nur einen Teelöffel, aber es macht einen Riesenunterschied, findest du nicht?« Miri strahlte. Seit Ende August, also seit sie von der Schwangerschaft wusste, durfte sie maximal noch eine Tasse Kaffee pro Tag trinken, weshalb sie sich alle Mühe gab, diese bis zur Geburt in knapp fünf Monaten besonders zu genießen.
Katja lächelte ebenfalls. Es war so einfach, ihrer besten Freundin eine Freude zu machen, hin und wieder ein Kompliment reichte völlig aus. Wobei … So oberflächlich, wie diese Reaktion wirkte, tickte Miri nicht, im Gegenteil: Eitelkeit kannte sie nur vom Hörensagen. Wie auch sonst hätte sie es aushalten können, durch jedes Fettnäpfchen zu waten, das sich ihr in den Weg stellte?
Bei dem Gedanken daran schauderte es Katja. Sie war wirklich froh, dass es ihr für gewöhnlich gelang, ähnliche Situationen zu umschiffen. Sie wäre längst gestorben, wenn sie sich immer wieder solchen Peinlichkeiten aussetzen müsste. Außerdem hatte sie ihre eigenen Baustellen. Es reichte, sich beständig einen Zweikampf mit dem Hüftgold liefern zu müssen, das sich all ihren Bemühungen, dagegen anzuhungern, hartnäckig widersetzte, als hätte es ein Recht auf eine eigene Meinung.
»Was hast du denn Schönes mitgebracht?« Miri hatte sich dem Rucksack genähert und nestelte nun ungeduldig an den Schnüren, die den Stoff oben zusammenhielten. »Nun geh doch auf!«, schimpfte sie. An Katja gewandt fuhr sie fort: »Warum machst du da einen Knoten rein? Das nervt.«
»Du bist einfach nur zu ungeduldig. Abgesehen davon war da kein Knoten, sondern eine Schleife, bis du dir daran zu schaffen gemacht hast.« Katja lachte leise und stellte ihre Kaffeetasse auf dem meterlangen Verkaufstresen ab. Der Tresen war ursprünglich eine Hausbar gewesen, den die Freundinnen gemeinsam umgebaut hatten – Upcycling vom Feinsten.
Wobei … Miris Anteil am Handwerklichen hatte sich in Grenzen gehalten, es lag ihr einfach nicht, im Gegensatz zu Katja, die gern mit Bohrmaschine, Montagekleber und anderem Werkzeug herumhantierte. Es mochte daran liegen, dass all ihre Beziehungsversuche der letzten Jahre samt und sonders gescheitert waren und sie gezwungen gewesen war, sich selbst zu helfen, wollte sie nicht jedes Mal auf teure Handwerker angewiesen sein. Andererseits war sie schon immer geschickt gewesen, und wenn sie zusätzlich noch ihre Kreativität einbringen konnte, gelang es ihr meistens, etwas Schönes zu zaubern.
Deshalb war sie damals auch Floristin geworden, nachdem sie keine Ausbildungsstelle als Buchhändlerin gefunden hatte. In einem Blumenladen traf man eigentlich fast immer auf positiv gestimmte Menschen, die sich selbst oder anderen ein Geschenk machen wollten. Außerdem durfte man dort mit den Händen arbeiten und am Ende entstanden durch ebendiese Hände aus ein paar Blumen und Zweigen kleine Kunstwerke, die nicht nur das Auge, sondern auch die Nase erfreuten. Wenn sich im Frühjahr nicht die Möglichkeit mit der schwimmenden Buchhandlung ergeben hätte, wäre Katja sicher immer noch glücklich als Floristin.
So aber hatte sie ihre Fähigkeiten bei der Gestaltung des »Kleinen Bücherschiffs« eingesetzt. Katja blickte sich im Salon um. Natürlich hatte auch Miri dazu beigetragen, vor allem mit ihrem Gefühl für Farben und Formen. Das Ergebnis ihrer Arbeit konnte sich sehen lassen. Darauf durften sie mit Fug und Recht stolz sein. Und da sie beide – da standen sich Katja und Miri in nichts nach – über ein geschicktes Händchen im Umgang mit Kunden verfügten, würde »Das kleine Bücherschiff« hoffentlich noch lange auf der Erfolgswelle schwimmen.
Katja grinste in sich hinein. Sie liebte Wortspiele – eine Leidenschaft, die nicht viele ihrer Freunde teilten. Meist bekamen sie den Doppelsinn oder den Wortwitz, sofern sich einer darin verbarg, gar nicht mit und Katja musste ihnen mühsam auseinanderklabüstern, warum sie gerade wieder einmal vermeintlich ohne jeden Grund schmunzelte.
Das Talent der beiden Freundinnen, Kunden zu gewinnen, zeigte sich außer an den vielen Touristen, die die Barkasse ansteuerten, wenn sie den Museumshafen Oevelgönne besuchten, auch an der inzwischen erklecklichen Anzahl von Stammkunden: allen voran die Freunde aus Miris und Hennings Nachbarschaftsclique und die Journalistin Julia Kramers, die mehrmals die Woche – für gewöhnlich mit einer Flasche Wein oder Prosecco unter dem Arm – vorbeischauten, um es sich in der kleinen bordeauxroten Sitzecke aus der Biedermeierzeit gemütlich zu machen. Und dann gab es neben weiteren Anwohnern oder Menschen, die im Hafen arbeiteten, wie dem Gutscheinkäufer Mark und der blutigen Katharina, die sich regelmäßig mit neuem Lesestoff eindeckten, natürlich noch die alte Frau Tietgen, die mit vollem Namen Gerderuth Ermina Floriane Tietgen hieß und die täglich vorbeischaute, um es sich in der mittleren der drei Lesenischen an der Wand gegenüber des Verkaufstresens gemütlich zu machen. Dort saß sie dann im Vater aller Schaukelstühle, einem gut achtzig Jahre alten Vollholzstuhl, den Katja und Miri zusammen mit einem Beistelltischchen mit Glasplatte und unterlegtem Wiener Geflecht in der Nische platziert hatten. Unter dem wachsamen Blick der Möwe Jan Delay schmökerte Frau Tietgen dort in einem Liebesroman, den sie – kaum hatte sie ihn ausgelesen – kaufte und ihrer Trophäensammlung in der Bibliothek ihrer schneeweißen Villa am Elbhang hinzufügte. Die kleine alte Dame entstammte altem Hamburger Kaufmannsadel. Leider schützt Geld nicht vor Einsamkeit, umso glücklicher schien Frau Tietgen damit zu sein, in der schwimmenden Buchhandlung ein zweites Zuhause gefunden zu haben.
Das Innere der in den Dreißigerjahren zu Wasser gelassenen Barkasse punktete neben dem ausgewählten oder eigens hergestellten Mobiliar mit zahlreichen Originaldetails aus der maritimen Vergangenheit des Bootes. Da gab es zwei messingumrandete Bullaugen mitsamt der alten Verschlussmechanik, die Ladeluke, die sich bei schönem Wetter zum Dach hin öffnen ließ und so ein wenig Licht, Luft und Sonnenschein in den Verkaufssalon brachte, oder auch das dicke Tau, das die Ecken der Verkaufstheke abpolsterte. Und nicht zuletzt trug die gut fünf Meter lange Messingreling entlang der Theke zum maritimen Flair der schwimmenden Buchhandlung bei, wie auch die vielen kleinen Details, der Rettungsring, das Bild mit dem Dreimaster, die Kapitänsmütze und die Lesepfeife, die auf dem Beistelltisch neben dem Schaukelstuhl lagen, die Übungsstation für Schiffsknoten in der Kinderecke und nicht zuletzt Silvie Meis, Jan Delay und Olivia Jones, die drei Plüschmöwen, die wie Jagdtrophäen auf Holzbrettchen über den Sitzgruppen hingen und jederzeit das Geschehen im Salon im Auge behielten.
Jenen drei Möwen widmete sich Katja nun, nachdem sie den Inhalt des Rucksacks auf dem Boden ausgebreitet hatte. Silvie verpasste sie eine hübsche Strickmütze in Babyrosa, Jan bekam einen quietschgelben Südwester und Olivia, deren Cupcake-Frisur keine Kopfbedeckung zuließ, musste sich mit einem gelb-rot gestreiften Schal begnügen.
»Verdammter Sprottenschiet! Sind die niedlich«, bewunderte Miri die drei winterlich eingekleideten Möwen gebührend. »Wo hast du denn die Klamotten her?«
»Vom Kinderflohmarkt«, antwortete Katja.
»Wow!« Miri musterte die Kopfbedeckungen. »Die müssen aber für winzige Babys gewesen sein«, murmelte sie nachdenklich vor sich hin.
