Entgegen der Fahrtrichtung - Anne-Marie Bruch - E-Book

Entgegen der Fahrtrichtung E-Book

Anne-Marie Bruch

0,0

Beschreibung

Sturmtief über Deutschland. An diesem Tag im Oktober herrscht Ausnahmezustand. Nicht nur draußen in der Atmosphäre, auch im Inneren eines Zuges braut sich ein Sturm zusammen. Ein Sturm der Gefühle. Zwei Menschen in der Mitte des Lebens, in jungen Jahren ein Paar, treffen im Großraumwagen aufeinander. Sie verbergen ihre Identität, aber es kommt anders ... Weitere Vorkommnisse im Zug sorgen für Aufregung. Selbstmord oder Mord? Die Polizei ermittelt. Die Handlung dieser Erzählung beruht teilweise auf wahren Begebenheiten und Beobachtungen, ist aber frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit wären rein zufällig.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 228

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anne-Marie Bruch

Entgegen der Fahrtrichtung

© 2020 Anne-Marie Bruch

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-21101-8

Hardcover:

978-3-347-21102-5

e-Book:

978-3-347-21103-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

I

Am Anfang eines Tages liegt alles im Dunkeln. Vierundzwanzig Stunden wie verdeckte Karten, von Rätseln und Geheimnissen umhüllt. Was werden sie dem Menschen bringen? Glück und Zufriedenheit? Freude und Wohlbefinden? Erfolg oder Misserfolg? Ärger, Sorgen, Ängste, Verzweiflung? Im schlimmsten Fall ein Unheil, das unhaltbar seinen Lauf nimmt? Ein Ereignis, das in einer Katastrophe endet? Alles ist möglich, nichts vorhersehbar. Das Perpetuum mobile des Lebens bestimmt die Richtung, setzt die Dinge in Gang. Niemand kann sich ihm entziehen.

27. Oktober 2002. An diesem Tag, von dem die Rede sein wird, gerieten die Ereignisse bereits frühmorgens aus dem Lot. Es lag etwas in der Luft. Kurz nach Mitternacht war ein Orkan über Norddeutschland hinweggefegt und hatte eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. Wie ein Schreckgespenst hatte die Faust der Natur gewütet und den Menschen wieder einmal das Fürchten gelehrt. Abgedeckte Häuser, überflutete Straßen, entwurzelte Bäume, Stromausfall … Vor allem die Bahn hatte alle Hände voll zu tun, die beschädigten Oberleitungen zu reparieren, um den Zugverkehr nicht zum Erliegen zu bringen. Chaos und Hektik auf den Bahnhöfen, Nervosität unter den Passagieren.

Im Hauptbahnhof Hamburg stand der Intercity nach Zürich und wartete auf das Signal zur Abfahrt. 11.23 Uhr. So die Ankündigung. Leider nicht die Realität. Um die Verbindung nicht streichen zu müssen, hatte die Bahn kurzfristig einen Ersatzzug zum Einsatz gebracht. Dieser stand auf Gleis zehn und rührte sich nicht vom Fleck. 11.45 Uhr… Was war los? Gern hätte man den Grund für die Verzögerung erfahren, doch es kam keine Durchsage. Man nahm es hin, wenn auch zähneknirschend. Schienenprobleme, gedrosselte Geschwindigkeit, Verspätung, Aufenthalt an zusätzlichen Bahnhöfen … Das würde ja heiter werden. Doch von dieser Seite konnten es nur die wenigsten betrachten. Man wollte ans Ziel, und das so schnell wie möglich. Immer wieder ragten Köpfe zum Fenster hinaus, die Hälse reckten sich nach hinten zu den letzten Wagons. Dort gab es etwas zu sehen. Uniformierte Beamte stürmten den hinteren Teil des Zuges, aus dem lautstarke Wortgefechte nach außen drangen. Szenen wie in einem Western-Film, die Spekulationen schossen ins Kraut. Wer das Glück hatte, in der Nähe des Schauplatzes zu sitzen, wusste schon bald Bescheid. Von handgreiflichen Auseinandersetzungen war die Rede, einem Familienzwist, der eskaliert war und einer Schlichtung bedurfte. Als ob es nicht schon genug Probleme gab! Jetzt auch das noch. Weitere fünfzehn Minuten vergingen, bis die Einsatzkräfte auf dem Bahnsteig erschienen, zwei Personen in ihrer Mitte. Wie sich herumsprach, waren sie vorbestraft, hatten weder Fahrausweise noch Papiere bei sich, dafür Waffen mit scharfer Munition. Nun, von Polizeikräften eskortiert und in Gewahrsam genommen, stand der Abfahrt des Zuges nichts mehr im Wege.

