Das Kontor der Düfte - Hanne Paulsen - E-Book
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Das Kontor der Düfte E-Book

Hanne Paulsen

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Beschreibung

Es duftet berauschend im Hause Löwenstein, wo eine junge Frau für ihr Glück kämpft

Hamburg 1919: Es ist Liebe auf den ersten Blick, als Greta Rosenthal auf Carl von Löwenstein trifft. Sein großes Herz und seine Leidenschaft für das Familiengeschäft, den Gewürzhandel, verzaubern sie. Doch für Carls Mutter ist Greta, die aus einfachen Verhältnissen kommt, nicht gut genug. Greta will sich Carls Familie beweisen, denn sosehr sie Carl liebt, sosehr ist sie auch eine talentierte und geschäftstüchtige Frau. Umgeben vom Duft von Vanille, Zimt und Muskatnuss, schuftet Greta Tag und Nacht im Kontor der von Löwensteins. Allen Klassengrenzen zum Trotz hält Carl zu ihr. Doch die beiden unterschätzen, wie weit Carls Mutter für das vermeintliche Wohl ihres Sohnes bereit ist zu gehen ...

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Seitenzahl: 556

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Das Buch

Hamburg 1919: Die einundzwanzigjährige Greta Rosenthal ist eine unkonventionelle Frau. Fleißig hilft sie im Gemischtwarengeschäft ihres Vaters und gedenkt es eines Tages zu übernehmen – mit oder ohne Ehemann. Als Carl von Löwenstein den Laden zum ersten Mal betritt, ist beiden klar: Es ist Liebe auf den ersten Blick. Carls großes Herz und seine Leidenschaft für das Familiengeschäft, den Gewürzhandel, ziehen die emanzipierte junge Frau in ihren Bann. Gretas Courage, ihr starker Wille und ihre Hingabe verzaubern den selbstbewussten Erben der angesehenen Hamburger Familie von Löwenstein. Doch für diese scheint Greta nicht gut genug zu sein. Carls Mutter ist gegen die Verbindung. Sie macht Greta das Leben schwer, spinnt eine Intrige nach der anderen. Als Carl für längere Zeit verreisen muss, ist Greta ganz den Machenschaften der missbilligenden Hausherrin ausgesetzt. Da findet sie eine unerwartete Verbündete. Mit vereinter Kraft stemmen sich die beiden gegen das starre Korsett ihrer Zeit.

Die Autorin

Hanne Paulsen wurde 1964 in Essen im Ruhrgebiet geboren. Heute lebt die sechsfache Mutter im Westmünsterland. Sie liebt es, Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, und ihre großen Leidenschaften sind, neben dem Erzählen großer gefühlvoller Geschichten, die Fotografie, die Musik und das Kino. Ihr ausgeprägtes Fernweh führt sie gedanklich immer wieder an ferne Orte.

Hanne Paulsen

Das Kontorder Düfte

Eine Prise Hoffnung

Roman

wilhelm Heyne Verlag

München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 10/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Trevillion Images (Ildiko Neer, Lee Avison); Getty Images (Gu); Shutterstock.com (metamorworks, Tartila, alb2018)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-28143-4V001

www.heyne.de

Für Marie, Max, Joshua, Fynn, Jorid und Greta.

Ihr seid alles für mich.

Teil I

In kleinen Säckchen sind die guten Gewürze.

Kapitel 1

Hamburg, April 1919

»Ich mache mich jetzt auf den Weg. Ist im Geschäft alles in Ordnung?«

Greta hörte die melodische Stimme ihres Vaters und lief die enge Wendeltreppe hinunter, die die Wohnung mit den Geschäftsräumen verband. »Ja, Papa. Geh ruhig. Ich nehme mir schon mal die Buchhaltung vor, solange kein Kunde im Laden ist«, erklärte sie lächelnd.

Er war ein stattlicher Mann von dreiundfünfzig Jahren. Etwas klein vielleicht, Greta war fast genauso groß wie er, aber gutaussehend mit dem gedrehten Schnauzbart, der immer ein wenig kitzelte, wenn er ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn gab. Er war schlank und drahtig, gut in Form, würde er über sich selbst sagen, und einer der wenigen, die unversehrt waren. Das Hamburger Stadtbild war von verletzten Männern geprägt, die im Krieg gekämpft und einen Teil von sich dort gelassen hatten. Nicht immer war es ein Bein, ein Arm oder das Augenlicht. Oft war es der Verstand, der nicht mehr tadellos arbeitete, weil das Grauen in den Köpfen der Männer diesen Platz eingenommen hatte. Levi Rosenthal war Österreicher, daher war die Einberufung an ihm vorbeigegangen. Er war kein Mann des Krieges. Doch wer war das schon?

»Ich bleibe nicht zu lange weg.« Er zog an den weißen Manschetten seines Hemds, die unter dem Frack hervorlugten, nahm seinen Zylinder und Gehstock zur Hand.

»Amüsier dich gut«, rief Greta hinter ihm her und winkte zum Abschied.

Ihr Vater besuchte zweimal in der Woche einen exklusiven Herrenklub. Diese Abende waren ihm wichtig, das wusste Greta. Seit er vor mehr als fünfundzwanzig Jahren aus Wien nach Hamburg gezogen war, um Gretas Mutter zu heiraten, und den Gemischtwarenladen eröffnet hatte, hatte sich einiges getan, was seine Stellung in der Hamburger Gesellschaft anging. Damals hatte er niemanden gekannt, was es ihm sehr erschwert hatte, hier Fuß zu fassen. Während des Krieges hatte er viele Familien mit Nahrung versorgen können, das hatte ihm zahlreiche Freunde eingebracht, besonders in der jüdischen Gemeinde. Schließlich hatte ein Großhändler, mit dem er Geschäfte machte, ihn im Klub eingeführt und dafür gesorgt, dass er dort Mitglied wurde. Dafür standen diese Klubbesuche für Levi Rosenthal: angekommen zu sein, akzeptiert zu werden. Ja, mittlerweile war er ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Er hatte sich seinen guten Ruf als fairer Händler hart erarbeitet.

Sein Laden auf der Paulstraße, nahe der St. Petri Kirche, war bereits zweimal vergrößert worden, damit das Sortiment erweitert werden konnte. Neben Kurzwaren gab es Haushalts- und Schreibwaren, Putzmittel, Lebensmittel, Getränke, Bedarf für die tägliche Hygiene sowie Obst und Gemüse. Natürlich fehlte es nicht an Süßigkeiten für die Kinder – ein großes Sammelsurium an den unterschiedlichsten Produkten, die es zu kaufen gab. Hinter einem langen Verkaufstresen standen hohe Holzregale. Für diese benötigte Greta eine Leiter, um ganz nach oben zu kommen. Dort lagerten die Waren, die nicht so häufig verlangt wurden, wie Töpfe, Geschirr, Bestecke, Striegel, Bürsten, Aufnehmer und dergleichen. Zusätzlich gab es zwei Tische, auf denen zahlreiche Produkte für den alltäglichen Bedarf ausgestellt waren. In den Auslagen der Schaufenster wurden die neusten Haushaltshelfer bestaunt, und auf dem Gehsteig vor den Fenstern wurde tagfrisches Gemüse und Obst angeboten, meist aus dem Alten Land. Viele Stammkundinnen kamen täglich zu einem Einkauf vorbei. Besondere Kunden wurden direkt nach Hause beliefert.

»Bis später, mein Mädchen.«

Als die Tür des Gemischtwarenladens geöffnet und wieder geschlossen wurde, bimmelte die Türglocke, und Greta nahm hinter dem Schreibtisch in dem kleinen Büro Platz. Ihr Vater war ein hervorragender Verkäufer, aber leider ein schlechter Buchhalter. Er konnte einfach keine Ordnung halten. Ein Glück, dass Greta Freude daran fand, die Belege sorgfältig abzuheften und in das Journal einzutragen. So hatte sie einen guten Überblick über die Einnahmen und Ausgaben des jeweiligen Monats und Quartals. Die Buchungen tätigte sie auf T-Konten, deren Blätter sie in die Schreibmaschine einspannen konnte, das erleichterte die Übersicht. Sie war ausgezeichnet im Kopfrechnen, war eine fleißige Schülerin gewesen, und ihr Vater war froh, dass sie ihm hilfreich zur Seite stand. Den Besuch eines Mädchenpensionats hatte sie strikt abgelehnt. Kochen und Bügeln konnte ihr auch Lore beibringen, die Köchin des Haushalts der Rosenthals. Tadellose Manieren besaß sie bereits, was sollte sie also dort? Wie man Buch führte, hatte ihr Vater ihr gezeigt, so gut es ging, und Greta hatte sich eine Menge angelesen.

Sie würde den Laden eines Tages weiterführen, das war klar, denn es gab keine weiteren männlichen Angehörigen, die in das Geschäft einsteigen konnten, wenn Vater einmal nicht mehr in der Lage dazu sein würde. Greta hoffte natürlich, dass es bis dahin noch einige Zeit hin war. Vielleicht würde sie ja einen Ehemann mit Geschäftssinn finden, um sie dabei zu unterstützen. Und wenn nicht, wäre das auch keine Katastrophe. Sie würde schon alleine zurechtkommen.

