Das Ku(h)riosum - Anne-Marie Bruch - E-Book

Das Ku(h)riosum E-Book

Anne-Marie Bruch

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kurzgeschichten

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 135

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne-Marie Bruch

Das Ku(h)riosum

Erzählungen

© 2016 Anne-Marie Bruch

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-8256-1

Hardcover: 978-3-7345-8257-8

e-Book: 978-3-7345-8258-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

DAS KU(H)RIOSUM

Es war an einem Tag im August. Draußen tobte ein Gewitter, ein Blitz jagte den anderen, und die Donnerschläge folgten mit einer Wucht, die so manchem das Fürchten lehrte. Der Sturm peitschte den Regen durch die engen Gassen der kleinen Stadt, und wer vergessen hatte, Türen und Fenster zu schließen, der hatte alle Hände voll zu tun.

Nicht so Theo Calmund. Von einer Kneipentour spätabends heimgekehrt, lag er neben dem Sofa und merkte von alledem nichts. Noch im Stehen hatte ihn der Schlaf übermannt. Hitze und Durst waren groß gewesen, die Folgen des Durstlöschens auch.

Im Dachgeschoss herrschte dicke Luft. Das Schnarchen ließ die Wände zittern. Es übertönte Blitz und Donner, erst recht das Plätschern des Wasserstrahls, der durch das offene Mansardenfenster sich seinen Weg bahnte und Kurs auf das Trödelsofa nahm.

Den jungen Mann störte es nicht. Er schlief wie ein Bär. Nichts auf der Welt hätte ihn wach rütteln können. Zwanzig Minuten vergingen, bis der nächste Donnerschlag, einer von der Sorte, der selbst Tote zum Leben erweckt, ihn auf die Beine stellte. Im Senkrechtstart fuhr er hoch, des Ernstes der Lage sich auf Anhieb bewusst. Ein Gewitter! Er hatte es ja geahnt. Schon spürte er, wie die Hände feucht wurden, der Pulsschlag heftiger. Wie gelähmt stand er da, unfähig, das Fenster zu schließen.

Er hasste Gewitter, hasste sie wie sonst nichts auf der Welt. Nie konnte man wissen, wie sie ausgingen. Gewitter waren unberechenbar, eine Laune der Natur. Schon als Kind hatte er sie gehasst, geschlottert wie Espenlaub, wenn der Himmel Feuer spuckte. Es war die Hölle. Und die Erwachsenen, die Respektspersonen? Alles Versager. Keiner, der ihm Trost und Mitgefühl spendete. Im Gegenteil! Ausgelacht hatte man ihn, einen Feigling genannt und mit dem Finger auf ihn gezeigt. Nein, Gewitter waren das allerletzte, eine Katastrophe, seitdem er denken konnte.

Fünfundzwanzig war er jetzt, und die Angst, sie war immer noch da. Jedes Mal, wenn es blitzte und donnerte, spielten seine Nerven verrückt, ließen ihn wie eine Marionette tanzen. Gestern, vorgestern, heute schon wieder. Gewitter am laufenden Band. Und der Sommer war lang, lang genug, dem Wahnsinn zu verfallen.

Theo stöhnte auf. Zum Schreien fehlte ihm die Kraft. Ein Häufchen Elend war er, ein Nervenbündel, zu nichts zu gebrauchen. Erst wenn der Sturm vorüber war, fiel alles von ihm ab. Dann war er wieder ganz der alte, groß und kräftig, zwei Zentner stark, durch nichts zu erschüttern. Wovor sollte er sich auch fürchten? Seine Fäuste waren nicht von schlechten Eltern, und wenn es sein musste, machte er davon Gebrauch. So wie neulich. Der Typ, der ihn beleidigt hatte, konnte ein Lied davon singen. Total auseinandergenommen hatte er ihn. Aber ein Gewitter? Das war nicht zu packen. Weder von hinten, noch von vorn. Obwohl ihm zum Draufhauen zumute war, gerade jetzt. Zehn vor zehn. Ein greller Blitz durchzuckte den Raum, darauf ein Wahnsinnsknall. Theo wurde kreidebleich, in den Augen ein wildes Flackern. Heiliges Kanonenrohr! Jetzt hatte er eingeschlagen, ganz in seiner Nähe. Vom Kopf bis zu den Fußspitzen hatte er ihn erfasst. Und wirklich! Der Himmel färbte sich rot, dann bläulich hell. Feuer! Feuer! Alarm! Der bleiche Mann begann zu zittern. Wie ein aufgeschreckter Bulle raste er durch den Raum, stürzte gegen die Wand, kalten Angstschweiß auf der Stirn.