Draußen hatte sich die Natur beruhigt. Der Sturm war einem schwachen Lüftchen gewichen. Nichts erinnerte mehr an die Brachialgewalt der Nacht, die der menschlichen Existenz Grenzen aufgezeigt hatte. Allmählich klarte der Himmel auf, die Sonne setzte sich mehr und mehr durch. Man konnte annehmen, es würde ein guter Tag werden.

Auch im Zug hatten sich die Wogen geglättet. Man diskutierte noch eine Zeitlang über die Unberechenbarkeit der Natur, die Risiken der Bahn, die ausgedienten Ersatzzüge. Ein paar erhitzte Gemüter machten ihrem Ärger Luft und drohten mit Konsequenzen. Doch die Mehrzahl der Fahrgäste zeigte Verständnis für die Lage und wendete sich sinnvolleren Tätigkeiten zu. Man las Zeitung, holte den Aktenkoffer heraus oder entspannte sich bei einem Kaffee. Ab und zu der Klingelton eines Handys. Es gab viel zu telefonieren in diesen Stunden der Ungewissheit. Angeblich sollte die Verspätung von einer Stunde im Laufe der Fahrzeit aufgeholt werden, was die Fahrgäste mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahmen. Der Zug rollte, das war die Hauptsache.

II

Auf einer der folgenden Stationen stieg eine Frau zu. Sie winkte kurz zum Fenster hinaus, dann steuerte sie zielstrebig den reservierten Platz im Erste-Klasse-Abteil an. Ein prüfender Blick auf die Nummern. Keine Anzeige. Ach ja, in diesem Zug hatte die Reservierung keine Gültigkeit. Folglich ein paar Schritte zurück auf die gegenüber liegende Seite. Dort war ein Vierertisch mit freien Plätzen. Sie entschied sich für den Platz entgegen der Fahrtrichtung. Vorwärts oder rückwärts, es war kein Problem. Ein junger Mann sprang auf und bot sich an, beim Verstauen des Koffers in der Gepäckablage behilflich zu sein. Sie lehnte ab. „Danke, nicht nötig“, sagte sie, fast ein wenig vorwurfsvoll. Sie wollte es selbst erledigen und beförderte im Nu das nicht eben leichte Gepäckstück nach oben. Dabei machte sie einen routinierten Eindruck. Wahrscheinlich fuhr sie öfter Zug.

Nun saß sie am Fenster, die Arme verschränkt, und schaute hinaus. Nicht etwa neugierig und interessiert an dem, was außerhalb des Fensters vor sich ging. Die Welt draußen, in mattes Oktoberlicht getaucht, schien sie nicht zu berühren. Teilnahmslos, fast geistesabwesend, starrte sie hinaus. Ab und zu legte sie die Stirn in Falten, zuckte leicht mit den Schultern, seufzte. Nur selten wandte sie den Kopf zur Seite, meist dann, wenn der Zugbegleiter das Abteil betrat, um die Fahrausweise der zugestiegenen Fahrgäste zu kontrollieren.

„Bitte sehr, Ihr Anschlusszug wird erreicht. Wir sind gut in der Zeit.“

„Danke. Hoffentlich haben Sie Recht.“

Ihre Haltung hatte etwas Vornehmes, was die elegante Kleidung unterstrich. Klassisches, marineblaues Kostüm, tailliert, tadelloser Sitz. Die Accessoires, Handtasche und Schuhe, teure Designerstücke. Goldschmuck an den Ohren, sonst nichts. Wollte man von der Wahl dieses Outfits Rückschlüsse auf Charakter und Mentalität der Trägerin ziehen, so kam man wohl zu der Erkenntnis, dass Contenance im Leben dieser Frau keine unwichtige Rolle spielte. Die Goldknöpfe des Jacketts, von oben bis unten korrekt zugeknöpft, legten diesen Gedanken nahe. Wie eine Uniform, ein Schutzpanzer gegen jede Art von Konfrontation, so wirkte dieses Kleidungsstück. Der Inhalt war durchaus ansprechend, wenn auch nicht mehr jung. Eine zierliche Frau mit weiblicher Ausstrahlung, welche die Mitte des Lebens bereits überschritten hatte. Selbstbewusst, unnahbar. So der äußere Eindruck. Aber man konnte sich auch irren.

