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Frühlingsgefühle auf dem kleinen Bücherschiff
Nach einiger Zeit im Ausland kehrt Lilly nach Hamburg zurück, um sich um ihre Tante zu kümmern. Frau Tietgen ist Stammkundin auf dem kleinen Bücherschiff, und auch ihre Nichte Lilly kann sich dem Charme der schwimmenden Buchhandlung nicht entziehen. Schnell wird Lilly Teil der Clique um Miri, Katja und Pablo, und das Angebot, auf dem »Kleinen Bücherschiff« als Aushilfe anzufangen, nimmt sie begeistert an. Doch auf dem Schiff begegnen ihr unerwartete Herausforderungen. Besonders Pablo, der seine anfängliche Zurückhaltung bald ablegt und stattdessen beginnt, intensiv mit ihr zu flirten, macht Lilly neugierig und bringt ihr Herz unerwartet stark zum Klopfen. Doch eigentlich wollte Lilly Hamburg wieder verlassen, sobald es ihrer Tante besser geht …
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tessa Hansen
Neues Glück auf dem kleinen Bücherschiff
Roman
Insel
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eBook Insel Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5093.
© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildungen: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78325-1
www.insel-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1 Ein Kater mit Geschmack
Kapitel 2 Eine alte Dame im Glück
Kapitel 3 Mögen die Spiele beginnen
Kapitel 4 Plötzlich Umzugshelfer
Kapitel 5 Eine neue Mitarbeiterin
Kapitel 6 Datenight
Kapitel 7 Pilars Paella
Kapitel 8 Herzenssachen
Kapitel 9 Vom Werden und Vergehen
Kapitel 10 Ein Schritt nach vorn
Kapitel 11 Partytime
Kapitel 12 Ab und auf
Kapitel 13 Es kann nicht sein, was nicht sein darf
Kapitel 14 Ein tiefes Loch
Kapitel 15 Stürme aller Art
Kapitel 16 Unerwartete Neuigkeiten
Kapitel 17 Schiffe, Bücher und ein Veilchen
Kapitel 18 Die alte Dame und ihre Pläne
Kapitel 19 Wenn eine Tür sich schließt …
Kapitel 20 … öffnet sich eine andere
Kapitel 21 Neues Glück auf dem Kleinen Bücherschiff
Epilog … ein Jahr später
Danksagung
Informationen zum Buch
Neues Glück auf dem kleinen Bücherschiff
Lilly trug immer noch die Flipflops und das Sommerkleid, mit dem sie in Palma in das Flugzeug gestiegen war. Um die Schultern, über dem Rucksack auf ihrem Rücken, lag ihr mit Mohnblumen besticktes Lieblingsdreieckstuch. Hier, vor dem Haus ihrer Großtante in Oevelgönne, so unmittelbar an der Elbe, wurde es langsam ein bisschen kühl an den nackten Beinen, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich jetzt umzuziehen, zumal sie sich erst einmal durch ihre Koffer wühlen müsste. In Cala Millor hatte sie einfach alle ihre Klamotten hineingeschmissen. Ihr Gepäck so einzuräumen, dass die Kleidung unverknittert und sortiert daraus wieder zum Vorschein kam, gehörte nicht zu Lillys Kernkompetenzen. Sie kicherte bei dem Gedanken. Ach was, es gab eindeutig Wichtigeres im Leben als Ordnung. Und das Herumwühlen in Koffern auf offener Straße machte ihr für gewöhnlich auch nichts aus. Sich allerdings mitten auf dem Präsentierteller auf offener Straße umzuziehen – im Haus hatte sie dummerweise gerade niemanden angetroffen – gehörte sich dann doch nicht, zumindest nicht hier in Hamburg vor den Augen von Tantchens Nachbarn. Überall sonst hätte Lilly einfach kurzen Prozess gemacht, sollten die Leute doch einen Blick auf ihre Unterwäsche erhaschen, die konnte sich immerhin sehen lassen. Wo lag da das Problem?
Die Herausforderungen bestanden darin, dass sie nun auch den Rest des Nachmittags zwei Koffer hinter sich herziehen und warten musste, bis ihre Tante nach Hause kam. Die alte Dame wehrte sich seit Jahren erfolgreich gegen ein Smartphone, selbst ein altmodisches Klapphandy ohne die Möglichkeit, auf das Internet zuzugreifen, verweigerte sie. Sie beharrte auf dem guten alten Festnetzanschluss.
Lilly zog ihr Smartphone hervor und öffnete WhatsApp, um eine Nachricht an Annalena, ihre Kindheitsfreundin zu verfassen. Sie hatte versprochen, sich zu melden, sobald sie angekommen war. »Kalt hier bei euch in Deutschland«, schrieb sie. Ein kühler Wind ließ den Rock ihres Kleides aufwehen. »Uh«, entfuhr es ihr. Schon auf dem Weg vom Fuhlsbüttler Flughafen nach Oevelgönne hatte sie gefroren. Am besten gehe ich, während ich warte, irgendwo einen Kaffee trinken oder einen schönen starken Ostfriesentee. Mit Kluntjes, dachte Lilly. Darauf freute sie sich bereits, seit sie wusste, dass ihre nächste Station in heimischen Gefilden lag.
»Bin gut gelandet. Ich hoffe, wir sehen uns bald«, fügte sie der Nachricht hinzu. »Küsschen, Lilly. Melde mich dieser Tage.« Seit Lilly in die Welt hinausgezogen war und sie sich nicht mehr regelmäßig treffen konnten, chatteten sie miteinander. Mindestens einmal die Woche nahmen sie sich eine Weile Zeit, um ihre jüngsten Erlebnisse oder Gedanken auszutauschen.
Als klar war, dass sie nach Hamburg reisen würde, hatte Lilly versprochen, Annalena in Bremen zu besuchen, sobald sich eine Gelegenheit dafür ergab.
Gut zwei Wochen lag es zurück, dass Großtante Floriane angerufen und um Hilfe gebeten hatte. Lilly hatte gerade ihre Mittagspause damit verbracht, den Animateuren und Gästen beim Yoga am Pool zuzuschauen, als das Telefon klingelte. Natürlich war ihre Tante nicht direkt mit der Sprache herausgerückt, aber dann hatte sie doch gestanden, sich zunehmend wackeliger auf den Beinen zu fühlen, und Lillys Hilfe erbeten, da sie – wie sie es ausgedrückt hatte – für eine Weile nicht so gut allein klarkäme. Lilly stieß die Luft durch die Zähne. Noch hatte sie keine Vorstellung davon, wie es wirklich um Florianes Gesundheit stand, aber wie auch immer, sie liebte ihre Tante sehr, und natürlich hatte sie keine Sekunde gezögert, ihrer Bitte nachzukommen.
»Miau«, erklang es zu ihren Füßen.
»Na, wer bist du denn?« Lilly betrachtete die rote Katze, die, kaum dass sie ihr Beachtung schenkte, begann, um ihre nackten Beine herumzustreichen. »Bist du gekommen, um mich zu wärmen?«
»Miau«, antwortete der Rotschopf und trabte auf drei Beinen ein paar Schritte voraus.
»Hey, rote Zora, dir fehlt ja eine Pfote. Da hast du wohl schon so manchen Kampf ausgefochten, was?« Lilly folgte der Katze, die sich immer wieder zu ihr umdrehte. »Wo führst du mich denn hin?«, fragte sie, bekam jedoch keine Antwort. Stattdessen lief das Tier erneut ein Stück voraus.
Ob es sich bei dem kleinen Tiger wohl um einen Streuner handelte, oder hatte er irgendwo in der Nähe einen festen Platz? Vielleicht sogar am Elbhang?
Das Haus ihrer Großtante lag ebenfalls am Hang – unmittelbar hinter dem Museumshafen Oevelgönne. Lilly hatte einen Großteil ihrer Jugend dort verbracht. Die alte Dame hatte immer Zeit für sie gefunden, gemeinsam waren sie am Elbstrand entlanggeschlendert oder hatten Boccia gespielt. Sie hatten den Schleppern und anderen Berufsschiffen zugesehen und mit den Crewmitgliedern der Museumsschiffe ein Schwätzchen gehalten. Manchmal hatten sie sich auch ein Fischbrötchen gegönnt und, während sie aßen, den großen Hafenkränen zugeschaut.
Lilly pfiff vor sich hin, als sie der roten Zora zum Kai hinunter folgte. Der Museumshafen hatte sich seit ihrem letzten Besuch nicht sonderlich verändert. Vielleicht hatten einige Schiffe die Liegeplätze getauscht, aber im Großen und Ganzen wirkte der Ort genau so, wie Lilly ihn in Erinnerung hatte. Sie mochte den Geruch von Öl und Diesel und vom Salz des Meeres. Die Mischung duftete nach Fernweh und Reiselust. Kaum näherte sie sich dem Kai, da streckte sie auch schon die Nase in die Luft und schnupperte. Sie liebte es, neue Länder zu entdecken, zu reisen, fremde Menschen und Kulturen zu erleben. Komfort war ihr nicht wichtig, wenn ein neues Abenteuer rief. Lilly lächelte in sich hinein. Die Hafenumgebung hatte sie dazu gebracht, nach der Ausbildung einfach loszuziehen und die Welt zu erkunden.
