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Im kleinen Waldcafé finden Herzen zueinander Johanna liebt nichts mehr als das Gefühl von Moos unter ihren Füßen und eine sommerliche Lesestunde im Schatten einer alten Eiche. Die Gäste ihres kleines Cafés sollen sich bei ihr genauso entspannen wie bei einem Waldspaziergang und von kleinen Naturkunstwerken auf neue Gedanken gebracht werden. Als nicht weit entfernt ein verwildertes Waldstück bebaut werden soll, sieht Johanna ihr Café-Glück bedrdoht. Prompt legt sie sich mit dem Architekten des Bauprojekts an. Aber jedes Mal, wenn er sie zufällig berührt, hält Johanna inne und kann plötzlich nur an seine dunklen Augen denken. Die Liebe zur Natur führt sie zur Liebe ihres Lebens: Mit Johanna kann sich jede junge Frau identifizieren Der neue Roman von Lena Hofmeister ist Sommerfeeling pur!
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Seitenzahl: 296
Zum Buch:
Eigentlich sollte sie überglücklich sein. Nach fünf Jahren harter Arbeit schreibt ihr Café endlich schwarze Zahlen. Doch ausgerechnet jetzt fühlt Johanna sich oft erschöpft und hat Schwindelanfälle. Auf ärztlichen Rat hin schaltet sie einen Gang zurück und erlebt selbst die heilende Kraft des Waldes, in dessen Nähe ihr Café liegt. Als es ihr besser geht, erfährt sie von jungen Waldbesetzern, dass genau diesem Waldstück zugunsten eines Bauprojekts die Rodung droht. Johanna will ihren Teil zur Waldrettung beitragen – kann sie beim Architekten des Projekts etwas ausrichten?
Zur Autorin:
Lena Hofmeister wurde 1985 geboren und lebt in Frankfurt am Main. Neben ihrer Arbeit als Lektorin und Autorin hat sie jahrelang einen ganzen Wald an Zimmerpflanzen großgezogen – bis sie beschlossen hat, fünf buddelwütigen Katzen ein Zuhause zu geben.
Lieferbare Titel:
Das kleine Café der Bücherträume
Das kleine Waldcafé der Träume
Die Goldschmiede im Sternenweg (ab September 2023)
Originalausgabe © 2023 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur Coverabbildung von Ichpochmak, Laura Crazy, Bokeh Blur Background, vi73, AkvarellDesign / Shutterstock.com E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749905768www.harpercollins.de
Im Sommer war es eine Wohltat, etwas aus dem Kühlraum zu brauchen. Johanna erlaubte sich, einen Moment vor den Getränkekisten stehen zu bleiben, während die Kälte über ihre Haut strich. Kein Vergleich zu den fast dreißig Grad, die das Thermometer selbst im schattigen Hofgarten ihres Cafés anzeigte. Sie atmete tief durch und strich sich das Haar aus der verschwitzten Stirn.
Eine lange Pause konnte sie sich allerdings nicht erlauben. Ajani würde sich nicht allein um alle Kunden kümmern können.
Was hatte sie noch mal holen wollen? Ach ja, Apfelsaft. Bei diesem Wetter war Apfelschorle der Verkaufsschlager. Routiniert zog sie einen der schweren Kästen vom Stapel und ließ ihn ächzend auf die Sackkarre krachen, die direkt neben der Getränkeraumtür stand.
Sie zögerte und entschied einen Augenblick später, auch noch einen Kasten Mineralwasser mitzunehmen. Das ging auch immer schnell weg, und dann würde sie nachher nicht noch mal laufen müssen – auch wenn die Verlockung einer weiteren Kühlpause groß war.
Als Johanna den Getränkeraum wieder verließ, traf die Hitze sie, als liefe sie gegen eine Wand. Einen Moment lang erfasste sie Schwindel, aber sie fasste die Griffe der Sackkarre fester und vertrieb das Gefühl, suchte sich den vertrauen Weg durch die kleine Küche und von dort hinter die Theke. Diese Schwindelanfälle überkamen sie in letzter Zeit öfter. Wahrscheinlich lag es an der Hitze. Sie musste mehr trinken!
Ajani, die neuste studentische Aushilfskraft, war gerade damit beschäftigt, mehrere Becher mit kaltem Kaffee zu füllen. Das Vanilleeis stand auch schon bereit. Er nickte ihr nur kurz zu, als sie zu den großen Schubfächern hinüberging, in denen die Saftflaschen gekühlt wurden. Das Haar hatte er heute in sorgfältigen Cornrows zurückgeflochten. Sie hatte ihn gebeten, nicht mit offenem Haar zu arbeiten. Auch sie trug immer einen Pferdeschwanz, damit keine Überraschungen in den Gläsern der Gäste landeten. So viel Aufwand hatte sie nicht erwartet, aber es stand ihm gut.
Während Johanna die Flaschen einräumte, ging sie in Gedanken durch, was sie nach Feierabend noch würde erledigen müssen. Die Steuererklärung war fällig. Eine neue Eis-Bestellung war auch mal wieder nötig. Vielleicht sollte sie sich einen Zettel schreiben. Nachher vergaß sie sonst noch die Hälfte.
Auf der anderen Seite der Theke räusperte sich jemand. »Entschuldigung?«
Mit einem professionellen Lächeln auf den Lippen richtete Johanna sich auf. »Ja, bitte?«
Der Mann vor ihr sah aus wie das Abziehbild eines Managers. Er trug ein lachsfarbenes Polohemd und eine weiße Leinenhose. In seinem blondierten Haar steckte eine Sonnenbrille.
Das Café lag zwar ganz am Rand von Frankfurt, aber hier in die Nähe des Stadtwaldes kamen die Gutverdiener gerne, um sich zu erholen.
