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Wie gut kennst du deinen Ehemann?
Während einer Besprechung erfährt die Wirtschaftsanwältin Sidney Archer, dass ihr Mann bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sein soll. An Bord der Maschine waren der Präsident des amerikanischen Zentralbankrates - und anscheinend auch Sidneys Mann Jason, ein aufstrebender Computer-Experte. Noch während die junge Frau versucht, das Unfassbare zu verarbeiten, teilt ihr Jasons Chef seinen Verdacht mit, ihr Mann habe sich mit firmeninternen Informationen zur Konkurrenz abgesetzt. Sidney will die Wahrheit wissen und findet Unterstützung bei Lee Sawyer, einem FBI-Agenten, der den Flugzeugabsturz untersucht.
War die Ursache des Unglücks Sabotage? Und wenn ja, wer sollte das Opfer sein: Der Bankenchef - oder Jason, dessen Leben ein einziges Geheimnis zu sein scheint ...
Ein rasanter Politthriller vom internationalen Bestsellerautor David Baldacci
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Seitenzahl: 856
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
DANKSAGUNG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
ANMERKUNGEN
Fußnote
David Baldacci, geboren 1960, lebt in der Nähe von Washington, D.C. Er war Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist, bevor er mit Der Präsident (verfilmt als Absolute Power) seinen ersten Weltbestseller schrieb. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt und in mehr als 80 Länder verkauft, mit einer Gesamtauflage von 65 Millionen Exemplaren. David Baldacci ist Botschafter für die National Multiple Sclerosis Society, engagiert sich für zahlreiche soziale Einrichtungen und hat selbst mit seiner Familie die Wish You Well Foundation, eine Stiftung zur Förderung des Lesens, eingerichtet.
David Baldacci
DASLABYRINTH
Aus dem AmerikanischenvonMichael Krug
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der Originalausgabe: Total Control
Copyright © Columbus Rose, Ltd. 1997
Originalverlag
Warner Books, Inc., New York
© für die deutschsprachige Ausgabe 1997 by
Bastei Lübbe AG, Köln
Einbandgestaltung: Gisela Kullowatz
Titelfoto: Picture Press
Datenkonvertierung E-Book: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1710-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Spencer,das einzige kleine Mädchenauf der Welt, das michinnerhalb von Sekunden vorGlück taumeln undvor Zorn erbeben lassen kann.Daddy liebt dich ausganzem Herzen.
Für TOTAL CONTROL waren umfangreiche Recherchen und zahlreiche Fachinformationen erforderlich. Ich schätze mich glücklich, diese durch Unterstützung folgender Personen erhalten zu haben:
Mein Dank gilt meiner Freundin Jennifer Steinberg, die weit über das Maß der Pflicht hinaus Antworten auf all die esoterischen und ungemein komplizierten Fragen aufgespürt hat, mit denen ich sie ununterbrochen konfrontierte. Sofern es eine bessere Rechercheurin gibt, ist sie mir nicht bekannt.
Außerdem meinem Freund Tom DePont von der Nations-Bank für seine kompetente Unterstützung bei banktechnischen Fragen und seine überaus hilfreichen Anregungen zu realistischen Szenarien vor dem Hintergrund der Finanzwelt. Des Weiteren meinem Freund Marvin McIntyre von der Maklerfirma Legg Mason sowie seinem Kollegen Paul Montgomery für deren fachliche Auskünfte zu den Themen Bundeszentralbank und Investmentkreise.
Dr. Catharine Broome, einer guten Freundin und hervorragenden Ärztin, für ihre Ratschläge zu Allgemeinmedizin und speziellen Krebsbehandlungsmethoden. Außerdem für die aufschlussreichen Einzelheiten, die sie und ihr Mann David mir über New Orleans erzählten.
Meinem Onkel Bob Baldacci für das umfangreiche Material, das er mir zur Verfügung stellte, und für die Geduld, mit der er eine wahre Flut von Fragen zur komplexen Funktion von Düsenjets sowie zu Flughafenbetriebs- und Wartungsabläufen beantwortete.
Meinem Cousin Steve Jennings, der mich durch die Welt der Computer und das verschlungene Labyrinth des Internet führte. Und seiner Frau Mary, der ich eine Karriere als Lektorin ans Herz legen möchte. Ihre Anmerkungen waren eine große Hilfe, und viele davon haben ihren Weg in das Endprodukt gefunden. Ferner Dr. Peter Aiken von der Virginia Commonwealth University, der mir den verschlungenen Weg von E-Mails über das Internet begreiflich machen konnte.
Neil Schiff, dem Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des FBI, der eine Besichtigung des Hoover-Building arrangierte und all meine Fragen zum FBIbeantwortete.
Larry Kirshbaum, Maureen Egen und dem Rest der tollen Mannschaft bei Warner Books, für all ihre Unterstützung. Ihr habt mein Leben so einschneidend verändert, dass es mir ein Herzenswunsch ist, mich in jedem Roman dafür zu bedanken, um meiner tief empfundenen Verbundenheit Ausdruck zu verleihen.
Mein ganz besonderer Dank gilt Frances Jalet-Miller von der Aaron Priest Agency. Ich schätze mich äußerst glücklich, sie als Lektorin und Freundin zu haben. Durch ihre offen ausgesprochene Meinung trug sie wesentlich zur Verbesserung dieses Buches bei.
Die Wohnung war klein, unauffällig und von einem muffigen Geruch erfüllt, als sei sie lange nicht gelüftet worden. Die wenigen Möbel und persönlichen Dinge jedoch machten einen sauberen und ordentlichen Eindruck; einige der Stühle sowie der kleine Beistelltisch waren unverkennbar höchst wertvolle Antiquitäten. Den größten Einrichtungsgegenstand des winzigen Wohnzimmers stellte ein aufwendig gefertigtes Bücherregal aus Ahornholz dar, das ebenso gut auf dem Mond hätte stehen können, so völlig unangebracht wirkte es in dem bescheidenen, farblosen Raum. Die meisten Werke, die sich fein säuberlich auf den Regalbrettern aneinanderreihten, waren finanztechnischer Natur und befassten sich mit Themen wie internationaler Währungspolitik und komplizierten Investmenttheorien.
Das einzige Licht im Raum stammte von einer Stehlampe neben einer zerschlissenen Couch. In dem kleinen Lichtkegel saß ein hochgewachsener Mann mit schmalen Schultern. Die Augen hatte er geschlossen, als schliefe er. Die zierliche Armbanduhr an seinem Handgelenk zeigte vier Uhr morgens. Er trug eine konservative graue Anzughose mit Aufschlägen, unter denen auf Hochglanz polierte Schuhe mit schwarzen Troddeln hervorlugten. Über ein gestärktes, weißes Frackhemd spannten sich dunkelgrüne Hosenträger. Der Kragen des Hemdes war aufgeknöpft, um den Hals baumelten die Enden einer Fliege. Der große kahle Schädel war nicht einmal das auffälligste Merkmal an ihm; es war der dichte, stahlgraue Bart in dem breiten, tief zerfurchten Gesicht, der unverzüglich alle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als aber der Mann unvermittelt die Augen aufschlug, trat alles andere in den Hintergrund; stechend starrten die haselnussbraunen Augen zwischen den Lidern hervor. Während sie durch das Zimmer wanderten, schienen sie anzuschwellen, bis sie die Augenhöhlen völlig einnahmen.