»Miau«, machte sich die Katze bemerkbar.
»Wollen wir ein Stück am Elbstrand entlanglaufen?«, fragte Lilly, doch sie bekam keine Antwort. Stattdessen hielt ihre Begleiterin direkt auf eine Barkasse zu, deren rot gestrichener Rumpf Lilly schon von Weitem aufgefallen war.
Je näher sie dem Wasser kamen, desto kühler wurde der Wind. Er biss ganz schön in die nackte Haut an Lillys Beinen. Mist, so langsam fror sie ziemlich. Sie verwarf die Idee eines Spaziergangs und entschied, sofort irgendwo einzukehren. Einen Augenblick lang sehnte sie sich zurück nach Mallorca, da war es sicher warm genug, um den Tag im Bikini am Strand zu verbringen. Lilly strich sich über die Gänsehaut, die sich nun auch an ihren Armen bildete, ehe sie das Dreieckstuch enger um die Schultern zog.
Vielleicht sollte sie nach dieser schwimmenden Buchhandlung suchen. Dort wäre es sicher warm. Hatte Tantchen nicht gesagt, dass sie dort immer ein Getränk serviert bekam? Vielleicht hatten die beiden Inhaberinnen ja auch einen Kaffee für sie übrig. Wenn sie nett fragte und ihren Charme spielen ließ, würden sie ihr sicher eine Tasse spendieren. Und ganz vielleicht fand sie da ja auch ihre Großtante, sie hatte doch gesagt, dass sie fast jeden Tag dort vorbeischaute.
Doch erst einmal folgte Lilly der Katze noch ein Stück, auch um einen Blick auf die hübsche, rot gestrichene Barkasse zu werfen. Mit etwas Glück handelte es sich dabei um das Bücherschiff und womöglich auch um das Zuhause der roten Zora. Das könnte schon passen. Lilly gefiel die Idee, gemütlich irgendwo zu sitzen, ein gutes Buch in der einen Hand, und während sie las, mit der anderen eine schnurrende Katze zu streicheln.
Als sie näher kam, entdeckte sie ein glänzendes Messingschild am Bug. »Das kleine Bücherschiff« stand in geschwungenen Buchstaben dort geschrieben. Großartig, dachte Lilly, dann schnell an Bord. Dennoch trotzte sie noch für ein paar Atemzüge der Kälte, blieb an der Gangway stehen und schaute sich das Boot genauer an. Rechts und links der Gangway standen zwei hölzerne Regale in Form eines stilisierten Ruderboots. Darin befanden sich Flyer zu Lesungen und zahlreiche Leseproben. Lilly hätte gern ein bisschen darin gestöbert, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. Sie beschloss, die Regale besser bei einem späteren Besuch durchzusehen.
Lilly trat einen Schritt zurück und ließ den Blick zum Heck der Barkasse schweifen. Der Rumpf wirkte nicht allzu lang, vielleicht zwanzig Meter, trug aber einen festen Aufbau, der den vorhandenen Platz perfekt ausnutzte. Die Barkasse wirkte ausgesprochen einladend. Als wollten die Inhaberinnen den Sommer locken, hingen bunte Wimpel in allen Regenbogenfarben entlang der unteren Reling und an den Geländern auf dem Dach.
Ein ungeduldiges »Miau« riss Lilly aus ihren Beobachtungen. Anscheinend wollte ihre Führerin darauf aufmerksam machen, dass sie schon länger an der Eingangstür wartete.
»Ich komme ja schon.« Lilly beeilte sich, die Gangway hinaufzukommen, der roten Zora entgegen, die sie mit einem derart indignierten Gesichtsausdruck bedachte, wie ihn nur eine Katze zu zeigen vermochte. »Kein Grund, mich so anzusehen. Da wird einem ja angst und bange.« Lilly öffnete die korallenrote Tür, ließ die Katze mit den Worten »Also los!« vorausgehen und folgte ihr ins Innere.
Drinnen befanden sich drei Personen: zwei Frauen etwa im gleichen Alter wie Lilly und ein dunkelhaariger Mann, der ihr gerade den Rücken zuwandte.
Die kleinere der beiden Frauen schaute Lilly irritiert entgegen, doch schon im nächsten Augenblick klärte sich ihre Miene. »Jetzt bin ich aber erleichtert, dass da noch jemand kommt. Ich hatte kurz gedacht, Stampi hätte gelernt, Türen zu öffnen. Es gibt ja immer mal Katzen, die es schaffen, sich an eine Türklinke zu hängen.« Die Frau lachte leise und schüttelte den Kopf. Sie trug eine Jeans und ein pinkfarbenes Oberteil, das hervorragend zu ihren haselnussbraunen Haaren passte, die sie zu einem Longbob gestylt trug. Auf ihrem Gesicht lag nun ein einnehmendes Lächeln, das Lilly sofort erwiderte.
»Zum Glück haben wir einen Türknauf, den man drehen muss. Stampi stellt schon genug Unsinn an. Es wäre eine Katastrophe, wenn er jetzt auch noch unkontrolliert rein und raus könnte«, wandte die andere Frau ein. Sie trat zu Lilly. »Herzlich willkommen auf dem ›Kleinen Bücherschiff‹. Ich bin Katja Gerbaum.« Sie hielt Lilly die Hand entgegen. »Sie waren noch nie bei uns, sehe ich das richtig?«
Lilly schüttelte die dargebotene Hand, während sie ihr Gegenüber unauffällig musterte. Ihre Tante hatte Frau Gerbaum kurz erwähnt – es hatte da wohl eine unschöne Episode mit Lillys Vater gegeben, bei der die damals noch sehr junge Frau nicht allzu gut weggekommen war. Heute allerdings wirkte sie aufgeräumt und fröhlich. Schulterlanges, dunkelblondes Haar umschmeichelte ihr Gesicht. Ihre fraulichen Rundungen zeichneten sich unter einem mitternachtsblauen Blazer ab, dessen Nüchternheit von einer hellblau karierten Zipfelbluse und einem ebensolchen Rock abgemildert wurde.
»Wow, kennen Sie wirklich alle Kunden, die hier ein und aus gehen?« Lilly stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Aber nein. Dafür haben wir zu viel Laufkundschaft. Es kommen ja auch immer wieder Touristengruppen in den Hafen.« Katja Gerbaum lachte leise. »Es liegt an diesem besonderen Gesichtsausdruck, oder besser gesagt, an der Art, wie sich die Leute umschauen, wenn sie zum ersten Mal unser Schiffchen betreten.« Sie ließ den Arm schweifen.
Lilly nickte. Sie verstand sofort, was Katja Gerbaum meinte. Tatsächlich verströmte das Innere der Barkasse ein heimeliges, nordisches Flair, von dem sie sich sofort angezogen fühlte. Den größten Teil der rechten Wandseite nahm eine lange Theke aus dunklem Holz ein, verziert im maritimen Stil mit einer Messingreling und Tauen. Umgeben von Buchständern, die kleinen Staffeleien glichen, stand darauf eine altmodische Registrierkasse. Die Buchständer wiederum präsentierten Neuheiten und Tipps der Buchhändlerinnen, so wiesen es zumindest die Hinweisschilder aus, die oben in den jeweiligen Büchern steckten. Unter jeder der Ministaffeleien lag ein Stapel von etwa fünf Exemplaren des beworbenen Buches, darüber hinaus fanden sich dort noch ein paar Lyrikbände und andere Geschenkbücher sowie in einem kleinen Ständer zauberhafte Kunstpostkarten.
»Hübsch«, sagte Lilly und wies auf die Postkarten.
»Ja, wir mögen sie auch sehr«, antwortete Katja Gerbaum. Dann wies sie auf die beiden übrigen Personen im Raum und auf die rote Zora, bei der es sich offensichtlich um einen Kater handelte. Zumindest hatte Frau Gerbaum den Rotschopf als »er« bezeichnet.
»Das ist meine Geschäftspartnerin Miriam Naujocks, und der Herr, der Sie die ganze Zeit so belämmert anschaut, ist Pablo Gonzáles. Lassen Sie sich nicht irritieren, er hat gerade von uns das Angebot bekommen, Teilhaber zu werden. Wahrscheinlich schaut er deshalb so denkwürdig. Oder es liegt an Ihnen.« Sie lachte herzlich. »Und der arrogante Herr mit der fehlenden Pfote ist Stampi, unser Schiffskater. Er ist uns im Winter zugelaufen.«
»Hallo«, grüßte Lilly ein wenig abwesend, da ihre Hauptaufmerksamkeit immer noch auf der Einrichtung der schwimmenden Buchhandlung lag. Hinten rechts in der Ecke befand sich die Kinderbuchabteilung, das nahm sie zumindest an, denn die Bücher, die dort in den deckenhohen Regalen standen, wirkten ausgesprochen farbenfroh. Außerdem wiesen sie zu einem großen Teil andere Formate auf als die typische Romangröße, und gleich daneben lag der Spielbereich für die Kleinsten.