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. »Wir würden gerne zahlen.«
Innerlich zuckte Johanna zusammen. Wenn jemand zur Theke kam, um zu zahlen, bedeutete das immer, dass er schon viel zu lange gewartet hatte. »Ich bin sofort bei Ihnen!«, versprach sie.
Eilig räumte sie die restlichen Flaschen ein und behielt dabei im Blick, zu welchem Tisch der Mann zurückging. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern, seltsam … Heute waren eindeutig zu viele Gäste da.
Wobei es natürlich zu viele Gäste eigentlich nicht gab. Es würde ein sehr profitabler Tag werden.
Fünf Minuten später hatte Johanna die Rechnung des Tisches aufgerufen und ausdrucken lassen. Auf dem Weg zu dem ungeduldigen Kunden machten zwei weitere ihr Handzeichen.
»Ich bin gleich da!«, rief sie.
Vielleicht sollte sie für solche Tage noch eine zusätzliche Aushilfe einstellen. So gut war das Geschäft noch nie gelaufen, seit sie das Café gegründet hatte. Vielleicht hatte es sich irgendwo als Geheimtipp herumgesprochen?
Der vermutliche Manager saß im Hofgarten, nahe der Rückwand des Cafés, wo sie ein mit Wein überwachsenes Rankgitter als Sonnendach angebracht hatte. Von hier hatte man einen direkten Blick in den Wald. Der Übergang zwischen Johannas Grundstück und dem kühlen Grün des Stadtwaldes war fließend, nur auf einer Seite stellte eine Natursteinmauer eine Trennlinie dar und spendete Schatten. An allen anderen Seiten wuchsen Büsche direkt neben der Terrasse, auf der sie die Tische aufgestellt hatte, und Bäume streckten ihre Äste wie schützend über die Gäste.
Dieses Jahr wuchsen besonders viele Weintrauben an den Ranken am Haus, und Johanna hoffte, dass sie es schaffte, sie alle zu ernten. Wenn sie sie an eine örtliche Winzerei gab, sprangen vielleicht ein paar Flaschen Wein aus eigenem Anbau heraus. Das käme bei den Kunden sicher gut an.
Beim Tisch angekommen, warf sie dem Kunden ein weiteres entschuldigendes Lächeln zu. »Das macht dreiundzwanzig Euro und …« Erneut erfasste sie Schwindel. Unwillkürlich griff Johanna nach der Lehne eines nahen Stuhls, um sich abzustützen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Kunde.
Johanna nickte. Natürlich ging es ihr gut. Ihr Geschäft brummte, sie konnte jetzt nicht schlappmachen. Vor fünf Jahren hatte sie das Gebäude gekauft, das auch vorher schon ein Café gewesen war und dann ein paar Jahre leer gestanden hatte. Seitdem hatte sie Vollgas gegeben. Sie hatte das Café renoviert, den Garten und die Terrasse umgestaltet, jede Menge Werbung gemacht, sich Stück für Stück einen Namen erarbeitet und Kunden gewonnen. Im ersten Jahr hatte sie fast ausschließlich investiert, bis sie überhaupt Gäste bewirten konnte. Dann war ein weiteres schweres Jahr gefolgt, in dem die roten Zahlen überwogen hatten – erst in den letzten drei Jahren hatte sie gerade so schwarze Zahlen geschrieben. Aber jetzt endlich hatte sie es geschafft und spürte, dass all die Arbeit nicht umsonst gewesen war.
Johanna lächelte den Gast erneut an. »Es ist nur die Hitze«, sagte sie. »Dreiundzwanzig Euro fünfzig, bitte.«
Er zahlte mit sehr wenig Trinkgeld, aber vor allem Leute, die nach Geld aussahen, waren gerne knauserig, diese Erfahrung hatte sie schon früh gemacht. Johanna steckte das Geld kommentarlos ein und wünschte dem Mann einen schönen Tag.
Zurück hinter der Theke musste sie sich einen Moment lang neben der Kaffeemaschine abstützen. Zum Glück war Ajani gerade an einem Tisch, um neue Gäste zu begrüßen, und konnte sie nicht auch noch fragen, ob es ihr gut ging.
Als der Schwindel nachließ, sah Johanna sich hinter der Theke um. Was kam als Nächstes? Ach ja, weitere Tische abrechnen.
Sie schaffte den halben Weg bis zur Kasse, bevor ihre Beine nachgaben.
»Rein körperlich sind Sie vollkommen gesund.« Dr. Herzog sah Johanna über seine Brille hinweg an. »Und wir haben alle Tests gemacht, die uns eingefallen sind. Das CT war das Letzte, was wir noch tun konnten.«
»Aber mir wird immer noch regelmäßig schwindelig!«, protestierte Johanna. Dass sie im Café zusammengebrochen war, lag inzwischen mehrere Wochen zurück. Ajani hatte sich als Goldstück erwiesen und den Rest des Tages allein gemanaged. Auch in der Zeit danach hatte er ihr viel Arbeit abgenommen und inzwischen sogar eine Freundin als weitere Aushilfskraft vorgeschlagen und lernte sie selbstständig an.
Dennoch brauchte der Laden Johanna – und er brauchte sie mit voller Leistungsfähigkeit. Nicht nur die Steuererklärung wartete immer noch darauf, gemacht zu werden. »Das muss doch irgendeine Ursache haben.«
Dr. Herzog nickte. »Ich gehe inzwischen von einer psychischen Ursache aus. Kreislaufprobleme sind eine der vielen Arten, auf die Burn-out oder Stress sich äußern können. Sie sagten, Sie hatten viel zu tun in letzter Zeit?«
»Na ja.« Natürlich war es anstrengend gewesen, das Café zu hochzuziehen. Aber es war doch auch schön, es hatte ihr Spaß gemacht, die Räume zu renovieren. Johanna hatte sich damit ihren großen Lebenstraum erfüllt. Sie war nun Besitzerin ihres eigenen Cafés direkt am Frankfurter Stadtwald. »Ich habe einen eigenen Betrieb aufgebaut«, sagte sie zur Erklärung.