»Schon mal was von Puppen gehört?« Kopfschüttelnd betrachtete Katja ihre beste Freundin. »Bist du sicher, dass du für ein Baby bereit bist? Auf was für Gedanken du kommst. Vielleicht sollten wir besser noch ein paar Bücher über die verschiedenen Entwicklungsstadien bestellen.« Sie grinste breit.
»Och ne, bitte nicht noch mehr Lektüre. Ich komme so schon kaum nach und habe ständig das Gefühl, viel zu wenig zu wissen. Ich stand nur kurz auf dem Schlauch.« Miri stieß prustend den Atem aus. »Aber wahrscheinlich sind alle jungen Eltern erst einmal überfordert mit dem, was auf sie einprasselt, wenn ein Kind unterwegs ist. Da muss man sich gar nicht schämen. Da sind sich alle Ratgeber einig.«
»Solange das Kind überlebt, ist alles gut.« Katja kicherte. Der Gedanke, Miri in knapp vier Monaten mit einem eigenen Kind im Arm vor sich zu sehen, verwirrte sie immer noch, zumal so manche Entscheidung, die Miri traf, eher auf panischen Unfug statt auf durchdachtes Handeln schließen ließ. »Zum Glück steht Henning fest an deiner Seite. Ich finde das sehr beruhigend. Schließlich ist er dir um sechs Jahre voraus, Finn ist ihm gut gelungen, und er ist nicht so impulsiv wie du. Er würde jedenfalls nicht kapitulieren, nur weil ihm irgendeine Situation über den Kopf wächst, was man bei dir nicht mit Sicherheit ausschließen kann.«
»Ja, da bin ich auch froh.« Unbeirrt entwirrte Miri eine Außenlichterkette mit großen Glühbirnen. »Wie bringen wir die an?« Sie hielt eines der Lichter hoch.
»Mit Kabelbindern. Da muss irgendwo ein Paket sein.« Katja zog einen Karton mit drei verschiedenen Duftölen aus dem Dekohaufen. »Lebkuchen, Tanne und Zimt. Das wird ein Fest.«
»Irgendwie fühlt es sich merkwürdig an. Gerade war es noch sonnig und warm und schon steht Weihnachten vor der Tür. Vielleicht sollten wir nächstes Jahr die Herbstdeko etwas früher abnehmen.« Miri schob einen großen Teller, den ein Weihnachtsmann zierte, zur Seite. »Ich finde den Übergang fast ein wenig zu hart.«
»Der Herbst bringt Wind und Wellen, die gehören nun einmal fest zu unserem Thema.« Katja wies auf das Bild des Dreimasters an der Salonwand.
Als Spezialitätenbuchhandlung drehte sich auf dem »Kleinen Bücherschiff« alles um das Meer. Dazu bot sich ein schwimmender Buchladen in einem der größten Häfen Europas geradezu an. Nahezu alle Bücher, die in ihren Regalen auf interessierte Käufer warteten, wiesen einen Bezug zum Meer oder zu Inseln auf, gleichgültig ob Krimi, Liebesroman, Bildband, Sach-, Geschenk- oder Kinderbuch. Natürlich boten sie auch jedes andere Buch an, wenn sich Kunden dafür interessierten und sie über einen Tag Geduld verfügten. Aktuelle Best- und Longseller gehörten natürlich auch zum Programm. Dafür hatten Katja und Miri einen festen Platz auf dem langen Tresen geschaffen, direkt neben den Büchern über ihre Heimatstadt. Aktuell wurde es auf der gut fünf Meter langen Theke allerdings ein bisschen eng, denn die zahlreichen Weihnachtstitel, die schon seit Wochen dort auslagen, benötigten eine Menge Platz.
Wieder einmal entlockte Katja die Einrichtung des »Kleinen Bücherschiffs« ein Lächeln.
Miris Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ich baue gleich noch unsere besonderen Empfehlungen für Dezember auf. Das geht ja schnell. Ich freue mich schon so sehr auf die Bücher, vor allem auf den Liebesroman.« Seit sie aus Stade zurückgekehrt und nun richtig mit Henning zusammen war, verschlang Miri eine Romanze nach der anderen. »Dieses Buch von Emma Bishop, ›Ein schottischer Buchladen zum Verlieben‹, hört sich einfach toll an. Überhaupt, was gibt es Schöneres als ein Buch über eine Buchhandlung? Und dann noch idyllisches Kleinstadtflair, bunte Häuschen, Klippen und freilaufende Tiere. Ich glaube, ich muss unbedingt mal auf die Isle of Mull reisen. Schottland steht sowieso auf meiner Wunschliste.«
Katja nickte zustimmend. »Das geht mir nicht anders. Bücher über Bücher, Bibliotheken oder Buchhandlungen muss ich einfach lesen. Ich glaube, das liegt in meinen Genen.« Ihr schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Ich finde ja, unser ›Kleines Bücherschiff‹ hätte auch einen Platz in einem Roman verdient.« Ihr entfuhr ein kleines Kichern. »Stell dir nur vor, was hier für aufregende Geschichten spielen könnten.«
»Das Leben …«, nahm Miri den Gedanken auf, »schreibt die einzig wahren Geschichten. Allerdings scheint mir nicht jede davon wert, zwischen Buchdeckel gepresst zu werden«, unterbrach sie ihre philosophische Anwandlung. »Dass unser Leben spannend genug ist, um andere zu interessieren, wage ich zu bezweifeln.«
Nun lachte Katja lauthals. »Du bist witzig.«
»Selbstverständlich bin ich das.« Miri unterbrach sich, um in den Dekoartikeln aus dem Rucksack zu wühlen. »Wie hübschen wir denn die Bücherregale auf? Besser gesagt: Machen wir überhaupt etwas damit?«
Katja schüttelte den Kopf, während sie an das Regal mit den Krimis herantrat. »Besser nicht. Wenn, dann allemal an den Seiten. Aber eigentlich denke ich, weniger ist mehr.« Liebevoll ließ sie die Hand über die aufbereiteten Schiffsdielen gleiten, aus denen der Schreiner die deckenhohen Regale gefertigt hatte. Jeder Regalboden verfügte über ein schmales, vorgesetztes Holzbrett, damit nicht bei jeder kleinen Schaukelei die Bücher über die Planke gingen. Anlässlich der berühmten Kaperfahrten, wie Katja und Miri die Lesungen bei fahrendem Schiff nannten, konnte es schon einmal zu Wellengang kommen, schließlich nahmen die dicken Pötte keine Rücksicht auf die ehemalige Hafenbarkasse, die zuerst Post und dann später Touristen durch den Hafen geschippert hatte. »Für einen Tannenbaum haben wir auch keinen Platz. Wie fändest du es, wenn wir vorübergehend die Kaffeesäcke abnähmen und stattdessen Girlanden aus Weihnachtskugeln unter die Decke hängen? Dazu einen passenden Kranz an der Tür und einen kleinen, stilisierten Baum aus den gleichen Kugeln auf der Theke. In Silber, Hell- und Dunkelblau? Das passt zum Thema Meer und bildet einen spannenden Kontrast zu den Holztönen, die hier vorherrschen. Ich habe auch schon einen Laden im Zentrum im Sinn, wo wir die Sachen fertig für halbwegs kleines Geld bekommen können. Einfach übers Internet vorbestellen und abholen. Oder findest du die Farben zu modern?«, fragte Katja.
»Nein, nicht zu modern. Die Idee gefällt mir. Lass uns am besten gleich die Bestellung machen. Henning fährt heute Nachmittag ohnehin in die Richtung, er könnte die Sachen abholen, hierherkarren und uns beim Anbringen helfen«, schlug Miri vor.
»Ein ausgezeichneter Plan, der könnte glatt von mir sein.« Katja grinste. Sie hob einen Stapel kräftig roter Vliesdecken auf und drapierte sie über die Sessel, den Schaukelstuhl und die Sitzecke. »Was hältst du von einem elektrischen Kamin? Irgendetwas, das ein wenig Wärme abstrahlt – nicht zu viel – und das ein bisschen nach lodernden Flammen aussieht? Ein Bollerofen wäre schön, aber auf solche Stunts verzichten wir lieber. Offenes Feuer und Bücher vertragen sich nicht so gut miteinander, auch wenn ich gerade so einen alten Schiffsofen toll fände.«
»Meinst du so einen, wie er in der Döns steht? Der wird, glaube ich, mit Holz befeuert.« Miri blickte auf die Uhr. »Gleich zehn Uhr. Wir sollten öffnen.«
Eigentlich hatte sich Katja danach erkundigen wollen, woher Miri das Interieur der Döns so genau kannte, stattdessen bückte sie sich nun zu dem deutlich geschrumpften Dekohaufen hinunter. »Warte kurz. Ich packe das noch schnell zusammen und räume es raus, dann kannst du aufschließen.«
Schon bald trudelten die ersten Kunden auf dem »Kleinen Bücherschiff« ein. Zum Glück hielt auch das kälter werdende Wetter die Touristen nicht vollständig davon ab, den Museumshafen zu besichtigen oder in einem der umliegenden Restaurants und Cafés einzukehren. Ein kleiner Zwischenstopp bei Katja und Miri bot sich da immer an, zumal die Gastronomen stets Werbung für die schwimmende Buchhandlung machten.