Dann packte ihn der Schmerz, und er griff sich an die linke Seite – in Wahrheit tobten die Schmerzen überall. Ihren Ursprung jedoch hatten sie an der Stelle, die er nun mit nutzloser Gewalt bearbeitete. Die Atmung ging keuchend, das Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze.
Seine Hand ging zu einer am Gürtel befestigten Vorrichtung. In Form und Größe ähnelte sie einem Walkman, tatsächlich aber handelte es sich um eine CADD-Pumpe; diese war an einem gänzlich unter dem Hemd verborgenen Groshong-Katheter befestigt, dessen Enden in die Brust des Mannes eingebettet waren. Der Finger des Mannes fand den richtigen Knopf, und sogleich strömte eine unglaublich starke Dosis schmerzstillender Mittel aus der Pumpe, die weit über die Menge hinausging, welche die Maschine ihm tagsüber in regelmäßigen Abständen verabreichte. Als der Medikamentencocktail in den Blutkreislauf des Mannes floss, ließen die Schmerzen endlich nach. Doch sie würden wiederkehren; das taten sie immer.
Erschöpft lehnte der Mann sich zurück. Das Gesicht war nass, das frisch gewaschene Hemd von Schweiß durchtränkt. Er dankte Gott für die Nottaste an der Pumpe. Zwar hielt er sich für keineswegs wehleidig, da er sich durch seine gewaltige Willensstärke über so manch körperliche Unannehmlichkeit hinwegzusetzen vermochte, doch die nunmehr in ihm hausende Bestie suchte ihn mit Qualen ungeahnten Ausmaßes heim. Flüchtig überlegte er, was wohl zuerst eintreten würde: sein Tod oder die Kapitulation der Medikamente vor dem übermächtigen Feind. Er betete um Ersteres.
Der Mann taumelte ins Badezimmer und sah in den Spiegel. Bei dem Anblick, der ihm entgegenstarrte, brach Arthur Lieberman schlagartig in ein schrilles Gelächter aus. Das nahezu panische Geheul stieg auf und drohte die dünnen Wände der Wohnung zu sprengen, bis der unkontrollierbare Ausbruch in Schluchzen überging und letztlich endete, indem Lieberman sich hustend übergab. Eine Weile später, nachdem er das verschwitzte Hemd durch ein frisches ersetzt hatte, begann er sich vor dem Badezimmerspiegel die Fliege zu binden. Seine Hände waren jetzt ganz ruhig. Man hatte ihm gesagt, dass er mit derartigen Stimmungsschwankungen rechnen musste. Er schüttelte den Kopf.
Stets hatte er ein maßvolles Leben geführt. Er hatte regelmäßig Sport betrieben, nie geraucht, nie getrunken und immer auf sein Gewicht geachtet. Nun, mit geradezu jugendlichen zweiundsechzig Jahren, sollte er sich damit abfinden, dass er den dreiundsechzigsten Geburtstag nicht mehr erleben würde. Dieser Umstand wurde ihm von so vielen Spezialisten bestätigt, dass schließlich selbst Liebermans ausgeprägter Lebenswille ins Wanken geraten war. Aber er würde nicht in aller Ruhe hinscheiden. Bei dem Gedanken, dass der bevorstehende Tod ihm eine Handlungsfreiheit gewährte, die ihm ein Leben lang verwehrt gewesen war, musste er plötzlich lächeln. Zweifellos würde es sich als ironische Wendung erweisen, dass eine derart herausragende Karriere mit einer überaus unehrenhaften Offenbarung enden sollte. Doch die Schockwellen, die auf sein Ableben folgen würden, waren es wert. Was kümmerte es ihn noch?
Lieberman ging in das winzige Schlafzimmer und hielt einen Augenblick inne, um die Fotos auf dem Tisch zu betrachten. Tränen traten ihm in die Augen. Rasch flüchtete er aus dem Raum.
Punkt fünf Uhr dreißig verließ Arthur Lieberman die Wohnung und fuhr mit dem engen Aufzug ins Erdgeschoss, wo draußen am Straßenrand ein Crown Victoria mit laufendem Motor wartete. Grell schimmerten die Regierungskennzeichen im Schein der Straßenlaternen. Sogleich stieg der Chauffeur aus dem Wagen und hielt Lieberman die Tür auf. Respektvoll hob er zum Gruss die Hand an die Mütze und erhielt, wie üblich, keine Antwort. Wenige Augenblicke später war das Auto bereits die Straße hinunter verschwunden.
Etwa zur gleichen Zeit, als Liebermans Wagen auf den Autobahnring bog, wurde der Mariner-L800-Düsenjet für die Vorbereitung auf den Direktflug nach Los Angeles aus dem Hangar des Internationalen Flughafens Dulles rangiert. Die Wartungsarbeiten waren bereits abgeschlossen, nun wurde das 47 Meter lange Luftfahrzeug aufgetankt. Wie viele große Fluggesellschaften ließ auch Western Airlines das Tanken ihrer Flotte von Fremdfirmen durchführen. Der schwere, kompakte Tankwagen parkte unterhalb der rechten Tragfläche. In der Standardausführung verfügte der L800 über Treibstofftanks in beiden Tragflächen sowie im Flugzeugrumpf. Die Tankverschalung an der Unterseite der Tragfläche, die sich etwa ein Drittel der Tragflächenlänge vom Rumpf entfernt befand, war heruntergeklappt. Der lange Kraftstoffschlauch schlängelte sich hinauf ins Tragflächeninnere, wo er am Tankeinfüllventil fixiert worden war. Dieses eine Ventil diente über eine Reihe von Verbindungsrohren dem Befüllen aller drei Tanks. Ein Tankwart mit dicken Handschuhen und schmutziger Arbeitsmontur überwachte den Schlauch, während der hochwertige Treibstoff in den Tank strömte. Aufmerksam sah der Mann sich um und beobachtete die zunehmenden Aktivitäten rund um das Flugzeug: Post und Fracht wurden verladen, Gepäckkarren rollten auf das Terminal zu. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, besprühte er den freiliegenden Teil des Treibstofftanks rund um den Einfüllstutzen mit einer Substanz aus einem Plastikbehälter. An der eingesprühten Stelle glänzte das Metall des Tanks. Eine eingehendere Untersuchung hätte einen dünnen Film auf der Metalloberfläche offenbart, doch es würde keine eingehendere Untersuchung erfolgen. Selbst wenn der Erste Offizier die Bodenüberprüfung durchführte, würde er nie und nimmer die kleine Überraschung entdecken, die sich in der gewaltigen Maschine verbarg.
Der Mann steckte den winzigen Plastikbehälter tief in eine der Taschen der Arbeitsmontur. Aus einer anderen Tasche holte er einen schmalen, rechteckigen Gegenstand und schob die Hand ins Tragflächeninnere. Als er die Hand zurückzog, war sie leer. Da der Befüllvorgang mittlerweile abgeschlossen war, wurde der Schlauch wieder auf dem Wagen verstaut und die Tankverschalung der Tragfläche verschlossen. Der Tankwagen fuhr davon, um den nächsten Jet zu befüllen. Nach einem letzten Blick auf den L800 schlenderte auch der Mann davon. Heute Morgen sollte sein Dienst um sieben Uhr zu Ende gehen. Er hatte nicht vor, auch nur eine Minute länger zu bleiben.
Der fast 100 Tonnen schwere Mariner L800 hob von der Startbahn ab und brach mühelos durch die morgendliche Wolkendecke. Der L800 war ein eingängiger Jet, ausgestattet mit zwei Rolls-Royce-Triebwerken mit hohem Nebenstromverhältnis und somit eines der augenblicklich modernsten in Verwendung stehenden Luftfahrzeuge, abgesehen von den Maschinen, mit denen die Piloten der U. S. Air Force flogen.