Das laute ungeduldige Räuspern einer Frauenstimme ließ sie erschrocken zusammenfahren. Es hatte wohl jemand den Laden betreten, als Levi gegangen war, und Greta war es unbemerkt geblieben. Oder hatte sie bei ihrer Begeisterung für die Buchführung die Türglocke überhört? Das kam öfter vor, als ihr lieb war. Wenn sie sich mit Zahlen beschäftigte, sah und hörte sie nichts. Schnell sprang sie auf die Beine und durchquerte den kleinen Flur, der in den Verkaufsraum führte.

»Gnädige Frau! Was kann ich für Sie tun?«, fragte Greta freundlich, als sie eine Kundin vor dem Tresen stehen sah.

»Ich hätte gerne vier gleiche Knöpfe, wenn Sie so etwas überhaupt führen.« Die Dame sah sich neugierig im Laden um. »Ich weiß nicht, was die Lütten mit ihren Hosen anstellen. Ständig verlieren sie die Knöpfe an den Buxen.« Sie verdrehte die Augen. Die Kundin war gut gekleidet, vermutlich die Frau eines Lehrers oder eines Mitarbeiters, der in einem der Hamburger Zollkontoren tätig war. Sie wirkte gehetzt und in Zeitnot.

»Ja, so sind Jungs, immer wild und unberechenbar.« Greta lächelte, zog eine Schublade auf, in der die Utensilien nach Farbe und Größe sortiert lagen, und hob die Lade auf den Tresen. »Bitte suchen Sie sich etwas Passendes aus.«

»Sie haben noch keine Kinder?«

»Nein, dafür bin ich wohl noch zu jung.« Greta schmunzelte verlegen.

»Als ob Sie nicht den jungen Kerlen hinterherschauen würden.« Die Kundin blickte sie lächelnd an, als erinnerte sie sich daran, wie es war, als sie jung gewesen war. »Früher hat man zu Hause die Handarbeit erledigt und sich um den Haushalt gekümmert, heute steht man hinterm Tresen. Das hätte es früher nicht gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Zum Glück ist dieser sinnlose Krieg endlich vorbei.«

»Ich ziehe es vor, einen Beruf zu erlernen, um mir meine Unabhängigkeit zu sichern«, erklärte Greta liebenswürdig, woraufhin die Kundin sie verwundert anblickte.

»Und das duldet Ihr Herr Vater? Wo soll uns das noch hinführen?«

Greta deutete auf das Schubfach. »Welche dürfen es denn nun sein?«

Das Gesuchte war schnell gefunden, Greta gab die vier Knöpfe in eine kleine Papiertüte und reichte sie der Dame. »Das macht fünfzig Pfennig.«

Die Kundin zahlte und verstaute die Ware in ihrer Tasche. Dann nickte sie Greta missbilligend zu und verließ den Laden ohne einen Abschiedsgruß.

»Vielen Dank und einen schönen Tag noch«, rief Greta hinter ihr her. Sie schüttelte den Kopf. Man konnte sich die Kundinnen eben nicht aussuchen. Die Menschen hatten es nach dem verlorenen Krieg nicht leicht, da die Wirtschaft am Boden lag und sich nur langsam von dem Tiefpunkt erholte. Es gab unzählige Arbeitslose und Kriegsversehrte, die hungerten, denn Brot war rar, das erhielt man nur mit Lebensmittelkarten. Einige ließen ihren Groll an denen aus, die vermeintlich mehr hatten. Was diese dafür opferten oder wie viel sie arbeiteten, danach wurde nicht gefragt. Dennoch konnte Greta die Menschen verstehen. Das Leben war nicht leicht in diesen Zeiten, und sie übte Nachsicht, denn sie gehörte zu den wenigen, denen es besser ging als vielen anderen. Sie hatte auch keinen Verlust zu beklagen. Niemand ihrer Verwandten war im Krieg geblieben, hatte sein Leben für die Freiheit verloren. Dafür musste man dankbar sein.

Greta drückte die Tasten der Registrierkasse, drehte an der Kurbel und legte das Geld in die dafür vorgesehenen Fächer. Das Geräusch, das die Kasse beim Öffnen machte, war für sie einer der schönsten Laute der Welt. Er zeugte davon, dass sie etwas verkauft hatte, dass sie gut in dem war, was sie tat. Nichts war schlimmer als eine Kasse, die unberührt blieb, was bedeutete, dass man auf seiner Ware sitzen blieb. Das wollte Greta auf keinen Fall. Vielleicht war ihr Vater nicht der geborene Buchhalter, aber er war ein guter Geschäftsmann mit einem feinen Näschen für lohnende Unternehmungen. Dieses feine Näschen hatte Greta geerbt, da war sie sich sicher.

Sie wollte sich gerade abwenden, um sich wieder der Buchhaltung zu widmen, da klopfte es an dem großen Schaufenster, hinter dem die Auslagen sorgfältig präsentiert wurden. Die Kunden müssen wissen, was wir alles im Angebot haben, sagte ihr Vater immer, und er hatte recht. Denn nur wenn die Menschen wussten, was der Laden anzubieten hatte, betraten sie auch das Geschäft, und es kam selten vor, dass es jemand wieder verließ, ohne etwas zu kaufen. Dennoch war das Angebot begrenzt, was an den Reparationszahlungen lag, die man Deutschland nach dem Krieg abverlangte. Als Verlierer konnte man keine großen Ansprüche stellen. In dieser Woche hatten sie ein neues Gerät dort ausgestellt. Es diente dazu, Staub vom Boden aufzusaugen und das ganz ohne viel Kraftanstrengung. Staubsauger wurde es genannt.

Greta winkte aufgeregt, als sie das Gesicht von Dörte hinter der Scheibe erkannte. Dörte von Aspern war ihre beste Freundin seit Schultagen. Sie hatten gemeinsam das Gymnasium in Harvestehude an der Außenalster besucht. Diese Schule konnte auf eine weitreichende Geschichte zurückblicken und trug seit 1883 den Namen Wilhelm Gymnasium, zu Ehren des ehemaligen Kaisers Wilhelm I. Es war so fortschrittlich, dass Levi stolz an der ersten Elternratssitzung hatte teilnehmen können. Greta vermisste ihre Schulzeit schmerzlich. Zumindest war ihr Dörte erhalten geblieben. Alle anderen Mädchen waren ins Pensionat gegangen, einige unternahmen mit ihren Eltern längere Reisen, und es gab sogar welche, die sofort nach der Schule geheiratet hatten. Das wäre Greta nicht im Traum eingefallen. Nicht nur, dass es an dem passenden Kandidaten fehlte, auch wollte sie ihre Selbstständigkeit auf keinen Fall so einfach aufgeben. Ihre Freiheit war ihr wichtig, so schnell würde sie nicht darauf verzichten.

»Greta!«, rief Dörte ausgelassen, als sie in den Laden stürmte und dabei beinahe über den Sonnenschirm fiel, den sie in der Hand hielt. Sie zog Greta so fest in eine Umarmung, dass dieser für einen kurzen Moment die Luft zum Atmen fehlte. Obwohl sie kleiner als Greta war, verfügte Dörte über eine erstaunliche Kraft.

»Du bist wieder da, Dörte! Mein Gott, ist das schön. Aber ich dachte, du würdest viel länger in diesem Pensionat bleiben.« Greta hielt ihre Freundin ein wenig auf Abstand, betrachtete sie ausgiebig.

Ihre Freundin war wie immer modisch chic gekleidet. Sie trug ein grünes Mantelkleid aus Seidenkaschmir, dessen Rock an den Knöcheln enger wurde, und darüber eine Tunika, die locker an den Hüften geknöpft wurde. Dörte wusste, was gerade in Mode war, vor allem, wie man an die Stoffe kam, die wegen des Krieges weiterhin rationiert waren. Ihre Eltern waren Stoffhändler in der dritten Generation. Somit saß sie direkt an der Quelle und verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, in den Illustrierten zu blättern.

Greta selbst hatte vor einigen Tagen die neue Ausgabe der Zeitschrift Die Dame am Kiosk entdeckt, es sich aber verkniffen, sie zu kaufen, weil der Preis ihr einfach zu hoch war. In diesen Zeiten gab es wichtigere Ausgaben als ein Frauenjournal, in dem über die neueste Mode berichtet wurde.

Dörte lachte ihr lautes Lachen und schüttelte den Kopf. »Da bringen mich keine zehn Pferde wieder hin. Du hast keine Ahnung, was dort für ein Drill herrscht. Als wäre ich der Armee beigetreten. Ich konnte Vater davon überzeugen, dass meine Chancen, einen Mann zu finden, in Hamburg wesentlich größer sind als auf dem Lande. Er würde doch wohl nicht wollen, dass ich einem Bauern das Jawort gebe. Er ist natürlich nicht begeistert, dass ich alles hingeschmissen habe. Aber er musste ja auch nicht lernen, wie man korrekt eine Serviette faltet. Als ob es dafür kein Personal gibt.« Sie verdrehte ihre katzenhaften grünen Augen, die so im Kontrast zu ihren roten Haaren standen, die sie in Wasserwellen gelegt trug, dass sie wie ein farbenreiches Porträt wirkte.

Dörte sah wirklich aus, als wäre sie einem Modemagazin entsprungen, während Greta mit ihrer weißen Schürze über dem einfachen grauen Kleid ein wenig bieder wirkte. Ihr brünettes Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengefasst, der nun elegant über ihren Rücken fiel. Sie hatte es noch nicht fertiggebracht, den Schopf kürzen zu lassen, so wie viele Frauen, die nun einen Bubikopf trugen. Obwohl ihr diese Frisur sehr gut gefiel und bestimmt auch einfach zu pflegen war. Doch Greta gehörte nicht zu der mutigen Sorte Frauen, zumindest nicht, wenn es um ihr Aussehen ging.