»Darf ich es Ihnen einpacken?«, fragte Katja eine Kundin, die sich gerade für ein Buch zum Thema Angelsport entschieden hatte. Es schien sich um ein Geschenk zu handeln. Die elegant gekleidete Dame wirkte nicht, als verbrächte sie ihre Tage in wasserdichter Kleidung am Rande irgendwelcher Gewässer.
Seit Weihnachten allmählich näher rückte, kauften immer mehr Leute Bücher zum Verschenken. Besonders gut liefen natürlich die Weihnachtsromane. Katja hatte nicht geahnt, wie viele Weihnachtsromane es gab, Taschenbücher mit größtenteils glitzernden Covern wurden in rauen Mengen von den Verlagen angeboten. Anscheinend schrieb heutzutage jede Autorin, die etwas auf sich hielt, mindestens einmal im Jahr ein Weihnachtsbuch. Und nicht wenige dieser Titel spielten an der einen oder anderen Küste oder auf einer Insel. Ausreichend Material zum Thema Meer zu finden, gestaltete sich daher völlig unkompliziert, und so hatten sich die Freundinnen dazu entschieden, einen Teil des Verkaufstresens ausschließlich mit dieser Art Glitzerliteratur zu bestücken.
Seit Anfang November stieg der Geschenkpapierverbrauch auf dem »Kleinen Bücherschiff« immer mehr an. Inzwischen waren sie dazu übergegangen, in ruhigen Phasen verschieden große Papierstücke so vorzubereiten, dass sie die Bücher nur noch einschlagen, das Päckchen zukleben und eine der vorbereiteten Schleifen aufkleben mussten. Das Ergebnis sollte hübsch aussehen, ohne jedoch allzu viel Zeit für den reinen Vorgang des Verpackens in Anspruch zu nehmen.
Wie immer verging der Tag wie im Flug. Die Dämmerung senkte sich bereits über den Hafen, als Henning hochbepackt mit Tüten und Paketen »Das kleine Bücherschiff« betrat.
Hingebungsvoll begrüßte er seine Liebste. Zuerst küsste er sie auf die Stirn, dann auf Wangen und Lippen und schließlich bedachte er Miris inzwischen unübersehbaren Babybauch mit einem Küsschen. Katja stand ein Stück entfernt und kaute, ohne dass es ihr bewusst war, auf der Unterlippe herum. Erst als sie einmal zu fest zubiss und sie neben dem Schmerz auch den Geschmack von Blut im Mund wahrnahm, bemerkte sie ihr Verhalten.
»Mist!«, fluchte sie innerlich. Sie gönnte Miri und Henning das Glück wirklich von ganzem Herzen, aber dennoch … Jedes Mal, wenn sie das Paar beobachtete, die Art, wie sie miteinander umgingen, diese Innigkeit, die sie ausstrahlten, bohrte sich ein Dorn in ihr Herz und hinterließ eine winzige Wunde: nicht größer als die zerbissene Lippe und doch ungleich schmerzhafter. Die Sehnsucht, die sie in solchen Momenten befiel, der Wunsch, auch einmal eine glückliche Partnerschaft und Liebe zu erleben, lag tief vergraben in Katjas Seele. So tief, dass Katja sie an 23 Stunden und 59 Minuten eines jeden Tages zu verdrängen vermochte. Nur eben nicht diese eine verflixte Minute lang, die sie gerade durchlebte.
»An die Arbeit, Freunde!«, holte Miris Stimme Katja aus ihren Gedanken. »Das Bücherschiff schmückt sich nicht von allein.«
»Was soll ich tun?« Henning wandte sich an Katja. »Du bist hier die Handwerkerin. Sag an!«
»Im Bücherlager liegt eine Lichterkette mit großen Glühbirnen und ein Paket Kabelbinder. Die könntest du bitte außen anbringen, am besten einmal rund um die Reling auf Deck, und wenn die Länge reicht, dann auch noch auf dem Dach des Salons. Neben der Treppe zum Dach findest du die Außensteckdose«, erklärte Katja. »Und danach wäre es prima, wenn du die Kaffeesäcke abnehmen könntest und dafür die Kugelgirlanden verspannst. Den Kranz mache ich selbst schnell zwischen zwei Kundenberatungen an der Tür fest, und das Kugelbäumchen muss ja nur aufgestellt werden. Kommst du klar?«
»Logisch. Ich kenne mich aus, ich war schon ein paar Mal hier.« Henning zwinkerte den Freundinnen zu, dann drehte er sich um, holte die Lichterkette aus dem Bücherlager und verließ den Salon.
Drei fleißige Stunden später schloss Katja die korallenrote Tür hinter sich ab. Sie verließ das Schiff, klappte die Gangway hoch und befestigte das Schloss.
Am Kai wartete Miri bereits auf sie. »Sieht unser Schiffchen nicht wundervoll aus?« Sie wies mit dem Finger auf die Barkasse und das frisch polierte Messingschild mit der Aufschrift: »Das kleine Bücherschiff«.
Katja nickte. Der ganze Hafen sah einladend aus. Auch auf dem Kleinhuis, dem Restaurantschiff, das nicht weit entfernt lag, leuchteten einladende Lichter und auch einige andere Schiffe waren festlich geschmückt. Am ansprechendsten von allen aber wirkte »Das kleine Bücherschiff«. Henning hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte nicht nur die Lichterketten angebracht, sondern auch diverse Girlanden aus künstlichen Tannenzweigen, die Katja anschließend mit Kunstschnee besprüht hatte. Nur auf den Weihnachtsbaum, den sie zuerst an der Bugspitze hatten platzieren wollen, hatten sie schlussendlich verzichtet. Die Wind- und Wettersituation im Hafen hätte dem Bäumchen einfach zu sehr zugesetzt und es womöglich alsbald über Bord gehen lassen.
Katja trat ein paar Schritte zurück, um den Anblick besser genießen zu können, ehe sie ihr Smartphone hervorholte und ein paar Fotos schoss. Die Barkasse sah großartig aus, so einladend, auch jetzt, da kein Licht mehr hinter den Bullaugen glomm.
»Wer da nicht auf Anhieb Lust auf einen Besuch an Bord bekommt, muss es versäumt haben, sich am Vergabeschalter anzustellen, als die Romantik vom Universum verteilt wurde«, sagte Katja. Sie legte den Arm um Miris Schultern. »Findest du auch, oder? Ich meine: Jedermanns Gehirn, selbst das von Leuten, die sich als unromantisch bezeichnen, wird bei diesem Anblick doch sofort mit sehnsuchtsvollen Gefühlen geflutet.«
»Und mit der Lust, ein paar Bücher als Weihnachtsgeschenk für die Lieben zu kaufen«, ergänzte Miri.
Katja lächelte ihrer besten Freundin zu. Dann wiederholte sie den Satz, den sie schon so oft gesagt hatten. »Es ist und bleibt eben ein Bücherschiff zum Verlieben.«
Kapitel 2
»Ich bin pappsatt.« Stöhnend rieb Pablo seinen Bauch, während Katja sich entspannt zurücklehnte. Sie saßen wenige Tage nach der Schmückaktion auf dem »Kleinen Bücherschiff« in großer Runde in Hennings gemütlichem Wohnzimmer.
»Ey«, fauchte Anne, als Pablo seine Beine weit von sich streckte und dabei ihr Schienbein erwischte. »Nun pass doch auf.«
»Sorry, aber ich kann nichts dafür, dass es hier so voll ist.« Pablos entschuldigendes Grinsen wirkte aufgesetzt, zumal er sich unter dem viel zu kleinen Tisch mit Anne ein Fußgemenge lieferte.
Die nahm es sportlich. Sie warf ihm lediglich einen herablassenden Blick zu, ehe sie die Hand hob und seinen Kommentar mit einem Wink vom Tisch wischte.