»Wie haben Sie denn zu uns gefunden?«, fragte Miriam Naujocks, während Lilly sich weiter umsah.
»Meine Großtante ist Stammkundin bei euch.« Da Lilly im weitesten Sinne mit Katja verwandt war – wenn man es so nennen wollte –, konnte sie ebenso gut zum Du übergehen. Wobei sie für den Anfang vielleicht erst einmal bei »ihr« und »euch« blieb, ehe sie nicht sicher wusste, wie sie zueinander standen. »Ich bin gerade auf der Suche nach ihr.« Lillys Blick blieb an dem gutaussehenden, dunkelhaarigen Mann hängen, der sie wortlos anstarrte. »Floriane Tietgen.« Lilly bückte sich nach dem Kater und strich ihm noch einmal über den Rücken. »Ich wünsche dir einen schönen Tag«, sagte sie, dann trat sie an die korallenrote Tür, die zurück auf das Deck führte, und ließ Stampi nach draußen. »Tantchen hat mir von eurem Bücherschiff geschrieben. Wirklich die pure Begeisterung. Aber sie hat recht, das Schiff ist bezaubernd, ein richtiges kleines Bücherparadies – für Landratten und Seebären, wie mir scheint. Ich bin übrigens Lilly Koschnik, eigentlich Emilie, aber so nennt man mich höchstens, wenn ich mal Mist baue. Und das kommt natürlich so gut wie nie vor.« Kichernd drehte sie sich einmal um sich selbst. »Wow, ihr habt das Hamburger Flair richtig schön eingefangen, ohne dass es zu gediegen wirkt wie in Tantchens Wohnzimmer. So ein Hauch Shabby-Chic macht immer was her.« Sie wies auf die beiden abgewetzten Ohrensessel zwischen den Regalen, deren ehemals dunkelbraunes Leder nun eher honigfarben wirkte, in etwa wie der Kastanienhonig, den Lilly auf Mallorca so gern zum Frühstück aß. »Und da in der zweiten Nische ist ja auch der Schaukelstuhl, in dem Tantchen wohl immer sitzt. Und die Möwen … Die sind ja der absolute Knaller.«
Ein Räuspern riss Lilly aus ihrem Monolog. Sie drehte sich, um nachzusehen, aus wessen Kehle das Geräusch stammte.
Katja stand unmittelbar hinter ihr und streckte ihr zum zweiten Mal an diesem Tag die Hand entgegen. »Ich denke, wir sollten ›Du‹ sagen.« Falls sie angesichts von Lillys Nachnamen irritiert war, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. »Floriane hat erzählt, dass du demnächst kommen würdest. Ich freue mich, dich kennenzulernen.«
Lilly ignorierte die dargebotene Hand und fiel Katja stattdessen um den Hals. »Macht man so auf Malle«, erklärte sie. Auch Miri trat hinzu, erhielt ebenso eine liebevolle Umarmung, genauso wie Pablo, der sich für jemanden, der täglich mit Kunden zu tun hatte, ausgesprochen schüchtern näherte. Interessante Leute, dachte Lilly. Sie war sehr gespannt auf dieses Trio.
»Du siehst ziemlich verfroren aus.« Miri betrachtete Lillys Kleidung mit schief gelegtem Kopf. »Ehrlich gesagt, wenn ich dich so anschaue, wird mir direkt auch kalt. Wie wäre es mit einem heißen Tee? Grog haben wir leider keinen da.« Sie kicherte mädchenhaft.
»Ein Kaffee wäre mir lieber, wenn es keine Umstände macht.«
»Das kriegen wir als alte Kaffeetanten problemlos hin.« Miri wandte sich lächelnd um und verließ den Raum durch eine kleine Tür an der hinteren Wand. Wahrscheinlich ging es von dort auf die Brücke und zur Kombüse.
Hocherfreut blickte Lilly ihr nach. Ihre Hoffnung, eine Tasse Kaffee abzustauben, erfüllte sich also. Die beiden Mädels waren aber auch wirklich reizend. Wenn sie mit allen Kunden so liebevoll umgingen, wunderte es Lilly nicht, dass die Buchhandlung weit über Ottensens Grenzen hinaus beliebt und bekannt war.
»Schaukelstuhl oder Biedermeierecke?«, fragte Miri, als sie mit einer großen Tasse, aus der Dampf aufstieg, zurückkehrte. »Ich würde dir ja die Ohrensessel anbieten, aber dort gibt es keinen Tisch.« Sie wies auf die vorderste der drei Nischen, die sich an der linken Seitenwand durch die Anordnung der Regale gebildet hatten. Je drei Regale formten jeweils ein U, und dazwischen standen die Sitzgelegenheiten. In der hintersten handelte es sich dabei um ein fast schon filigranes Ensemble aus einem bordeauxfarbenen Sofa im Biedermeierstil und zwei dazu passenden Sesseln.
»Schaukelstuhl«, entschied Lilly. »Obwohl die Möwe über den Ohrensesseln mit Abstand die geilste ist.« Sie lachte. »Oh Gott, wie gut, dass Tantchen mich jetzt nicht hört, sie würde wieder ihre ›Mund-mit-Seife-auswaschen‹-Drohung loslassen.«
»Oh ja, die kennen wir auch.« Miri schmunzelte, ehe sie sich vor dem Haupt einer Plüschmöwe verbeugte. Der Kopf prangte wie eine Großwildjagdtrophäe auf einem Brett, und auf dem Scheitel balancierte das Tier ein perückenartiges Gebilde aus lilafarbener und quietschgelber Wolle. »Darf ich vorstellen, Olivia Jones.«
»Jetzt verstehe ich die Frisur.« Lilly lachte schallend. »Großartig. Wer kam denn auf die Idee?«
»Das war eine Gemeinschaftsentscheidung. Als uns die drei beim Kauf der Einrichtung über den Weg liefen, waren wir gleich schockverliebt.« Miri warf Katja eine Kusshand zu. »Die beiden anderen sind übrigens Jan Delay und Sylvie Meis. Wenn du genau hinschaust, wirst du die Ähnlichkeit entdecken.«
»Absolut«, antwortete Lilly und ließ sich im Schaukelstuhl nieder. Sie hatte es sich gerade gemütlich gemacht, als die Tür sich öffnete und ein Kunde den Verkaufssalon betrat. Sofort trat Katja vor, begrüßte den älteren Herrn und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Es schien genau wie bei Lilly sein erster Besuch auf der Barkasse zu sein, denn Katja stellte ihm die gleiche Frage und erklärte, woher sie wusste, dass er »Das kleine Bücherschiff« noch nicht kannte.
Dann erläuterte sie ihm, wie sich die Buchhandlung aufbaute. »Unser Sortiment ordnet sich beinahe komplett einem Motto unter, sieht man mal von den gängigen Bestsellern ab. Und wie sollte es in einem Hafen, in dem die Hochseeschifffahrt zu Hause ist, auch anders sein, steht auf unserer Fahne das Thema Meer. Das heißt: Bei uns finden Sie alles, was im weitesten Sinne mit dem Meer zu tun hat.«
Ach, dachte Lilly, das hat Tante Floriane gar nicht erwähnt. Aber gut zu wissen. Tatsächlich fand sie, das Motto hätte kaum passender gewählt sein können, auch wenn das Meer noch ein paar Kilometer die Elbe hinunter lag.
»Egal ob Krimi, Kinderbuch, Liebesroman, Sachbuch oder was immer Sie interessiert.« Katja wies auf die jeweiligen in Gruppen angeordneten Bücherregale. »Wenn das Meer oder die Küste eine Rolle spielen, werden wir das Buch mit hoher Wahrscheinlichkeit im Sortiment haben. Nicht nur die Neuerscheinungen, sondern auch die Klassiker. Und alles andere können wir bestellen. Natürlich auch jedes Buch mit einem anderen Themenbezug.« Katja blieb vor einem Regal stehen und nahm zwei Bücher heraus. »Hier zum Beispiel finden Sie die Belletristik.« Sie reichte dem Kunden einen der beiden Romane. »›Der alte Mann und das Meer‹. Diese Neuauflage ist auch schon zehn Jahre alt, aber da die Gestaltung so zeitlos ist, merkt man das kaum. Ich mag das Cover.«
Lilly stemmte sich ein Stück aus dem Schaukelstuhl nach oben, um den Einband zu betrachten. Sie hatte es vor einigen Jahren gelesen, diese Taschenbuchausgabe jedoch kannte sie nicht. Der Umschlag war komplett in Taubenblau gehalten. Für den Namen des Autors und den Buchtitel hatte man dieselbe Schriftart verwendet, nur dass »Ernest Hemingway« in weißen und »Der alte Mann & das Meer« in schwarzen Buchstaben geschrieben stand. Lediglich zwei unterschiedlich große weiße Kreise unterbrachen die Komposition und lenkten ein wenig den Blick. Ob es sich dabei um Sonne und Mond handeln sollte, fragte sie sich. Zur Geschichte würde es passen, schließlich war Santiago, der Fischer, von seinem Fang immer weiter hinausgetragen worden, und verbrachte so fast vier Tage und Nächte auf See, ehe er endlich an seinen Heimatstrand zurückkehrte.