»Wann hast du Feierabend? Wollen wir gemeinsam ein Eis essen gehen?«, schlug Dörte vor. »Dann erzähle ich dir alles ganz genau.«

Greta schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid. Papa ist heute Abend schon eher in den Herrenklub gegangen, ich muss den Laden abschließen.«

Dörte blickte auf die große Uhr, die hinter Greta an der Wand hing.

»Das ist ja erst in einer Stunde. Papa hat mich gebeten, pünktlich zum Abendessen zu Hause zu sein. Das ist wirklich schade. Kann Hans sich nicht darum kümmern?« Sie zog einen Schmollmund.

»Hans hat heute seinen freien Tag. Aber vielleicht können wir uns morgen treffen?«

Die Köpfe der beiden flogen herum zur Tür, als die Glocke hell anschlug. Ein Mann betrat das Geschäft. Seinem feinen Aufzug sah man an, dass er nicht oft solch einen Laden beehrte. Suchend sah er sich um, als sein Blick an Greta hängen blieb. Sich räuspernd trat er näher.

»Wie darf ich Ihnen behilflich sein, gnädiger Herr?« Greta wandte sich ihm zu und ließ Dörte für einen Augenblick stehen. Kundschaft kam bei ihr immer an erster Stelle.

Der Herr musterte sie eingehend. »Ist das hier der Laden von Levi Rosenthal?«, fragte er mit sonorer Stimme.

»Ja, das ist er. Ich bin seine Tochter, Greta Rosenthal«, erklärte Greta mit einem Lächeln. Obwohl der Kunde noch sehr jung war, wirkte er seriös und erfahren.

»Der Name steht doch am Schaufenster«, mischte Dörte sich leise murmelnd ein.

Der Herr warf ihr einen kurzen, keinesfalls unfreundlichen, aber bestimmten Blick zu, dann wandte er sich wieder an Greta. »Carl von Löwenstein, sehr erfreut.« Er deutete eine leichte Verbeugung an. »Ich hätte gern Ihren Vater gesprochen.«

»Es tut mir leid, er ist nicht da.« Greta schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte. Sie musterte den Mann aufmerksam. Er trug wie ihr Vater einen schwarzen Frack und dazu ein gestärktes weißes Hemd. Es sah aus, als wolle er die Oper besuchen oder ebenfalls den Herrenklub.

»Tatsächlich? Wir sind doch aber hier verabredet.« Er sah sie eindringlich an.

»Mein Vater ist in den Herrenklub am Neuer Wall, direkt am Stadthaus, gegangen. Möglicherweise sind Sie ja dort verabredet. Oder er hat Sie falsch verstanden?«

»Man kann mich gar nicht falsch verstehen«, erklärte er im Brustton der Überzeugung.

»Davon gehe ich aus«, sagte Dörte und klimperte mit ihren Wimpern.

»Dörte«, flüsterte Greta beschämt.

Carl von Löwenstein wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen Dörte zu. »Junges Fräulein. Wenn ich mit Ihnen spräche, würde ich Sie adressieren.«

»Mein lieber Herr, das tun Sie doch gerade.« Dörte lächelte süffisant.

»Nun, notgedrungen, aber Sie können mir glauben, es ist nicht mein vordergründiges Anliegen.« Er lächelte ebenfalls, doch es erreichte seine Augen nicht, wie Greta feststellte.

Dieser Satz ließ Dörte verstummen. Ihre Wangen färbten sich leicht rot.

Greta hielt für einen Augenblick die Luft an. Dann wandte sie sich an Dörte. »Wie wäre es, wenn wir morgen ein Eis essen gehen? Sagen wir um die gleiche Zeit?« Sie sah ihre Freundin auffordernd an.

Dörte nickte. »Gut, dann sehen wir uns morgen. Und ich kann dich hier alleine lassen?« Ihr Blick streifte Herrn von Löwenstein, der ungeduldig neben ihr stand.

»Natürlich können Sie das«, sagte dieser an Gretas statt.

Dörte sah ihn pikiert an. »Bis morgen, Greta«, brachte sie schließlich hervor und stolzierte mit erhobenem Kinn aus dem Laden.

»Ich hoffe, dass ich Ihre Freundin nicht beleidigt habe.« Er blickte Dörte hinterher, wie sie auf den Bürgersteig trat, den Sonnenschirm öffnete und die Straße entlanglief.

»Das ist schon in Ordnung. Dörte ist hart im Nehmen.« Greta kicherte leise über den Abgang ihrer Freundin. »Es tut mir leid, ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen. Mein Vater hat nichts von einem Treffen hier im Laden erwähnt. Er wird auch erst spät aus dem Klub zurückkommen«, nahm sie den Grund seines Besuchs wieder auf.

»Das ist wirklich schade, dass wir uns verpasst haben«, murmelte er und sah sich neugierig um.

»Ich richte meinem Vater gerne aus, dass Sie hier waren und ihn sprechen wollten.«

Er blickte sie nachdenklich an, was Greta aus einem unerfindlichen Grund nervös machte. Lag es an den dunkelblauen Augen, die sie so aufmerksam musterten? An der großen schlanken Gestalt? Mit einer Hand fuhr er sich über sein schwarzes Haar, dass sich leicht wellte. Er wirkte auf Greta ein wenig verwegen, wie der Held eines Abenteuerromans. Sie schüttelte den Kopf, um sich von diesem Gedanken zu befreien. Wo kam dieser nur plötzlich her?

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.«

»Gehen Sie heute noch aus? Sie sind so fein gemacht«, fragte Greta neugierig. Sie biss sich auf die Unterlippe. Manchmal flogen die Worte schneller aus ihrem Mund, als gut für sie war.

Er sah amüsiert an sich herunter. »Ich gehe ins Konzert. Drei Stunden Langeweile. Aber was tut man nicht alles, um seine Mutter glücklich zu machen?«

»Ein Konzert«, rief Greta und zog begeistert die Augenbrauen in die Höhe. »Es soll Menschen geben, die daran Freude finden.«

»Sie scheinen so ein Mensch zu sein«, urteilte Carl von Löwenstein und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Dieses Lächeln machte etwas mit seinem Gesicht. Es brachte seine Augen zum Strahlen und zauberte sympathische Lachfalten um sie herum. Seine ebenmäßigen Zähne ließen diesen Mann vollkommen erscheinen. Er war nicht nur ein gutaussehender, sondern auch ein ausgesprochen charmanter Herr. Dabei trug er noch nicht die so modischen Bärte, seine Wangen waren glattrasiert. Einzig die Koteletten waren breit, der Zeit angemessen. Seine schwarzen Haare trug er ordentlich nach hinten gekämmt. Ja, er war ein faszinierend aussehender Mann, das musste Greta zugeben, galant noch dazu.

»Was wird denn gespielt?«, fragte sie interessiert.

»Egon Pollack dirigiert irgendetwas, ich habe meiner Mutter nicht so genau zugehört«, erklärte er nicht gerade begeistert.

»Sie sind wohl kein Musikfreund?«

Carl von Löwenstein schüttelte den Kopf. »Nein, meine Welt besteht eher aus Aromen und Geschmacksstoffen.«

Greta sah ihn fragend an.

»Meine Familie handelt mit Gewürzen. Wir sind einer der größten Importeure hier in Hamburg«, erklärte er nicht ohne Stolz in der Stimme. »Zumindest waren wir das bis vor dem Krieg, ehe die Seeblockade unser aller Leben auf den Kopf stellte.«

»Ich verstehe. Wollen Sie deshalb mit meinem Vater sprechen? Vielleicht können wir das Thema vertiefen.«

Er schüttelte den Kopf, als wäre es ein Unding, sich mit Greta über das Geschäft zu unterhalten. Ihr Vater trug sich schon länger mit dem Gedanken, seltene Gewürze ins Angebot aufzunehmen. Aber natürlich würde kein Geschäftspartner mit ihr vorliebnehmen. Einer jungen Frau, gerade der Schulbank entsprungen. Greta lächelte milde. Wie sollte Carl von Löwenstein denn auch ahnen, dass sie mehr von dem Betrieb verstand als so mancher Mann? Er war eben ein Unwissender, wie so viele. Frauen, die sich fürs Geschäft interessierten, kamen in seiner Welt wohl nicht vor. Doch davon ließ Greta sich nicht verunsichern. Sie wusste, was sie konnte, und würde ihm zeigen, dass mit ihr zu rechnen war.

»Ich führe übrigens gemeinsam mit meinem Vater den Laden. Es ist mehr, als nur hinter dem Tresen die Kunden zu bedienen.« Greta reckte ihr Kinn ein wenig in die Höhe.

»Aha, und was genau soll das sein?« Die Frage klang eher interessiert als despektierlich.

»Ich kümmere mich um die Bestellungen, die Reklamationen, führe die Lohnkonten und pflege die Bücher. Zahlen sind meine Leidenschaft.« Greta verstummte. Er sollte nicht denken, dass sie sich hervortun wollte, doch es entsprach nun einmal der Wahrheit.

»Eine Frau, die mit Zahlen umgehen kann und sich für Buchführung interessiert. Sehr außergewöhnlich.« Er lächelte.