»Ah ja.« Dr. Herzog klang, als würden die plötzlichen Schwindelanfälle daher rühren, als könnte das womöglich alles erklären. »Ich würde Ihnen dringend raten, in nächster Zeit ein wenig kürzerzutreten.«
»Ich kann doch nicht einfach aufhören zu arbeiten.« Wie stellte er sich das vor? Wenn sie das Café jetzt vernachlässigte, dann war all die Arbeit der letzten Jahre umsonst.
»Ich kann Ihnen nur sagen, was ich empfehle.« Dr. Herzog wirkte auf sie nicht mehr allzu interessiert an ihren Problemen. Wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass sie ging und er die nächste Person im Wartezimmer abfertigen konnte. »Aber wenn sich psychische Belastung körperlich ausdrückt, dann wird es höchste Zeit zu handeln. Im Mindesten sollten Sie sich einen Ausgleich suchen. Gehen Sie öfter mal spazieren. Gehen Sie raus in die Natur, suchen Sie sich ein Hobby, das Sie entspannt.« Mit diesen Worten stand er auf. »Haben Sie sonst noch Fragen?«
Raus in die Natur? Ihr Café lag doch ganz bewusst mitten in der Natur, sie arbeitete quasi beim Spazierengehen! Einen Moment lang wollte Johanna aufbegehren, aber was würde es bringen? Die Schwindelanfälle konnte sie schwer wegdiskutieren. »Nein«, sagte sie stattdessen, wandte sich ab und trat wenig später geknickt aus der Praxis.
Die Sommerhitze drückte noch immer, und die meisten, die über den Platz vor der Praxis liefen, achteten darauf, sich im Schatten zu halten. Dieser Platz war einer der schöneren Flecken von Offenbach, ein Nachbarort vom Frankfurt, wo es leichter war, einen Arzt zu finden, der auch kurzfristig Zeit für einen Patienten hatte. Bäume säumten die Straße vor den anliegenden Geschäften. Eines davon war ein Waffelladen, den Johanna inzwischen ein paarmal gesehen, aber nie besucht hatte. Er warb damit, dass man sich die verschiedensten Toppings und süße Soßen für seine Waffel aussuchen und alles selbst zusammenstellen konnte. Verlockend. Und hatte Dr. Herzog nicht gerade etwas von einem Ausgleich gesagt? Bessere Laune konnte sie in jedem Fall gut gebrauchen.
Johanna änderte die Richtung, schlug statt des Weges zur U-Bahn den zum Laden ein. Vielleicht hatte der Arzt recht und sie musste sich hin und wieder etwas gönnen. Es konnte doch nicht so schwer sein, zwischendurch ein wenig Zeit für Freizeit zu finden, oder? Und das mit der Natur? Na, das war einfach, der Stadtwald lag ja direkt vor ihrem Café. Vielleicht musste sie einfach öfter das Café hinter sich lassen und die Zeit nach Feierabend besser nutzen.
Sie würde das schaffen. Es wäre doch gelacht, wenn sie das nicht in den Griff bekäme.
Johanna stapfte auf einem schmalen Trampelpfad durchs Unterholz, ihren Laptop unter den Arm geklemmt. Zählte es als Zeit der Entspannung, wenn sie Arbeit mit in die Natur nahm? Vermutlich nicht. Aber sicher war es doch besser als nichts. Außerdem hatte sie sich schließlich aufgrund der Waldnähe für das Café entschieden.
So tief hatte sie sich jedoch noch nie in den Frankfurter Stadtwald vorgewagt. Schon gar nicht abseits der offiziellen Wege. Aber sie brauchte irgendwo einen Platz, wo sie in Ruhe arbeiten und auch auf andere Gedanken kommen konnte.
Das Gestrüpp zwischen den Bäumen hielt sich in Grenzen, nur hier und dort sprossen einige Haselnusssträucher. Hier gab es nur wenige alte, knorrige Bäume. Die meisten waren eher jung und strebten kräftig gen Himmel. Vermutlich gab es auch deshalb erfreulich wenige Wurzeln, über die sie stolpern konnte. Nur das Laub der letzten Jahre raschelte unter ihren Füßen.
Als sie um ein weiteres Dickicht herumging, erstreckte sich vor ihr eine niedrige Senke. Ein umgestürzter Stamm war so gefallen, dass er nun eine Brücke darüber bildete. Dunkelgrünes Moos hatte den Stamm mit einem weichen grünen Teppich bedeckt. Vielleicht konnte sie hier gut sitzen?
Johanna ging darauf zu. Auf dem Rund des Stammes zu sitzen, würde nicht lange bequem sein. Also ließ sie ihren Blick weiter schweifen. Vor ihr wurde die Senke breiter. Eine große Kastanie erhob sich an ihrem anderen Ende. Regen musste ihre Wurzeln an dem Schräghang freigespült haben, und sie bildeten über einigen Steinen so etwas wie einen natürlichen Sitz. Johanna lächelte. Perfekt. Nach so etwas hatte sie gesucht.
Über den Stamm hinwegzuklettern war sicher nicht das Beste für ihre Arbeitskleidung, aber diesen Ort gefunden zu haben erinnerte sie an ihre Kindheit.
Damals hatte sie mit ihrer Familie in Kelkheim, westlich von Frankfurt gewohnt, dicht am Rand des Dorfes. Nahe eines Feldes hatte sich eine kleine Baumgruppe erhoben, die ihr Geheimversteck gewesen war. Zusammen mit den anderen Kindern aus ihrer Straße hatte sie dort »Elfen« gespielt. Sie hatten sich alle möglichst hochnäsig gegeben, hatten zwischen den Ästen Hof gehalten und hin und wieder über die Menschen geschimpft, die die Natur verschmutzten.