Flug 3223 beförderte 174 Passagiere sowie eine siebenköpfige Besatzung. Die meisten Passagiere machten es sich mit Zeitungen oder Zeitschriften auf ihren Sitzen bequem, während das Flugzeug rasch über den Hügeln von Virginia auf eine Reiseflughöhe von 35000 Fuß emporstieg. Der eingebaute Navigationscomputer hatte eine Flugzeit von 5 Stunden und 5 Minuten nach Los Angeles errechnet.
Einer der Passagiere der ersten Klasse las das Wall Street Journal. Eine Hand spielte an dem buschigen Bart, während große, aufmerksame Augen über die Seiten streiften. Weiter hinten in dem engen Gang, in der Economy-Klasse, saßen schweigend andere Passagiere, manche mit vor der Brust verschränkten Armen, manche mit halb geschlossenen Augen; einige lasen. Auf einem Sitz hielt eine alte Frau mit der rechten Hand einen Rosenkranz umklammert und murmelte leise das altvertraute Gebet.
Als der L800 die Reiseflughöhe erreichte und in den Horizontalflug überging, ertönte die Stimme des Kapitäns über den Lautsprecher, um, wie immer, die Fluggäste zu begrüßen, während die Flugbegleiter ihrer üblichen Arbeit nachgingen – eine Routine, die jäh unterbrochen werden sollte.
Sämtliche Köpfe fuhren zu dem roten Blitz herum, der an der rechten Seite des Flugzeugs aufflammte. Die Passagiere auf den Fensterplätzen jener Seite beobachteten mit blankem Entsetzen, wie sich die rechte Tragfläche verbog, die Metallhaut einriss und die Nieten heraussprangen. Nur Sekunden verstrichen, bis zwei Drittel der Tragfläche abbrachen und das rechte Triebwerk mit sich in die Tiefe rissen. Wie abgetrennte Venen schlugen zerfetzte Hydraulikleitungen und Kabel im wilden Flugwind hin und her, während Treibstoff aus dem aufgebrochenen Tank gegen den Flugzeugrumpf spritzte.
Sofort rollte der L800 links über und drehte sich auf den Rücken, wodurch sich die Kabine in ein einziges Chaos verwandelte. Jedes einzelne menschliche Wesen im Bauch des Flugzeugs schrie in Todesangst auf, als die Maschine völlig unkontrolliert durch die Luft schlingerte. Überall wurden Passagiere brutal aus den Sitzen gerissen. Für die meisten davon endete dies tödlich. Schmerzensschreie gellten, als weiches menschliches Fleisch und schwere Gepäckstücke aufeinanderprallten, die aus den Ablagen geschleudert wurden, weil die wild durcheinanderwirbelnden Druckwellen die Haltekraft der Schließmechanismen überschritten.
Der Griff der alten Frau lockerte sich, und der Rosenkranz glitt auf die Decke des Flugzeugs, die nunmehr den Boden der auf dem Kopf stehenden Maschine darstellte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, jedoch nicht in Angst. Sie war eine der Glücklichen. Ein tödlicher Herzinfarkt hatte sie vor dem blanken Schrecken der nächsten Minuten bewahrt.
Zweimotorige Düsenflugzeuge für den kommerziellen Einsatz müssen auch mit nur einem Triebwerk flugtauglich bleiben. Kein Düsenflugzeug jedoch vermag sich mit nur einer Tragfläche in der Luft zu halten. Die Flugsicherheit von Flug 3223 war unwiederbringlich dahin. Der L800 neigte sich mit der Nase voraus in einen tödlichen Sturzflug Richtung Erde.
Im Cockpit kämpfte die zweiköpfige Besatzung fieberhaft mit den Instrumenten, während ihre beschädigte Maschine wie ein Speer durch den bedeckten Himmel abwärts schoss. Wenngleich sie keine Ahnung hatten, welche Katastrophe eingetreten war, so wussten sie doch sehr wohl, dass der Düsenjet und alle Menschen an Bord in tödlicher Gefahr schwebten. Hektisch versuchten die beiden Piloten, die Kontrolle über das Flugzeug wiederzuerlangen, wobei sie insgeheim darum beteten, nicht mit einer anderen Maschine zusammenzukrachen, während sie auf die Erde zurasten. »O mein Gott!« Ungläubig starrte der Kapitän auf den Höhenmesser, der unaufhaltsam auf Null zuschnellte. Weder die beste Luftfahrtelektronik der Welt noch die außergewöhnlichsten Pilotenkünste konnten die grausame Wahrheit negieren, mit der alles Leben an Bord des beschädigten Luftschiffes konfrontiert war: Sie alle würden sterben, und zwar schon sehr bald. Und wie es bei nahezu allen Flugzeugabstürzen der Fall ist, würden die beiden Piloten als erste diese Welt verlassen; nur den Bruchteil einer Sekunde später würden alle übrigen Menschen an Bord des Fluges 3223 folgen.
Arthur Liebermans Mund klappte auf, während er völlig ungläubig die Armlehnen umklammerte. Als die Nase des Flugzeugs sich kerzengerade nach unten neigte, starrte Lieberman abwärts auf die Rückseite des Sitzes vor ihm, als befände er sich in einer bizarren Achterbahn. Zu seinem Leidwesen sollte Lieberman bis zum bitteren Ende bei Bewusstsein bleiben – bis zu jenem Augenblick, in dem das Flugzeug auf das unbewegliche Objekt prallte, auf das es nun zuraste. Sein Abschied aus der Welt der Lebenden sollte einige Monate verfrüht und alles andere als plangemäß eintreten. Während das Flugzeug zur letzten Landung ansetzte, drang ein einziges Wort über Liebermans Lippen. Obwohl es nur aus einer Silbe bestand, kreischte er es immer und immer wieder, bis es zu einem Schrei anschwoll, der all die anderen entsetzlichen Geräusche übertönte, die durch die Kabine fluteten.
»Neiiiiiiiin!«
Washington, D. C ., Stadtgebiet, einen Monat zuvor.
Das gestärkte Hemd war schmutzig, die Krawatte saß schief. So arbeitete Jason Archer sich durch den Inhalt der Kartonstapel. Neben ihm stand ein Laptop. Alle Paar Minuten hielt er inne, zog ein Blatt Papier aus dem Durcheinander und übertrug den Text mittels Handscanner auf den Laptop. Schweiß tropfte ihm von der Nase. In dem Lagerhaus, in dem er sich befand, war es heiß und dreckig. Unerwartet rief irgendwo in den riesigen Räumlichkeiten eine Stimme nach ihm. »Jason?« Schritte näherten sich. »Jason, bist du hier?«
Rasch schloss Jason die Schachtel, mit der er sich gerade beschäftigte, schaltete den Laptop aus und schob ihn in eine Lücke zwischen zwei Stapeln. Wenige Sekunden später erschien ein Mann. Quentin Rowe war knapp eins siebzig groß, schmalschultrig und brachte an die siebzig Kilo auf die Waage. In dem bartlosen Gesicht prangte eine zierliche, runde Brille. Das lange, dünne blonde Haar war zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er war leger gekleidet, mit verwaschenen Jeans und einem weißen Baumwollhemd. Aus der Hemdentasche ragte die Antenne eines Mobiltelefons. Die Hände hatte er in die hinteren Hosentaschen gesteckt. »Ich war gerade in der Gegend. Wie kommst du voran?«
Jason erhob sich und streckte die große, muskulöse Gestalt. »Es wird, Quentin, es wird.«
»Die Verhandlungen mit CyberCom spitzen sich zu, und die verlangen so bald wie möglich die Finanzunterlagen. Was glaubst du, wie lange brauchst du noch?« Obwohl er sich unbekümmert gab, wirkte Rowe besorgt.