»Im Kontrast zu dem Klassiker haben wir hier – ganz frisch erschienen und mindestens genauso lesenswert – diese zauberhafte Geschichte«, unterbrachen Katjas Worte nun Lillys Gedanken. »›Zwischen zwei Meeren‹. Das Buch spielt in Dänemark, dort wo Nord- und Ostsee sich treffen. Zwei Menschen, ein zehnjähriger Junge und ein erwachsener Mann, fürchten das Wasser aus völlig unterschiedlichen Gründen. Als sie am Strand von Skagen eine Nautilusschale finden und sich gemeinsam daranmachen, das Rätsel zu lüften, wie die Schale dorthin gekommen ist, müssen sie beide ihre Angst vor dem Wasser überwinden. Diese besondere Freundschaft zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, deren Schicksale und Lebensumstände auf den ersten Blick keinerlei Ähnlichkeit haben und die dennoch so viel verbindet, liest sich einfach wunderbar. Wobei ich noch gar nicht ganz durch bin, das muss ich der Ehrlichkeit halber sagen. In einigen Wochen dürfen wir Leif Lindholm, den Autor, hier auf dem ›Kleinen Bücherschiff‹ zu einer unserer berühmten Kaperfahrten begrüßen. Diesen Abend warte ich ab, ehe ich den Schluss lese. Ich finde es ungemein inspirierend, den Kopf hinter einer Geschichte kennenzulernen und etwas über seine Haltung zum Leben zu erfahren. Wenn ich dann die Auflösung lese, habe ich einen ganz anderen Bezug, ein anderes Verständnis, und mir fallen Dinge auf, die ich ansonsten vielleicht gar nicht erkannt hätte«, erklärte Katja, die sich ein wenig in ihrer Begeisterung verlor.
Der ältere Herr, den sie so liebevoll beriet, ließ sich anstecken, er schenkte Katja ein Lächeln und nahm das Buch von Leif Lindholm zur Hand. »Den guten alten Hemingway kenne ich schon, aber diesem Herrn Lindholm möchte ich gern eine Chance geben.« Er betrachtete das Cover. »›Zwischen zwei Meeren‹, ein wirklich ausdrucksstarker Titel. Da bekommt man gleich ein wenig Fernweh. Finden Sie nicht auch?«
»Absolut. Und für mich schwingt darin auch ein wenig ›Zwischen den Zeiten‹ mit. Eine Umbruchsgeschichte, wenn man so will. Da brandet etwas an, entschwindet wieder und lässt uns unentschlossen oder gebrochen am Wellenrand zurück. Aber dann kommt die nächste Welle, und mit ihr entsteht ein neuer Zyklus, der möglicherweise ganz anders ausgeht. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich so etwas Ähnliches im Privaten ganz kürzlich erst erlebt.« Katja schüttelte den Kopf, als wollte sie den Gedanken loswerden. »Auf jeden Fall kann ich Ihnen den Roman sehr empfehlen.« Sie geleitete den Kunden zum Tresen, schlug das Buch in Seidenpapier und reichte es ihm, nachdem sie kassiert hatte. »Danke für Ihren Besuch«, rief sie ihm nach, als er die Tür nach draußen öffnete.
»Über was für einen Sprottenschiet du dir Gedanken machst. Irgendwann musst du das Alte hinter dir lassen.« Miri trat zu ihrer Freundin und blickte ihr ins Gesicht. »Aber das Zusammensein mit Mathis hat dich schon etwas verändert. Er tut dir gut.«
»Findest du?« Katja wirkte ein wenig verträumt. Beide Frauen schienen Lillys Anwesenheit vergessen zu haben.
»Wow! Du bist hier eindeutig am richtigen Platz«, sagte Lilly leise, um sich unauffällig bemerkbar zu machen. »Du sprichst mit so viel Wärme von den Büchern, dass du einfach hierher zu gehören scheinst wie eines der Regale oder die Pfeife auf dem Beistelltisch neben dem Schaukelstuhl. Quasi Inventar. Es klang regelrecht poetisch, was du gesagt hast. Kein Wunder, dass Tante Floriane gerne herkommt.«
»Ach, du meinst, es ist nicht nur der gute Kaffee und der gemütliche Schaukelstuhl.« Katja lächelte, während eine leichte Röte in ihre Wangen stieg.
»Sí claro, natürlich kommt sie auch, weil sie hier ein Dach über dem Kopf hat und wegen des Mineralwassers, das ihr angeblich im Sommer ausschenkt.« Lilly streckte frech die Zunge heraus und lachte Katja an.
»Sorry, meine Damen«, mischte sich nun Pablo Gonzáles in das Gespräch. »Vielleicht ist es euch nicht aufgefallen, aber gerade kommen ungewöhnlich wenig Kunden. Vielleicht sollten wir das ausnutzen, um noch einmal über mich zu sprechen.« Er warf sich in die Brust.
»Ups, geballte Männlichkeit«, entfuhr es Lilly.
»Was gibt es denn da zu besprechen? Du wolltest die Teilhaberschaft, wir haben darüber nachgedacht und dich für gut genug befunden«, verkündete Miri, ehe sie Lilly zuzwinkerte und schallend zu lachen begann. Katja und Lilly fielen mit ein. »Oder möchtest du erst noch ein paar Passanten fragen, ob sie dich als Buchhändler hier sehen? Oder Lilly vielleicht? Sozusagen als Vertreterin von Floriane. Die gehört ja hier ebenfalls zum Inventar, wie die Möwen und die Bücher.«
»Ich würde sagen: entweder du unterschreibst, oder du lässt es.« Mit einem imaginären Stift zeichnete Katja eine Unterschrift in die Luft. Dabei grinste sie Pablo an. »Nein, im Ernst. Am besten liest du dir in Ruhe den Vertrag durch. Du kennst ja Andreas Nolden. Er hat ihn aufgesetzt wie alle unsere Verträge. Bei Fragen kannst du in der Kanzlei anrufen, oder du wendest dich an mich. Ich bin eh die beste Geschäftsfrau von uns dreien.«
»Was daran liegen könnte, dass ich ein Geschäftsmann bin.« Pablo stellte sich breitbeinig hin.
»Aber ja«, Katja sprach zu ihm mit aufmunternder Stimme wie zu einem Hund. »Natürlich bist du ein Geschäftsmann. Ein feiner Geschäftsmann. Wer ist der beste Geschäftsmann auf dem ›Kleinen Bücherschiff‹? Wer ist der beste Geschäftsmann? Ja, der Pablo, nicht wahr? Der Pablo.« Sie nahm die Haltung einer Schnellläuferin ein, die beim Startschuss sofort losrennen würde. Dabei gelang es ihr, über die komplette Zeit ihre Mimik unter Kontrolle zu halten. Nicht einmal ein Grinsen stahl sich auf ihre Gesichtszüge.
Lilly kicherte und setzte an zu applaudieren, doch der Schlagabtausch ging sofort weiter.
»Wenn da mal nicht der pure Neid spricht.« Pablo richtete sich kerzengerade auf, machte aber keine Anstalten, sich in Katjas Richtung zu bewegen. »Das perlt doch an mir ab wie Regen von einer Persenning.« Er fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Brust, als wischte er lästige Tropfen zur Seite. Dann wandte er sich hoch erhobenen Hauptes um. »Ich ziehe mich ins Bücherlager zurück und lese in Ruhe diesen Vertrag.« Mit dem hoheitsvollen Winken eines Potentaten verließ er den Raum durch die Tür, hinter der Miri verschwunden war, um den Kaffee zu holen.
Lilly brach in schallendes Gelächter aus. »Na das war ja mal ein Abgang. Geht es hier immer so zu?«
»Nur wenn keine Kunden da sind.« Miri lachte mit. »Na ja, natürlich nicht immer. Aber Pablo und die anderen aus der Clique sind allesamt mit einer ziemlich vorlauten Klappe und echt penetranter Neugier gesegnet. Da haben wir es uns angewöhnt, sie ebenfalls öfter mal ein wenig hochzunehmen.«
»Man muss sich schließlich wehren«, fiel Katja ihr ins Wort. »Du hast ja keine Vorstellung, wie die vier sein können. Solange sie keinen Wein intus haben, geht es ja noch, aber wehe sie veranstalten wieder eines ihrer Gelage in der Biedermeierecke.« Sie unterbrach sich und blickte Lilly prüfend in die Augen. »Am besten, du nimmst nicht alles ernst, was du hier hörst. Zumindest im Zusammenhang mit Pablo, Liz, Anne und Tim. Du wirst sie sicher bald kennenlernen. Sie sind wirklich superlieb und hilfsbereit, aber eben auch etwas vorlaut. Aber alles nur Spaß. Wobei … Das mit der Neugier solltest du vielleicht doch ernst nehmen. Da stehen sie deiner Tante in nichts nach. Es ist nicht so einfach, hier irgendetwas vor unseren Freunden und Stammkunden zu verbergen. Da schadet es nicht, wenn du gewarnt bist.«
»Ja?« Lilly stellte die Kaffeetasse zur Seite und richtete sich ein Stück auf.