Diese Senke, in der sie nun stand, hätte sich definitiv auch für einen elfischen Hofstaat geeignet.
Lächelnd klopfte Johanna sich Moos und Rindenstücke von den Händen und nahm dann zwischen den Wurzeln der Kastanie Platz. Wunderbar. Hier war sicher selbst die Steuererklärung eine entspannende Angelegenheit.
Für eine Weile vertiefte sie sich in ihre Zahlen. Sie hatte ihren Laptop aufgeklappt, balancierte ihn auf den Knien und füllte die nötigen Formulare mit den entsprechenden Zahlen von Einnahmen und Ausgaben. Erst als der erste Tropfen auf die Tastatur fiel, sah sie auf.
Wie spät mochte es schon sein? Ein Blick auf die Computeranzeige bestätigte ihr, dass sie nur eine halbe Stunde hier gesessen hatte. Doch es war dunkler geworden zwischen den Bäumen, ein dämmriges Zwielicht, das nicht zur Tageszeit passte und nur bedeuten konnte, dass sich Wolken vor die Sonne geschoben hatten. Inzwischen hing auch eine angenehme Kühle zwischen den Bäumen. Und nun hörte Johanna das Geräusch von Tropfen auf den Blättern. Vereinzeltes Rascheln, das sich zu einem Prasseln steigerte.
Hastig schloss sie das Kassenbuch, auch wenn es nur wenig Wasser im Wald durch das Blattwerk bis zum Boden schaffte. Sie drückte ihre Unterlagen fest an sich und lauschte.
Hier hörte man den Frankfurter Stadtverkehr nicht. Das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war das des Regens. In der Krone des Baumes über ihr plitschten und platschten die Tropfen unregelmäßig, während sie sich einen Weg nach unten suchten. Irgendwo landete einer mit einem helleren Pitsch in einer Pfütze.
Johanna hatte ganz vergessen, wie schön Regen sein konnte. Sie lehnte sich gegen den Baumstamm und genoss die kühle Berührung des Wassers in ihrem Haar. Das Zusammenspiel der Tropfen steigerte sich zu einer Melodie, nun untermalt vom Rauschen der Blätter hoch oben in den Kronen. Irgendwo in der Nähe hörte Johanna ein hohes Ping und blickte sich um, bis sie eine Limoflasche im Gebüsch entdeckte. Jedes Mal, wenn ein Tropfen darauf fiel, hörte sie dieses Geräusch.
Johanna schloss die Augen, atmete tief durch und sog den Duft nach nasser Erde und Moos ein. Inzwischen wurde ihre Hose an den Knien feucht, aber es kümmerte sie nicht. Nach der schwülen Hitze des Tages war es eine willkommene Abwechslung.
Je länger sie lauschte, desto mehr glaubte sie, im Geräusch des Regens tatsächlich eine Melodie zu erkennen. Das Prasseln der Tropfen auf den unterschiedlichen Oberflächen folgte einem Rhythmus. Blatt, Blatt, Blatt, Pfütze, Glas. Fast wie ein Glockenspiel. Johanna lachte leise in sich hinein. Wie es wohl klänge, wenn man dem Regen ein echtes Glockenspiel zum Spielen geben würde?
Der Gedanke beschäftigte sie noch eine Weile, während der Regen langsam wieder nachließ und das Tröpfeln leiser wurde.
Schließlich stand Johanna auf und machte sich über nasses Laub hinweg auf den Rückweg. Als sie endlich wieder auf dem Weg angekommen war, waren ihre Schuhe schlammig, und an ihrer Hose klebten Blätter – wie früher, wenn sie aus dem Elfenland zurückgekehrt war.
Als sie Stunden später an diesem Abend im Bett lag, fiel ihr auf, dass sie für den Rest des Tages keinen Schwindelanfall mehr gehabt hatte. Der Ausflug in den Wald hatte ihr gutgetan.
Johanna kam sich ein wenig dumm vor, als sie wenige Tage später mit einem billigen Kinder-Xylophon wieder im Wald stand. Aber es hatte nur drei Euro gekostet, und für diesen Tag war eine hohe Regenwahrscheinlichkeit vorhergesagt.
Sie wollte den Gedanken an Regentropfen, die ein Glockenspiel spielten, wieder aus ihrem Kopf bekommen, also hatte sie entschieden, es einfach auszuprobieren.
Diesmal hielt sie sich dichter am Weg. Es hatte nach dem letzten Mal eine ganze Weile gedauert, den Matsch wieder von den Schuhen zu bürsten, und dafür hatte sie heute einfach die falschen Klamotten an. Ihre Café-Schuhe würde sie schließlich morgen wieder in passablem Zustand brauchen.
Einen Moment lang blickte sie sich suchend nach einem passenden Platz für das Xylophon um. Dann entdeckte sie eine Astgabel in Brusthöhe. Die ersten Tropfen fielen schon und drangen durch das Blätterdach bis nach unten. Hin und wieder traf einer ihre Kapuze.
Johanna schob das Xylophon in die Astgabel und rückte es ein paarmal hin und her, bis es richtig festsaß. Dann trat sie zurück und hielt den Atem an.
Als der erste Tropfen auf eines der metallenen Klangplättchen fiel, ertönte ein helles Ping. Es war ein bisschen zu schrill und blechern. Zu viel konnte man von einem Musikinstrument für drei Euro wohl nicht erwarten, aber es funktionierte! Johanna ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen und lauschte.