Draußen blieb alles ruhig, nirgendwo ein Laut, nicht einmal Hundegebell. Vielleicht war alles nur Einbildung? Wahnwitz? Phantasie? Ein Wunder wäre es nicht. Seit Tagen hatte er kein Auge zugetan. Gewitter ohne Ende, das haute den stärksten Mann um.

Theo rieb sich den Schädel, wischte den Schweiß von der Stirn. Nur keine Panik! Irgendwann ging jedem Sturm die Puste aus. Fragte sich nur, wann. Eine Stunde, vielleicht auch zwei ... Heiliges Kanonenrohr! Bis dahin hieß es sich beschäftigen. Nur wie?

Ach ja, der Fernsehapparat! Sein Trost in allen Lebenslagen. Mitten im Raum stand er, feucht, doch sehr vertraut. Zu aufgeregt war er gewesen, das Nächstliegende zu tun. Nervös fingerte er an den Knöpfen herum, zappte durch sämtliche Kanäle. Nanu? Kein Bild? Kein Ton? Schon trommelten die Fäuste auf die Mattscheibe ein. Verdammter Kasten! Nicht mal auf die Glotze war Verlass.

Draußen folgte Blitz auf Donner. Zwei nackte Füße schlurften durch die Pfütze, eine Hand schloss mühsam das Fenster, die andere zitterte, suchte mit letzter Kraft ... Und welch Wunder! Das Bild war da, auch der Ton, doch leider, wenig fesselndes Programm. Sechs Herren, dunkler Anzug, ernste Miene, redeten und redeten, über Männer, angeblich sehr berühmt, Schumann, Beethoven, Vincent von ... egal.

Theo kippte noch einen Drink, schob den Glimmstängel zwischen die Zähne, hörte nur mehr mit einem Ohr hin, kippte einen weiteren Drink. Am Himmel war nur noch ein leichtes Grummeln, ein schwaches Leuchten ...Und plötzlich – es war zehn nach zehn – schlug bei ihm der Blitz ein. Er schlug ein wie eine Bombe, dass der junge Mann im ersten Moment fast vom Sofa plumpste. Wie elektrisiert sprang er hoch, drehte sich im Kreis und schlug sich mit der flachen Hand mehrfach gegen die kurze Stirn.

Auslöser dieser Übung waren zwei Worte gewesen. Klar und deutlich hatte er sie vernommen, so deutlich wie das Amen im Gebet. Andächtig murmelte er sie vor sich hin, immer und immer wieder. Wie Butter zergingen sie auf der Zunge. Und wenn er das erste auch nur vom Hörensagen kannte, so war das zweite ihm voll und ganz geläufig. Sein Lieblingswort war es, das ihm täglich so leicht und locker über die Lippen kam, als wäre er der Erfinder desselben gewesen. Und die Klugscheißer, die bei diesem Gewittersturm so unglaublich ruhig beieinander saßen, was hatten sie gesagt? Vom ersten zum zweiten sollte es nur ein kleiner Schritt sein? So wie von Gummersbach nach Michelfeld? Und natürlich auch umgekehrt. Denn warum sollte es von Michelfeld nach Gummersbach weiter sein? Zehn Kilometer waren es, hin und zurück.

Und so kam es, dass Theo Calmund an diesem Abend im August den kühnen Entschluss fasste, ein Genie zu werden. Denn er hatte sich bestimmt nicht verhört. Vom Genie zum Wahnsinn war es nur ein kleiner Schritt. Und umgekehrt natürlich auch. Denn warum sollte es vom Wahnsinn zum Genie ... Nein, ganz ausgeschlossen. Das wäre gegen die Regel.