»Fragen Sie meinen Vater, er wird es Ihnen bestätigen. Aber ich will Sie nicht unnötig aufhalten. Ich richte ihm aus, dass Sie nach ihm gefragt haben.«

»Vielen Dank, junges Fräulein. Ihnen noch einen schönen Tag.« Carl von Löwenstein wandte ihr den Rücken zu und schritt auf die Tür zu.

Junges Fräulein. Greta kicherte.

Mit der Hand auf der Türklinke, drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Darf ich erfahren, was so lustig ist?«

»Ich denke nicht, dass Sie wesentlich älter sind, als ich es bin. ›Junges‹ Fräulein hat mich schon lange niemand genannt. Doch, warten Sie, es war mein Vater, als ich ungezogen war.« Sie schenkte ihm ein Lächeln.

Von Löwenstein überlegte einen kurzen Augenblick, dann lachte er auf. »Sie haben recht. Wann man Sie so reden hört, könnte man meinen, ich habe es mit Ihrem Vater zu tun, der um einen guten Preis feilscht.«

»Allerdings irren Sie sich, wenn Sie glauben, dass mein Vater sich mit Chili, Curry oder Ingwer auskennt.«

»Und Sie kennen sich damit aus?« Neugierig zog er eine Augenbraue elegant in die Höhe.

Ob er das wohl vor dem Spiegel übt? Greta wäre bei der Vorstellung beinahe erneut ein Kichern über die Lippen gekommen. Doch sie riss sich zusammen und hielt seinem Blick stand. »Ingwer wird aus einer indischen Knolle gewonnen. Es ist ein Küchengewürz, das auch in der Medizin verwendet wird. Es schmeckt brennend scharf und würzig, passt wunderbar zu Fisch, Lamm und Geflügel. Currypulver stammt hingegen aus Großbritannien und ist eine Gewürzmischung. Chilischoten kommen aus Amerika, es gibt sie in unterschiedlichen Formen, Farben und Schärfen.«

Von Löwenstein nickte anerkennend. »Beeindruckend. Ich habe das Gefühl, in einem Brockhaus zu blättern. Wirklich sehr eindrucksvoll. Sagen Sie bitte Ihrem Vater Bescheid, dass ich nach ihm gefragt habe.« Damit grüßte er sie ein weiteres Mal, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Geschäft.

Greta bemerkte, dass er sein linkes Bein ein wenig nachzog. Nur unwesentlich, aber trotzdem hatte sie es wahrgenommen.

Kapitel 2

»Wohin mit den Äpfeln, Fräulein Greta?«

Hans Matthiesen trug eine Kiste mit grünem Obst auf der rechten Schulter und sah Greta fragend an. Bei ihm wirkte es, als würde die Kiste nichts wiegen. Hans war der stärkste Mann, den Greta kannte.

Seine Schiebermütze war ein wenig verrutscht. Er trug dieses Ding Tag ein, Tag aus. Greta fragte sich, ob er damit wohl schlief. Die Ärmel seines gestreiften Hemdes hatte er bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt, darüber trug er eine blaue Weste. Seine langen Beine steckten in einer dunkelblauen Cordhose. Er war ein großer Mann, dessen blondes Haar ihm in die Augen fiel. Es müsste mal wieder geschnitten werden, überlegte Greta.

»Stell sie bitte nach draußen zu den Erdbeeren«, wies sie ihn an und strich die Äpfel auf einer Liste ab.

Heute war eine kleine Fuhre an Obst und Gemüse eingetroffen, was gut für das Geschäft war. Frische Lieferungen waren immer noch eine Seltenheit, die man nur mit einem Bezugsschein erhielt.

»Hans, wenn du mit dem Obst und Gemüse fertig bist, müsstest du eine Fuhre Kartoffeln ausliefern«, rief sie ihm aus dem Lager zu.

»Jawoll, Fräulein Greta! Wird gemacht.«

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich Greta nennen sollst, ohne das alberne ›Fräulein‹?«

»Jawoll, Fräulein Greta!«, erhielt sie zur Antwort, was sie schmunzeln ließ. Er war einfach unverbesserlich, ein blonder Dickschädel, dem man nicht böse sein konnte.

»Ich habe dir die Adresse an den Sack geheftet. Ich schreibe noch schnell die Rechnung.« Sie ging ins Büro und füllte mit flinken Fingern das Rechnungsformular aus.

Als sie aufblickte, stand Hans wartend in der Tür. Er war ein junger Mann von einunddreißig, zum Glück unversehrt aus dem Krieg heimgekommen. Das Haar hing ihm feucht in die Stirn, und er pustete es sich aus dem Gesicht, um sie mit seinen hellblauen Augen anzusehen.

»So, hier die Rechnung. Sie muss sofort bezahlt werden.«

Hans nickte lächelnd. »Ich bin in einer halben Stunde wieder da, Fräulein Greta.« Dann schulterte er den Sack mit den Knollen über seine Schulter, als wäre er mit Luft gefüllt.

Gretas Lächeln verfolgte ihn, bis er zur Hintertür hinaus war. Sie würde ihn schon dazu bekommen, sie beim Vornamen zu nennen. Auch wenn er ein Dickkopf war, sie konnte ebenso hartnäckig sein, das würde er schon sehen.

Greta ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch. Ihr Vater hatte gestern Abend ein Chaos hinterlassen, bevor er aufgebrochen war und heute war er noch nicht im Laden erschienen. Sie wusste nicht, wann er zurück sein würde, hatte ihn jedoch informiert, dass sie mit Dörte ein Eis essen wollte. Zur Not musste Hans eben abschließen. Er wohnte in einer Einzimmerwohnung hinter dem Büro, sprang oft ein, wenn er nichts anderes vorhatte. Die Wohnung war klein, mit einem Wohnschlafraum, der kleinen Küche und einem Badezimmer, inklusive Wanne und WC. Sie reichte Hans allemal aus, er war dankbar, ein Dach über dem Kopf zu haben, dass er sein Eigen nennen konnte. Hans stammte aus Lübeck, war noch vor dem Krieg wegen der Arbeit nach Hamburg gekommen. Wie so viele andere versuchte er, im Hafen etwas zu finden, aber die ganze Stadt schien auf der Suche nach Arbeit zu sein. Als er ein kleines Schild im Fenster des Gemischtwarenhandels entdeckt hatte, dass man eine kräftige Hilfe suche, hatte er spontan vorgesprochen. Dass sogar eine Unterkunft dazugehörte, war für ihn ein Glücksfall. So war er in Hamburg geblieben und nach dem Krieg hierher zurückgekehrt.

Das Büro, das vor seiner Wohnung lag, war nur ein kleiner Raum mit einem winzigen Fenster, durch das das Licht des Tages fiel. Eine Adler-Schreibmaschine stand zu ihrer linken Seite auf dem Tisch, womit Greta die Geschäftspost erledigte. Ihr machte das Tippen Spaß, es ging ihr flink von der Hand. In einem Buffetschrank an der Wand gab es ein Register mit den Adressen der Kunden, in denen die Monatsrechnungen abgeheftet wurden. Greta hatte sich ein sorgfältiges System ausgedacht, das nur ihr Vater hin und wieder durcheinanderbrachte. Sie lächelte bei dem Gedanken.

Das helle Bimmeln der kleinen Türglocke zeigte an, dass jemand den Laden betrat, und Greta sprang auf. Sie lief hinter den Tresen und beobachtete den feinen Herrn aufmerksam, der sich bei den Auslagen umschaute. Als sie sein Halbprofil sah, erkannte Greta Carl von Löwenstein wieder.

Mit der Hand überprüfte Greta, ob der geflochtene Zopf auch noch saß, wie er sollte, und trat entschlossen hinter dem Ladentisch hervor. »Moin, Herr von Löwenstein. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie, ließ ihn aber erst gar nicht zu Wort kommen. »Ich hoffe nicht, dass Sie wieder zu meinem Vater wollen, der ist auch heute leider nicht da.«

Von Löwenstein zuckte zusammen, drehte sich abrupt zu ihr um und sah ihr fest in die Augen. Verlegen senkte Greta den Blick. »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht verschrecken.«

Der Mann musterte sie unverhohlen, dann schlich sich ein feines Lächeln über seine ernsten Züge. »Sie haben mich nicht verschreckt, liebes Fräulein Rosenthal. Ich hatte nur nicht mit Ihnen gerechnet. Ihr Vater ist also nicht da?«

Greta schüttelte den Kopf. »Nein, es tut mir leid. Ich habe ihm aber heute Morgen von Ihrem Besuch erzählt, und er war untröstlich, dass er Sie verpasst hat. Mein Vater konnte sich gar nicht erklären, wie er Ihre Verabredung vergessen konnte. Es tut ihm wirklich leid.« Sie sah ihn entschuldigend an. »Und mir natürlich auch.«

»Nun, das macht ja nichts. Heute komme ich unangekündigt. So kann ich mit Ihnen vorliebnehmen.« Seine Worte klangen schmeichelnd, ohne aufdringlich zu sein.

»Ihr Vater erwähnte in der letzten Woche ein Gerät, das er mir vorführen wollte, da ich ein Geburtstagsgeschenk suche. Er erzählte von etwas Neuartigem, das dazu dient, die Teppiche von Staub und Schmutz zu befreien. Sowas wie ein elektrischer Teppichkehrer. Wissen Sie vielleicht, wovon die Rede ist?«

Er sprach mit so tiefer, wohlklingender Stimme, dass Greta ein Schauer über den Rücken lief und sie so ablenkte, dass sie vergaß zu antworten. Erst als Carl eine fein geschwungene Augenbraue in die Höhe hob, wurde ihr klar, dass er auf eine Erwiderung wartete.