»Ich erkenne es an der Art, in der du es dir hier gemütlich gemacht hast. Genau wie Frau Tietgen, als sie zum ersten Mal hier war. Du scheinst dich hier wohlzufühlen, und außerdem – das liegt ja auf der Hand – wirst du spätestens wieder auftauchen, wenn du deine Tante herbegleitest. Es ist also tatsächlich nur eine Frage der Zeit, bis du der Clique zum ersten Mal über den Weg läufst«, erläuterte Miri. »Aber mal was anderes. Erzähl doch mal von dir. Wir sind natürlich kein bisschen neugierig.«
»Das habe ich auch schon gemerkt. Was wollt ihr denn wissen?«
»Alles, was Freunde und Familie über dich wissen müssen.« Katja hob die Hand in einer aufmunternden Geste. »Schließlich war ich ja sogar mal, ohne es zu wissen, für zwei Jahre lang so etwas wie deine Stiefmutter.«
»Ach du lieber Himmel, so habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet.« Lilly unterbrach sich. »Also gut, dann die Version für Freunde. Für die Rolle der Stiefmutter bist du zu jung. Nicht dass du noch auf die Idee kommst, mir Lebenshilfetipps zu geben.« Sie grinste. »Ich hatte ein wenig Schiss vor diesem Gespräch, ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus poltern – oder besser ins Schiff. Aber ich bin froh, wenn da kein komisches Gefühl zwischen uns aufkommt, weil wir meinen Vater ausklammern.«
»Ausklammern können wir ihn gern trotzdem. Ich bin kein großer Fan von ihm«, antwortete Katja.
Lilly nickte verstehend. »Kann ich mir vorstellen. Ich übrigens auch nicht. Haken wir ihn am besten ab.« Sie unterbrach sich. »Also dann, was gibt es über mich zu wissen? Ich bin fünfundzwanzig, aktuell Single und seit dem Abschluss meiner Ausbildung in so einer Art Work and Travel unterwegs, wobei ich nicht bei irgendwelchen Erntearbeiten in Australien helfe, sondern in meinem Beruf als Hotelfachfrau arbeite. Mal eine Saison hier, mal eine da. Im Moment beschränke ich mich auf Europa, aber Nord- oder Südamerika würde mir auch gefallen.« Sie erzählte, wo sie schon überall gearbeitet hatte.
»Fällt es dir leicht, nach einer Saison alles hinter dir zurückzulassen?«, fragte Miri. »Ich könnte das nicht.«
»Das ist für mich eigentlich kein Problem. Ich bin ja ungebunden, und es macht mir einfach Spaß, ein wenig über die Inseln zu hüpfen und verschiedene Kulturen auszuprobieren. Wer weiß, vielleicht bleibe ich irgendwann irgendwo hängen, aber im Moment mag ich es genauso entspannt, wie es ist. Außerdem ist es doch heute mit Social Media keine große Sache mehr. Wenn ich jemanden mag, dann halte ich Kontakt. Wir chatten, schicken uns gegenseitig Sprachnachrichten oder frühstücken per Video miteinander. Alles ganz easy und locker. Keiner stellt Ansprüche an den anderen, und hin und wieder sieht man sich, Europa ist ja nicht so groß, dass man nicht überall auch in halbwegs absehbarer Zeit mit Zug, Schiff oder auch mal Flugzeug hinkommt. Ich versuche, nicht so viel zu fliegen – von wegen ökologischer Fußabdruck und so –, ich ziehe gern in der Welt herum, aber da bin ich dann doch nicht so leichtherzig.«
»Und die Liebe? Bist du noch keinem Kerl begegnet, bei dem du bleiben wolltest?« Katja blickte Lilly mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Gut, du bist ein paar Jahre jünger als wir, aber irgendwann möchte man vielleicht doch jemanden haben, mit dem man eine Zukunft aufbauen kann.«
»Im Moment möchte ich eigentlich nichts Festes. Dann wäre es ja vorbei mit dem Spaß. Vielleicht in zwei, drei Jahren. Ich hab's nicht eilig. Außerdem bin ich flexibel, wenn der Richtige kommt, merke ich es bestimmt, und dann kann ich immer noch sesshaft werden. Wobei mir noch nicht ganz klar ist, woran man denjenigen dann erkennt«, gab Lilly offen zu.
»Ach, das merkst du schnell. Glaub mir.« Miri lächelte schmachtend. »Bei Henning wusste ich es eigentlich sofort, auch wenn es dann doch erst einmal etwas komplizierter wurde. Aber am Ende wurde alles gut. Und jetzt sind wir eine kleine Familie mit Finn und Greta, einfach megahappy.« Miri sah sich suchend um. Lilly folgte ihrem Blick. Außer ihr, Katja und Miri befand sich niemand im Raum. »Wer weiß …« Miri lächelte versonnen. »Vielleicht ist dein Richtiger gar nicht so weit weg. Ich habe da so ein Gefühl, dass ein gewisser neuer Teilhaber ein besonderes Interesse daran haben könnte, dich wiederzusehen.«
Lilly stutzte. Sprach Miri von Pablo? Der hatte sie bisher wenig beachtet. »Davon habe ich nichts gemerkt«, erklärte sie. »Er wirkte eher schüchtern auf mich.«
»Genau das meine ich.« Miri wandte sich Katja zu. »Oder hast du Pablo schon mal sprachlos oder schüchtern erlebt? Er schien ja nachgerade in Schockstarre zu fallen, als Lilly reinkam.«
»Ja, das ist mir auch aufgefallen.« Katja nickte. »Aber inzwischen hat er sich ja eingekriegt. Ich bin gespannt, wie sich das entwickelt.«
»Hm?« Lilly zog das Haargummi, mit dem sie sich die Haare zu einem Zopf gebunden hatte, heraus und schüttelte ihre Frisur zurecht. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte, entweder band sie die Haare zusammen, oder sie ließ sie wieder frei, je nachdem, welche Haartracht sie gerade trug. »Ich weiß nicht.« Sie winkte ab. Schließlich war sie gerade erst nach Hamburg gekommen, da musste nicht unbedingt gleich am ersten Tag ein Lover her, wobei sie einer unverbindlichen Romanze eigentlich nie ablehnend gegenüberstand. Vor allem, da auf den Frühling unweigerlich der Sommer folgte und romantische Abende an der Elbe oder am Meer zu zweit sicher mehr Spaß machten. Dennoch … Bisher wirkte Pablo nicht wie der geborene Flirtprofi, so wie sie es von den Spaniern gewohnt war. Obwohl …? Er trug immerhin einen spanischen Namen, irgendwo in seiner Vorfahrenlinie mochte sich das Feuer des spanischen Machismo eingeschlichen haben – also der Teil, der daran positiv war. Vielleicht musste man es nur ein wenig herauskitzeln.
»Schau mal, wie sie guckt.« Miris Stimme riss Lilly aus ihren Gedanken. »Ich sag euch, das kann interessant werden.«
Eilig stapfte Lilly den Hang hinauf, dem Haus ihrer Großtante entgegen. Sie achtete nicht auf den Weg, das war nicht nötig, sie kannte ihn seit ihrer frühesten Kindheit. Stattdessen verlor sie sich in Gedanken. Genauso wie Tante Floriane es schon bei ihrem letzten Telefonat prophezeit hatte, gefiel ihr »Das kleine Bücherschiff« ausgesprochen gut. Sie hatte sich auf Anhieb dort wohlgefühlt. Der herzliche Empfang der beiden Inhaberinnen, die drollige Schüchternheit des angeblich sonst nicht auf den Mund gefallenen baldigen Mitinhabers, die Einrichtung, der Duft im Inneren der Barkasse, all dies hatte Lilly sofort in Bann geschlagen. Einzig die Sache mit Katja und Léo, ihrem Vater, lag ihr auf der Seele. Sie hatte Katja beinahe sofort ins Herz geschlossen, und über kurz oder lang würden sie darüber sprechen müssen, ob das, was Léo Koschnik Katja im Rahmen ihrer kurzen Ehe angetan hatte, zwischen ihnen stünde oder nicht. Auf Katjas Beziehung zu Floriane schien es jedenfalls keinen Einfluss zu nehmen, aber die alte Dame hielt mit ihrer Meinung über Léo auch nicht hinter dem Berg. Da waren die Fronten klar.
Lilly seufzte. Zwischen ihr und ihrem Vater bestand eine ambivalente Beziehung. Im Grunde hatte sie den Kontakt abgebrochen, aber dennoch fehlte er ihr hin und wieder. Und so war sie bereits diverse Male sich oder besser gesagt dem Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte, gegenüber wortbrüchig geworden und hatte sich von ihrem Vater einlullen lassen. Jedes Mal nicht lange, denn er hatte stets sehr schnell zu seiner gewohnten Unverfrorenheit zurückgefunden, was wiederum Lilly zur Vernunft gebracht hatte. Léo zu vertrauen gehörte zu den Kardinalfehlern, die man nicht mehr als ein oder zwei Mal begehen sollte, wenn man nicht mit in seinen Abgrund gezogen werden wollte. Zum Glück war es der reizenden Inhaberin des »Kleinen Bücherschiffs« gelungen, aus seinen Fängen zu entkommen.