Schmunzelnd ließ Katja den Blick zuerst über ihre Freunde und dann über die Teller schweifen, die nun allesamt ein Stück zurückgeschoben darauf warteten, abgeräumt zu werden. »Na endlich. Heute hattest du wohl den ganz großen Hunger«, wandte sie sich an Pablo. »Ich bin seit gefühlten drei Stunden fertig. Selbst Tim, unser ungekrönter König der Vielfraßabteilung, hat schon vor einer ganzen Weile sein Besteck niedergelegt.«
»Jepp«, bestätigte Tim. Er zog einen Flunsch, als wäre er kaum acht Jahre alt statt Anfang zwanzig. Dazu passend klang seine Stimme quengelig. »Wegen dir müssen wir ewig auf den Nachtisch warten.«
»Ach, lasst doch das Essen. Ich bin traurig«, unterbrach Liz das Geplänkel. Sie zog einen der Kerzenständer, die Miri und Henning überall im Wohnraum verteilt hatten, zu sich heran und begann am Kerzenwachs herumzupulen. »Habt ihr heute extra schön eingedeckt, um uns die Nachricht zu versüßen?« Sie geriet mit dem Finger in das Wachs. »Verdammt, ich habe mich verbrannt.«
»Natürlich hast du dich verbrannt. Hat es jemals jemand geschafft, an einer brennenden Kerze herumzuspielen, ohne sich zu verbrennen? Falls ja, steht derjenige ganz sicher im Guinnessbuch der Rekorde: Eine Stunde Kerzen beknibbeln ohne Wachsverbrennung.« Lachend beobachtete Katja die Nachbarschaftsclique, Liz, Tim, Pablo und Anne, die diese Bezeichnung trugen, weil sie im gleichen Haus wie Henning und Miri wohnten. Die vier waren eine eingeschworene Clique und innerhalb des Freundeskreises für die Geselligkeit zuständig. Sei es Tim, der seine Rolle als Student – Party, Party, Party – auch außerhalb des Campus ernst nahm, oder Pablo, der demnächst seinen 40. Geburtstag feierte und der seine freimütigen Unverschämtheiten stets als Direktheit bezeichnete. Anne war eher für ihre pointierten, manchmal unangenehmen Fragen berühmt, die sie hartnäckig so lange wiederholte, bis sie eine Antwort bekam. Und dann gab es noch Liz, die im Vergleich zu den anderen eher ruhig und durchdacht wirkte. Zusammen mit Anne bildete sie die altersmäßige Mitte der Gruppe. Außerdem war sie nicht nur freundlich und lebensklug, sondern auch ausgesprochen hilfsbereit. In diesem Punkt ähnelte Liz Julia Kramers, die heute, an diesem ersten Adventssonntag, ebenfalls Teil der Gruppe war und Katja gegenübersaß.
Einen Augenblick herrschte Ruhe in dem kleinen Zimmer, das Henning als Wohn- und Schlafraum diente. Dann seufzte Miri leise und wandte sich den Freunden zu. Sie saß ein Stück abseits in einem blau-weiß gestreiften Ohrensessel. Auf ihrem Schoß schlief Finn zusammengerollt wie ein kleiner Hund. »Wir würden liebend gern hier wohnen bleiben. Aber ihr habt es ja gerade selbst festgestellt: Für größere Personenansammlungen ist die Wohnung viel zu klein. Mit uns dreien ist es schon schwierig, und wenn Kitty erst einmal auf der Welt ist, wird es noch schlimmer.«
Kitty lautete der »Arbeitstitel« für das Mädchen, das in Miri heranwuchs, solange sie und Henning sich über den Namen ausschwiegen.
Katja lächelte ihrer besten Freundin zu. Sie wirkte glücklich mit ihrer kleinen Familie. Obschon ihr die Sache mit dem Umzug wirklich nahezugehen schien. Die Freunde aus der Nachbarschaftsclique hatten auch tüchtig gemeckert, nachdem Henning die Neuigkeit verkündet hatte. Für Katja machte es hingegen keinen Unterschied, ob Miri in Ottensen oder Wilhelmsburg lebte. Hamburg besaß ein ausgezeichnetes öffentliches Verkehrsnetz, und da Miri ja nicht nach Buxtehude umzog, lebte sie nur entspannte dreißig Minuten Wegezeit entfernt.
Miri reckte sich vorsichtig. In dieser Haltung ließ sich ihr wachsender Bauch deutlich erkennen. Katja lächelte in sich hinein. Demnächst würde sie also Patentante werden. Zumindest rechnete sie damit. Natürlich lag es mehr als fünfzehn Jahre zurück, dass sie sich auf dem Gymnasium versprochen hatten, sich einander für ihr erstes Kind zur Patin zu machen. Beste Freundinnen waren sie nach wie vor, blieb also lediglich die Frage, ob und wann Miri und Henning das Kind taufen lassen wollten.
Gedankenverloren nestelte Katja an ihrem Gürtel, um ihn ein Loch weiter zu machen. Nach dem vielen Essen fühlte sie sich etwas eingeengt. Henning hatte wieder einmal ausgezeichnet gekocht, Pasta Amatriciana nach original römischem Rezept – mit Speck. Katja seufzte leise. Sie liebte Pasta in allen Variationen. Wenn Nudeln nur nicht so viele Kalorien hätten und dazu noch der Speck. Hin und wieder gönnte sie sich dennoch eine Portion, auch wenn sie sich danach ein paar Tage mit dem schlechten Gewissen herumquälen musste. Wat mutt, dat mutt, dachte sie bei sich. Ein Leben so ganz ohne Genuss wäre auch nicht schön, wenn vielleicht doch etwas einfacher, zumindest figürlich.
Ein Räuspern, gefolgt von einem erschrockenen Aufschrei holte Katja aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Miri saß nicht länger im Sessel, sondern hockte am Boden vor Finn, der sich schlaftrunken die Augen rieb. Offensichtlich war er von Miris Schoß gerutscht, als diese sich gestreckt hatte. Doch ihm schien nichts passiert zu sein, außer dass er etwas unsanft aus dem Schlaf gerissen worden war.
Erneut erklang ein Räuspern. »Wir hätten da noch eine Neuigkeit«, sagte Miri und machte es sich auf dem Teppich bequem. In ihrer Stimme lag ein feierlicher Unterton.
Katja, die immer noch Finn anschaute, hob den Blick zu ihrer besten Freundin. Miri strahlte wie das berühmte Honigkuchenpferd. Wobei … Wie sah so ein Honigkuchenpferd eigentlich aus, und was bewirkte, dass es so sehr strahlte? Doch wohl kaum die Aussicht, bald verspeist zu werden? Oder handelte es sich bei diesem ominösen Pferd gar nicht um Gebäck?
»Erde an Katja. Erde an Katja.« Miri rührte mit der Hand in der Luft herum. »Hört mir meine liebste Freundin auch mal zu?«
»Ups!« Katja beeilte sich, in die Realität zurückzukehren. »Ich bin voll da«, erklärte sie, während sie den Blick wieder auf ihre beste Freundin richtete.
Diese schien inzwischen vor Anspannung regelrecht zu glühen. Ihre Haut glänzte und auf ihren Zügen lag das breiteste Lächeln, das Katja jemals bei ihr gesehen hatte. Die anstehende Neuigkeit schien definitiv ein Grund zur Freude zu sein.
Wow, ging es Katja durch den Kopf, als ihr in einem unerwarteten Anfall von Hellsichtigkeit ein Bild durchs Hirn waberte: Miri, leuchtend vor Glück, in einem langen weißen Kleid vor einem Traualtar und Henning im schicken Anzug an ihrer Seite.
Andererseits könnte sie allerdings auch danebenliegen, wie schon oft zuvor. Wenn Miri gerade einen ihrer schrägen Momente hatte, entpuppte sich ihre großartige Ankündigung womöglich schlicht als witzige, aber belanglose Anekdote.
Für einen winzigen Augenblick herrschte atemlose Stille in Hennings kleinem Wohnzimmer. Da platzte es aus Miri heraus. »Wir werden heiraten«, sagte sie. Ihre Stimme klang atemlos. Im nächsten Augenblick – als hätte Miri einen lautlosen Startbefehl erteilt – herrschte Chaos im Raum. Liz und Tim sprangen auf, Pablo und Anne gaben erstaunte Ausrufe von sich, und binnen weniger Sekunden plapperten alle durcheinander. Selbst Julia, die erst seit kurzem Mitglied in ihrem Freundeskreis war, beteiligte sich an dem allgemeinen Durcheinander.
Nur Henning blieb ruhig. »Seid mal kurz still«, unterbrach er den Tumult, ehe auch noch der Rest aufspringen konnte, um Glückwünsche und Umarmungen an das frischverlobte Paar zu bringen. Als daraufhin immer noch keine Ruhe einkehrte, fuhr er im Kasernenton fort: »Wir sind doch noch nicht fertig.« Er warf einen mahnenden Blick in die Runde. Dennoch dauerte es einige Atemzüge, bis endlich Schweigen einkehrte. »Okay«, sagte Henning. Er nickte den Freunden demonstrativ zu, als wollte er sagen: »Geht doch!« Seine angespannte Miene wich einem herzlichen Lächeln.
»Am siebten März findet die standesamtliche Trauung statt«, erklärte Henning. »Ihr seid alle eingeladen.«
»So kurz vor dem Stichtag?« Katja stutzte. Der siebte März lag nur knapp drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Sie war davon ausgegangen, dass Miri erst die Entbindung abwarten wollte, um ihren Bauch nicht in ein Brautkleid quetschen zu müssen.