Nach einer Weile nahm sie ein Buch aus ihrer Handtasche, blätterte kurz darin, etwas fahrig, nicht etwa darauf bedacht, sich mit dem Inhalt zu beschäftigen. Sie drehte und wendete es, blickte wieder zum Fenster hinaus. War sie in Gedanken weit weg und das Buch drohte ihr zu entgleiten, konnte man einen Blick auf den Titel werfen: „Ludwig Wittgenstein – philosophische Untersuchungen“. Ihre Finger hielten das Buch umklammert, öffneten sich in Abständen und drückten dann unter Anspannung der Mundpartie so heftig zu, als wollten sie den Inhalt zwischen den Buchdeckeln zerquetschen. Zeugen dieses Vorgang konnten den Eindruck gewinnen, in ihrem Kopf spielte sich etwas ab, eine Szene jenseits der aktuellen Realität, und das Buch war nur Mittel zum Zweck, den Emotionen Ausdruck zu verleihen, die dieses Kopfkino in ihr wach rief. Nahm die Szene an Dramatik zu, massierte und knetete sie das Buch regelrecht mit ihren Fingern, um es dann kurz auf ihrem Schoß abzulegen, dann erneut zu ergreifen und mit noch mehr Intensität zu bearbeiten. Sie tat es scheinbar unbewusst, ohne darauf zu achten, ob dieses Gebaren von anderen Fahrgästen wahrgenommen und kritisch beurteilt werden würde. Der Gegenstand in ihrer Hand war ihr offensichtlich Halt und Stütze in einer angespannten Situation, die sie auf andere Weise nicht lösen konnte. Jedes Mal, wenn sie das Buch umklammerte und fest zudrückte, schoss ihr das Blut ins Gesicht, die Wangen röteten sich, die Nasenflügel bebten, bis sich nach wenigen Sekunden die ursprüngliche Blässe wieder einstellte.

III

Ein Mann, zwei Sitzreihen weiter in Fahrtrichtung, beobachtete die Frau, seitdem sie vor zwanzig Minuten zugestiegen war. Sie gehörte zu den Personen, die im Nu sämtliche Blicke auf sich lenkten, sobald sie einen Raum betraten. Von seinem Platz aus war es leicht, sie zu betrachten, zunächst etwas verstohlen, um die Regel der Diskretion nicht zu missachten. „Außergewöhnliche Frau“, ging es ihm durch den Kopf. „Wie alt mag sie wohl sein? Fünfzig? Fünfundfünfzig? Schwer zu schätzen. Aparter Typ mit individueller Ausstrahlung, Sieht man nicht alle Tage.“ Doch dann stutzte er. Sein Blick fiel auf die Hände. Irgendwie passten sie nicht ins Bild. Durch die Beschäftigung mit dem Buch waren sie demonstrativ zur Schau gestellt. Hände, an denen die Zeit nicht spurlos vorübergegangen war, von Arbeit oder äußeren Einflüssen geprägt, vielleicht einem handwerklichen Beruf, der den Alterungsprozess beschleunigt hatte. Raue Hände, die Oberfläche gerötet, an manchen Stellen vernarbt. Merkwürdig. Wie kam diese gut aussehende, gepflegte Frau zu diesen Händen? War sie eine Künstlerin? Ein befreundeter Bildhauer, bei dem Materialien wie Holz oder Metall den Einsatz der Hände erforderten, hatte ebenfalls deutlich sichtbare Spuren. Aber diese Frau? Sah sie wie eine Künstlerin aus? Dazu war sie seines Erachtens zu korrekt, vor allem zu angepasst gekleidet. So wie sie dasaß, stocksteif, mit übereinander geschlagenen Beinen, brachte sie nicht die Lockerheit und Lässigkeit zum Ausdruck, die man Menschen kreativer Denkart zuschrieb. Nein, derartige Wesenszüge waren bei dieser Frau auch nicht andeutungsweise präsent.