Die Töne mischten sich in das Prasseln und Tröpfeln im Rest des Waldes wie ein schüchternes Stimmchen, das in einen größeren Chor mit einstimmen wollte. Johanna musste lächeln. Jetzt, da sie ihn beendet hatte, kam ihr der Versuch unglaublich kindisch vor, aber auf einer anderen Ebene freute sie sich dennoch darüber, dass sie Regenmusik erzeugt hatte. Es tat ungewöhnlich gut, etwas erschaffen zu haben, das absolut keinen Zweck erfüllte. Sie würde es nicht zu Geld machen können. Ihr war einfach danach gewesen, und ihrem Gefühl gefolgt zu sein, fühlte sich gut an.
Oder würden andere auch Gefallen daran finden? Vielleicht sollte sie das Prasseln des Regens auch in ihr Café bringen. Ein Zimmerbrunnen vielleicht in Kombination mit Pflanzen … Das würde sicher eine schöne Atmosphäre schaffen.
Als Johanna sich umdrehte und zum Weg zurückkehren wollte, stand dort ein Mann. Er war vielleicht Mitte dreißig, also ungefähr in ihrem Alter, trug ein weißes Hemd und eine graue Anzugjacke über der Schulter. In der anderen Hand hielt er einen schwarzen Regenschirm. Sein Haar war etwas länger, als man es bei jemandem in seinem Outfit erwartet hätte. Er hatte es am Hinterkopf zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden.
Johanna mochte den Hipster-Look eigentlich nicht, aber dieser Mann hätte so ziemlich alles tragen können und hätte damit gut ausgesehen. Ihm gab der Knoten den Anschein eines Kriegers aus alten Zeiten. Und immerhin trug er nicht den dazugehörigen Vollbart, das hielt sie ihm zugute.
Er lächelte Johanna an und musterte sie aufmerksam. »Geht es Ihnen gut? Sie haben gerade sehr verloren ausgesehen.«
»Oh.« Eilig stapfte Johanna auf den Weg zurück. »Ja, alles gut. Ich dachte nur …« Sie stockte. Was auch immer sie jetzt sagte, es würde vermutlich seltsam klingen, oder? Da konnte sie genauso gut bei der Wahrheit bleiben. »Ich habe dem Regen gelauscht.«
Die Miene des Mannes blieb freundlich, und Interesse blitzte in seinen Augen auf, die so dunkelgrün waren wie der Wald um sie herum. »Manchmal ist es wichtig, sich Zeit für so etwas zu nehmen.« Er blickte sich um. »Aber ich bevorzuge es, dabei im Trockenen zu bleiben. Haben Sie keinen Schirm?«
»Oh … ähm … nein.« Daran hatte Johanna gar nicht gedacht. Sie hätte schlecht einen Schirm tragen und das Xylophon positionieren können, und ein bisschen Wasser hatte ja auch niemanden umgebracht.
Der Mann hielt einladend seinen Schirm hoch. »Ich muss Richtung Stadion. Und Sie?«
Das Stadion lag auf Johannas Weg. Spätestens an der Haltestelle Oberforsthaus würde eine Straßenbahn fahren, die sie nach Hause ins Gallus-Viertel brachte. Normalerweise war es nicht ihre Art, mit fremden Männern mitzugehen, aber sie stieg ja nicht zu ihm ins Auto, und er wirkte sympathisch. Sie hatte Lust, noch etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
»Ich heiße Charles«, sagte er, als sie zu ihm unter den Schirm trat.
»Das klingt sehr nach altmodischem Gentleman.« Im nächsten Moment schon hörte sich diese Bemerkung in Johannas Ohren peinlich an, doch Charles lächelte weiter.
»Wahrscheinlich habe ich es meinem Namen zu verdanken, dass ich einer Dame im Regen meinen Schirm anbiete.«
Einer Dame. Johanna lachte ebenfalls. Sie mochte den Fremden. »Ich bin Johanna.«
»Wie die heldenhafte Jungfrau von Orleans, nehme ich an«, konterte er.
Den altmodischen Gentleman zu geben, gelang ihm auf sehr attraktive Art und Weise nahezu mühelos.
»Genau wie die.« Johanna schenkte ihm ihr bestes, freches Kellnerinnen-Lächeln, das ihr immer besonders viel Trinkgeld einbrachte. Anders als bei manchem Gast fiel es ihr diesmal allerdings kein bisschen schwer und fühlte sich echt an.
Nun war es Charles, der lachte. »Bist du auf einem Spaziergang, oder musst du irgendwohin?«, fragte er dann.
»Ich komme gerade von der Arbeit.« Das war zumindest nicht ganz gelogen. Johanna war von der Arbeit gekommen, bevor sie das Xylophon in dem Baum positioniert hatte. »Ich habe ein Café am Waldrand.«
»Du hast ein Café?« Charles klang beeindruckt und pfiff durch die Zähne, als sie nickte. »Da werde ich mal vorbeikommen müssen.«
»Sehr gern. Was ist mit dir?«, fragte Johanna.
»Ich bin leider auf dem Weg zu einem Geschäftstermin.«
»So spät noch?« Dass sie Leute traf, die noch später als sie selbst Feierabend hatten, passierte Johanna nicht oft.
Charles nickte. »Ein Investor schaltet sich von Japan aus zu, da muss man auf die Zeitverschiebung Rücksicht nehmen.«
»Das klingt wichtig.« Es klang tatsächlich wie die Art von Termin, zu dem man eher mit dem Auto fuhr. Als Johanna eine entsprechende Bemerkung machte, lachte Charles erneut.
»Ich versuche, so wenig wie möglich mit dem Auto zu fahren. Hier in Frankfurt hat man das ja eigentlich auch nicht nötig.«
»Mal ganz abgesehen davon, dass es wirklich keinen Spaß macht«, stimmte Johanna zu. Sie besaß kein Auto. Aber als sie beim letzten Umzug einen Transporter durch die Frankfurter Innenstadt hatte fahren müssen, hatte sie geschworen, sich auch nie eines zuzulegen. Diese Art von Stress brauchte sie nicht auch noch in ihrem Leben.