Jason warf einen Blick auf die Stapel von Archivboxen. »Noch eine Woche, maximal zehn Tage.«
»Bist du sicher?«
Jason nickte und wischte sich gründlich die Hände ab, bevor er die Augen wieder auf Rowe richtete. »Ich lass’ dich schon nicht im Stich, Quentin. Ich weiß, wie wichtig CyberCom für dich ist. Für uns alle.« Schuldgefühle kamen in ihm hoch, doch Jason ließ es sich nicht anmerken.
Rowe entspannte sich ein wenig. »Wir werden nicht vergessen, was für einen Einsatz du gezeigt hast, Jason; hier und auch mit den Datensicherungen. Gamble war äußerst beeindruckt, soweit er verstehen konnte, worum es ging.«
»Ich denke, man wird sich noch lange daran erinnern«, stimmte Jason zu.
Ungläubig ließ Rowe den Blick durch das Lager schweifen. »Man muss sich mal vorstellen, dass der Inhalt dieses gesamten Lagerhauses problemlos auf einem Stapel Disketten Platz gefunden hätte. Was für eine Verschwendung!«
Jason grinste. »Tja, Nathan Gamble ist nicht gerade der größte Computerexperte der Welt.« Rowe prustete. »Seine Investmenttransaktionen haben einiges an Papierkram produziert«, fuhr Jason fort, »aber seinen Erfolg kann niemand abstreiten. Der Mann hat im Laufe der Jahre einen Haufen Geld gemacht.«
»Stimmt genau, Jason. Das ist unsere einzige Hoffnung. Von Geld versteht Gamble etwas. Und nach der Übernahme von CyberCom werden unsere Konkurrenten im Vergleich zu uns geradezu mickrig wirken.« Bewundernd blickte Rowe zu Jason auf. »Nach all der Arbeit hast du eine große Zukunft vor dir.«
In Jasons Augen trat ein sanfter Schimmer, dann lächelte er seinen Kollegen an. »Davon bin ich überzeugt.«
Jason Archer kletterte auf den Beifahrersitz des Ford Explorer, beugte sich hinüber und küsste seine Frau. Sidney Archer war groß und blond. Ihr fein geschnittenes Profil war nach der Geburt ihrer Tochter etwas weicher geworden. Sie deutete mit dem Kopf auf den Rücksitz. Jason lächelte, als er die zwei Jahre alte Amy erblickte, die auf dem Kindersitz tief und fest schlief. Wie immer umklammerte sie mit einer Hand ihren Teddy.
»War ein langer Tag für sie«, meinte Jason, als er die Krawatte aufknöpfte.
»Für uns alle«, entgegnete Sidney. »Ich dachte, wenn ich erst mal nicht mehr Vollzeit arbeiten würde, wär’ alles ein Kinderspiel. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dieselben fünfzig Stunden wie früher in die drei Tage zu packen, die ich in der Kanzlei bin.« Müde schüttelte sie den Kopf und lenkte den Ford auf die Straße. Hinter ihnen ragte das Gebäude der Zentrale von Triton Global auf, dem Arbeitgeber ihres Mannes und unangefochtenem Weltmarktführer im Technologiebereich, von globalen Computernetzwerken bis hin zu Lernprogrammen für Kinder und so ziemlich allem dazwischen.
Jason ergriff die Hand seiner Frau und drückte sie zärtlich. »Ich weiß, Sid. Ich weiß, dass es hart ist, aber möglicherweise habe ich schon bald Neuigkeiten, nach denen du die Arbeit für immer an den Nagel hängen kannst.«
Sie blickte ihn an und lächelte. »Du hast ein Computerprogramm geschrieben, das dir die richtigen Lottozahlen verrät?«
»Vielleicht sogar noch besser.« Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
»Na gut, du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Worum geht’s?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht, bevor ich es mit Sicherheit weiß.«
»Jason, tu mir das nicht an.«
Ihre gespielte Kränkung ließ das Lächeln auf seinen Lippen noch breiter werden. Er tätschelte ihre Hand. »Du weißt, ich kann Geheimnisse meisterlich für mich behalten. Und ich weiß, wie sehr du Überraschungen liebst.«
An einer roten Ampel hielt sie an und wandte sich ihm zu. »Ich mache auch gerne an Weihnachten Geschenke auf. Also erzähl schon.«
»Diesmal nicht, tut mir leid. Unmöglich. He, was hältst du davon, heute Abend auswärts zu essen?«
»Ich bin eine höchst hartnäckige Anwältin, also versuch nicht, das Thema zu wechseln. Außerdem ist ›auswärts essen‹ nicht im Budget für diesen Monat vorgesehen. Ich will Einzelheiten.« Spielerisch piekte sie ihn, bevor die Ampel auf Grün schaltete und sie losfuhr.
»Schon sehr, sehr bald, Sid. Das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt, okay?« Mit einem Schlag klang sein Tonfall wesentlich ernster, als bedauere er, das Thema angeschnitten zu haben. Sie schaute zu ihm hinüber. Angespannt starrte er aus dem Fenster. Ein Hauch von Besorgnis huschte über ihre Züge. Dann drehte er sich zu ihr um und erblickte den Ausdruck in ihrem Gesicht. Zärtlich strich er ihr mit den Fingern über die Wange und zwinkerte. »Als wir geheiratet haben, da habe ich dir die Welt versprochen, nicht wahr?«
»Du hast mir die Welt gegeben, Jason.« Im Innenspiegel betrachtete sie Amy. »Mehr als die Welt.«
Er streichelte ihre Schulter. »Ich liebe dich, Sid, mehr als alles andere. Du verdienst nur das Beste. Eines Tages werde ich dir genau das bieten.«
Sidney lächelte ihn an. Als er jedoch wieder aus dem Fenster blickte, kehrte die Besorgnis in ihr Gesicht zurück.
Der Mann saß über den Computer gebeugt, das Gesicht nur wenige Zentimeter vom Bildschirm entfernt. Die Finger klopften so hektisch auf die Tasten ein, dass sie wie eine Reihe winziger Presslufthämmer wirkten. Die ramponierte Tastatur schien sich unter dem unablässigen Trommelfeuer jeden Augenblick in ihre Bestandteile aufzulösen. Wie ein Wasserfall flimmerten Bilder über den Computermonitor, viel zu schnell, als dass ein menschliches Auge ihnen hätte folgen können. Draußen herrschte pechschwarze Nacht. Eine schwache Lampe über dem Schreibtisch lieferte das nötige Licht für die Arbeit des Mannes. Dicke Schweißperlen prangten in seinem Gesicht, obwohl die Raumtemperatur bei angenehmen einundzwanzig Grad Celsius lag. Als ihm die salzigen Tropfen hinter die Brille rannen und in den bereits schmerzenden, blutunterlaufenen Augen brannten, wischte er sie zornig weg.
Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er gar nicht wahrnahm, wie die Zimmertür sich leise öffnete. Auch die drei Paar Füße hörte er nicht, die sich den Weg in den Raum bahnten und über den dicken Teppich auf ihn zu schritten, bis sie unmittelbar hinter ihm zum Stehen kamen. Die Bewegungen ließen keine Eile erkennen. Offenbar gab die Überzahl den Eindringlingen hinreichend Selbstvertrauen.
Endlich drehte sich der Mann am Computer um. Dabei begann er am ganzen Leib panisch zu zittern, als hätte er bereits geahnt, was ihm bevorstand.
Ihm blieb nicht einmal Zeit zum Schreien.
Als die Abzugshähne gleichzeitig zurückschnellten und die Schlagbolzen niederstießen, bellten die Waffen in ohrenbetäubendem Gleichklang auf …
Jason Archer fuhr aus dem Sessel hoch, auf dem er eingeschlafen war. Schweiß stand ihm im Gesicht, so real wie die Vision des gewaltsamen Todes in seinem Kopf. Dieser verdammte Traum wollte ihn einfach nicht in Ruhe lassen. Rasch blickte er sich um. Sidney schlief auf der Couch. Im Hintergrund rumorte der Fernsehapparat.
Jason erhob sich und legte eine Decke über seine Frau. Dann schlich er hinunter zu Amys Zimmer. Es war schon fast Mitternacht. Als er zur Tür hineinlugte, hörte er, wie sie sich im Schlaf herumwälzte. Er trat an den Rand ihres Bettchens und beobachtete, wie die zierliche Gestalt sich rastlos hin-und herwarf. Ein böser Traum musste sie wohl plagen – eine Qual, mit der ihr Vater bestens vertraut war. Zärtlich strich Jason seiner Tochter über die Stirn, dann hob er die Kleine hoch und nahm sie in die Arme. In der Stille der Dunkelheit wiegte er sie beruhigend hin und her. Für gewöhnlich vertrieb dies die Albträume, und auch diesmal schlief Amy nach nur wenigen Minuten wieder tief und fest. Jason legte sie ins Bettchen und küsste sie auf die Wange.
Danach ging er in die Küche, kritzelte eine Nachricht für seine Frau, legte sie auf den Tisch neben der Couch, wo Sidney nach wie vor schlief, und begab sich in die Garage, wo er in sein altes Cougar-Cabrio stieg.
Als er im Rückwärtsgang aus der Garage fuhr, bemerkte er nicht, dass ihn seine Frau mit dem Zettel in der Hand vom Fenster aus beobachtete.
Nachdem die Rücklichter am Ende der Straße verschwunden waren, wandte Sidney sich vom Fenster ab und las die Nachricht erneut. Ihr Mann war unterwegs ins Büro, um noch eine Weile zu arbeiten. Sobald es ihm möglich sei, wolle er wieder nach Hause kommen.
Sidney warf einen Blick auf die Uhr am Kaminsims. Beinahe Mitternacht. Sie sah nach Amy, danach schlurfte sie in die Küche und stellte den Teekessel auf. Plötzlich sank sie auf die Anrichte, als ein tief in ihrem Unterbewusstsein schlummernder Verdacht an die Oberfläche drang. Nicht zum ersten Mal war sie aufgewacht, um den Wagen ihres Mannes fortfahren zu sehen und eine Nachricht zu finden, die besagte, dass er zurück an die Arbeit gegangen war.
Sidney bereitete den Tee vor, dann, aus einem plötzlichen Impuls heraus, rannte sie die Treppe zum Badezimmer hinauf. Im Spiegel betrachtete sie ihr Gesicht. Es wirkte etwas voller als bei der Hochzeit. Unvermittelt schlüpfte sie aus dem Nachthemd und der Unterwäsche. Von vorn, von der Seite und schließlich von hinten musterte sie sich, wobei sie einen Handspiegel hochhielt, um diesen deprimierendsten aller Blickwinkel besonders kritisch zu prüfen. Die Schwangerschaft hatte ihre Spuren hinterlassen. Wohl hatte sich der Bauch recht gut erholt, der Po hingegen war eindeutig schlaffer als früher, was nach einer Geburt ganz normal schien. Zeigten ihre Brüste erste Anzeichen eines Hängebusens? Auch die Hüften wirkten ein wenig breiter als früher. Mit unruhigen Fingern betastete sie die paar Millimeter zusätzlicher Haut unter dem Kinn, als unerwartet eine heftige Depression über sie kam. Jasons Körper war noch so stahlhart wie damals, als sie begonnen hatten, miteinander auszugehen. Die erstaunlichen körperlichen Eigenschaften und das zeitlos gute Aussehen ihres Mannes stellten lediglich einen Teil des überaus attraktiven Gesamtbildes dar, zu dem auch ein bemerkenswerter Intellekt gehörte. Ein Gesamtbild, das auf jede Frau, die Sidney kannte, unglaublich anziehend wirken musste - und gewiss auch auf manche, die sie nicht kannte. Während sie die Züge um die Kieferpartie nachfuhr, schnappte sie nach Luft, als sie begriff, was sie gerade tat. Eine höchst intelligente, angesehene Anwältin begutachtete sich wie ein Stück Fleisch, wie es Generationen von Männern mit Frauen zu tun pflegten.
Rasch zog sie das Nachthemd wieder an. Sie war attraktiv. Jason liebte sie. Er war ins Büro gefahren, um einige Dinge aufzuarbeiten. Seine Karriere entwickelte sich steil nach oben. Schon bald würden sich ihrer beider Träume erfüllen. Er wollte eine eigene Firma gründen; sie wollte ganztägig als Mutter für Amy und die weiteren Kinder da sein, die sie sich noch wünschten. Das mochte vielleicht nach einer Fernsehserie aus den fünfziger Jahren klingen, doch das störte die Archers nicht; denn genau das ersehnten sie sich. Und Jason, davon war sie felsenfest überzeugt, arbeitete in diesem Augenblick wie ein Wilder, um sie dem gemeinsamen Ziel näherzubringen.
Etwa zu der Zeit, als Sidney ins Bett schlüpfte, hielt Jason Archer an einer Telefonzelle an und wählte eine Nummer, die er sich vor geraumer Zeit eingeprägt hatte. Am anderen Ende der Leitung wurde sofort abgenommen.
»Hallo, Jason.«
»Hören Sie, diese Geschichte muss bald ein Ende haben. Lange stehe ich das nicht mehr durch.«
»Haben Sie wieder Albträume?« Der Stimme gelang es, gleichsam mitfühlend wie herablassend zu klingen.
»Sie meinen, Albträume kommen und gehen. Nur hab’ ich ständig welche«, antwortete Jason kurz angebunden.
»Es dauert nicht mehr lange.« Nun hörte sich die Stimme beruhigend an.