Wer aber nun denkt, dass es sich ohnehin nur um einen Witz handelte, eine Schnapsidee, die dem Zustand geistiger Verwirrung entsprungen war, befindet sich in einem gewaltigen Irrtum. Denn eines muss man wissen, Theos Entschluss kam nicht aus heiterem Himmel. Der denkwürdige Abend war nur das letzte Glied einer Kette von Umständen, merkwürdigen Umständen, die den Stein ins Rollen brachten. Als ob das Schicksal seine Hand im Spiel gehabt hätte, so hatte alles angefangen ...

Letzte Woche, es war Montag, ein schwüler Tag mit Gewitterneigung, da gab es im „STADTANZEIGER“ etwas Bemerkenswertes zu lesen. Ein Artikel war es, dessen Schlagzeile an einen Gruselfilm erinnerte. Groß und fettgedruckt sprang sie dem Leser ins Auge: ALTSTADT IM WÜRGEGRIFF EINES WAHNSINNIGEN.

Was damit gemeint war, füllte eine ganze Seite und sorgte unter den Bürgern tagelang für Gesprächsstoff. Denn es gab auch andere Töne zu hören. „Ein Genie mitten unter uns verwandelt die Stadt in ein Kunstwerk“. So war zu lesen. „Leider hält sich das Genie bedeckt. Wann endlich wird es die Maske fallen lassen?“

Theo konnte es kaum glauben, doch kein Zweifel, es handelte sich um ihn, den man mit überschwänglichen Worten über den grünen Klee lobte. Ein Genie sollte er sein? Er hatte ja keine blasse Ahnung. Doch hier stand es schwarz auf weiß: „Wahnsinn, die Häuser mit Farbe zu besprühen! Einfach genial!“ Nur einer sprach vom „schrecklichsten der Schrecken“ und dem „Mensch in seinem Wahn“. Ein anderer verlangte, dem Wahnsinnigen „das Handwerk zu legen“. Legen? Das musste ein Druckfehler sein. Geben musste es heißen. Denn es wäre nur recht und billig, ihm etwas zu geben. So wie auch er etwas gegeben hatte. Ein Geschenk, an dem selbst die Nachwelt noch ihre Freude haben konnte.

Zugegeben – geschmeichelt hatte es ihm, wahnsinnig geschmeichelt. Und Spaß hatte er gehabt. Wahnsinnig viel Spaß. Doch einmal hörte der Spaß auf. Denn Genie nur zum Spaß? Das sollte machen, wer wollte. Und darum Schluss mit dem Versteckspiel! Ein Genie brauchte sich nicht zu verstecken. Ein Genie konnte sich sehen lassen. Höchste Zeit, an die Öffentlichkeit zu treten.

Theo hatte die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Aber tief drinnen in seinem Herzen gab es etwas, das ihn liebenswert machte. Denn dieses Herz gehörte der Kunst. Kunst war sein Leben. Ein Quäntchen Farbe, ein Stückchen Papier, und er war der glücklichste Mensch. Regelrecht ausflippen konnte er, wenn er durch die Farbabteilung eines Kaufhauses bummelte. Es juckte ihn nur so in den Fingern, dass er nicht umhin konnte, das eine oder andere mitgehen zu lassen. Pinsel, Töpfe, Dosen, genug Material, um die halbe Stadt mit Farbe zu überziehen. Hinzu kamen Ideen im Überfluss. Ein paar Gläschen über den Durst getrunken, und sie nahmen Gestalt an. Ob er wollte oder nicht, er musste losziehen und seinen Phantasien freien Lauf lassen. Kahle Betonwände, brüchige Hausfassaden, verrostete Kunstwerke – ganz besonders die – zogen ihn magisch an. Spraydose in die Hand und auf den Abzug gedrückt! Ein Spritzer hier, ein Spritzer da, alles ging wie von selbst. Am liebsten hätte er auf alles losgeballert, was das Auge beleidigte. Aber nein, zu viel durfte es auch wieder nicht sein.