»Habt ihr keine Angst, dass das Baby früher kommt und ihr die Hochzeit absagen müsst?« Anne schien Katjas Bedenken zu teilen.
Henning hingegen nicht. Er schüttelte den Kopf. »Es wird schon gutgehen. Man sagt doch, gerade beim ersten Kind dauere es eher länger, als dass das Baby früher kommt. Ich möchte auch keinen Tag länger warten als nötig«, erklärte er und warf seiner Braut einen verliebten Blick zu. »Wenn es nach mir ginge, könnten wir gleich morgen heiraten, aber Miri wünscht sich ein bisschen mehr Planungszeit. Anfang März ist der perfekte Kompromiss.«
»Schleimer!« Pablo schenkte ihm ein freches Grinsen. Katja lachte. Typisch Pablo, er hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen.
Für einen Moment schien die Stimmung ins Spaßige umzuschlagen, doch dann stieß Miri erneut ein kratziges »Hm, hm, hm« aus. Anscheinend lag ihr noch etwas auf dem Herzen.
Na, das sind ja gleich drei Räusperer auf einmal, ging es Katja durch den Kopf, doch sie behielt die Bemerkung für sich. Die anderen hätten ihrem Gedankengang ohnehin nicht folgen können, ohne dass sie ihn ausführlich erklärte. Und darauf verspürte sie in diesem Augenblick nicht die geringste Lust. Viel zu neugierig sah sie dem entgegen, was Miri zu sagen hatte.
Die saß immer noch neben Finn am Boden. Nun jedoch stand sie auf, nur um sich direkt wieder vor Katja auf ein Knie fallen zu lassen. »Katja Gerbaum«, flüsterte Miri und griff nach Katjas Hand. »Du bist meine liebste, beste und älteste Freundin. Ohne dich kann und will ich nicht heiraten. Wirst du bitte unbedingt an meinem schönsten Tag neben mir stehen, meine Stütze, mein Hirn und meine Trauzeugin sein?«
»Oh!«, entfuhr es Katja mit kratziger Stimme. Mit einem Mal fühlte sich ihr Hals an wie zugeschnürt. Sie bekam kein Wort heraus, was angesichts der Tatsache, dass ihr ohnehin gerade die Worte fehlten, nicht weiter schlimm war. Zwei Atemzüge lang hockte Miri still zu Katjas Füßen. Sie sahen einander stumm in die Augen. Katja wusste, dass Miri genau verstand, welcher Sturm gerade in ihrem Inneren tobte. Sie freute sich so sehr für ihre beste Freundin. Ihre Augen brannten und sie blinzelte gegen die aufsteigenden Tränen an. Wie oft hatten sie als Jugendliche darüber gesprochen, wie es sein würde, wenn eine von ihnen heiratete. Irgendwie waren sie immer davon ausgegangen, dass ihrer beider Hochzeitstermine nicht weit auseinanderlägen. Doch die Realität sah anders aus. Während Miri mit großen Schritten in den Hafen der Ehe und des Liebesglücks schipperte, pegelte Katjas Liebesleben derzeit auf Tiefststand.
Sie schniefte. Dann riss sie sich zusammen, atmete tief ein und nickte, während Miri ihre Hand noch ein wenig fester drückte. »Ja, ich will«, sagte sie leise. In diesem Augenblick begann auch Miri zu weinen. Gleichzeitig sprangen die Freundinnen auf, und während sie einander in die Arme fielen, brachen bei beiden die Dämme.
Eine ganze Weile standen sie schluchzend in dieser Umarmung, dann schniefte Katja ein letztes Mal und löste sich von Miri. Henning stand dicht neben ihnen, in der Hand ein Päckchen Taschentücher, das er ihnen nun hinhielt. Dankbar zupfte Katja zwei Stück aus der Packung, reicht eines an Miri weiter und putzte sich die Nase.
»Tööööröööö«, rief Tim mitten in die andächtige Stille, die den Raum – abgesehen von Katjas Schnauben – nach wie vor erfüllte. »Benjamin Blümchen is in the house.« Das darauffolgende Lachen vertrieb die Rührseligkeit. Auch Katja fiel in das allgemeine Gelächter ein. Miri, die schon vor der Schwangerschaft und der daraus resultierenden hormonellen Umstellung dicht am Wasser gebaut hatte, benötigte einen Augenblick länger, aber schließlich wischte auch sie die letzten Tränen fort. Den Rest des Abends verbrachten sie in ausgelassener Heiterkeit.
Noch mitten in der Nacht, als Katja längst zu Hause in ihrem Bett lag, spürte sie das breite Lächeln auf ihrem Gesicht. Irgendwann im Laufe der letzten Stunden musste es dort festgewachsen sein.
Es dauerte eine Weile, bis sie einschlief, und sie erwachte auch bald wieder. Schlaftrunken warf sie einen Blick auf die Uhr, die Zeiger waren nur eine knappe Stunde weitergewandert. Gähnend rappelte sich Katja aus dem Bett, tappte barfüßig in das kleine, hellblau geflieste Bad mit der altmodischen Sitzwanne in der Ecke und ließ sich immer noch im Halbschlaf auf der Toilettenbrille nieder.
Hinter ihr lag ein verrückter Abend. Miri würde heiraten. »Oh, Himmel«, stieß Katja – mit einem Mal hellwach – aus. Bis dahin blieben ihnen gerade mal knapp drei Monate. Verdammt kurzfristig. Und es gab sicher eine Menge vorzubereiten. Schließlich gehörte es zu den Aufgaben einer Trauzeugin, die Brautleute zu unterstützen.
Sie würden eine Location für die Feier brauchen, einen Brautstrauß – oder besorgte den der Ehemann? Egal, wenn den jemand band, dann natürlich sie, so viel stand fest. Einladungen mussten formuliert und verschickt werden, eine Gästeliste und eine Sitzordnung erstellt, und der Himmel wusste, was sonst noch alles vorzubereiten war. Hielten die Trauzeugen eigentlich eine Rede? Apropos Trauzeuge … Henning hatte kurz über seinen gesprochen, einen Kerl namens Mathis, der zu Hennings langjährigen Freunden gehörte. Katja hatte ihn noch nicht kennengelernt und auch Miri konnte nur von einer flüchtigen Begegnung berichten.
Wie auch immer, dieser Mathis würde einige Aufgaben übernehmen müssen, wenn die Hochzeit ein Erfolg werden sollte. Sie musste dringend mit ihm reden. »Henning anrufen und nach Mathis' Telefonnummer fragen«, notierte sie auf der imaginären To-do-Liste in ihrem Kopf.
Ein Brautkleid. Miri braucht ein Brautkleid. Siedend heiß durchfuhr Katja dieser Gedanke. Das hätte sie beinahe vergessen. Unfassbar, aber wahrscheinlich lag es an der nachtschlafenden Zeit, dass sie nicht richtig denken konnte. »Mist! Mist! Mist!«, schimpfte sie. Es würde sicher nicht leicht werden, eine babybauchtaugliche Robe zu finden, wenn Miri nicht mit dem erstbesten vorliebnehmen wollte, was natürlich auf keinen Fall infrage kam. Miri verdiente ein Kleid, das zu ihr passte, eines, das ihre quirlige, schräge Art widerspiegelte. Außergewöhnlich musste es sein und einigermaßen preiswert.
Katja stöhnte auf. Innerlich wappnete sie sich bereits für den Brautmodengeschäftmarathon, der ihr bevorstand. Und nicht zu vergessen, sie selbst benötigte ebenfalls ein schickes Kleid. Miri würde ihr bestimmt nicht erlauben, im Hosenanzug zu kommen.
Katja seufzte angesichts des Gedankens, durch die Boutiquen ziehen zu müssen. Sie ging einfach nicht gern shoppen, zumal ihr die Standardgrößen oft nicht passten. Wenn es obenrum saß, zwickte es untenrum oder umgekehrt. »Verdammt!«, stieß sie aus. Hätte Henning die Ankündigung nicht vor dem Essen machen können? Dann hätte sie bei den Spaghetti Amatriciana nicht so zugeschlagen. Vor allem nicht beim Speck, der ganz bestimmt – kaum im Magen angekommen – den Weg zu ihren Hüften eingeschlagen und sich dort in Form von Speckröllchen häuslich niedergelassen hatte.
Aber wahrscheinlich machte ein Essen mehr oder weniger nun auch keinen großen Unterschied. Und außerdem – sie schüttelte den Kopf über sich selbst – ging es bei der Hochzeit nicht um sie, sondern um ihre beste Freundin und deren Bräutigam. Katja erhob sich, drückte den Knopf der Spülung und wusch sich am Waschbecken die Hände. Dann verließ sie das Bad. Es wurde Zeit, wieder ins Bett zu gehen, wenn sie nicht den ganzen Vormittag verschlafen wollte. Schließlich galt es, alsbald mit der Organisation der Hochzeit zu beginnen.