Während er von seinem Platz aus die Person weiterhin ins Visier nahm, legte diese das Buch kurz auf den Schoß und fing an, beide Handflächen gegeneinander zu reiben. Lange, schmale Hände waren zu erkennen, deren Adern deutlich hervortraten. Und noch etwas fiel auf. An ihrem linken Zeigefinger fehlte die Fingerkuppe. Vielleicht ein Unfall mit einem Arbeitsgerät, das nicht in Frauenhände gehörte? Oder ein folgenschweres Missgeschick beim Bedienen der Brotschneidemaschine? Sollte ab und zu vorkommen. Glücklicherweise betraf es die linke, nicht die rechte Hand. Vorausgesetzt, dass sie Rechtshänderin war. So konstatierte der Mann und konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Immer wieder richteten sich die Augen auf diese Hände, die nicht, wie bei Damen fortgeschrittenen Alters üblich, mit Schmuck und anderen Auffälligkeiten wie Nagellack dekoriert waren. Ganz im Gegensatz zu dem sorgfältig geschminkten Gesicht, das so gut wie keine Altersspuren aufwies.

Der Mann war in höchstem Maße irritiert. Nicht nur durch das Rätsel, das diese Hände ihm aufgaben. Seit der Anwesenheit der Frau im Abteil befand er sich in einem Zustand emotionalen Aufruhrs. Was er hier und jetzt erlebte, konnte eigentlich gar nicht sein. Es wäre zumindest sehr unwahrscheinlich. Ein kurzer Griff an die Nase. Nein, er hatte keine Halluzinationen. Also dann war es vielleicht doch … Moment! Keine voreiligen Schlüsse! Aber warum sollte es nicht so sein? Nichts ist unmöglich. Schon gar nicht auf einer Reise in einem Zug. Die Gedanken schossen ihm nur so durch den Kopf, brachten Erinnerungen zum Vorschein, die in einer der untersten Schubladen der Vergangenheit abgelegt waren. Was hier und jetzt passierte, kam ihm vor wie ein Traum, mysteriös und dennoch real, fast wie ein Wunder. Oder war es Fügung? Man konnte daran glauben oder nicht, das Leben erschien ihm oft wie ein Buch, in dem jedes Kapitel geschrieben war. Gerade jetzt fand er sich wieder in seiner Überzeugung bestätigt. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, es könnte etwas passieren. Etwas, was sein Leben verändern würde. Und dann? Ja dann … Dann könnte eine neue Seite aufgeschlagen werden.

Er hatte noch nie an Zufälle geglaubt. Auch bei den merkwürdigsten Ereignissen, die ihm im Leben widerfahren waren, konnte man einen tieferen Sinn erkennen, manchmal erst nach längerem zeitlichen Abstand. Obwohl er sich für einen rational denkenden Menschen hielt, wusste er aus Erfahrung, es gab Situationen, bei denen es nicht mit rechten Dingen zuging. Situationen, die so kurios waren, dass man zu dem Schluss kam, das Schicksal musste seine Hand im Spiel gehabt haben. Wie hätte man es auch sonst erklären können, dass ausgerechnet auf einer Fahrt von Hamburg nach Zürich im gleichen Abteil, zwei Sitzreihen entfernt, eine weibliche, ihm wohlvertraute Person saß. Eine Frau, die ihm früher viel bedeutet, der er lange nachgetrauert hatte. Die ihm bedauerlicherweise abhanden gekommen war, obwohl er sie gerne wiedergesehen hätte. Cosima Lilienfels. Seine Jugendliebe.

Etwa fünfzig Minuten hatte er bereits Gelegenheit gehabt, sie zu beobachten. War sie es wirklich? Was machte ihn so sicher? Eigentlich nur sein Instinkt. Er konnte durch ihre Fassade hindurchblicken und das Mädchen dahinter entdecken, mit der er als Neunzehnjähriger eine längere Liaison hatte. Eine Liaison, die sein Leben nachhaltig beeinflusst hatte.