»Ja, natürlich. Ich weiß, wovon Sie sprechen. Ich könnte Ihnen das Gerät auch vorführen, wenn Sie es wünschen. Nur fürchte ich, dass ein Staubsauger nicht das passende Geburtstagsgeschenk für Ihre Frau darstellt.« Sie knetete nervös die Hände, da sie mal wieder einmal zu vorlaut war. Allerdings, wenn er eine Frau hatte, waren ihre Bemühungen, ihn zu beeindrucken, eh vergebens.

»Nein, das Geschenk ist nicht für meine Frau, ich bin nicht verheiratet. Das Geschenk ist für meine Mutter.«

Diese Mitteilung zauberte Greta ein Lächeln auf die Lippen. »Das ist schön zu hören ... Ich meine ... ein Geschenk für Ihre Mutter«, stammelte sie verlegen. Röte überzog ihren Hals, Wärme kroch ihre Wangen hinauf, derer sie sich nur zu bewusst war. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern.

»Ja, das ist es.« Carl von Löwenstein blickte sie weiter unumwunden an. Einen kurzen Augenblick standen sie sich gegenüber, und niemand sagte ein Wort. Stille legte sich über den Raum, hüllte beide in einen Kokon, der die Anziehungskraft der Erde auszuhebeln schien. Greta entdeckte die vielen verschiedenen Blautöne in seiner Iris. Es war ihr, als würde sie Vogelgezwitscher hören, dabei war das gar nicht möglich.

Erst das Quietschen der Straßenbahn draußen riss sie aus ihrer kleinen geheimen Welt und brachte sie ins Jetzt zurück.

Das Türglöckchen bimmelte, und ein kleines Mädchen kam hereingestürmt. Ihr Gesicht war dreckverschmiert, die Kleidung abgetragen.

»Moin, Greta!«, rief das Kind, kaum älter als sechs Jahre.

»Guten Morgen, Elsa. Kommst du dein Frühstück abholen?«, fragte Greta freundlich und ging hinter den Tresen.

Die Kleine grinste nickend, entblößte dabei zwei fehlende Schneidezähne.

»Mal schauen, was ich heute für dich habe. Wie wäre es heute mit einer weichen Birne? Ich habe auch eine Banane. Und zum Nachtisch einen Lutscher, der nach Lakritz schmeckt. Wäre das in Ordnung?«

»O ja.« Die Augen des Mädchens begannen zu leuchten.

»Aber alles schön aufessen. Die Vitamine werden dir guttun.«

»Klar doch. Bis übermorgen.« Elsa nahm die braune Tüte entgegen, die Greta ihr über den Ladentisch reichte und winkte ihr zu. Schnell rannte sie aus dem Laden.

Kopfschüttelnd sah Greta ihr nach. »Sie hat keine Eltern mehr und lebt auf der Straße. Alle zwei Tage kommt sie vorbei und holt sich ein kleines Frühstück ab. Es ist eine Schande, dass unsere Kinder im Müll nach Essen suchen müssen.«

»Umso beeindruckender, dass Sie sich um Kinder wie Elsa kümmern. Das finde ich sehr lobenswert. Sie machen mir ein schlechtes Gewissen.«

Greta lächelte verlegen und suchte nach einem Faden, den sie wieder aufgreifen konnte. Sie blickte zum Schaufenster. »Wenn Sie einen Augenblick warten, führe ich Ihnen das gewünschte Gerät vor. Es ist ein Staubsauger von Electrolux, eine neue schwedische Firma ...«

»Das wird nicht notwendig sein. Wenn Sie der Meinung sind, dass es das richtige Geschenk für meine Mutter ist, werde ich ihn kaufen. Wenn Sie ihn mir nur einpacken würden.«

»Ja, natürlich. Wir können das Gerät auch liefern.« Greta ging wieder hinter den Tresen. Sie musste dringend Abstand bekommen. Ihre Gedanken und ihr Herz rasten.

Carl von Löwenstein folgte ihr, und Greta fiel erneut auf, dass er das linke Bein ein wenig nachzog. Sicher eine Kriegsverletzung.

»Wie hat Ihnen gestern das Konzert gefallen?«

»Meine Mutter war begeistert. Von mir allerdings weniger, ich bin eingeschlafen und erst beim großen Paukenschlag wieder aufgewacht.« Er erzählte es mit ernster Miene, obwohl er bestimmt nur einen Scherz machen wollte, doch sicher war sich Greta nicht darüber, daher ließ sie es unkommentiert und grinste nur verschmitzt. »Ich finde Konzerte äußerst langweilig. Die Oper hingegen liebe ich. Waren Sie schon einmal in der Oper, Fräulein Rosenthal?«

»Nein, noch nie, leider.«

»Wie schade. Es würde Ihnen gefallen. Es ist, als würde man eine neue Welt betreten. Das Schlimme, was uns in den letzten Jahren widerfahren ist, kann man dort einfach vergessen.«

»Ja, das sollte ich vielleicht einmal ausprobieren. Jetzt, wo der Krieg endlich zu Ende ist, wird sich unser Leben hoffentlich wieder normalisieren«, sinnierte Greta. Sie und Carl von Löwenstein blickten sich in vollkommenem Einverständnis an. Nach einigen Sekunden räusperte Greta sich und zwang sich, wieder übers Geschäft zu sprechen. »Wohin dürfen wir das Gerät liefern?«

»In den Harvestehuder Weg. Die Residenz der von Löwensteins«, erklärte er mit einer Überzeugung, als müsste die ganze Welt wissen, wo diese Familie lebte.

Und er hatte recht, denn es gab wohl niemanden in Hamburg, der nicht wusste, wer in diesem palastähnlichen Gebäude residierte. »Die große weiße Villa, mit dem halbrunden Balkon, der von zwei Säulen getragen wird. Ich bin schon oft daran vorbeigefahren. Das Haus ist eines der größten in der Straße, ich erinnere mich.«

»Sie kennen sich gut aus. Stammen Sie von hier?«, erkundigte sich von Löwenstein

»Mein Vater stammt aus Wien, ich wurde in Hamburg geboren. Er lernte meine Mutter kennen, als er sich hier auf einer Geschäftsreise befand. Nach ihrer Heirat zog er dann zu ihr. Leider ist sie kurz nach meiner Geburt verstorben.«

»Ihr Verlust tut mir unendlich leid.«

»Es ist nicht einfach, ohne Mutter aufzuwachsen. Doch ich komme mit meinem Vater gut zurecht.« Greta blickte in seine verständnisvollen blauen Augen und schenkte ihm ein scheues Lächeln. Es fiel ihr immer noch schwer, darüber zu sprechen, obwohl sie es nicht anders kannte. Es hatte nie eine Mutter gegeben, trotzdem vermisste sie sie schmerzlich. All ihre Freundinnen hatten eine. Nur für Greta hatte es immer nur ihren Vater gegeben, der stets versucht hatte, ihr die Mutter zu ersetzen. Sie fingerte an ihrer Halskette, an dem ein Kreuz hing.

»Sind Sie nicht auch jüdischen Glaubens wie ihr Vater?«, fragte Carl überrascht, als sein Blick auf das Kreuz fiel.

»Nein, ich wurde katholisch getauft. Es war der Wille meiner Mutter.«

»Verstehe.« Damit schien das Thema für ihn erledigt. Neugierig ließ Carl seinen Blick durch den Laden schweifen, bis er sie erneut musterte. »Ich sehe, dass Sie gut zurechtkommen, wenn Ihr Vater Ihnen sogar zeitweilig den Laden überlässt.«

»Ich helfe ihm, seit ich denken kann. Ich gehöre weiß Gott nicht zu den Frauen, die sich nur mit Hausarbeit zufriedengeben.«

»Nein, gewiss nicht. Diesen Anschein machen Sie ganz und gar nicht auf mich.« Carl von Löwenstein verneigte sich leicht. »Fräulein Rosenthal, ich darf mich empfehlen und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Ich bin wirklich entzückt, Ihnen erneut begegnet zu sein. Sie haben mich gestern sehr beeindruckt mit Ihrem Wissen über Gewürze und Ihrem Geschäftssinn.«

Greta freute sich über seine Worte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr von Löwenstein. Sie sind als Kunde immer wieder gerne gesehen. Männer lassen sich hier sonst eher seltener blicken.« Sie biss sich auf die Unterlippe. Was redete sie da bloß?

Doch er lachte nur charmant. »Wenn Sie mehr über unser Angebot erfahren wollen, müssen Sie mich unbedingt einmal in unserem Kontor besuchen. Sie werden begeistert sein! Wir vertreiben mehr als hundertfünfzig Gewürzsorten.«

»Hundertfünfzig!«, rief Greta aufgeregt.