Kapitel 3
Es ist Winter!, dachte Katja und zog sich den Schal zurecht, während sie den Elbhang hinabstapfte. Trotz des fahlen Lichts an diesem Montagmorgen schimmerten die kahlen Äste der Bäume und Büsche um sie herum weiß. Am Aussichtspunkt Schopenhauer Weg legte sie wie so oft eine Pause ein. Schon seit einiger Zeit hatten die Bäume alle Blätter verloren, und so bot sich ihr nun allmorgendlich ein wunderbarer Blick über den Oevelgönner Museums- und den gegenüberliegenden Containerhafen. An diesem Morgen jedoch erfreute sich Katja besonders an der Aussicht, denn so wie heute hatte sie den Hafen noch nie zuvor gesehen.
Das Bild erschien beinahe unwirklich, als hätte eine Fee in der Nacht eine dicke Schicht Zuckerkristalle über die Szenerie geblasen. Der Raureif ließ alles weiß glitzern, jedes Schiff, jeden Poller, die beiden antiken Hafenkräne, winzig im Vergleich zu ihren gegenüberliegenden modernen Brüdern. Selbst die rote Farbe des kleinen Leuchtturms, der ehemals auf Pagensand gestanden hatte, schimmerte nur noch ganz zart durch. Gleichzeitig schien die Zeit stillzustehen. Kein Mensch war zu sehen. Natürlich wusste Katja, dass sich hinter ihr auf der Elbchaussee die übliche Kolonne des Berufsverkehrs vorwärtsschob, aber hier, nicht einmal weit entfernt, schien der Tag noch im Tiefschlaf zu liegen.
Sie lächelte in sich hinein. Der Museumshafen mit all seinen liebevoll aufbereiteten Schiffen und den Menschen, die diese bewahrten oder die Gäste bewirteten, die täglich in den Hafen strömten, war ihr ein neues Zuhause geworden. Noch vor etwas mehr als einem Jahr hätte sie sich das nicht vorstellen können. Damals war der Traum von der eigenen Buchhandlung kaum mehr als ein altes Hirngespinst. Sie hatte höchstens noch daran gedacht, wenn sie mit ihrer besten Freundin telefoniert und über die gemeinsame Schulzeit in Stade gesprochen hatte. Unendlich viele Jahre schien es her zu sein, dass sie beide sich ausgemalt hatten, wie schön es wäre, eine gemeinsame Buchhandlung zu eröffnen, am besten in Hamburg oder einer anderen Großstadt, bloß raus aus dem Mief der Kleinstadt. Dazu kam es aber nie. Zumindest hatte es Katja im Gegensatz zu Miri aus Stade hinausgeschafft. Und nach dem Abitur in Hamburg einen Ausbildungsplatz zur Floristin angetreten – sehr zum Entsetzen ihrer Mutter, die sich seitdem darüber beschwerte, dass Katja die Entbehrungen, die sie als ihre Mutter auf sich genommen habe, damit es der Tochter einmal besser ginge, nicht zu schätzen wisse, und worauf sie alles verzichtet habe, nur damit das Töchterchen Abitur machen könne. Und dann hatte ebendieses Töchterchen es abgelehnt zu studieren und gab sich für eine unterprivilegierte, schlecht bezahlte Arbeit her. Davon konnte man nicht einmal den Nachbarn erzählen, ohne sich schämen zu müssen.
»Himmel!«, stieß Katja verärgert aus, wie so oft, wenn sie an diese Gespräche zurückdachte. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte sie den Gedanken an ihre Mutter fort. Es nutzte ohnehin nichts, sich über die Familiensituation zu ärgern. Sie war, wie sie war, und würde sich auch nicht mehr ändern. Katja seufzte leise.
Dann fiel ihr Blick auf »Das kleine Bücherschiff«. Sofort kehrte das Glücksgefühl zurück, das sie vor dem gedanklichen Ausflug nach Stade empfunden hatte. Es gab Tage, da traten ihr beim Anblick der schwimmenden Buchhandlung Freudentränen in die Augen. Sie liebte die Barkasse. Schon merkwürdig, dachte sie schmunzelnd. Dass ausgerechnet sie als Landratte einmal ein Schiff ihren Hafen nennen würde, hätte sie auch nicht gedacht.
In der Ferne läuteten Kirchenglocken. An diesem kalten Morgen trug der Schall besonders weit. Zehn Schläge zählte Katja. Schon so spät, ging es ihr durch den Kopf. Eilig machte sie sich auf den Weg die letzten Meter den Hang hinunter.
Zum Glück war wenigstens Miri pünktlich aus dem Bett gefallen. Die Gangway war angelegt und aus den Bullaugen drang Licht. Just in diesem Augenblick öffnete sich die korallenrote Tür und Miri trat auf das Deck des »Kleinen Bücherschiffs«. Sie ließ den Blick schweifen, entdeckte Katja, die gerade den Kai, an dem das Bücherschiff festgemacht lag, betrat, und winkte ihr zu.
Katja beeilte sich, an Bord zu kommen. Kaum hatte sie sich ihrer Winterjacke entledigt und einen winzigen Schluck Kaffee getrunken, erschien auch schon die erste Kundin. Schnell strich sie sich das smaragdgrüne Shirt glatt und richtete den Sitz ihrer cremefarbenen Wollhose, dann ließ sie sich die Wünsche der Dame schildern.
Zu Katjas Freude suchte die Kundin – anders als die meisten um diese Jahreszeit – kein Geschenk, sondern ein Buch nach ihrem Lesegeschmack. »Ich suche einen Thriller, je psychotischer, desto besser«, erklärte die zierliche Mittfünfzigerin, der man ihre Lesevorlieben nicht ansah. Katja schmunzelte. Tatsächlich teilten mehr Frauen als Männer ein Faible für Krimis. Und noch häufiger griffen sie sogar bei den richtig heftigen Thrillern zu.
Katja führte die Kundin zu dem Regal mit den Krimis. »Wie wäre es denn mit diesem?« Katja nahm ein Buch von Tess Gerritsen von einem Bücherständer.
Die Kundin winkte ab. »Schon gelesen. Die Geschichte ist übrigens nur halb so blutig, wie der Klappentext erwarten lässt.«
»Oh. Ein Reinfall?«, fragte Katja.
»Das nun auch nicht. Die Story war schon spannend und bis zum Schluss war auch unklar, wer denn nun dieser Serienmörder ist, der sich auf der Insel herumtreibt«, erklärte die Dame. »Für meinen Geschmack waren die Beschreibungen einfach nur etwas zu harmlos. Ein paar mehr Szenen, in denen es mordmäßig so richtig zur Sache geht, und ich wäre begeistert gewesen. So fand ich es an manchen Stellen fast ein wenig fade.«
»Okay. Ich habe noch eine andere Idee.« Katja stellte das Buch zurück auf den Ständer und fuhr mit dem Zeigefinger an den Buchrücken entlang, bis sie den gesuchten Titel entdeckte.
Sie hatte den Hamburg-Thriller des bekannten Autors Arno Strobel mit dem Titel ›Die App‹ noch nicht ganz herausgezogen, da erklang auch schon die Stimme der Kundin: »Den kenne ich leider auch schon. Wie übrigens die meisten Bücher in diesem Regal. Ich fürchte, ich bin eine Vielleserin, und da ich das Meer und Hamburg liebe …« Sie unterbrach sich und ließ den Blick einmal durch den Verkaufssalon schweifen, ehe sie fortfuhr: »… wie Sie anscheinend auch, werden wir hier wahrscheinlich nicht fündig.«
Katja nickte anerkennend. »Wow, ich liebe Herausforderungen. Dann bleiben uns wohl nur die Neuerscheinungen. Und die kaufen sie immer unmittelbar nach Erscheinungsdatum, richtig?«
Mit einem schuldbewussten Gesichtsausdruck nickte die Kundin.
»Hm …«, brummte Katja nachdenklich. »Darf die Handlung auch woanders spielen?«
»Selbstverständlich. Ich würde mich sonst doch nur selbst beschneiden«, antwortete die Mittfünfzigerin.
Ein paar Atemzüge lang schwiegen beide. Währenddessen ging Katja im Geiste die Reihe der Thriller-Autoren und -Autorinnen durch, die sie kannte. Schließlich blieb sie an einem Namen hängen.