»Sind Sie sicher, dass mir niemand auf die Schliche gekommen ist? Ich hab’ so ein komisches Gefühl. Als würde jeder mich beobachten.«
»Das ist ganz normal, Jason. Geht jedem so. Wären Sie in Gefahr, so wüssten wir das. Vertrauen Sie mir; ich habe das alles schon durchgemacht.«
»Ich vertraue Ihnen ja. Ich hoffe nur, mein Vertrauen ist nicht fehl am Platz.« Jasons Stimme klang zunehmend angespannter. »Ich bin kein Profi in solchen Dingen. Verdammt noch mal, das zehrt ganz schön an den Nerven.«
»Dafür haben wir durchaus Verständnis. Aber rasten Sie uns jetzt bloß nicht aus! Wie ich bereits sagte, es ist fast vorüber. Noch ein paar Dinge, dann treten Sie offiziell in den Ruhestand.«
»Wissen Sie, ich verstehe nicht, warum das noch nicht reicht, was ich Ihnen bereits beschafft habe.«
»Jason, es ist nicht Ihre Aufgabe, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Wir müssen noch ein bisschen tiefer graben, und das haben Sie ganz einfach zu akzeptieren. Aber nur Mut. Wir sind alles andere als Anfänger auf diesem Gebiet. Halten Sie sich nur an die Anweisungen, dann geht alles in Ordnung. Alle werden zufrieden sein.«
»Nun, ich für meinen Teil werde heute Nacht fertig, darauf können Sie Gift nehmen. Erfolgt die Übergabe wie bisher?«
»Nein. Diesmal wird es eine persönliche Übergabe.«
Jasons Tonfall verriet Überraschung. »Warum?«
»Wir nähern uns dem Ende, und in diesem Stadium könnte jeder Fehler die gesamte Operation gefährden. Zwar haben wir keinen Grund zu der Annahme, dass man Ihnen auf den Fersen ist, aber wir können nicht ausschließen, dass wir beobachtet werden. Bedenken Sie, dass wir alle ein Risiko auf uns nehmen. Für gewöhnlich geht bei Übergaben nichts schief; ein gewisser Unsicherheitsfaktor bleibt aber trotzdem immer. Durch eine persönliche Übergabe an einem abgeschiedenen Ort und mit neuen Leuten lässt sich dieser Unsicherheitsfaktor ausschalten, so einfach ist das. Das ist auch für Sie sicherer. Und für Ihre Familie.«
»Meine Familie? Was hat meine Familie damit zu tun?«
»Stellen Sie sich nicht blöd, Jason. Hier steht einiges auf dem Spiel. Wir haben Ihnen die Gefahren von Anfang an erklärt. Wir leben in einer gewalttätigen Welt. Verstanden?«
»Hören Sie –«
»Alles wird gut gehen. Befolgen Sie nur die Anweisungen Wort für Wort. Wort für Wort.« Auf dem letzten Satz lag eine besondere Betonung. »Sie haben doch niemandem etwas erzählt, oder? Vor allem nicht Ihrer Frau?«
»Nein. Was sollte ich schon sagen? Wer würde mir schon glauben?«
»Sie wären überrascht. Vergessen Sie nicht: Jeder, den Sie einweihen, schwebt genauso in Gefahr wie Sie.«
»Erzählen Sie mir doch etwas, das ich noch nicht weiß. Wie sehen die Einzelheiten der Übergabe aus?«
»Nicht jetzt. Bald. Über die üblichen Kanäle. Halten Sie durch, Jason. Wir sind bald am Ende des Tunnels.«
»Ja, ich hoffe nur, das verfluchte Ding stürzt nicht vorher über mir ein.«
Als Antwort ertönte ein kurzes Kichern, dann war die Leitung tot.
Jason zog den Daumen aus dem Fingerabdruckscanner, sprach seinen Namen in ein kleines, an der Wand montiertes Mikrofon und wartete geduldig, während der Computer Daumenabdruck und Stimmuster mit denen verglich, die in der gewaltigen Datenbank gespeichert waren. Lächelnd nickte er dem uniformierten Wachmann zu, der an einem großen Kontrollpult in der Mitte des Empfangsbereichs der siebenten Etage saß. Hinter dem breiten Rücken des Mannes hing in dreißig Zentimeter großen silbernen Lettern der Name »Triton Global« an der Wand.
»Zu schade, dass Sie mich nicht einfach reinlassen dürfen, Charlie. Sie wissen schon, von Mensch zu Mensch.«
Charlie war ein großer Schwarzer Anfang Sechzig, der über einen kahlen Schädel und immense Schlagfertigkeit verfügte.
»Teufel auch, Jason, woher soll ich wissen, ob Sie nicht Saddam Hussein in Verkleidung sind. Heutzutage kann man sich nicht mehr auf Äußerlichkeiten verlassen. Hübscher Pullover übrigens, Saddam.« Charlie kicherte. »Außerdem, wie könnte diese riesige, hoch entwickelte Firma je dem Urteilsvermögen eines unbedeutenden alten Nachtwächters wie mir vertrauen, wo sie doch all den Krempel hat, der feststellt, wer wer ist. Computer regieren die Welt, Jason. Die traurige Wahrheit ist, dass Menschen da einfach nicht mehr mithalten können.«
»Nicht so niedergeschlagen, Charlie. Die Technik hat auch ihre Vorteile. He, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Warum tauschen wir beide nicht eine Weile die Plätze? Dann erleben Sie auch mal die guten Seiten.« Jason grinste.
»Sicher, Jason. Ich spiele mit dem ganzen millionenteuren Zeug rum, und Sie durchstöbern alle dreißig Minuten auf der Suche nach den bösen Jungs die Toiletten. Ich werd’ Ihnen noch nicht mal ‘ne Leihgebühr für die Uniform berechnen. Aber wenn wir schon die Plätze wechseln, müssen wir natürlich auch die Gehaltsschecks tauschen. Ich möchte doch nicht, dass Ihnen die stattliche Summe von sieben Dollar die Stunde durch die Lappen geht. Das wäre ungerecht.«
»Sie sind ausgekochter, als gut für Sie ist, Charlie.«
Charlie lachte und wandte sich wieder den zahlreichen in die Konsole eingebauten Bildschirmen zu.
Als die massive Tür auf gut geölten Angeln flüsterleise aufschwang, verschwand das Lächeln abrupt von Jasons Lippen. Er trat durch die Öffnung. Während er den Flur entlangschritt, holte er etwas aus der Manteltasche hervor. Der Gegenstand wies die Größe und Form einer gewöhnlichen Kreditkarte auf und bestand ebenso aus Plastik.
Vor einer weiteren Tür blieb Jason stehen. Die Karte passte genau in den Schlitz einer an der Tür montierten Metallbox. Geräuschlos trat der in die Karte eingebettete Mikrochip mit seinem an der Tür befestigten Gegenstück in Verbindung. Viermal tippte Jasons Zeigefinger auf den daneben befindlichen Ziffernblock. Ein deutlich vernehmbares Klicken ertönte. Jason umfasste den Türknauf, drehte ihn herum, und die sechs Zentimeter dicke Tür schwang nach innen in die Dunkelheit auf.
Als die Beleuchtung anging, stand Jason kurz im Lichtkegel an der Tür. Rasch schloss er sie hinter sich. Die beiden Riegel schnappten wieder ein. Während er sich in dem ordentlichen Büro umsah, zitterten seine Hände, und sein Herz hämmerte so laut, dass er überzeugt davon war, man könne es im gesamten Gebäude hören. Dies war nicht das erste Mal. Ganz und gar nicht. Er gestattete sich ein flüchtiges Lächeln bei dem Gedanken, dass es das letzte Mal sein würde. Unabhängig davon, was geschehen würde, es war das letzte Mal. Jeder hatte seine Grenzen, und heute Nacht hatte er seine erreicht.
Jason trat an den Schreibtisch, setzte sich davor und schaltete den Computer ein. Am Monitor war ein Mikrofon mit einem langen, biegsamen Metallhals angebracht, mittels dessen mündliche Befehle eingegeben werden konnten. Ungeduldig schob er das Ding beiseite, damit er freie Sicht auf den Bildschirm hatte. Mit kerzengeradem Rücken saß er da, die Augen starr auf den Monitor gerichtet; die Hände lauerten über der Tastatur. Nun war er eindeutig in seinem Element. Wie ein Pianist in Höchstform ließ er die Finger über die Tasten wirbeln. Flüchtig spähte er auf den Bildschirm, der Anweisungen an ihn zurückgab – Anweisungen, die er längst in- und auswendig kannte.