Wenn er dann tagsüber durch die Gassen schlenderte, ging ihm jedes Mal das Herz auf. Tolle Häuser, irre Fenster, geile Brunnen! Und erst die Straßenlaternen! Wie Marterpfähle sahen sie aus. Der reine Wahnsinn.

Theos Leidenschaft entsprang der Familientradition. Schon Vater und Großvater waren Maler gewesen. Doch der Tod des Vaters vor zehn Jahren setzte der Kontinuität ein Ende. Theo ging bei einem Schlosser in die Lehre, die Mutter mit neuem Lebensgefährten nach Amerika. Eine Weile lief es gut, dann lief nichts mehr. Schulden, abgebrochene Lehre, keine Arbeit. Theo musste sich etwas einfallen lassen, sollte ihm nicht die Decke auf den Kopf fallen. Auf der Straße herumlungern, die Hände in den Schoß legen, das war nichts für ihn. Hatte nicht jeder Mensch ein Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit? Nicht mehr und nicht weniger beschloss er, zu tun.

Das Vertrauen in das Gesetz und nicht zuletzt in sich selbst war es, das ihm Mut machte. Und sein Leitspruch, mit dem er stets gut gefahren war: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Der Wille war da, der Weg nicht weit. Die Straße hinunter, um drei Ecken herum, am Rathaus vorbei, scharf nach links, dann geradeaus ...

Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

Wohin sie gelaufen waren, davon konnte sich jeder am Freitagmorgen sein eigenes Bild machen. Vorausgesetzt, dass ihn der Weg zum Marktplatz führte. Dort hatte sich in aller Frühe ein großer Menschenauflauf gebildet. Von allen Seiten strömten die Leute herbei, gab es doch etwas Sensationelles zu besichtigen, wie sich in Windeseile herumgesprochen hatte.

Da präsentierte sich tatsächlich der vor kurzem eingeweihte Dorfbrunnen in einem Gewand, das jeder Beschreibung spottete. Genau gesagt, war es eine überlebensgroße, abstoßend hässliche, noch dazu wasserspeiende Kuh, die auf einer Milchkanne thronte und mit ihren weit hervortretenden Augäpfeln bedrohlich in die Runde schaute. Ganz in Schwarz, als ob der Leibhaftige selbst Hand angelegt hatte, starrte das Monster den Schaulustigen ins Gesicht.

Zaghafte Beifallsrufe versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Einige wagten es sogar, ein begeistertes „Bravo“ in die Menge zu schleudern. Doch Äußerungen dieser Art wurden rasch im Keim erstickt. Die Mehrzahl der Bürger war fest entschlossen, Abscheu und Empörung dem gegenüber zum Ausdruck zu bringen, der diese schändliche Tat verübt hatte. Von Sachbeschädigung war die Rede, grobem Unfug, entarteter Kunst und vielem mehr. Wagte es einer, die Sache als dummen Bubenstreich abzutun, wurde er umgehend eines Besseren belehrt. Ein Verbrechen war es, begangen von Banausen, denen die heiligen Gesetze der Kunst fremd waren. Man diskutierte hier, diskutierte da, und je mehr man die Kuh betrachtete, desto mehr kam man zu der Ansicht, hier sei ein überragendes Kunstwerk, das Prestigeobjekt der Stadt, Opfer von Verbrechern geworden, die es schnellstens aufzuspüren galt, um sie einer gerechten, nicht zu milden Strafe, zuzuführen.

Man bemitleidete die Kuh, bewunderte alles an ihr, sah Dinge, die man noch nie gesehen hatte. Den geistreich gestalteten Kopf, den originellen Schwanz, das Rieseneuter, alles wunder-wunder-schöööön, nur leider – schwarz wie die Nacht. Kaum einer schien sich zu erinnern, dass noch vor gut sechs Wochen alles anders gewesen war. Da hatte Einigkeit geherrscht, totale Einigkeit, dass diese Kuh – obwohl von einem namhaften Künstler gestaltet – an Scheußlichkeit nicht zu überbieten war. Die Herren Stadtväter hatten sie hingestellt, den Bürgern gegen deren Willen aufgezwungen, und nun war sie da, jeden Tag, wollte keinen Fingerbreit weichen. Ein Stein des Anstoßes, der für hitzige Debatten sorgte.