Lilly stellte ihre Koffer ab und drückte den Klingelknopf. Wo Floriane abgeblieben war, während Lilly an Bord der Barkasse gewartet hatte, wusste sie noch nicht. Als sie ihre Tante endlich erreichte, hatte diese etwas von »Schön sein und U-Bahn« gemurmelt und dann gleich wieder aufgelegt.
Die Tür sprang auf und enthüllte Gerderuth Ermina Floriane Tietgen in ihrer vollen ein Meter fünfzig kleinen Pracht. Sie öffnete die Arme und trat auf Lilly zu. »Mein Mädchen, wie schön, dass du da bist. Ich habe mich so sehr auf dich gefreut.«
»So sehr, dass du nicht zu Hause warst, als ich angekommen bin?« Lilly schmunzelte, während sie ihre Großtante herzlich umarmte. »Wo warst du denn? Ich habe mir schon fast Sorgen gemacht.«
»Papperlapapp, kein Grund zur Sorge. Ich war beim Friseur, um mich für dich hübsch machen zu lassen, und auf dem Weg zurück bin ich in die falsche U-Bahn gestiegen und hab es erst an der Endstation gemerkt.«
»Hm«, stieß Lilly in Ermangelung eines passenderen Geräusches aus, allerdings auch, weil sie die alte Dame nicht beleidigen wollte.
»Du musst mich nicht ansehen, als hätte ich den Verstand verloren. Ich war in Gedanken schon bei deinem Besuch. Das ist keine Altersfrage: Miri passiert das andauernd, und sie ist noch keine dreißig Jahre alt.« Sie bat Lilly ins Haus.
Flugs brachte Lilly ihre Habseligkeiten im großzügigen Gästezimmer der Villa unter, eilte die Treppe wieder hinab und betrat die Wohnstube, wo ihre Großtante bereits auf sie wartete.
»Wie wunderbar, dass du gekommen bist, Lillymaus«, rief Floriane.
»Lillymaus? Oje, Tantchen.« Sie sog die Luft durch die Zähne. »Ich bin inzwischen etwas älter geworden.«
»Nur unwesentlich, an meinem methusalemischen Alter gemessen.«
»Methusalem soll angeblich fast tausend Jahre alt geworden sein. Dagegen giltst du gerade mal als Teenager.« Lilly kicherte.
»Schön wäre es.« Die betagte Dame wies auf den Stock, den ihr das Alter vor Kurzem aufgezwungen hatte. »Ich wünschte, es handelte sich um einen Spazierstock, den ich rein zum Spaß verwenden könnte. Doch leider …« Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Nun ja, Altern liegt mir nicht. Ich freue mich, dass du gekommen bist, um mir altem Eisen zu helfen, aber bleib nicht zu lange, ich möchte nicht, dass du dein Leben verpasst.«
Lilly schüttelte heftig den Kopf. »Ich verpasse gar nichts. Darüber haben wir doch schon am Telefon gesprochen. Es passt ganz wunderbar, dass du mich gebeten hast zu kommen und dass du mich aufnimmst, ich hätte sonst nicht gewusst, wohin, nachdem mein Vertrag auf Mallorca ausgelaufen ist. Nicht ich tue dir einen Gefallen, sondern du mir. Ist doch selbstverständlich, dass ich auch für dich da bin, wenn ich hier schon unterschlüpfen darf.« Zugegeben, das war ein wenig übertrieben. Ihr Vertrag war keineswegs ausgelaufen, sondern sie hatte ihn gekündigt, aber das wusste Floriane zum Glück nicht. Die Hotels suchten während des Sommers eigentlich immer Personal, und da Lilly nicht nur über Erfahrung, sondern auch über eine Ausbildung als Hotelfachfrau verfügte, wurde sie in der Regel mit Kusshand genommen, vor allem jetzt zu Saisonbeginn.
»Nun erzähl mal, wie geht es dir?« Lilly ließ sich auf das Sofa fallen.
»Bestens«, antwortete die alte Dame mit leicht kratziger Stimme. Sie hatte es sich in einem altmodischen Fernsehsessel gemütlich gemacht. Dieser war auf den kleinen Röhrenfernseher ausgerichtet, auf dem gerade eine Zoodokumentation über den Bildschirm flimmerte. Für Lilly mit ihren gerade einmal fünfundzwanzig Lebensjahren mutete das Gerät an wie aus grauer Vorzeit. Inzwischen hatten selbst in den preiswertesten Hotels auf Mallorca überall Flachbildfernseher Einzug gehalten. »Sollen wir dir nicht einmal einen neuen Fernseher anschaffen? Einen mit HD und einer größeren Bildschirmdiagonale. Dann kannst du auch viel besser erkennen, was passiert.«
»Ach«, Floriane winkte ab. »Ich schaue nicht viel Fernsehen, höchstens mal die Nachrichten, der Rest ist doch nur Hintergrundberieselung, damit es nicht so still ist.«
»Ich verstehe.« Lilly betrachtete ihre Großtante nachdenklich. In dem klobigen Sessel ging die kleine Frau beinahe unter. War sie früher auch schon so winzig gewesen, oder bildete sich Lilly das nur ein? Irgendwie schien sie seit ihrer letzten Begegnung geschrumpft zu sein, vielleicht lag es aber auch daran, dass sie den Kopf immer mehr zwischen die Schultern zog und ihr Rücken sich ein wenig nach vorn rundete. Sie hielt sich nicht mehr so gerade wie früher.
Einen Augenblick dachte Lilly darüber nach, Floriane darauf anzusprechen, doch dann verkniff sie sich das Thema. So wie sie die alte Dame kannte, gab sie sich ohnehin schon alle Mühe, die Haltung zu wahren, die ihr als junges Mädchen anerzogen worden war. Damals hatte sie mit drei dicken Büchern auf dem Kopf im Salon im Kreis schreiten müssen, und jedes Mal, wenn eines der Bücher heruntergefallen war, hatte ihre Mutter entnervt geseufzt oder eine Bemerkung darüber gemacht, dass sie ohne eine anmutige Körperhaltung niemals einen Mann abbekommen würde. Floriane hatte Lilly vor Jahren davon erzählt. Auch wie sehr sie diesen Drill gehasst hatte. Und dennoch hatte sie das Gelernte derart verinnerlicht, dass sie es heute sicher als Unvermögen wahrnahm, nicht mehr kerzengerade stehen und gehen zu können.
Lilly wollte auf keinen Fall Salz in die Wunde streuen, die Florianes vermeintliches Unvermögen wahrscheinlich längst in ihre Hamburger Kaufmannstochterseele geschlagen hatte. Obwohl sie eigentlich für die Zeit, in der sie aufgewachsen war, recht unorthodox gelebt hatte. »Sag mal, Tantchen, hast du es eigentlich jemals bereut, nicht geheiratet zu haben?«, sprach Lilly aus, was ihr durch den Kopf ging.
»Na, das ist ja eine Frage. Vom Fernseher zum Ehemann, das nenne ich einmal einen Gedankensprung.« Floriane lachte leise. »Warum möchtest du das wissen? Hast du einen jungen Mann im Auge? Oder eine junge Frau?«
Eines muss man Floriane lassen, in dieser Hinsicht ist sie nicht altmodisch, dachte Lilly. Laut sagte sie: »Nein. Ich frage ohne besonderen Grund. Keine Ahnung, woher der Gedanke kam. Vielleicht, weil ich eben über Katja und meinen Vater nachgedacht habe, und dass sie ja eigentlich froh sein kann, ihm schnell entronnen zu sein.«
»Täusch dich da mal nicht. Léo hat in den knapp zwei Jahren, in denen die beiden verheiratet waren, eine Menge Verheerung angerichtet. Es hat zehn Jahre gedauert, bis sich Katja wieder auf eine ernsthafte Beziehung einlassen konnte. Und der Weg dahin war steinig. Einen Teil davon durfte ich live miterleben.« In kurzen Worten fasste Floriane zusammen, wie die Annäherung von Mathis und Katja verlaufen war und wie lange Katja selbst ihrer besten Freundin gegenüber die Ehe mit Léo verschwiegen hatte, bis die Situation beinahe eskaliert wäre. Sie erzählte auch von dem denkwürdigen Ausflug nach Ladbergen, der darauf folgte, und wie sie höchst persönlich Léo am Ohrläppchen gepackt und ihn zur Bank geschleift hatte, damit sein Bürgschaftsbetrug Katja nicht auch noch die Existenzgrundlage raubte. »Ich konnte ihn leider nicht den ganzen Weg am Ohrläppchen hinter mir herziehen, das wäre zu anstrengend gewesen.« Floriane schüttelte den Kopf. »Der Wille war da, aber bedauerlicherweise fehlte mir dazu die Kraft. Aber mein feiner Herr Neffe war auch so kleinlaut genug und schlich wie ein geprügelter Hund neben uns her, nachdem ich ihm gedroht hatte, deine Großmutter aufzufordern, ihm den Geldhahn zuzudrehen.«
»Ich kann es mir vorstellen.« Lilly rollte mit den Augen. »Er war immer ein Opportunist. Das habe ich schon gelernt, als ich noch ganz jung war. Aber …« Sie hob beide Hände in einer abwehrenden Geste. »Lass uns lieber von etwas Schönem sprechen. Das Thema macht mich immer depressiv.«
»Ach, Lillymaus. Es tut mir wirklich leid für dich. Mit deinen Eltern hast du es nicht gut erwischt.«
»Zum Glück habe ich ja dich!« Lilly trat zu ihrer Tante, bückte sich und umarmte sie kurz. Dann ließ sie sich neben dem Sessel auf den Teppich fallen. »Ich war auf deinem Bücherschiff«, wechselte sie endgültig das Thema.