Nicht, dass sie damals über das Stadium der Verliebtheit hinausgekommen wären. Was ihn betraf, so war es zunächst nur tiefe Sympathie und Bewunderung gewesen, die ihn bei so mancher Begegnung in einen noch nie erlebten Rauschzustand versetzt hatte. Keine oberflächliche Schwärmerei, sondern absolute Hingabe an ein Mädchen, das er mit einem Gefühl der Verklärung wahrgenommen hatte. Es hatte ihn mit Stolz und Genugtuung erfüllt, eine Trophäe erobert zu haben, die eigentlich nicht in sein Beuteschema passte. Ein Mädchen, das so ganz anders war und in keiner Weise der Norm entsprach. Auf fast allen Gebieten war sie ihm überlegen gewesen. Und er war sich wie ein dummer Junge vorgekommen, letztlich auch der Grund, weshalb es bei einer harmlosen Jugendfreundschaft geblieben war.

Bei Cosima war es tiefer gegangen, das hatte er gespürt. Aber sie war scheu wie ein Reh, hätte sich nie getraut, Gefühle zu zeigen. Schüchtern, ängstlich, beinahe verklemmt, zog sie sich immer schnell zurück, wenn er einen Vorstoß wagte. Keines dieser Mädchen gleichen Alters, die mit ihren Reizen kokettierten und ihre Verführungskunst mit Erfolg bei ihm einsetzten. Wenn er sich recht erinnerte, war sie zwei Jahre jünger als er und auf dem Gebiet der Erotik ein unbeschriebenes Blatt. Ein paar harmlose Zärtlichkeiten, keine Intimität.

48 Jahre waren seither vergangen. Vergessen hatte er sie nie. Sich oft gefragt, was aus ihr wohl geworden war. Aber die Mühe, nach ihr zu suchen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Ein Fehler, wie er sich später eingestehen musste. Immer wieder tauchte ihr Gesicht auf, wenn er die Erinnerungen an die Jugendzeit Revue passieren ließ. Rückblickend betrachtet, erschien sie ihm wie ein Juwel in einer Sammlung von Halbedelsteinen, dem er nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Und er hatte viele Affären gehabt im Laufe seines Lebens. Eine Frau wie Cosima Lilienfels war ihm nie mehr begegnet.

Nun hatte das Schicksal, aus welchen Gründen auch immer, sie nach einer langen Zeit der Trennung aus verschiedenen Richtungen wieder zusammengeführt. Ausgerechnet auf einer Reise mit dem gleichen Ziel kreuzten sich ihre Wege. Eine Reise in einem Intercity, den plötzlich ein Hauch von Romantik umgab.

Sollte er aufstehen und zu ihr gehen? Sich vorstellen? Sie hatte ihn bisher noch keines Blickes gewürdigt, ihn mehr oder weniger ignoriert. Schaute sie deshalb so angestrengt aus dem Fenster, um Blickkontakt zu vermeiden? Der Mann zögerte, schwankte zwischen Vernunft und dem inneren Drang, dem Rätselraten durch Spontanität ein Ende zu bereiten. Zeitvergeudung war noch nie seine Sache gewesen. Im Sternzeichen „Widder“ geboren, drängte es ihn nach Aufklärung. Widder-Männer waren von Natur aus ungestüm und schritten ohne Umschweife zur Tat. Also – was gab es zu überlegen?

Der Mann erhob sich, um im selben Moment wieder Platz zu nehmen. Nein, er musste sein Temperament zügeln. Ein Schnellschuss wäre mit Sicherheit ein Fehler, zumindest sehr undiplomatisch. Wenn er sich recht erinnerte, war er damals der Auslöser für eine heftige Reaktion gewesen, die in der Beziehung zu einem unschönen Abgang geführt hatte. Die Entgleisungen waren sicher längst vergessen und verziehen. Vielleicht aber auch nicht. Gut denkbar, dass die Dame nachtragend und immer noch auf ihn sauer war, obwohl das Rad der Zeit sich weitergedreht hatte.