Auf dem am Prozessorgehäuse montierten Ziffernblock gab Jason vier Ziffern ein. Danach beugte er sich vor und blickte starr an eine Stelle in der rechten oberen Ecke des Bildschirms. Jason wusste, dass soeben eine Videokamera seine rechte Netzhaut aufgezeichnet hatte und einen Schwall einzigartiger Erkennungsmerkmale seines Auges an eine zentrale Datenbank weiterleitete, die ihrerseits das Bild mit den dreißigtausend in dieser Datei gespeicherten verglich. Der ganze Vorgang dauerte kaum fünf Sekunden. So sehr Jason Archer sich auch an die beständig wachsenden Möglichkeiten der Technik gewöhnt hatte, selbst er musste gelegentlich den Kopf darüber schütteln, was tatsächlich schon alles im Einsatz war. Netzhautscanner wurden außerdem verwendet, um ununterbrochen die Produktivität der Angestellten zu überwachen. Jason verzog das Gesicht. In Wahrheit hatte Orwell die Zukunft eher noch unterschätzt.
Er wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Gerät vor sich zu. Die nächsten zwanzig Minuten lang bearbeitete Jason die Tastatur und hielt nur inne, wenn eine weitere Datenflut über den Monitor blitzte. Das System war schnell, dennoch musste es sich mächtig ins Zeug legen, um mit der Geschwindigkeit Schritt zu halten, mit der Jason die Befehle eingab.
Unwillkürlich riss er den Kopf herum, als aus dem Korridor ein Geräusch hereindrang. Wieder dieser verdammte Traum! Wahrscheinlich nur Charlie, der seine Runden drehte.
Jason betrachtete den Monitor. Viel förderte er nicht zutage. Reine Zeitverschwendung. Auf einen Bogen Papier schrieb er eine Liste von Dateinamen, schaltete den Computer aus, erhob sich und ging zur Tür. Dort hielt er inne und presste das Ohr gegen das Holz. Zufrieden drehte er den Knauf, öffnete die Tür und machte das Licht aus, ehe er die Tür hinter sich zuzog. Ein Augenzwinkern später schnappten die Riegel automatisch wieder ein.
Rasch lief er den Flur entlang, bis er schließlich am anderen Ende des Ganges in einem wenig benutzten Bereich des Bürotrakts anhielt. Die vor ihm befindliche Tür wies ein gewöhnliches Schloss auf, das Jason mit einem speziellen Werkzeug fachmännisch öffnete. Dann trat er ein und sperrte die Tür hinter sich ab.
Die Zimmerbeleuchtung schaltete er nicht ein. Statt dessen kramte er eine handliche Taschenlampe aus seinem Mantel hervor. Die Computeranlage befand sich in der gegenüber liegenden Ecke des Raumes, neben einem niedrigen Aktenschrank, auf dem sich einen Meter hoch Kartonschachteln türmten.
Jason zog den Computertisch von der Wand weg. Hinter dem Tisch hingen Kabel von der Zentraleinheit des Computers hinab. Er kniete sich nieder und ergriff die Kabel, gleichzeitig schob er einen neben dem Tisch stehenden Aktenschrank beiseite, wodurch an der Wand dahinter mehrere Anschlüsse für Datenleitungen zum Vorschein kamen. Jason steckte ein Datenkabel des Computers ein und vergewisserte sich, dass es fest saß. Dann nahm er vor dem Gerät Platz und schaltete es ein.
Während die Maschine zum Leben erwachte, legte Jason die Taschenlampe auf den Deckel einer Schachtel, so dass der Lichtkegel unmittelbar auf die Tastatur schien. An diesem Computer gab es keinen Ziffernblock für die Eingabe eines Zugriffscodes. Ebenso wenig musste Jason in die rechte obere Ecke des Bildschirms blicken und eine positive Identifizierung abwarten. Soweit es Tritons Computernetzwerk anging, durfte dieses Terminal eigentlich überhaupt nicht existieren.
Er holte den Bogen Papier aus der Tasche und legte ihn ins Licht der Lampe. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung vor der Tür. Mit angehaltenem Atem verbarg er die Taschenlampe in der Achselhöhle, bevor er sie ausschaltete. Daraufhin verdunkelte er den Monitor, bis alles auf dem Schirm schwarz wurde. Minutenlang hockte Jason reglos in der Dunkelheit. Ein Schweißtropfen bildete sich auf seiner Stirn und bahnte sich träge einen Weg über die Nase, ehe er an der Oberlippe zur Ruhe kam. Jason war zu verängstigt, um ihn wegzuwischen.
Nach fünf Minuten Stille reaktivierte er sowohl die Taschenlampe als auch den Bildschirm und nahm die Arbeit wieder auf. Einmal gestattete er sich ein Grinsen, als eine besonders hartnäckige Brandschutzmauer – ein internes Sicherheitssystem gegen unbefugte Zugriffe auf elektronische Datenbanken – unter seinen beharrlichen Angriffen zerbröckelte. Wie ein Besessener arbeitete er jetzt und gelangte bald ans Ende der Dateiliste auf dem Zettel. Jason griff in die Manteltasche und holte eine Dreieinhalb-Zoll-Diskette daraus hervor, die er in das Laufwerk des Computers schob. Ein paar Minuten später zog er sie wieder heraus, schaltete das Gerät aus und verließ das Büro.
Durch das Labyrinth der Sicherheitskontrollen erreichte er den Ausgang, verabschiedete sich von Charlie und trat hinaus in die Nacht.
Das Mondlicht, das durch das Fenster flutete, verlieh bestimmten Gegenständen in dem dunklen, geräumigen Zimmer Gestalt. Auf einer langen, stabilen Kommode aus Kiefernholz standen in drei Reihen gerahmte Fotos. Auf einem Bild in der hinteren Reihe lehnte sich Sidney Archer in einem dunkelblauen Kostüm an eine auf Hochglanz polierte silberne Jaguar-Limousine. Neben ihr lächelte Jason Archer in die Kamera. Er trug Hosenträger und ein Frackhemd und blickte Sidney verliebt in die Augen. Ein weiteres Foto zeigte dasselbe Paar, diesmal leger gekleidet, vor dem Eiffelturm, mit nach oben deutenden Fingern und spontanem Lachen auf den Gesichtern.
In der mittleren Reihe befand sich ein Bild, auf dem Sidney sich einige Jahre älter in einem Krankenhausbett präsentierte, mit aufgedunsenem Gesicht und nassem Haar, das ihr am Kopf klebte. In den Armen hielt sie ein winziges Bündel mit zusammengekniffenen Augen. Auf dem Foto daneben war Jason zu erkennen, mit schläfrigem Blick, unrasiert und nur mit einem T-Shirt und Looney-Tunes-Boxershorts bekleidet. Er lag am Boden, und das kleine Mädchen, nunmehr mit weit geöffneten, strahlend blauen Augen, lag als kleines, zufriedenes Bündel auf der Brust des Vaters.
Das mittlere Foto in der vordersten Reihe war eindeutig an Halloween aufgenommen worden. Das kleine Bündel war mittlerweile zwei Jahre alt und als Prinzessin verkleidet, einschließlich Diadem und Pumps. Mutter und Vater standen stolz dahinter, die Augen in die Kamera gerichtet, die Hände auf Amys Schultern und Rücken gelegt.