»Kennen Sie J. M. Herrmann?«, wandte sie sich an die Kundin, deren Gesichtsausdruck sofort verriet, dass sie noch nie von der Autorin gehört hatte. »Das ist eine Berliner Thriller-Autorin und ihre Geschichten spielen auch größtenteils dort. Sie hat ein Händchen für Spannung und sprachlich finde ich ihre Storys extrem gelungen. Es zieht einen förmlich in die Handlung. Allerdings müssten Sie sich einen Tag gedulden. Wir haben leider keines ihrer Bücher da und müssen es bestellen.«
»Kein Thema, das kennt man, wenn man die aktuellen Titel gleich nach Erscheinen wegliest, muss öfter mal ein Buch bestellt werden. Außerdem bin ich morgen ohnehin in der Nähe. Dann ordern Sie bitte das neueste Buch der Autorin und ich schaue, ob ich danach auch noch ihre weiteren Titel lesen möchte.«
»Prima, das wäre ›Eine einzige Lüge‹. Wir sehen uns morgen nach zwölf.« Katja begleitete die Kundin noch zur Tür, ehe sie sich einem Jugendlichen zuwandte, der unruhig vor dem Regal mit den Fantasy- und Science-Fiction-Romanen herumtigerte.
Bis Mittag brummte das Geschäft. Zum Glück beruhigte sich dann der Kundenzustrom, sodass Katja Zeit fand, ein Mittagessen vorzubereiten. Während Miri sich um ein paar vereinzelte Kunden kümmerte, richtete Katja einen Salat und eine große Portion Rührei mit Räucherlachsstreifen her. Anschließend lugte sie durch die Tür des Verkaufssalons. Als sie keinen Kunden entdeckte, verteilte sie die Mahlzeit auf zwei Teller und trug diese hinüber zu dem Beistelltisch vor dem roten Biedermeiersofa. Miri, die ebenfalls kurz in der Kombüse verschwunden war, brachte zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser mit, als sie sich dazusetzte.
»Das duftet köstlich. Ich habe aber auch einen Hunger.« Sie rieb sich den Bauch.
»Du isst doch schon für zwei.« Katja grinste. »Vielleicht bekommst du ja Zwillinge, dann kannst du auch für drei essen.«
»Ich weiß nicht recht, ob diese Rechnung aufgeht. Meine Gynäkologin meinte, etwas mehr zu essen als vor der Schwangerschaft sei schon in Ordnung, aber es solle sich doch in Grenzen halten, wenn ich mir hinterher nicht mühsam die Pfunde wieder abhungern möchte.«
Katja winkte ab. »Bei dir geht das bestimmt schnell. Du kannst doch immer essen, was du willst, ohne zuzunehmen.« Sie unterbrach sich. »Mal was anderes. Hennings Trauzeuge kommt heute Nachmittag.«
»Mathis? Ach, das ist ja nett.« Trotz ihrer offensichtlichen Freude über diesen Besuch wirkte Miri verwirrt. »Wie kommt es denn zu eurem Treffen? Kennst du ihn von irgendwoher?«
»Nein, hat Henning das nicht erzählt? Ich habe mir gestern von ihm Mathis' Nummer geben lassen. Wir haben einiges zu besprechen, wenn die Hochzeit reibungslos ablaufen soll. Als Trauzeugen ist es schließlich unsere Aufgabe, euch zu entlasten.«
»Wieso das denn? Ich habe dich doch nicht gefragt, damit du die ganzen Vorbereitungen übernimmst.« Miri schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich doch. Aber trotzdem: Wie wollt ihr ohne unsere Hilfe alles geregelt kriegen? Henning sitzt Tag und Nacht am Aufbau seiner Firma, du hast hier reichlich zu tun, und du solltest zu Kittys Wohl auch ein bisschen kürzertreten und dich schonen«, erklärte Katja rigoros, ehe sie sich den letzten Bissen Rührei in den Mund schob. »Abgesehen davon, dass du dich mit Sicherheit im Chaos verstrickst.« Sie zwinkerte Miri zu. »Also lass mich mal machen. Diesem Mathis biege ich schon bei, was er alles zu erledigen hat. Das organisiere ich euch im Handumdrehen.«
Statt eine Antwort abzuwarten, stellte Katja die Teller zusammen und wollte gerade aufstehen, um sie in die Kombüse zu bringen, als die Eingangstür aufsprang und lautstark eine Touristengruppe »Das kleine Bücherschiff« enterte.
»Vielleicht sollten wir uns doch angewöhnen, über Mittag zu schließen«, flüsterte Miri.
Katja antwortete ihr ebenso leise. »Wie wäre es mit einem Vorübergehend-geschlossen-Schild? Ich gucke später mal im Internet, ob es da eines gibt, auf dem man Uhrzeiten eintragen kann.«
»Gute Idee. Die Stammkundschaft weiß sowieso, dass unsere Tür immer offen steht.« Miri nickte lächelnd. »Und nun bring du mal schnell die Teller weg, ich kümmere mich inzwischen um die Leute.«
Die Touristen sollten nicht die einzigen Kunden des Nachmittags bleiben. Das Weihnachtsgeschäft lief wirklich ausgezeichnet. Katja freute sich jedes Mal, wenn das Klingeln der Registrierkasse erklang. Zumal sie für Januar und Februar mit schleppendem Umsatz rechnete. Ein guter Dezember brächte ihnen ein finanzielles Polster ein, um die Folgemonate abzufedern.
Gegen zwei trudelte Frau Tietgen ein und ließ sich sofort an ihrem angestammten Platz im Schaukelstuhl nieder. Wenn es ihre Zeit zuließ, hielten Katja und Miri gern einen kleinen Klönschnack mit der alten Dame, heute jedoch war derart viel los, dass Katja ihr nur einen kurzen Gruß zurief und im Vorbeigehen ein Glas Wasser auf dem Tisch neben dem Schaukelstuhl abstellte. Frau Tietgen kam allein zurecht. Wenn sie erst einmal einen Liebesroman in den Händen hielt, war sie glücklich, da machte sich Katja keine Sorgen.
Eine gute halbe Stunde später leerte sich der Verkaufssalon allmählich. Zum Glück, denn sie erwartete Mathis jeden Augenblick, und Miri musste für eine Weile mit den Kunden allein zurechtkommen.
Als hätte sie ihn mit ihren Gedanken herbeigerufen, öffnete sich genau in diesem Moment die korallenrote Tür. Und ein Mann, ein wahrhaftiger Riese, der sich bücken musste, um durch den Türrahmen zu passen, trat ein. Anhand Miris Beschreibung musste es sich bei dem breitschultrigen Hünen im karierten Flanellhemd um Mathis handeln. Zumal er sich umsah, als hielte er nach einer Person und nicht nach neuer Lektüre Ausschau. Sein Blick blieb an Katja hängen, die gerade einen Stapel Kinderbücher zurück ins Regal räumte. Langsam – er wirkte beinahe ein wenig schüchtern – näherte er sich ihrer Position.
»Katja Gerbaum?«, fragte er mit sanfter Stimme.
»Leibhaftig, live und in Farbe. Und du bist sicher Mathis«, antwortete sie viel zu laut und übertrieben fröhlich, ehe sie ihre eigenen Reaktionen einfangen konnte. Es kam nicht oft vor, dass sie bei dem bloßen Anblick eines Mannes zum schwärmerischen Mädchen mutierte, aber auf einen Kerl dieses Kalibers war sie nicht vorbereitet gewesen. Allein seine Körpergröße wirkte beeindruckend. Wahrscheinlich schlüge allein sein Anblick jeden Säbelzahntiger in die Flucht. Mit ihm an der Seite könnte frau sich sicher fühlen.
Hey, rief sie sich in Gedanken zur Ordnung. Sie fürchtete sich schließlich auch allein vor gar nichts. Wie ging noch dieser Witz: Warum braucht die Frau einen Mann? Weil Vibratoren keinen Rasen mähen können. Hundsmiserabel, dachte sie. Abgesehen davon gehörte zu ihrer Dachgeschosswohnung kein Rasen.
Ein Räuspern riss Katja aus ihren Überlegungen. »Bist du bei mir?«, fragte Mathis in einem Basston, der gut zu seiner Statur passte. Seine Stimme strahlte Ruhe aus.
»Oh! Sorry, ich war kurz abgelenkt«, beeilte sie sich zu antworten, während sie entschuldigend auf die Bücher wies, die sie immer noch in den Händen hielt.
Miri trat zu ihnen, begrüßte Mathis mit einem Händedruck und wandte sich dann wieder ihrer Kundin zu, die ein wenig unruhig bei den Sachbüchern ausharrte.
»Wollen wir uns setzten?« Katja wies auf die Ohrensessel. »Dort gibt es zwar keinen Tisch, aber ehrlich gesagt …« Sie unterbrach sich, und statt den Satz zu beenden, ließ sie ihren Blick demonstrativ über das Biedermeiersofa und die dazugehörigen Sessel streifen. Zu ihrem Erstaunen reagierte Mathis nicht auf ihre Bemerkung. Sie zögerte einen Augenblick. Schließlich räusperte sie sich leise. »Ich bin mir nicht sicher, ob das filigrane Ensemble deinem Körperbau gewachsen ist«, erklärte sie schließlich.