Falls sie also zu dieser Gruppe gehörte, was nicht auszuschließen war, konnte der Vorfall in ihrem Erinnerungsvermögen nach wie vor eine Rolle spielen. Wie auch so vieles andere, was zu einem negativen Bild seiner Person geführt haben mochte. Er konnte es ihr grundsätzlich nicht verübeln. Ja, er war in jungen Jahren ein Herzensbrecher gewesen. Ein Draufgänger, der im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht nicht immer die Spielregeln einhielt. Nein, er hatte nichts anbrennen lassen. Aber auch gar nichts. Musste er deshalb an den Pranger gestellt werden? Als Täter, der eine Straftat begangen hatte? Tatsache war, die Herzen waren ihm nur so zugeflogen. Er hatte Chancen gehabt, mehr als genug, und diesen Vorteil schamlos ausgenutzt. Zweifellos auch viel Porzellan zerschlagen. Aber war es nicht genau diese Wirkung auf das andere Geschlecht, die ihn so unwiderstehlich machte? Diese Ausstrahlung, die jedes Mädchen, auch Cosima, schwach werden ließ? Hätte sie sich mit ihm eingelassen, wenn es nicht so gewesen wäre? Ja, er hatte die Freundinnen gewechselt wie das Hemd. Aber ihm deshalb einen Vorwurf machen? Er konnte sich nun einmal nicht mit allen Fasern seines Herzens auf eine einzige einlassen. Es war das Vorrecht der Jugend, die Welt kennenzulernen, auch in diesem Bereich. Zugegeben, er war ein Filou, die Verkörperung von Sturm und Drang. Aber es wäre unfair, ihn deshalb alleine zur Rechenschaft zu ziehen.

Das Studium der Rechtswissenschaften war es gewesen, das ihn in anderes Fahrwasser gebracht hatte. Nicht, dass es ihn dazu gedrängt hätte, Jurist zu werden. Die Materie hatte ihn nie sonderlich interessiert. Aber der Vater, Richter an einem Landgericht, erwartete, dass der Sohn in seine Fußstapfen trat. Schon deshalb, weil die Experimente auf anderen Gebieten gescheitert waren. So kam es, dass nach anfänglicher Rebellion er sich dem Druck der Familie gebeugt hatte, die Tradition fortzusetzen. Und er hatte es nicht bereut, einen brillanten Studienabschluss hingelegt und in kurzer Zeit promoviert. Unmittelbar danach war er in eine Anwaltskanzlei in der Nähe von Hamburg eingetreten und hatte sich als Spezialist für internationales Kartellrecht schon bald einen Namen gemacht. Sein Sachverstand und seine Eloquenz waren auch das Sprungbrett für eine journalistische Laufbahn gewesen, die es ihm ermöglichte, ab und zu als juristischer Berater für einen privaten Fernsehkanal tätig zu sein. Darüberhinaus war er ein gefragter Redner, der zu Vorträgen im In-und Ausland regelmäßig eingeladen wurde. Eine Aufgabe, von der er auch im Rentenalter profitieren würde. Ja, er war mit dem Verlauf seines Lebens zufrieden. Er konnte sich nicht beklagen. Alles war gut gelaufen.

IV

Seine Gedanken konzentrierten sich wieder auf sein Gegenüber. Knapp zwei Meter von ihm entfernt, wie aus einer fernen Welt herbeigezaubert, so saß sie da. Cosima, Cosima Lilienfels. Es wäre leicht, sie anzusprechen. Aber das hatte er bereits ausgeschlossen. Was dann? Wie sollte er vorgehen? Welche Strategie führte zum Erfolg? Seine Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, in ungeklärten Fällen einen kühlen Kopf zu bewahren und erst nach Prüfung aller Fakten und eindeutiger Beweislage eine Entscheidung zu treffen. Mit dieser Devise war er stets gut gefahren. Doch im vorliegenden Fall half sie ihm nicht weiter. Die Beweislage? War sie denn so eindeutig? Alles war Spekulation. Er hatte ein todsicheres Gefühl, aber das war es auch schon. Gefühle können täuschen.

„Eine Verwechslung, mein Herr“, würde sie sagen. „Ich muss Ihnen die Illusion rauben. Nehmen Sie zur Kenntnis, ich bin nicht die Person, für die Sie mich halten. Kein Problem, das kann vorkommen.“

Und er würde sich entschuldigen müssen. „Tut mir leid, gnädige Frau, ich wollte Sie nicht belästigen. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.

Aus der Traum. Dieses prickelnde Gefühl, das er momentan erleben durfte, die Spannung, die ständig zunahm und die er wie ein Schuljunge genoss, alles vorbei. Mit Überrumpelungstaktik würde er nicht punkten. Er durfte die Frau nicht mit seiner Ungeduld konfrontieren. Einfach den Dingen ihre eigene Entwicklung lassen, nichts forcieren. Irgendwann war er da, der geeignete Moment. „Alles ist Austragen und dann Gebären“, dachte er für sich in Anlehnung an ein Gedicht von Rilke. Seine Gesichtszüge entspannten sich.