Man beschloss, die Kuh zu hassen, machte einen Bogen um sie, strafte sie mit Verachtung. Ließ der Kontakt sich nicht vermeiden, zeigte man ihr die Zunge oder den langgestreckten Finger. Man wollte sie nicht, und doch war sie da, die ungeliebte Kuh, das Wahrzeichen der Stadt, die Personifizierung der menschlichen Dummheit. Oder – wie ein pfiffiger Kopf es schon bald auf den Punkt brachte – das Ku(h)riosum. Es war in aller Munde, man lachte und spottete darüber, komponierte dem Vieh sogar noch eine Melodie.

Und nun? Vorbei und vergessen. Wo blieben die Stimmen, die lautstark verlangten, der Kuh müsse der Garaus gemacht werden? Wo waren die Leute, die mit faulen Eiern und Tomaten der Kuh heimlich den Hof machten? Waren sie denn nicht froh und dankbar darüber, dass einer der ihren – wer auch immer – den Mut gefunden hatte, diesen Gipfel der Geschmacklosigkeit nach allen Regeln der Kunst „anzuschwärzen“?

Allem Anschein nach war es nicht so. Mitleid und Erbarmen mit der ach so geschändeten Kuh waren stärker als alle guten Vorsätze. Aber so waren die Menschen. Heute so – morgen so. Vor allem feige. Keiner, der es wagte, Farbe zu bekennen.

Wie ein begossener Pudel stand Theo in der Menge und verstand die Welt nicht mehr. Im Geiste hatte er sich schon als Held gesehen, von allen geliebt, von allen verehrt, weil er ein beispielloses Werk vollbracht hatte, für das er nicht nur Lob und schöne Worte einzustreichen gedachte.

Die Leute hatten ja keine Ahnung, wie er geschuftet hatte. Gestern Abend, kurz nach Mitternacht. Die Kuh mit den goldenen Hörnern grinste ihm frech ins Gesicht, und der kugelrunde Mond strahlte wie ein Scheinwerfer auf das doofe Euter. Da hatte es ihn gepackt, mit allen Fasern seines Herzens. Es brauchte wirklich nicht viel Phantasie, um im Handumdrehen das einzig Wahre und Richtige zu tun.

Zwei volle Stunden hatte er sich geplagt, vier dicke Pinsel verbraucht. Der Marktplatz wie ausgestorben, keine Menschenseele weit und breit. Und das Mondgesicht hatte ihm geleuchtet, dass es eine Wonne war. Als um halb drei der letzte Pinselstrich getan war, hatte sich die Erde weitergedreht. Und die Kuh? Vom Dunkel der Nacht verschluckt. Ein Rest Farbe war sogar noch übrig geblieben. Den hatte er, ohne groß zu überlegen, als Sahnetüpfelchen in das Wasser gekippt.

Richtig war es gewesen. Und längst fällig. Keine Sekunde hatte er die Tat bereut. Und wenn er so darüber nachdachte – er würde es sofort wieder tun. Schließlich gehörte er nicht zu den Menschen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hingen und ihre Meinung nach Lust und Laune änderten. Und wer es bis jetzt noch nicht wusste, der würde es schon noch erfahren. Er war ein Genie! Nur leider – ein verkanntes.

IM NICHTREDNER-ABTEIL

Freitagnachmittag, Hauptbahnhof München. Auf den Bahnsteigen wimmelte es von Menschen. Ein- und ausfahrende Züge, Lautsprecherdurchsagen am laufenden Band, Abschiedsszenen, Wiedersehensfreude. Es war ein Kommen und Gehen, Hektik und Nervosität, wohin man sah.

Auf Gleis 12 stand der „Bayernkurier“, planmäßige Abfahrt 8.55 Uhr. Die Türen waren geschlossen, der Zug rührte sich nicht vom Fleck. 9.08 Uhr! Langsam wurden die Reisenden ungeduldig. 9.11 Uhr! Endlich! Der Intercity setzte sich in Bewegung. Von München nach Stuttgart. Zweieinhalb Stunden Fahrzeit. Ohne Verspätung.