»Ganz recht. Der Duft hängt überall in den Räumen, es ist, als wäre man auf einem Basar im Orient. Haben Sie bitte keine Hemmungen, sich an mich zu wenden, wenn Sie etwas Besonderes suchen. Unsere Lager füllen sich langsam wieder. Vielleicht kommen wir ja sogar ins Geschäft.«

»Vielen Dank, Herr von Löwenstein, das klingt sehr spannend. Zudem war ich noch nie in der Speicherstadt.«

»Ja, der Zutritt wird nicht allen Menschen gewährt. Immerhin ist es ein Freihafengebiet. Aber als Geschäftspartner kann ich Sie dort empfangen. Es gibt eine Menge zu sehen. Ich werde eine persönliche Führung für Sie arrangieren. Doch nun muss ich mich beeilen. Die Pflicht ruft, man erwartet mich im Kontor. Bitte grüßen Sie Ihren Vater von mir, Fräulein Rosenthal. Einen schönen Tag.« Er nickte ihr lächelnd zu, lüftete seinen Hut und machte sich auf den Weg zur Tür.

»Ihnen auch einen schönen Tag, Herr von Löwenstein«, rief Greta ihm hinterher, doch da hatte sich die Tür bereits hinter ihm geschlossen

Greta stand noch einige Minuten hinter dem Tresen, nachdem der junge Mann das Geschäft verlassen hatte, und starrte durch das große Schaufenster hinaus. Er hatte ihr Herz berührt. Diese freundliche Einladung, seine angenehme Art, eine Unterhaltung zu führen. Er war ganz anders als all die Männer, denen sie bisher begegnet war. So erwachsen und ernst, gleichzeitig warmherzig und von einer Begeisterungsfähigkeit, von der Greta sich angesteckt fühlte. Er machte sie neugierig auf die Welt, in der er sich bewegte.

Greta ging hinüber ins Büro, schrieb schnell die Rechnung und packte den Staubsauger mit zittrigen Händen ein, damit Hans ihn ausliefern konnte.

»Hans!«, rief sie nach ihm, als sie hörte, wie sich die Hintertür öffnete.

»Jo!« Er tauchte im Türrahmen auf.

»Ich habe heute unseren ersten Staubsauger verkauft. Lieferst du ihn bitte direkt aus? Er muss zum Harvestehuder Weg, zum Haus der von Löwensteins. Weißt du, wo das ist?«

»Und ob! Die sind steinreich und in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund«, erklärte Hans und schob seine Mütze aus der Stirn. »Ich nehme den Lieferwagen.«

»Ja, in Ordnung.«

Greta wusste, dass ihr Vater eigen mit seinen Fahrzeugen war. Hans durfte den kleinen dreirädrigen Lieferwagen benutzen, sie hingegen nicht, obwohl Hans ihr das Fahren längst beigebracht hatte. Ihr Vater selbst fuhr seit wenigen Tagen einen separaten Wagen, den ihm ein Kunde überlassen hatte, der seine Rechnung nicht begleichen konnte. Levi Rosenthal war bekannt dafür, dass man bei ihm anschreiben lassen konnte, doch nach einem Jahr war es Zeit geworden, dass der besagte Kunde seine Schulden beglich. So hatte der weiße Opel seinen Besitzer gewechselt. Keine Ahnung, woher er diesen Wagen hatte, doch nun war er Levis ganzer Stolz. Er hütete ihn wie seinen Augapfel, ließ niemanden damit fahren, setzte sich nur selbst hinters Steuer.

Nachdem Greta Hans losgeschickt hatte, schloss sie den Laden für die Mittagspause. Sie wusste nicht, ob ihr Vater pünktlich zum Essen zurückkommen würde, da er einen Freund in der jüdischen Gemeinde besuchte und dies manchmal länger dauern konnte als geplant.

Mit leichten Schritten nahm sie die engen Stufen der Wendeltreppe in die Wohnung hinauf. Das Haus in der Paulstraße war schmal, wie die anderen Gebäude auch. Der helle Sandstein war schon lange nicht mehr schön, allerdings brachte die rot-weiß gestreifte Markise einen angenehmen Farbtupfer in die sonst so eintönige Fassadengalerie der Straße. Hier reihte sich Haus an Haus. Im Erdgeschoss waren jeweils noch weitere Läden zu finden, ein Schuster, die Bäckerei und der Barbier, den ihr Vater regelmäßig aufsuchte. Die oberen Geschosse waren alle vermietet, weil Wohnraum rar war. Kinder spielten auf der Straße, suchten im Müll nach Essbarem. Männer und Frauen liefen geschäftig umher, immerzu auf der Suche nach Arbeit oder Lebensmitteln für die nächste Mahlzeit der Familie.

Ihr Vater hatte das Haus vor einigen Jahren gekauft, nachdem er hier den Laden eröffnet hatte. Der Krieg war damals gerade ausgebrochen. Der Mann und der Sohn von Frau Huber, der ehemaligen Besitzerin, waren direkt in den ersten Wochen dem Krieg zum Opfer gefallen, woraufhin sie beschloss, zurück zu ihrer Familie nach München zu ziehen. Levi hatte der Frau ein faires Angebot gemacht, das sie nicht hatte ausschlagen können, höher als das, was die Bank ihr anbot. Er hatte nun mal ein untrügliches Gespür für gute Geschäfte. Mittlerweile hatten sie den Laden nach hinten hinaus erweitert. Hans war ein äußerst geschickter Handwerker und hatte allerhand Holz angeschleppt, Böden verlegt, die Türrahmen abgeschmirgelt, sodass sie mehr Fläche hatten, auf der sie ihre Ware ausstellen konnten.

Oben in der Wohnung angekommen, schritt Greta den langen Flur entlang und nahm die hintere Tür, die geradewegs in die gute Stube führte. Ein runder Tisch stand mitten im Raum mit vier Stühlen, ein fünfter war direkt neben dem Fenster platziert. Ihre Schritte wurden von einem rechteckigen Perserteppich gedämpft, der bis hin zu dem grünen Samtsofa reichte, das an der hinteren Wand stand. Der Zweisitzer war eher ein Ziermöbel, da es eher Platz wegnahm, mit seinen ausladenden Armlehnen, als dass es tatsächlich bequeme Sitzgelegenheit bot. In der Vitrine, die an der gegenüberliegenden Wand stand, wurde das gute Geschirr aufbewahrt, dass sie nur sonntags benutzten oder zu Feierlichkeiten. Das große Möbelstück bedeckte fast die gesamte Raumbreite. Es war aus Mahagonieholz geschnitzt, mit Öl aufpoliert. Die Scharniere aus Messing mussten regelmäßig poliert werden. Über dem Tisch hing eine fünfflammige Gaslampe mit grünen Milchglasschirmen. Gretas Blick wanderte zu den Wänden, wo in regelmäßigen Abständen Gemälde mit Landschaftsmotiven in unterschiedlichen Größen hingen. Ihr Vater sammelte Bilder von Karl Kaufmann, dem er in Wien einmal persönlich begegnet war. Der Maler war bereits verstorben, und Levi hielt immer Ausschau, ob eines der Werke Kaufmanns zum Verkauf stand. Da Greta zu wenig von Kunst verstand, beurteilte sie die Bilder nur danach, ob sie ihr gefielen oder nicht. Die Gemälde, die Venedig zeigten, mochte sie besonders. Irgendwann wollte sie persönlich in die Lagunenstadt reisen, um sich davon zu überzeugen, ob es dort wirklich so wunderschöne Sonnenuntergänge gab, wie sie Kaufmann immer zeichnete.

Sie nahm auf dem Stuhl am Fenster Platz und blickte in den Garten hinaus. Essen würde sie später, wenn ihr Vater wieder zu Hause war. Dann konnte sie ihm auch erzählen, dass sie den ersten Staubsauger verkauft hatte, worüber er sich bestimmt ebenso freute wie sie.

Der Garten war nicht mehr als ein verschwindend kleines Stück Wiese, an dessen hinterem Ende es einen kleinen Kirschbaum gab, der gerade in voller Blüte stand. Die feinen rosa Blütenblätter stellten einen schönen Kontrast zu dem Hellgrün des Rasens dar. Ihr Vater hatte ihn von einem Freund zu ihrer Geburt geschenkt bekommen. Er war, genau wie sie, mittlerweile einundzwanzig Jahre alt. Ein wenig klein für sein Alter, vermutlich lag es daran, dass er nur die Abendsonne zu sehen bekam, da die gegenüberliegende Hausreihe tagsüber das Licht abschirmte. Greta lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die vielen Gänseblümchen, die im Schatten der umliegenden Häuser wuchsen. Sie waren unverwüstlich. Jedes Jahr aufs Neue wurden es mehr. Greta liebte diese Pflanzen. Sie strahlten so viel Freude aus, sahen aus, als würden sie immerzu lächeln. Und Freude war etwas, was die Menschen gebrauchen konnten. Sie hatten harte Kriegsjahre hinter sich, viele Entbehrungen erleiden müssen, und so, wie es aussah, wurde es nicht besser. Greta verstand nicht viel von Politik, auch wenn ihr Vater meinte, dass es wichtig sei, den Nachrichten zu folgen. Er hatte ihr erzählt, dass dieser Entwurf des Versailler Vertrags für Deutschland nicht akzeptabel sei. Die Friedensverhandlungen seien niederschmetternd für die deutsche Bevölkerung und dürften auf keinen Fall angenommen werden. Sie seufzte tief.

In den benachbarten Gärten, die durch niedrige Jägerzäune getrennt waren, spielten kleine Kinder. Zwei Mädchen stritten sich um einen Holzroller. Ihre Schürzenkleider waren ganz schmutzig, das würde sicherlich Ärger zu Hause geben. Greta grinste, als sie sich an ihre eigene Kindheit erinnerte.