»Ich wünschte, es wäre mein Bücherschiff.« Floriane lächelte. »Aber es gehört Katja und Miri. Dann hast du die beiden heute kennengelernt? Und, wie gefallen dir die Buchhandlung und die beiden Mädchen? Meinst du, ihr könntet Freunde werden?«
»Und Pablo«, ergänzte Lilly.
Ihre Großtante runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz. Du willst auch mit Pablo befreundet sein?«
»Nein, ich meinte, das Bücherschiff gehört demnächst auch Pablo. Als ich ankam, haben sie gerade über den Vertrag für eine Teilhaberschaft gesprochen«, klärte Lilly das Missverständnis auf.
»Ach!« Floriane wirkte irritiert. »Davon habe ich gar nichts mitbekommen. So was!«
Lilly schmunzelte. »Wahrscheinlich haben sie erst einmal untereinander darüber gesprochen, ehe sie es rausposaunen, meinst du nicht?«
»Papperlapapp! Man will schließlich informiert sein.« Mit hoheitsvoller Miene erhob sich die alte Dame aus ihrem Sessel und baute sich vor Lilly auf. »Das kannst du dir auch gleich merken: Keine Geheimnisse vor deiner Tante Floriane, damit das klar ist. Und jetzt erzähl mir alles, was du auf der Barkasse beobachtet hast. Und lass keine Details aus. Die interessanten Dinge wirken oft ganz unscheinbar, aber in Wahrheit verbergen sich genau da die Geheimnisse. Man muss nur genau hinschauen und zuhören.«
Lilly wusste, dass ihre Großtante sich innerhalb des Familienkreises stets über alle Geschehnisse informiert hielt. Dass sich ihre Neugier auch außerhalb der Verwandtschaft fortsetzte, hatte sie bisher nicht geahnt, andererseits passte es hervorragend zu ihrer Persönlichkeit. Floriane Tietgen bewies alltäglich, dass an dem Klischee, die Hamburger wären wortkarg und verschlossen, so rein gar nichts dran war. Das war früher schon so gewesen. Jedes Mal, wenn sie zu einem gemeinsamen Spaziergang aufbrachen, hatte sich Lilly Kopfhörer und ein passendes Abspielgerät eingepackt, um sich nicht zu sehr zu langweilen, wenn ihre Großtante einmal mehr ein allzu ausführliches Schwätzchen mit den Nachbarn hielt. Da sie auch nicht davor zurückschreckte, wildfremde Menschen anzusprechen, hatte es bisweilen ziemlich lange gedauert, bis sie in die Villa zurückgekehrt waren, ohne dabei allzu weit gelaufen zu sein.
»Dann setz dich wieder. Ich mache uns einen Tee, einverstanden? So lange kannst du dich hoffentlich gedulden.« Lilly zwinkerte der alten Dame zu und ging in die Küche.
Vorsichtig platzierte Lilly die Kanne und die Tassen aus chinesischem Porzellan auf einem Tablett, stellte die Glasschale mit den Kluntjes daneben und wartete, dass der Tee ausreichend gezogen hatte, ehe sie das Teesieb entfernte. Einen Augenblick hielt sie die Nase in die dampfenden Schwaden, die aus der mit zarten blauen Blüten bemalten Kanne aufstiegen. Wie das duftete. Köstlich.
Sie trug alles in das gemütliche Wohnzimmer, deckte den Tisch und goss den Tee in die Tassen. Dann ließ sie sich auf dem Sofa gegenüber ihrer Tante nieder, pustete einmal über die Tasse, nahm einen Schluck und begann zu erzählen, was sich auf dem »Kleinen Bücherschiff« zugetragen hatte.
»Spannend, spannend!« Floriane nickte mehrfach. »Sie wollen also Pablo zum Teilhaber machen. Eine gute Idee, wie ich finde, schließlich kann Miri jetzt, da sie ihre Tochter hat, unmöglich jeden Tag zehn Stunden auf dem Schiff verbringen. Zumal Henning, ihr Mann, gerade das Architekturbüro aufbaut. Pablo aufzunehmen erscheint mir nur logisch. Er macht sich tatsächlich gut in der Buchhandlung, trotz seiner …« Sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr: »Na, nennen wir es beim Namen. Trotz seiner übergroßen Klappe.«
»Große Klappe?« Lilly runzelte die Stirn. »Der Typ hat kaum die Zähne auseinanderbekommen. Zu Anfang habe ich mich sogar gefragt, wie ein so schüchterner Mensch mit Kunden klarkommt. Später ist er dann ein bisschen aufgetaut, zumindest im Umgang mit Miri und Katja. Mir gegenüber war er eher stumm. So ein bisschen Kaninchen vor der Schlange.« Ihr entfuhr ein Kichern.
»Dann war es vielleicht doch nicht Pablo?« Floriane beugte sich eifrig ein Stück vor, so als gäbe es ein spannendes Rätsel zu lösen. »Aber wem sonst sollten die beiden einen Anteil an ihrem geliebten Bücherschiff anbieten. Wie sah der Mann denn aus? Blond oder Dunkel? Vielleicht Tim? Aber das wäre absurd, er ist sicher ein feiner, junger Mann oder wird es irgendwann werden, doch um eine Buchhandlung zu führen, ist er zu leichtherzig.«
»Katja hat ihn ausdrücklich als Pablo Gonzáles vorgestellt. Dunkelhaarig, braune Augen, groß, kantige Züge, ein Grübchen im Kinn und einen winzig kleinen Bauchansatz, den er zu kaschieren versuchte.« Lilly lachte hell auf.
Ihre Tante fiel in das Gelächter ein. »Ja, das ist Pablo. Er habe in letzter Zeit seinen Sport ein wenig vernachlässigt, hat er mir vergangene Woche erklärt. Aber das sei nur vorübergehend. Was nach meiner Zeitrechnung allerdings schon mindestens ein Jahr anhält. Seit ich ihn kenne, hat er sich nicht verändert.«
»Jeder definiert ›vorübergehend‹ anders.« Lilly zuckte mit den Schultern. »Ich fand es jedenfalls amüsant, wie er sich die ganze Zeit abmühte, seinen Bauch zu verstecken. Genau wie die Männer auf Mallorca. Diese Spanier sind allesamt eitel, und diejenigen ohne Sixpack wirken immer ein wenig gestresst, wenn Frauen in der Nähe sind. Ich stelle es mir sehr anstrengend vor, permanent den Bauch einzuziehen.«
»Schüchtern ist Pablo allerdings nie und nimmer.« Floriane dachte einen Moment nach. »Womöglich hast du ihm gefallen? Manchmal versinken selbst die eloquentesten Männer mit einem Mal in Sprachlosigkeit, wenn eine Frau sie beeindruckt.«
Lilly schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Er ist ja keine impulsive zwanzig mehr, und obendrein falle ich sicher nicht in sein Beuteschema.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Na, er ist ein paar Jährchen älter als ich«, erwiderte Lilly.
»Als ob die Herren der Schöpfung nicht seit Anbeginn der Zeit an jüngeren Frauen interessiert wären. Da stellt sich doch vielmehr die Frage, ob er in dein Beuteschema passt.« So wie Floriane das Wort »Beuteschema« betonte, schien es ihr nicht sonderlich zuzusagen. Sie bevorzugte es, sich gewählt auszudrücken, so wie sie es in ihrer Kindheit gelernt hatte. Wobei sie durchaus auch mit schönen Worten andere in ihre Schranken zu weisen vermochte, eben nur derart elegant, dass der so gemaßregelte oft erst einige Minuten später begriff, was ihm gerade widerfahren war.