»Da sagst du was.«
Sie plauderten immer ungezwungener. Charles erzählte, dass er Architekt war und dass bei dem Gespräch am Abend noch einige wichtige Details für sein nächstes Projekt geklärt werden sollten.
»Ich bin der Meinung, dass wir nicht einfach Schuhschachteln hinstellen und erwarten können, dass dort glückliche Menschen leben. Häuser bauen ist eine Kunst, genau wie Malerei oder Bildhauerei, und sie muss genauso die Emotionen der Menschen ansprechen. Nur, wenn wir Häuser bauen, die nicht nur Platz zum Wohnen bieten, sondern in denen die Menschen sich auch zu Hause fühlen, können wir die Lebensqualität steigern.«
Interessiert hörte Johanna zu.
»Ich bin ein großer Fan der Häuser von Hundertwasser und Gaudí.«
Als sie zugab, dass sie noch nie von Gaudí gehört hatte, zeigte er ihr auf seinem Handy Bilder wunderschöner Häuser mit runden Formen, filigranen Säulen und Scherbenmosaiken.
»Und so etwas willst du in Frankfurt bauen?« Der Gedanke erfüllte Johanna mit Aufregung. Frankfurt war keine schöne Stadt. Ein solches Haus würde das Stadtbild mehr als nur ein wenig verbessern.
»Natürlich will ich diese Künstler nicht kopieren, sondern etwas in der Art in meinem eigenen Stil. Und ich will mehr. Nicht nur Kunst. Ich will Kunst und Funktionalität vereinen und den Fortschritt integrieren.«
»Ich drücke dir ganz fest die Daumen.«
Sein Lächeln brachte seine grünen Augen zum Leuchten. »Vielen Dank.«
Ein paar Schritte legten sie in einträchtigem Schweigen zurück.
»Wie heißt eigentlich dein Café?«, fragte Charles schließlich.
Wollte er wirklich vorbeikommen? Die Aussicht freute Johanna. »Café Aurora«, erwiderte sie.
»Das ist ein sehr schöner Name.« Als er sie jetzt wieder anlächelte, merkte sie, wie sie die Geste nicht nur automatisch erwiderte, sondern ihr ganzer Körper dabei von Fröhlichkeit ergriffen wurde. Ein Spaziergang im Regen mit diesem Fremden war ein überraschend schöner Ausklang des Tages.
Doch nun kam die Straße in Sicht, die Motorengeräusche der Autos begruben das Plätschern des Regens unter sich. An der Straßenbahnhaltestelle verabschiedete Johanna sich von Charles.
Erst als sie schon in der Bahn saß, fragte sie sich, ob sie ihm ihre Handynummer hätte geben sollen. Was für ein interessanter Mann. Allerdings, wahrscheinlich war er in nächster Zeit ohnehin zu beschäftigt, um sein Privatleben zu pflegen und neue Menschen kennenzulernen. Wenn er mit so viel Hingabe an seinem Projekt arbeitete, wie er davon sprach, würde es sein Leben sicher für eine Weile ausfüllen.
Trotzdem hoffte sie, dass er vielleicht mal in ihr Café kam.
Gedankenverloren ließ Johanna den Finger auf dem Rand eines halb vollen Glases kreisen. Wenn man es richtig anstellte, entstand dabei ein lang gezogener flötenartiger Ton. Er passte gut zum Plätschern des Zimmerbrunnens, der inzwischen an der Wand gegenüber der Theke stand. An Tagen, an denen die Julihitze so richtig zuschlug, waren die Tische in der Nähe des Brunnens nun immer besetzt. Er und das Efeu, das in Töpfen über ihm hing, strahlten eine sanfte Kühle aus, die eine Klimaanlage niemals hätte erzeugen können. Was Johanna vor allem des beruhigenden Klangs wegen angeschafft hatte, hatte sich auch ansonsten als Segen erwiesen.
Nun am Abend waren die Tische natürlich alle leer. Es gab nur noch die paar Gläser zu spülen, die Johanna von Hand wusch, da sie die Spülmaschine schon in den Nachtmodus versetzt hatte. Ajani lief gerade noch mit einem Lappen durch den Laden, um die letzten Tische abzuwischen.
Als Johanna wieder mit dem Finger über den Rand des Glases strich, blickte er auf.
»Ich hab mal einen Mann gesehen, der hat ganz viele Gläser wie ein Musikinstrument gespielt. Sie machen unterschiedliche Töne, je nachdem, wie weit man sie mit Wasser füllt.«
»Hm …« Johanna nahm das zweite Glas und füllte es mit etwas weniger Wasser. Als sie mit dem Finger über beide Glasränder strich, entstand eine Tonfolge.
Ajani grinste und deutete mit beiden Zeigefingern auf sie. »Du hast es raus.«
Johanna musste lachen. Seit ihrem Zusammenbruch und der Erkenntnis, dass tatsächlich Stress die Ursache gewesen war, bemühte Ajani sich sehr, immer ein wenig Fröhlichkeit in den Arbeitsalltag zu bringen und sie darin zu unterstützen, nicht alles zu verbissen zu sehen. Manche Dinge gingen dadurch weniger schnell, aber Johannas Arzt hatte ihr eindringlich zur Entschleunigung geraten. Also zwang sie sich, von dem Bedürfnis Abstand zu nehmen, alles so effizient wie möglich zu erledigen, und genoss Ajanis kleine Scherze. Dass sie es inzwischen schaffte, darauf einzusteigen, machte sie glücklich.