Nicht jeder der Gärten war mit Rasen bewachsen. Es gab auch einige, die als Nutzgarten dienten, wo Kartoffeln, Lauch, Bohnen, Salatköpfe und Tomaten angebaut wurden. So einen Garten zu besitzen hatte viele Vorteile, auch wenn es sich nur um eine kleine Fläche handelte. Aber es benötigte auch viel Pflege und Zeit, die Greta nicht hatte. Als sie noch zur Schule ging, hatte sie es versucht, doch das Unkraut war ein übermächtiger Gegner gewesen und hatte sie letztlich besiegt.

»Gnädiges Fräulein, möchten Sie nicht zu Mittag essen?«, fragte Hedwig, die Hausangestellte, als sie Greta im Salon sitzen sah.

Hedwig war früher ein Nachbarskind gewesen, mit dem Greta gern gespielt hatte, als sie noch klein gewesen waren. Nachdem Hedwigs Mutter an der Cholera gestorben war, hatte Levi Rosenthal sie als Hausmädchen aufgenommen, um ihr das Obdachlosenasyl zu ersparen, da sie sonst keine Verwandten hatte. Ihren Vater hatte Hedwig nie kennengelernt. Nun bewohnte sie eine kleine Dachkammer im Haus der Rosenthals und kümmerte sich um alle dort anfallenden Aufgaben mit großer Sorgfalt, da ihr sehr wohl bewusst war, was sie Gretas Vater zu verdanken hatte. Sie war ein wenig älter als Greta, aber bei Weitem nicht so selbstsicher, sondern eher eine scheue, zurückhaltende junge Frau.

»Nein, danke, Hedwig. Ich esse zusammen mit meinem Vater. Was gibt es denn?«

»Lore hat eine Kartoffelsuppe gekocht, mit echtem Speck.«

Wusste sie es doch!

»Deswegen riecht es so wunderbar im ganzen Haus! Lieben Dank, Hedwig, ich denke, mein Vater wird bald zurück sein.«

Ihre Hände lagen unruhig in ihrem Schoß, weil die Gedanken an Carl von Löwenstein nicht vergehen wollten. Die von Löwensteins waren Hamburgs wohlhabendste Familie und in aller Munde. Und sie hatten einen gutaussehenden jungen Erben. Seine stattliche Größe, die schlanke Figur, diese wissenden blauen Augen, alles an ihm war beeindruckend. Sie schloss ihre Lider und stellte sich ihn bildlich vor. Dieses Lächeln, sein Charisma, wenn er einen Raum betrat. Dabei bewegte er sich geschmeidig, ohne viel Aufsehen zu erregen. Sein leichtes Hinken machte ihn noch interessanter. Er war eine imposante Erscheinung. Wie er ihre Hand berührt hatte … Ein angenehmes Schaudern durchfuhr Gretas Körper, und sie wünschte sich, er hätte sich nicht so schnell verabschiedet. Sie hätte sich so gerne noch einen Augenblick länger mit ihm unterhalten, seiner samtweichen Stimme gelauscht.

Entschlossen sprang sie auf. Diese Art von Männern musste sie sich aus dem Kopf schlagen. Auch wenn Gretas Vater als Kaufmann hoch angesehen war, gehörte sie nicht zu den Frauen, denen reiche Männer ihr Interesse schenkten. Dafür war sie zu selbstständig, zu belesen, zu freigeistig. Eine gebildete junge Frau mit guten Manieren und einem einfachen Wesen, die sich nicht dafür interessierte, wie das Geld verdient wurde, das ihre Kleider und das Essen bezahlte, danach hielten die meisten Männer Ausschau.

Greta war eben nicht bereit sich zu ändern, für keinen Mann. Zum einem konnte sie ihren gescheiten Verstand nicht abschalten, und Männer hatten nun einmal Angst vor klugen Frauen. Zum anderen war Greta nicht wohlhabend genug, dass man darüber hinwegsah. Sie lebte nicht in einer der Villen am Alsterufer, sie besuchte weder das Theater oder die Oper, noch verkehrte sie in den richtigen Kreisen und wurde nicht zu den wichtigen Gesellschaften eingeladen. Die Chance, einen Mann kennenzulernen, der sie als Frau schätzte, ohne dass sie ihr wahres Ich verleugnen musste, und der ihre manchmal sehr modernen Ansichten teilte, war daher äußerst gering. Ihre Träumereien brachten nichts. Sie sollte der Realität ins Auge sehen, auch wenn Carl von Löwenstein ein Mann war, der für Greta eine Versuchung darstellte. Er war eben anders, als sie vermutet hatte. Die meisten Männer der Oberschicht wirkten stets überheblich gegenüber Frauen, sahen nur Nutzen darin, dass diese sich um Haus und Kinder kümmerten. Doch Carl von Löwenstein hatte auf eine ganz andere Weise Interesse an ihr gezeigt. Er hatte sich für sie als Mensch interessiert. Das war erstaunlich und bemerkenswert. Wie der ganze Mann.

Das Klappern von Geschirr war zu hören und riss Greta aus ihren Gedanken. Ihr Vater war zurückgekehrt, sie hörte seine Stimme. Da erschien er bereits im Türrahmen.

»Papa! Du bist wieder da!« Sie erhob sich und umarmte ihn.

»Komm, lass uns essen, ich habe Hunger, mein Kind.« Sie gingen zurück in den Flur und betraten das Esszimmer auf der linken Seite. Es war wesentlich kleiner als der Salon, aber ähnlich eingerichtet. Auf einer Kommode standen kleine Porzellanfiguren, die noch von Gretas Mutter stammten. Sie hatte sie so gern gesammelt. Eine Fotografie, die ihr Porträt zeigte, stand in der Mitte. Es war kurz nach ihrer Hochzeit aufgenommen worden und zeigte eine schöne junge Frau, deren Züge in Gretas Gesicht wiederzufinden waren.

Der Buffetschrank hielt Porzellan und Gläser für die täglichen Mahlzeiten bereit. Ein Salz- und ein Pfefferstreuer in Form von Tauben standen in der Mitte des Tisches, der mit einer weißen Damasttischdecke bedeckt war.

Hedwig stellte eine Suppenschüssel zusammen mit einem Brotkorb ab.

»Danke, Hedwig. Wir bedienen uns selbst.« Greta erhob sich und öffnete den Deckel. Der feine Duft von Gemüse und Speck stieg ihr entgegen. »Mhm, Kartoffelsuppe. Die hatten wir schon lange nicht mehr.« Mit der Suppenkelle schöpfte sie ihrem Vater und sich selbst auf.

»Kannst du gleich den Laden übernehmen? Ich bin mit Dörte zum Eisessen verabredet. Aber wenn du keine Zeit hast, sage ich es ab.«

Levi Rosenthal schüttelte den Kopf. »Nein, geh ruhig. Ich bin erst am Abend im Herrenklub zum Schach verabredet.«

»Ach, übrigens soll ich dich von Herrn von Löwenstein grüßen.« Greta schob sich einen Löffel Suppe in den Mund. »Du warst ja bereits gestern mit ihm verabredet.«

»War er heute erneut da?« Rosenthal war überrascht.

»Ja, er hat einen Staubsauger gekauft. Ist das nicht wunderbar? Ich glaube, dieses Gerät wird die Haushalte erobern.« Mit spitzen Fingern tunkte Greta ein Stück Brot in die Suppe, schob es schnell in den Mund und kaute genüsslich.

»Das ist großartig, mein Kind. Dein Verkaufstalent ist wirklich bemerkenswert. Wie hast du es ihm denn schmackhaft gemacht?«

»Das musste ich gar nicht, Herr von Löwenstein hat selbst danach gefragt. Er meinte, du hättest es ihm empfohlen, als Geschenk für seine Mutter.«

»So? Habe ich das? Ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ich habe mit Aaron Goldberg, unserem Rabbiner, darüber gesprochen, als ich ihn letzte Woche im Klub traf. Das ist wirklich merkwürdig, denn ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass ich gestern mit Herrn von Löwenstein verabredet war.« Levi schüttelte irritiert den Kopf.

Langsam kam Greta ein Verdacht. Hatte Carl von Löwenstein ihr die Wahrheit gesagt? War er vielleicht erneut ins Geschäft gekommen, um sie zu sehen? Um mit ihr ein paar Worte zu wechseln? Nein, dieser Gedanke war zu abwegig. Vielleicht war ihr Vater nur etwas zerstreut.

»Ich lade dich ein. Such dir zwei Sorten aus.« Dörte blickte gut gelaunt zu dem Kellner auf, der an ihren Tisch im Alsterpavillon getreten war. »Ich nehme Vanille und Schokolade.«

»Sehr wohl, gnädiges Fräulein. Und Sie?« Als der Mann Greta ansah, war sein Blick nicht mehr ganz so freundlich. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie bei Weitem nicht so gut gekleidet war wie Dörte, oder nicht so aufgeschlossen.

»Ich nehme Vanille und Erdbeere.«

Der Kellner nickte und machte sich auf den Weg.

»Weißt du eigentlich etwas über Carl von Löwenstein?«, platzte Dörte heraus.

»Was soll ich denn über ihn wissen?«

»Na, ob er schon verheiratet ist. Was er so treibt. Mein Vater kennt die Familie von Löwenstein gut, aus dem Kontor. Das sind die Gewürzhändler im Norden. Sie sind steinreich und haben nur diesen einen Erben.« Dörte grinste verschmitzt. »Zum Glück hat er den Krieg überlebt, er wurde in Riga verletzt. Ist dir aufgefallen, dass er sein Bein nachzieht? Das wäre ja nichts für mich, ein Mann, der versehrt ist.« Sie rümpfte die Nase.