»Er ist durchaus ein schickes Kerlchen.« Lilly rief sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis: seine wuscheligen Haare, deren Spitzen sich leicht kringelten, der warme Ausdruck seiner Augen und dieses Grübchen. Sie liebte Grübchen. »Wenn er wirklich nicht auf den Mund gefallen ist, dann gern. Hauptsache, wir haben Spaß miteinander. An mehr bin ich nicht interessiert.«
»Warum das denn nicht?«, fragte Floriane. In ihrer Stimme lag Irritation. »Du bist ja auch nicht mehr die Jüngste. Möchtest du nicht irgendwann Kinder?«
Lilly lachte auf. »Ich bin doch gerade erst fünfundzwanzig. Und außerdem … Seit wann braucht man dazu einen Kerl?«
»Ich habe mir sagen lassen, dass es ganz ohne die Chromosomen eines Mannes auch nicht geht.« Die alte Dame lächelte. »Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass es heute nicht immer zu einer Heirat kommen muss, aber ein Paar helfender Hände kann sicher nicht schaden, um ein Kind großzuziehen.«
»Also erstens will ich gar keine Kinder – zumindest vorerst«, antwortete Lilly. »Zweitens werde ich ganz sicher nicht heiraten, da halte ich es wie du: du bist ohne Mann gut klargekommen. Und drittens möchte ich vorerst keine feste Bindung. Ich möchte unabhängig bleiben, die Welt sehen, vielleicht ein Jahr in Australien verbringen oder in Neuseeland. Oder noch einmal nach Griechenland, die griechischen Inseln mag ich sehr. Ich arbeite gern im Ausland. Ich liebe es, andere Kulturen kennenzulernen, neue Sprachen, anderes Wetter, spannende Herausforderungen. Da stört so ein Kerl.«
»Erstaunlich, wie gut du glaubst, meine Vergangenheit zu kennen.« Lillys Großtante stieß ein fast schon bitteres Schnauben aus. »Falls du denkst, es wäre leicht gewesen, als unverheiratetes Fräulein mit einem unbeschädigten Ruf durch die Sechziger- und Siebzigerjahre zu kommen, dann täuschst du dich gewaltig. Zumal ich der Männerwelt nie abgeneigt war.«
Ups. Lilly verhinderte gerade noch, dass die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, unkontrolliert aus ihrem Mund purzelten. Stattdessen fragte sie nach einem Augenblick des Überlegens: »Was willst du damit sagen?«
»Na, was denkst du denn? Meinst du, ich hätte meine jungen Jahre im Habit einer Nonne gefristet? Ich bin auch ein wenig herumgekommen.« Gerderuth Ermina Floriane Tietgen schüttelte den Kopf.
Schlagartig tauchten Bilder vor Lillys innerem Auge auf. Oh nein, es gab Dinge, die wollte sie sich nicht vorstellen. Ihre Beziehung zu Floriane glich der engen Bindung zu einer Mutter, und die eigenen Eltern wollte sich niemand beim Sex vorstellen. Für alle Menschen gleich welchen Alters galt: Vater und Mutter hatten es exakt einmal getan. Und … Selbstverständlich hatte es stillschweigend und emotionslos, ausschließlich im Schlafzimmer und im Dunkeln stattgefunden. Mehr ließ selbst Lillys überbordende Fantasie nicht zu. Auch nicht bei ihrer Großtante. Zögerlich fragte sie: »Mit ›herumgekommen‹ meinst du: in der Welt, oder?«
»Nun, ich würde meinen, dass ich genauso herumgekommen bin wie du, nur dass sich bei mir alles hier in Hamburg abgespielt hat. Wobei …« Die alte Dame unterbrach sich. Auf ihren Lippen lag ein verschmitztes Lächeln. »Es gab da so eine Episode in Buxtehude … Dummerweise hatte ich damals den letzten Zug verpasst. Beinahe wäre mir mein Vater draufgekommen. Es war ziemlich knapp, aber mit Glück und Verstand konnte ich die Sache zum Guten wenden. Ich verstand schließlich immer schon meisterlich zu improvisieren.«
»Oh Gott!« Lilly zog die Schultern bis zum Kinn, so sehr fröstelte ihr bei dem Gedanken an das Sexualleben ihrer Tante.
»Nun stell dich aber mal nicht so an. Ich mokiere mich ja auch nicht über deine Tête-à-Têtes. Oder willst du mir erzählen, dass du auf Mallorca vollkommen keusch gelebt hast?« In diesem Augenblick klang die alte Dame regelrecht mädchenhaft.
Lilly gewann eine Ahnung von der Frau, die Floriane in ihren jungen Jahren gewesen sein musste. Bei aller anerzogener Contenance schien sie … Lilly unterbrach ihre Überlegung und sprach den Gedanken laut aus. »Du scheinst ja ein echter Feger gewesen zu sein. Da gelte ich im Vergleich zu dir als Mauerblümchen.«
»Papperlapapp, ich hatte meine besten Jahre in den Siebzigern. In der Hippiezeit voller freier Liebe und psychedelischer Drogen.«
»Tante Floriane«, rief Lilly entsetzt. »Du hast Drogen genommen?«
»Natürlich nicht. So etwas gehörte sich nicht für eine wohlerzogene Hamburger Kaufmannstochter, die an der Elbchaussee groß geworden ist.« Floriane Tietgen schüttelte vehement den Kopf. Einen Augenblick schwieg sie. »Das meinte zumindest mein Vater«, fügte sie dann mit einem breiten Grinsen an. »Zum Glück bin ich nie schwanger geworden, sonst hätte er mir das mit der tugendhaften Tochter wohl nicht länger abgenommen.« Sie führte die Tasse zum Mund und nahm mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck den letzten Schluck.
In der Nacht schlief Lilly tief und traumlos, was sie bedauerte, denn schließlich sollte das, was man in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumte, in Erfüllung gehen. Nun gab es nichts zu erfüllen, dabei hatte sie darauf gehofft, von diesem schicken Spanier zu träumen. Nach dem, was ihre Großmutter ihr alles von Pablo erzählt hatte, schien der Mann über einige Facetten zu verfügen, die es zu entdecken galt. Und da er obendrein alles andere als unansehnlich war, versprach es ein Spaß zu werden, ihn aus der Reserve zu locken.
Allerdings brauchte es dazu keinen Traum. Lilly grinste in sich hinein. Einem Kerl etwas Dampf zu machen und sein Interesse zu wecken gelang ihr sicher auch so. Schließlich flirtete sie für ihr Leben gern und verfügte über einiges an Übung. Abgesehen davon schwebte ihr eine reine Spaß-Beziehung vor, worauf Männer meist nur zu gern eingingen. Zusammen ausgehen, feiern, vielleicht auch mal einen Kino- oder Fernsehabend miteinander verbringen und je nach Lust und Laune das Bett teilen gestaltete sich in der Regel für beide Seiten vergnüglich. Lilly mochte ihre Männer komplikationslos, und da sie festgestellt hatte, dass die wenigsten Männer sich gern einem Streit stellten, ergab sich dabei für alle Beteiligten eine Win-win-Situation. Das teilte sie auch Annalena mit, die Lilly, seit sie Pablo erwähnt hatte, jedes Mal, wenn sie chatteten, ausfragte, ob sie sich den heißen Spanier schon gekrallt hätte.
Lilly streckte sich unter der kuscheligen Decke. Das Plumeau hier im Haus ihrer Tante war mit federleichten Daunen gefüllt, kein Vergleich zu dem klumpigen Polyesterteil, das ihr Arbeitgeber in ihrem Zimmer auf Mallorca zur Verfügung gestellt hatte. Wer glaubte, als Hotelmitarbeiterin hauste man fürstlich in einer Fünf-Sterne-Suite, der irrte sich gewaltig. Manchmal gab es nette kleine Häuschen auf dem Hotelgelände, die sich dann ein paar Kollegen teilten. Das fiel aber unter die Kategorie: purer Luxus. Meist handelte es sich um ziemlich abgewohnte Zimmer, in denen sich kein Gast einquartieren ließe, irgendwo in einem schäbigen Nebengebäude. Mit etwas Glück gab es dort genug Platz für eine Kochplatte und einen Wasserkocher, ein durchgelegenes Bett, einen winzigen Tisch und eine Nasszelle, die den Namen Badezimmer nicht verdiente.
Zum Glück ergaben sich solche Wohnsituationen nur in den ersten Wochen einer neuen Anstellung, solange sich noch kein Zimmer in einer Wohngemeinschaft oder irgendwo eine kleine Wohnung fand, in der weder Kakerlaken noch Ameisen lebten. Wenigstens benötigte man nur wenige Schritte zum Arbeitsplatz, wenn man auf dem Gelände wohnte. Für Lilly, die oft die Nacht zum Tage machte und dementsprechend gern ausschlief, ein entscheidender Vorteil.
Davon musste sie sich hier in Hamburg erst einmal verabschieden. An ihrer Tante war eindeutig eine Lerche verloren gegangen. Zumindest wiesen die Geräusche, die aus dem Erdgeschoss zu Lilly hinaufdrangen, darauf hin. Eilig sprang sie aus dem Bett. Schließlich war sie hierhergekommen, um sich um Floriane zu kümmern und nicht umgekehrt. Also, nichts wie angezogen und runter, damit die alte Dame sich nicht schon in den frühen Morgenstunden damit verausgabte, für ihre faulenzende Nichte das Frühstück zu richten.
»Tantchen, setz dich irgendwo gemütlich hin«, rief sie auf dem Weg die Treppe hinunter. »Ich bin wach und kümmere mich um alles.« Aus der Küche erklang das Klappern von Tellern. Lilly sprang die letzten Stufen hinunter und sprintete in die Küche.