»Ich habe Rahel gestern nicht erreicht, um den neuen Schichtplan mit ihr abzusprechen«, fiel Johanna ein. »Ist alles in Ordnung bei ihr?«
Rahel gehörte zu den unzähligen Freunden, denen Ajani inzwischen einen Job im Café verschafft hatte. Die meisten arbeiteten nur für ein paar Monate für Johanna und verabschiedeten sich dann wieder in Prüfungsphasen, Praktika oder Masterarbeiten, aber auf diese Art musste Johanna sich nie Gedanken darum machen, wo die nächste Aushilfe herkam. Rahel war nun schon seit einer Weile recht zuverlässig dabei. Dass sie noch keine Schichtwünsche eingereicht hatte, sah ihr nicht ähnlich.
Ajani schüttelte bedauernd den Kopf. »Ihre Mutter ist krank geworden.«
»Oh. Ist es schlimm?«
Ajani hob die Schultern. »Rahel versucht, ein Freisemester zu bekommen, um nach Ghana zurückzugehen.«
Wenn Rahel nach Hause fuhr, um ihre Mutter zu pflegen, konnte es nicht gut um sie stehen. »Können wir irgendwas für sie tun?«
Ajani lächelte. »Ich frag sie.«
»Danke. Und …« Das Thema Schichtplan kam Johanna mit einem Mal sehr unwichtig vor, aber es musste nun mal geklärt werden. »Hast du zufällig noch jemanden, der für sie einspringen könnte …?«
Ajani zögerte. »Silke«, sagte er schließlich. »Sie ist nicht mehr so schnell, aber sie versucht, sich was zur Rente dazuzuverdienen. Ohne dass ihr das von der Rente wieder abgezogen wird, weißt du?«
Johanna nickte. Das bedeutete vermutlich auch Schwarzarbeit. Nachdenklich stellte sie die gespülten Gläser zum Abtropfen auf ein Küchentuch. Eine alte Dame empfohlen zu bekommen, dazu noch mit einem sehr deutsch klingenden Namen, was für Ajanis Freundeskreis eher selten war, damit hatte sie nicht gerechnet. Aber konnte es schaden, mal mit der Frau zu sprechen?
»Woher kennst du denn eine Rentnerin?«
Ajani hob die Schultern. »Kennst du diese alten Leute, die nach der Rente noch mal studieren gehen? Das ist Silke. Sie hat sich irgendwann mit Sheryl angefreundet, weil sie im selben Soziologie-Kurs sind, und dann hat sie erfahren, dass einige von uns nicht genug Geld haben, um zwischendurch zu unseren Familien zurückzufahren. Also hat sie angefangen, den ganzen Freundeskreis zu Feiertagen zu sich einzuladen.« Er lachte. »Die meisten von uns sind zwar keine Christen, aber trotzdem ist es schön, an den Tagen, die alle anderen mit ihren Familien verbringen, nicht allein in der WG zu sitzen, sondern mit lieben Menschen zusammen zu sein.«
Johanna musste lächeln. »Sag ihr, sie kann gerne mal vorbeikommen und vorsprechen.«
Gemeinsam erledigten sie die letzten Handgriffe, dann verabschiedete sich Ajani, während Johanna abschloss. Sie blickte zum Himmel hoch. Heute war es sonnig, aber nicht zu warm, und es würde noch ein paar Stunden hell sein. Genau das richtige Wetter, um sich vor dem Nachhausegehen für eine Stunde mit einem Buch an ihren neuen Lieblingsplatz im Wald zu setzen.
Anfangs war es schwer gewesen, sich Zeit zu nehmen, Dinge zu tun, die nicht produktiv waren. Noch immer nagte hin und wieder ein unterschwelliges Schuldgefühl an ihr, wenn sie sich mit einem Buch in den Wald setzte, statt sich um die Buchhaltung oder neue Bestellungen für das Café zu kümmern. Sie tat es trotzdem. Der erste Abend im Wald, als sie dem Regen gelauscht hatte, hatte zu deutlich gemacht, dass solche Momente nötig waren, wenn sie nicht wieder zusammenbrechen wollte. Und das wollte sie ganz sicher nicht.
Außerdem war »Stolz und Vorurteil« von Jane Austen tatsächlich spannend, und seit sie die erste Ballszene gelesen hatte, dachte Johanna über eine Mottoveranstaltung im Café nach.
Voller Vorfreude spazierte sie den Waldweg entlang. Sie war fast bei der Stelle angekommen, an der sie sich normalerweise ins Unterholz schlug, als sie weiter hinten weißen Zeltstoff durchs Geäst schimmern sah.
Was war denn da los? Doch hoffentlich kein Volksfest mitten im Stadtwald. Dann wäre es mit der erhofften Ruhe erst mal vorbei.
Neugierig ging Johanna näher. Der Weg machte eine leichte Biegung, und sie erkannte, dass es sich nur um einen kleinen Pavillon handelte, der am Wegrand zwischen zwei Bäumen stand. Irgendjemand hatte darunter einen Camping-Klapptisch aufgestellt. Dahinter saßen zwei Frauen auf Klappstühlen. Der Tisch war voll mit Flyern.
Ein seltsamer Ort für einen Infostand. Nun war Johannas Neugierde endgültig geweckt.
Als die beiden Frauen sie entdeckten, unterbrachen sie ihr Gespräch. Eine von beiden winkte ihr fröhlich zu. Sie hatte blondiertes Haar und war deutlich jünger als ihre grauhaarige Begleiterin. »Hallo! Haben Sie schon von dem neuen Wohnviertel gehört, das hier gebaut werden soll?«
»Moment, was?« Johanna blieb vor dem Klapptisch stehen. Sie musste sich verhört haben. Das hier war der Stadtwald. Da wurden keine Wohnviertel gebaut.