Die Frau wirkte nervös. Ihre Mimik verriet, dass sie in ihrem Hirn ein Problem wälzte und krampfhaft nach einer Lösung suchte. Von ihr würde aller Wahrscheinlichkeit nach keine Initiative ausgehen. Dieses Zaudern, die mangelnde Unentschlossenheit passte genau zu dem Bild, das er von Cosima hatte.

Er konnte sich noch sehr gut an sie erinnern. Ein äußerst schüchternes Mädchen war sie gewesen, hochsensibel, introvertiert, fast verträumt. Ihre ganze Liebe galt der Musik. Sie besaß eine zarte, lyrische Sopranstimme, spielte Klavier und Querflöte. Im Schulorchester waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Dass er bei ihr landete, hatte er dem Geigenspiel zu verdanken, das er auf Wunsch seiner Mutter, wenn auch mühsam, erlernt hatte. Bei einer Probe für ein Benefizkonzert der Schule hatte er Cosima zum ersten Mal als Solistin erleben dürfen. Sie spielte die A-Dur-Sonate von Mozart mit einer Virtuosität, die ihn beeindruckte. Ihre Finger glitten über die Tasten des Instruments mit einer Leichtigkeit, als wären sie ferngesteuert. Das lange, blonde Haar, zum Pferdeschwanz gebunden, geriet schwungvoll in Bewegung, wenn sie im Einklang mit der Musik temperamentvoll in die Tasten griff und dem Marsch „Alla Turca“ Ausdruck verlieh, um dann in einem der nachfolgenden Stücke, der „Träumerei“ von Schumann, vollkommen entrückt den Kopf nach unten zu senken, wenn das Pianissimo der Noten absolute Hingabe erforderte. Sich dem Reiz dieses Mädchens zu entziehen, war unmöglich. Sie kam ihm vor wie aus einer anderen Welt. Mit ihrer Musikalität, ihrer natürlichen Ausstrahlung, der Aura, die sie umgab, zog sie ihn vollkommen in ihren Bann.

Langsam, sehr langsam waren sie sich näher gekommen. Es war ihm gelungen, sie zu überreden, gemeinsam mit ihm zu musizieren. Auch wenn es für ihn nur ein Vorwand war und er sich eigentlich schämte, mit seinem durchschnittlichen Geigenspiel ihr imponieren zu wollen. Jeden Nachmittag, wochenlang, hatte er sie zu Hause besucht. Er genoss es, sie beim Klavierspiel zu betrachten, sie körperlich zu spüren, ihren mädchenhaften Duft einzuatmen. Manchmal ließ er sich dazu hinreißen, sie einfach an sich zu ziehen, um mit seinen Fingern durch ihr blondes Haar zu fahren. Mehr ließ sie nicht zu.

Alles verlief sehr harmonisch. Sie hatte noch andere musische Interessen, liebte Literatur, vor allem Poesie, Gedichte von Rilke und Hesse, den romantischen Ausdruck, wie es ihrem Wesen entsprach. So kam es, dass er irgendwann selbst zur Feder griff und Texte in Versform verfasste, die er ihr bei jeder Gelegenheit zusteckte, mal in das Notenheft oder, etwas mutiger, in den Ausschnitt ihrer Bluse. Er steigerte sich in diese lyrische Leidenschaft zunehmend hinein, die ihn viel Zeit kostete und dazu führte, dass er die schulischen Pflichten mehr und mehr vernachlässigte. Cosima antwortete ebenso poetisch, und so ging es eine Weile zwischen ihnen hin und her, bis die Geschichte eines Tages abrupt endete.

Wenn er Cosima etwas zu verdanken hatte, so war es dieses Schreibtalent, das sie in ihm geweckt hatte. Ohne sie hätte es vielleicht ein Leben lang im Verborgenen geblüht, aber niemals diese Dimension erreicht, die sein Dasein bereicherte. Sie war seine Muse, sie hatte ihn dazu inspiriert, dieser emotionalen Seite in ihm, die er bisher nicht gekannt hatte, mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Sie war es auch, die ihn dazu motiviert hatte, zunächst Literaturwissenschaften zu studieren, was er aber nicht konsequent genug verfolgt und eines Tages wieder abgebrochen hatte. Der Dichtkunst war er dennoch treu geblieben. Wenn es die Zeit erlaubte, hatte er zur Feder gegriffen, und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Immerhin zwölf Romane, darunter vier Krimis, einige lyrische Bände und zahlreiche Erzählungen, die noch auf ihre Veröffentlichung warteten. Bedauerlicherweise war es ihm nicht vergönnt gewesen, ein schriftstellerisches Niveau zu erreichen, von dem er hätte leben können. Es war bei einer lustvollen, jedoch hobbymäßigen Beschäftigung geblieben, die er als Ausgleich zu seiner juristischen Tätigkeit fast wie Therapie empfand.