»Das wird schwierig werden, heutzutage gibt es doch kaum noch Männer, die nicht durch den Krieg lädiert sind. Ich finde, es fällt kaum auf, dass er verletzt ist, er war doch recht freundlich.«

Sofort wurde Dörte hellhörig. »Das hört sich ja an, als würdest du diesen eingebildeten Kerl verteidigen.«

Greta ließ ihren Blick über die anderen Tische gleiten. Sie waren zu dieser Tageszeit nur spärlich besetzt. Die Gäste des Pavillons waren alle sehr gut gekleidet, Kinder trugen Spitzenkleider oder Matrosenanzüge, ihre Mütter und Väter waren in feine Stoffe gewandet. Nur wenige Straßen weiter sah es schon anders aus. Dort suchten Menschen im Müll nach Nahrung. Sie konnten von einem Eis nur träumen.

»Sag schon«, bohrte Dörte weiter.

»Er ist heute Vormittag erneut im Laden aufgetaucht«, gab Gerta nach kurzem Zögern zu.

»Was?«, rief Dörte so laut, dass andere Gäste zu ihnen hinüberblickten.

»Psst«, zischte Greta. »Sei doch nicht so laut. Es muss ja nicht gleich jeder hören.«

Der Kellner brachte die Eisbecher und wandte sich mit einem Nicken anderen Gästen zu.

»Was wollte er denn?«, fragte Dörte mit vollem Mund, nachdem sie sich sofort einen Löffel mit Schokoeis in den Mund geschoben hatte.

Greta schmunzelte über Dörtes fehlende Manieren. Sie wurde wirklich nicht erwachsen, da konnte auch ein Mädchenpensionat nichts ausrichten. »Er hat etwas gekauft.«

»Was denn? Mensch, Greta, nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Er ist bestimmt gekommen, um dich noch einmal zu sehen. Oder vielleicht auch mich? Er wusste ja, dass wir uns heute treffen wollten.«

»Er war am Morgen da und hat einen Staubsauger zum Geburtstag seiner Mutter gekauft. Das hat er vermutlich nicht getan, um dich oder mich wiederzusehen.« Greta nahm einen Löffel Vanilleeis und ließ ihn langsam auf der Zunge zergehen. Es war lange her, dass sie Zeit für ein Eis gehabt hatte.

Dörte blickte nachdenklich über die Binnenalster. Leise seufzte sie. »Gott, ist das schön hier. Du hast keine Vorstellung, wie öde es in diesem Pensionat war.« Das Wetter lud dazu ein zu verweilen. Die Sonne war angenehm warm, der Himmel wolkenlos.

»Was hast du denn jetzt vor?«, wollte Greta von ihrer Freundin wissen.

»Na, einen Mann zum Heiraten finden. Vielleicht wäre Carl von Löwenstein genau der Richtige für mich.«

»Ich dachte, er wäre wegen seiner Versehrung nichts für dich?« Greta war verwirrt. Ihre Freundin war so sprunghaft, wie niemand sonst, den sie kannte. Dass Dörte Carl als Ehemann in Betracht zog, versetzte ihr einen Stich. Er war der erste Mann, der ihre Aufmerksamkeit weckte. Es störte sie, dass Dörte ihn nun auch ins Auge fasste. Die Chancen ihrer Freundin standen allemal besser, da sie zu den Kreisen gehörte, in denen auch Carl sich bewegte.

»Papa würde das sehr gefallen. Eine Verbindung zu einer der reichsten Familien in Hamburg wäre genau richtig. Schade, dass du keine Gelegenheit hast, in diese Kreise einzuheiraten. Die bleiben lieber unter sich.«

»Aber du gehörst doch auch dazu, und wir sind befreundet.« Greta ließ den Löffel sinken. Das waren ja ganz neue Töne. Seit wann war Dörte so ein Snob?

»Das ist etwas anderes.« Dörte steckte sich einen weiteren Löffel Schokoladeneis in den Mund.

»Du hast getropft.« Greta konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sich ein dunkler Fleck auf Dörtes kostbarem Kleid ausbreitete.

»Oh Gott! Meine Mutter bringt mich um. Das ist reine Seide. Der Fleck wird niemals rausgehen. Das Kleid ist ruiniert.« Sie holte ein sauberes Taschentuch aus der Handtasche und versuchte den Fleck auszureiben, doch dadurch trieb sie ihn nur tiefer ins Gewebe und vergrößerte ihn zudem.

»Glaubst du, dass die Leute heutzutage immer noch so denken? Dass die Liebe egal ist und nur der Stand und das Geld zählen?«, wollte Greta wissen.

»Dann findest du also Gefallen an Carl von Löwenstein?« Dörte ließ nicht locker. »Bist du am Ende etwa verliebt in ihn?«

»Natürlich nicht. Wie kommst du nur auf solche Ideen? Ich kenn ihn doch gar nicht. Für so etwas habe ich überhaupt keine Zeit. Schließlich kann ich meinen Vater nicht allein lassen. « Greta sagte das sehr bestimmt und glaubte auch selbst daran. Sie würde nicht alles für eine Liebelei aufgeben. Dafür hatte ihr Vater zu hart gearbeitet, um ihrer beider Existenz aufzubauen und über den Krieg hinweg zu erhalten. »Außerdem habe ich nicht die Reifeprüfung abgelegt, um als Ehefrau zu enden, die sich nur um Haus und Kinder kümmert. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt.«

»Nur Ehefrau ist ja nicht richtig«, gab Dörte zu bedenken. »Meine Mutter hat eine Menge zu tun. Sie führt das Personal, kümmert sich um den Garten, veranstaltet Teesalons und Empfänge. Sie ist Vorsitzende eines Vereins, der sich um Kriegswaisen bemüht, und sie sammelt Spenden für eine Suppenküche. Also, ich finde, das ist schon eine ganze Menge mehr als nur Haus und Kinder.«

Greta nickte. Sie musste zugeben, das war wirklich enorm. »Ja, aber sie verdient kein Geld damit.« Sie kratzte den Rest Eis aus dem Becher und leckte den Löffel ab.

»Natürlich nicht. Dafür ist mein Vater zuständig. Er würde niemals wollen, dass meine Mutter etwas dazuverdient. Was würden denn die Leute von uns denken? Du hast wirklich sehr moderne Ansichten, ich glaube nicht, dass die sich durchsetzen werden. Das wird kein Mann zulassen.« Dörte schüttelte verstört den Kopf. Sie sah aus, als hätte Greta vorgeschlagen, nach Amerika auszuwandern.

Verlegen blickte Greta auf ihre kleine Armbanduhr, die sie von ihrem Vater zum Schulabschluss erhalten hatte. »Oh, schon so spät! Ich muss leider los. Mein Vater wollte heute noch in den Klub. Ich muss ihn im Laden vertreten, damit er sich fertig machen kann, und wir essen zeitig zu Abend.«

Dörte winkte dem Kellner und bezahlte das Eis, wobei sie ein großzügiges Trinkgeld gab. Der Kellner dankte es mit einer tiefen Verbeugung.

Mit einem Kuss auf beide Wangen verabschiedete sich Greta. »Vielen Dank, meine Liebe, für das Eis. Das nächste Mal bezahle ich.«

»Schon gut. Ein Geschenk von meinem Vater«, erklärte Dörte mit einem Lächeln, und beeilte sich, die elektrische Straßenbahn zu erreichen.

Kapitel 3

Carl von Löwenstein ließ die hellbraune Flüssigkeit in dem Kristallglas kreisen. Der Brandy hatte ein angenehmes Aroma, und er zog genüsslich an seiner Zigarre, blies kleine Rauchwolken in die Luft. Der Herrenklub war heute nur spärlich besucht, die Schar der Gäste, die aus den Männern der besseren Gesellschaft Hamburgs bestand, war überschaubar, und so machte er Gretas Vater schnell aus. Der drahtige kleine Mann mit den grauen Haaren und einem schmalen Lippenbart bewegte sich geschmeidig wie eine Raubkatze. Seine wachen Augen sondierten stets die Umgebung, als wäre er ständig auf der Hut.

»Herr Rosenthal, darf ich Sie zu einem Glas einladen?«, hielt er den älteren Herren auf, der sich bereits dem Ausgang zugewandt hatte.

»Herr von Löwenstein, welche Freude, Ihnen zu begegnen!« Levi Rosenthal schien überrascht, aber sichtlich angetan.

»Bitte, setzen Sie sich doch einen Augenblick zu mir.« Carl gab dem Kellner ein Zeichen, damit er ein weiteres Glas an den Tisch brachte.

»Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich Rosenthal und setzte sich in einen der schweren ledernen Sessel.

Der große holzvertäfelte Klubraum war mit Tischen ausgestattet, an denen man Schach oder Dame spielen konnte, dazwischen standen etliche Marmorstatuetten, große Pflanzen sorgten für die nötige Diskretion. Man führte politische Gespräche, an der Bar erzählte man sich Kriegsgeschichten oder schloss Verträge. Einige der Mitglieder gönnten sich auch nur in Ruhe ein Gläschen. Man kannte sich und war unter sich. Frauen war der Zutritt untersagt.