Die ältere Frau nahm einen Flyer vom Tisch und reichte ihn ihr. »Wir sind von der Bürgerinitiative gegen des Projekt Waldwohnen, das zu neunzig Prozent aus Luxusapartments bestehen soll. Der Stadtwald ist Teil einer wichtigen Frischluftschneise für Frankfurt. Ohne ihn würde sich die Stadt im Sommer noch weiter aufheizen, als sie das ohnehin schon tut. Mal ganz davon abgesehen, dass jede versiegelte Fläche dafür sorgt, dass das Wasser nicht in den Boden einsickern kann, sondern stattdessen abfließt. Dadurch sinkt der Grundwasserspiegel, und die Gefahr von Überschwemmungen steigt.«
Johanna schwirrte der Kopf. Sie starrte auf einen der Flyer, der auf dem Tisch lag. Abgesehen von ein paar Fotos vom Stadtwald, die darauf abgedruckt waren, nahm sie aber wenig wahr. Der Stadtwald sollte gefällt werden? »Dürfen die das überhaupt?«
»Genau das ist einer der Ansatzpunkte für die Bürgerinitiative«, erklärte die ältere Frau. »Wir sind nämlich der Meinung, der Beschluss vom Stadtrat, das Gelände zur Bebauung freizugeben, war nicht rechtens. Aber die Wohnungsbaugesellschaft möchte im Herbst schon mit der Rodung beginnen.«
Das war nicht mehr lang hin. Und Johanna hatte doch gerade erst ihren Lieblingsplatz gefunden! Frischluftschneisen und der Grundwasserspiegel, das klang alles sehr abstrakt. Dennoch war ihr klar, was es bedeutete, und für sie war es noch viel realer. Der Wald sorgte gerade dafür, dass sie ihre Arbeit weiter erledigen konnte. Hierher zu kommen, dem Regen zu lauschen oder dem Spiel des Sonnenlichts zwischen den Blättern zuzusehen, das war das, was sie nach einem langen Arbeitstag runterkommen ließ. Es sorgte dafür, dass die ewige Litanei der Dinge, die sie noch erledigen musste, für eine Weile verstummte und sie wirklich abschalten konnte. Was sollte sie tun, wenn es das nicht mehr gab?
»Wenn das so bald passieren soll – kann man das überhaupt noch verhindern?«, fragte sie.
Die Frau mit den blonden Haaren lächelte ihr zu. »Wir hoffen es. Aber damit das gelingt, müssen wir so viel öffentliche Aufmerksamkeit wie möglich generieren.«
Die Ältere nickte grimmig. »Die Stadt behauptet derzeit, man wolle hier erschwinglichen Wohnraum schaffen. Aber nur zehn Prozent der gebauten Wohnungen sollen Sozialwohnungen sein, und sie werden weiter vorne direkt an der Straße stehen, wo bisher die alte Gärtnerei war. Der Rest wird Luxusapartments. Wenn Sie können, schreiben Sie deswegen Ihrem Abgeordneten im Stadtparlament.«
Sie reichte Johanna einen weiteren Flyer, den diese automatisch entgegennahm.
»Hier stehen alle wichtigen Informationen dafür drin.«
Die Situation war absurd. Diese beiden Frauen standen mitten im Wald, um öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. Wie viele Leute kamen denn um diese Zeit noch hier vorbei?
»Wäre ein Infostand an der Konstabler Wache oder so nicht viel sinnvoller?«, fragte sie.
»Oh, wir verteilen nicht nur hier Flyer, sondern sprechen die Menschen auch in anderen Bereichen der Stadt gezielt an. Das hier ist nicht vornehmlich ein Infostand.« Die jüngere Frau lächelte.
Die Ältere nickte wieder. »Das hier ist die Mahnwache, die zur Waldbesetzung gehört.«
Johanna blinzelte. »Zur was?«
In diesem Moment trat eine dritte Person hinter dem Pavillon zwischen den Bäumen hervor. Sie war schwarz vermummt, doch die beiden Frauen schien das nicht zu erschrecken. Sie grüßten freundlich.
»Oi«, sagte die Gestalt. Die Stimme klang nach einem jungen Mann. »Ist der zweite Akku schon fertig geladen?«
Johanna sah verwirrt zu, wie die jüngere Frau zwischen einigen Kartons mit Flyern im hinteren Bereich des Pavillons etwas hervorkramte, das wie die Ladestation für einen Akkuschrauber aussah. Diese war an eine Powerbank angeschlossen. Die Frau reichte der vermummten Gestalt den geladenen Akku daraus und erhielt einen vermutlich leeren zurück.
»Das erste Baumhaus ist fast fertig«, erklärte die vermummte Gestalt fröhlich.
»Passt nur auf, dass da heute Nacht niemand von euch runterfällt«, mahnte die ältere Frau.
Der junge Mann salutierte lässig, dann verschwand er wieder im Wald.
Johanna konnte nur starren.
Sie bauten Baumhäuser im Stadtwald.
»Ist das erlaubt?«, fragte sie.
»Nein«, erklärte die ältere Dame ernst.
»Deshalb sind wir hier«, fügte die jüngere hinzu. »Alle, die sich an der Mahnwache beteiligen, sind Teil einer offiziellen Veranstaltung und vom Versammlungsrecht geschützt.«
»Es darf auch niemand davon abgehalten werden, zur Mahnwache zu gehen«, fügte die ältere Frau hinzu. »Auf diese Art haben die jungen Leute ein bisschen mehr Sicherheit während der Besetzung. Sie können hierherkommen, um sich auszuruhen.«
»Zumindest bis die ersten Baumhäuser fertig sind«, erklärte die andere Johanna breit grinsend. »Bäume, auf denen Menschen sitzen, können nicht gefällt werden.«
»Da werden Baumhäuser im Stadtwald gebaut!«, platzte es am nächsten Morgen aus Johanna heraus. Ajani und sie hoben gerade alle Stühle von den Tischen.
»Baumhäuser?« Ajani runzelte die Stirn.