Irgendwann, nach circa einem dreiviertel Jahr, hatten sie sich getrennt. Cosima war es gewesen, die ihm den Laufpass gegeben hatte. Einen Anlass dafür gab es auch. Er hatte nur spekulieren können, wahrscheinlich ein kleiner Seitensprung, dem er keine große Bedeutung beigemessen hatte. Für sie offensichtlich ein Drama. Es gab eine kurze Diskussion, relativ harmlos, kein Streit. Kurz und bündig hatte sie ihm mitgeteilt, in Zukunft keine Zeit mehr mit ihm verbringen und auch keine Gedichte mehr empfangen zu wollen. Die Sache hätte sich für sie erledigt. Sie empfinde nichts mehr für ihn. Also keine Besuche mehr, kein gemeinsames Musizieren. Alles im Leben hätte seine Zeit. Man müsse rechtzeitig den Absprung schaffen, und so weiter und so fort.

Er hatte es akzeptiert und daraufhin nicht mehr ihre Nähe gesucht. Im Schulorchester waren sie sich ab und zu nochmals begegnet. Sie sprachen sehr distanziert miteinander. Zweisamkeit ließ sie nicht mehr zu. Anfänglich hatte er sehr darunter gelitten, aber er war nicht der Typ, der einer Beziehung lange nachtrauerte. Er hatte sich mit Ilona getröstet, einem Mädchen, das für ihn das genaue Gegenteil war, affektiert, extrovertiert. Insgeheim hatte er gehofft, bei Cosima Gefühle der Eifersucht hervorrufen zu können, aber sie zeigte keine Reaktion. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sie ihn einfach übersah. Das hatte ihn gewurmt, bis er dazu übergegangen war, den Anschein zu erwecken, als ob auch sie für ihn Luft war.

Nachdem er sein Abitur in der Tasche hatte, war er zu einem längeren Auslandsaufenthalt aufgebrochen. Weit weg von zu Hause sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und seinem Freiheitsdrang Rechnung zu tragen, war ein lang gehegter Wunsch. Nach langen Diskussionen mit den Eltern, die sich anfänglich quer stellten und ihre Zustimmung verweigerten, war er kurz entschlossen nach Spanien gegangen, ein Jahr später nach Schottland, um neben der Studientätigkeit auch seine Fremdsprachenkenntnisse aufzupolieren. Von Cosima hatte er nie mehr etwas gehört. Damals war er überzeugt, ihren Namen eines Tages auf Konzertplakaten lesen zu können. Er hatte ihr eine große Karriere zugetraut. „Ohne Musik ist das Leben für mich nicht zu ertragen“, hatte sie einmal zu ihm gesagt. „Nur wenn ich Klavier spiele, lebe ich.“ Erst viel später hatte er verstanden, was sie damit gemeint hatte. Die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, war ihm, zumindest damals, nicht gegeben.

Er riskierte wieder einen Blick. Sie schaute melancholisch mit unbewegtem Gesicht zum Fenster hinaus. Hatte sie ihre Leidenschaft, die für sie Lebensinhalt war, verwirklichen können? Sie sah nicht aus wie eine erfolgreiche Pianistin, die mit ihrem Talent das Feedback erzielte, aus dem sie Energie und Lebensfreude schöpfte. Schon gar nicht wie ein Mensch, der Tag für Tag vollkommen im Einklang mit sich selbst sich seinen Neigungen hingab, der absolut glücklich und zufrieden war, weil er seinen Lebensinhalt zu seiner Passion machen konnte. Schon eher wie eine Person, der dies alles nicht vergönnt war. Hatte ihr das Schicksal einen Strich durch die Rechnung gemacht? Der Mann starrte wieder auf ihre Hände. Sie erzählten eine ihm unbekannte Geschichte. Eine Geschichte, die er gerne erfahren würde.

V