»Meinst du damit, ich bin fett?« Den entsetzten Gesichtsausdruck, den Mathis aufgesetzt hatte, hätte Katja ihm beinahe abgenommen, wäre da nicht seine Stimme gewesen, die eine gute Oktave höher gerutscht war. Obendrein warf er sich in diesem Augenblick in eine Pose, die besser zu einer Operndiva gepasst hätte als zu dem Typ Holzfäller, den er verkörperte. Mit erhobenem Kinn, eine Hand an die abgeknickte Hüfte gelegt, mit der anderen theatralisch gestikulierend, stand er da. Nun beugte er seinen Oberkörper ein Stück nach vorn, um Katja auf Augenhöhe ins Gesicht sehen zu können, blieb aber in seiner Pose.
»Niemals, gnädige Frau«, ging Katja auf sein Spiel ein. Sie gab sich alle Mühe, dabei todernst dreinzublicken, während sie sich verbeugte und mit dem Arm eine ausladende Bewegung beschrieb.
Mathis lachte, jetzt wieder mit normaler Stimme: trotz der tiefen Tonlage ein Lausbubengelächter, das auf Katja derart ansteckend wirkte, dass sie stutzte. Es ist lange her, dass ein Mann mich derart schnell zum Lachen gebracht hat, ging es ihr durch den Kopf.
Sie wies erneut auf die Ohrensessel. »Setz dich doch schon mal. Ich hole nur schnell etwas zum Schreiben und dann kann es losgehen.«
»Wozu?« Er warf ihr einen fragenden Blick zu.
»Um einen vernünftigen Plan zu machen. Wir müssen doch wissen, wer, was, wann, wo und so weiter.«
»Aha.« Mehr sagte er nicht.
Eine Spur irritiert, verließ Katja den Salon, um sich im Bücherlager mit Klemmbrett, Papier, Bleistift und Radiergummi auszustatten. Sie hatte schon am Vortag eine Zeitskala erstellt, um darauf alle To-dos mit den jeweiligen Erledigungsterminen eintragen zu können. Nun schnappte sie sich alles, was sie für die Planung benötigte, und kehrte zurück in den Salon. Dort wartete Mathis immer noch stehend neben einem der Ohrensessel. Sein Blick ruhte auf Olivia Jones. Er schien eine Art Zwiesprache mit ihr zu halten, zumindest war er derart in seine Betrachtungen versunken, dass er Katja gar nicht bemerkte. Erst als sie sich räusperte, schrak er auf.
»Süß, nicht?«, fragte sie und deutet mit dem Kinn auf die Plüschmöwe.
»Eher absonderlich«, antwortete er.
Katja stutzte. Was wollte er denn damit sagen? »Absonderlich lustig, absonderlich gruselig, absonderlich bescheuert?«, fragte sie schließlich.
Zur Antwort zuckte er nur mit den Schultern.
»Na ja, wenn du so ein Wort raushaust, musst du es auch begründen können.«
Er schüttelte den Kopf und schwieg hartnäckig.
»Musst du nicht?« Was bitte sollte dieses Kopfschütteln bedeuten?
Jetzt nickte er.
»Hey, wenn wir hier irgendwie weiterkommen wollen, solltest du wieder mit dem Sprechen anfangen.«
»Ich habe gelernt, in bestimmten Situationen mit Frauen lieber zu schweigen«, erklärte er mit unbeweglicher Miene.
»In welchen zum Beispiel?«, fragte Katja, ehrlich neugierig.
»Immer, wenn Mann sich mit jedem Wort nur weiter in den Morast reitet. Zurückrudern ist dann genauso falsch, wie auf dem eingeschlagenen Pfad weiterzureiten.« Auf Mathis' Gesicht lag ein schiefes Grinsen.
»Und du meinst, gar nicht auf die Fragen zu antworten, wäre eine adäquate Reaktion?« Kopfschüttelnd ließ Katja sich in den linken Ohrensessel fallen.
»Das habe ich nicht gesagt.« Auch Mathis nahm nun endlich Platz.
»Es hörte sich für mich aber so an«, erwiderte sie, wobei sie sich alle Mühe gab, nicht zu schnippisch zu klingen.
»Dann solltest du besser lernen, zuzuhören.« Er klang beschwingt, so als könnte der Sturm, der langsam aufzog, ihm nichts anhaben.
Katja hingegen entfernte sich immer mehr vom Zustand der Entspannung. »Kennst du das mit dem Sender/Empfänger-Problem?«, fragte sie. »Wenn es dem Sender nicht gelingt, seine Botschaft so an die Empfängerin zu bringen, dass diese sie auch versteht, liegt es am Sender. Mit anderen Worten: Drück dich doch einfach klarer aus.« So nach und nach begann es in ihrem Innerem zu brodeln.
»Nö«, erklärte er lapidar.
»Dein Ernst?« Katja atmete kontrolliert ein und aus.
»Natürlich, ich habe nicht vor, mich wegen einer Plastikmöwe zu streiten.«
»Plüsch«, murmelte Katja.
»Klugscheißerin.« Mathis schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.
Katja sprang auf. Sie musste sich unbedingt ein wenig bewegen, um den Dampf aus ihrem inneren Kochtopf zu lassen, ehe der überkochte oder sogar explodierte. »Ich bin sofort wieder da«, sagte sie und wandte sich dem Ausgang zu. Mit wenigen langen Schritten erreichte sie die Tür, riss sie auf, trat hindurch und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen.
»Mann!«, stieß sie aus. Was war denn da gerade abgelaufen? Erst lustiges Geplänkel, und dann wären sie beinahe über Olivia Jones in Streit geraten. So etwas. Andererseits hatte Mathis nicht eine Minute lang aufgeregt gewirkt. Im Gegensatz zu ihr. Katja schnaubte. Wie waren sie da nur hingekommen? Einen Augenblick dachte sie darüber nach, doch ihre Überlegungen führten zu nichts. So atmete sie noch ein paarmal tief durch und kehrte dann in den Verkaufssalon zurück. Schließlich galt es, eine Hochzeit zu planen.
Während sie sich erneut in den Ohrensessel fallen ließ, schnappte sie sich das Klemmbrett. Am besten kam sie einfach zum Grund ihres Treffens. »Wie ich am Telefon schon sagte, möchte ich Miri und Henning bei der Planung unterstützen«, begann sie. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, siehst du es genauso.«
Mathis nickte.
»Dann lass uns doch mal ein bisschen brainstormen.«
»Okay«, antwortete er einsilbig.
Katja wartete einen Moment, als Mathis aber weiterhin schwieg, ergriff sie erneut das Wort. »Hast du dir denn schon ein paar Gedanken gemacht? Gestern vielleicht?«, fügte sie an.
»Nö«, antwortete Mathis und lächelte Katja freundlich zu.
Sie unterdrückte ein Seufzen. Hoffentlich ging das mit den Ein-Wort-Sätzen nicht so weiter. Vielleicht sollte sie ihn ein wenig aus der Reserve locken. »Ich bin wohl die mit dem Organisationstalent unter uns«, versuchte sie es mit einer Provokation.
»Mag sein, mag nicht sein.«
Na toll, jetzt sprach er zwar wieder mehr als ein Wort am Stück, dafür redete er erneut kryptisches Zeug. Zunehmend genervt blies Katja die Backen auf und ließ zischend die Luft entweichen.
Dann rief sie sich zur Ordnung. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn er sich aus der Feinplanung raushielt.
»Ommm«, sagte Mathis und ließ das M lange ausklingen.
»Wie bitte?« Irritiert runzelte Katja die Stirn.
Mathis grinste. Er wirkte immer noch völlig gelöst. »Mir scheint, du begibst dich gerade in deine tägliche Meditation. Das Zischen gerade klang nach Atemübungen. Außerdem schienst du irgendwie angespannt.«
»Und mir scheint, du hast einmal zu oft meditiert.« Nun warf sie ihm ein übertriebenes Lächeln zu, das ihn jedoch nicht beeindruckte.
»Ich atme standardmäßig. Immer abwechselnd. Mal ein, mal aus«, erklärte er.
Gegen ihren Willen musste Katja lachen. So ein Mistkerl!, schoss es ihr in den Kopf. Laut sagte sie: »Und du brauchst keine App dazu?«
Nun lachte Mathis ebenfalls. Einen Moment lang sah er Katja stumm an. Seine Augenfarbe, die im grellen Licht der Deckenspots blaugrün wie tiefes Wasser gewirkt hatte, schimmert in der weniger gut beleuchteten Sitzecke eher in einem silbrigen Grauton. Wie hochwertiger Marmor, dachte Katja. Ein Sinnbild seines Charakters und seiner Schlagfertigkeit. Hoffentlich biss sie sich an ihm nicht die Zähne aus.
»Das sagt die Richtige«, erklang in diesem Augenblick Mathis' Bassstimme. »Du bist doch diejenige, die sich an einem festen Ablauf entlanghangeln muss.«
»Häh?« Katja blickte ihn irritiert an.