In dem Doppelbett in der Mitte des Raumes lagen Jason und Sidney. Unruhig wälzte Jason sich hin und her. Eine Woche lag sein letzter nächtlicher Besuch im Büro nun zurück. Endlich war die Belohnung in greifbare Nähe gerückt, und die Aussicht darauf ließ ihn an Schlaf gar nicht denken. An der Zimmertür stand eine vollbepackte, große und außergewöhnlich hässliche Segeltuchtasche mit blauen Kreuzstreifen und den Initialen JWA, daneben ein schwarzer Metallkoffer. Der Wecker auf dem Nachtkästchen sprang auf zwei Uhr morgens. Sidneys langer, schlanker Arm schob sich unter der Decke hervor, schlang sich um Jasons Kopf und begann, ihm die Haare zu zerzausen.
Sidney stützte sich auf den Ellbogen und spielte weiter in den Haaren ihres Mannes, während sie näher an ihn heranrückte, bis ihre Konturen mit seinen verschmolzen. Das hauchdünne Nachthemd lag eng an. »Schläfst du?«, flüsterte sie. Im Hintergrund durchbrach nur das Ächzen und Stöhnen des alten Hauses die Stille.
Jason rollte sich zur Seite und betrachtete seine Frau. »Nicht richtig.«
»Das hab’ ich gemerkt – du hast dich dauernd rumgewälzt. Manchmal macht ihr das im Schlaf. Du und Amy.«
»Ich hoffe, ich habe nicht im Schlaf geredet. Schließlich will ich keine Geheimnisse ausplaudern.« Er lächelte matt.
Sie ließ die Hand zu seinem Gesicht hinabsinken, um es zärtlich zu streicheln. »Ich nehme an, jeder Mensch braucht ein paar Geheimnisse, obwohl wir eigentlich vereinbart hatten, keine voreinander zu haben.« Sidney lachte kurz, doch es klang freudlos. Einen Augenblick öffnete Jason den Mund, als wollte er etwas sagen, schloss ihn jedoch rasch wieder, streckte die Arme und warf einen Blick auf die Uhr. Als er sah, wie spät es war, seufzte er. »Himmel, ich könnte genauso gut gleich aufstehen. Das Taxi kommt um halb sechs.«
Sidney schaute hinüber zum Gepäck an der Tür und runzelte die Stirn. »Diese Reise kommt wirklich aus heiterem Himmel, Jason.«
Jason mied ihren Blick. »Ich weiß. Hab’ selbst erst gestern Nachmittag davon erfahren. Aber wenn der Boss sagt ›spring‹, dann hüpfe ich.«
Nun seufzte Sidney. »Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem wir beide gleichzeitig aus der Stadt sind.«
Ein besorgter Tonfall schlich sich in Jasons Stimme, als er sie anblickte. »Aber mit dem Kindergarten ist doch alles geregelt?«
»Ich musste mich darum kümmern, dass jemand länger dort bleibt, aber das war kein Problem. Trotzdem, du bist nicht länger als drei Tage weg, oder?«
»Drei Tage, nicht mehr, Sid. Das versprech’ ich dir.« Heftig rieb er sich die Kopfhaut. »Du hast keine Möglichkeit gefunden, dich vor der Reise nach New York zu drücken?«
Sidney schüttelte den Kopf. »Für Anwälte gibt es keine Entschuldigung. Das steht bei Tyler, Stone nicht im Handbuch für produktive Mitarbeiter.«
»Himmel, du erledigst in drei Tagen mehr Arbeit als die meisten anderen in fünf.«
»Tja, Schatz, dir brauche ich das wohl nicht zu sagen, aber in unserem Laden zählt nun mal, was man heute für jemanden tun kann und noch wichtiger morgen und am Tag danach und so weiter.«
Jason setzte sich auf. »Genau wie bei Triton. Aber da die Firma im High-Tech-Bereich tätig ist, reichen die Erwartungen bis ins nächste Jahrtausend. Eines Tages bringen wir unsere Schäfchen ins Trockene. Vielleicht schon heute.« Er sah sie an.
Sie schüttelte den Kopf. »Sicher. Während du im Stall auf die Viecher wartest, löse ich weiterhin die Gehaltsschecks ein und zahle unsere Schulden. Abgemacht?«
»In Ordnung. Aber manchmal muss man eben optimistisch in die Zukunft schauen.«
»Da wir gerade von der Zukunft reden, hast du schon mal daran gedacht, an einem weiteren Baby zu arbeiten?«
»Ich bin mehr als bereit dazu. Wenn’s beim nächsten so läuft wie bei Amy, dürfte das eine meiner leichtesten Übungen werden.«
Sidney presste sich liebevoll an ihn, insgeheim froh, dass er keine Einwände dagegen erhob, die Familie zu erweitern. Würde er sich tatsächlich mit einer anderen Frau treffen …? »Das gilt vielleicht für dich, du männliche Hälfte dieser Gleichung«, meinte sie und schubste ihn.
»Tut mir leid, Sid. Typischer Spruch eines gehirnamputierten Machos. Wird nicht wieder vorkommen, Ehrenwort.«
Sidney legte sich zurück auf ihr Kissen und starrte an die Decke, während sie zärtlich seine Schulter rieb. Noch vor drei Jahren wäre es für sie überhaupt nicht vorstellbar gewesen, ihre juristische Tätigkeit aufzugeben. Nun erschien ihr sogar die Teilzeitbeschäftigung zu störend für ihr Leben mit Amy und Jason. Sie sehnte sich nach völliger Freiheit, mit ihrem Kind zusammen zu sein – einer Freiheit, die sie sich nur von Jasons Gehalt noch nicht leisten konnten, auch nicht nach all den Ausgabenkürzungen, zu denen sie sich aufgerafft hatten; standhaft trotzten sie dem typisch amerikanischen Drang, ebenso viel auszugeben, wie sie verdienten. Aber wer konnte sagen, wie die Dinge sich entwickelten, wenn Jason weiterhin die Karriereleiter bei Triton hinaufkletterte? Sidney hatte stets nach finanzieller Unabhängigkeit gestrebt. Sie betrachtete ihren Mann. Wenn sie ihr wirtschaftliches Überleben schon einem Menschen in die Hände legte, konnte es dafür einen besseren geben als den Mann, den sie fast seit jenem Augenblick liebte, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte? Während sie ihn ansah, trat ihr ein feuchter Schimmer in die Augen. Sie setzte sich auf und beugte sich zu ihm hinüber.
»Nun, zumindest kannst du ein paar alte Freunde besuchen, wenn du schon in Los Angeles bist – nur lass bitte die Freundinnen aus!« Neckisch zerzauste sie ihm das Haar. »Aber eigentlich könntest du mich gar nicht verlassen – mein Vater würde dich bis ans Ende der Welt verfolgen.« Bedächtig ließ sie den Blick über seinen nackten Oberkörper, die straffen Bauchmuskeln gleiten. Auch unter der Haut an den Schultern traten Muskelstränge hervor. Abermals musste Sidney daran denken, was für ein Glück sie gehabt hatte, Jason Archers Weg zu kreuzen. Zudem wusste sie ohne jeden Zweifel, dass sich ihr Mann für den Glücklichen hielt, weil er sie gefunden hatte. Er antwortete nicht, sondern starrte ins Leere. »Weißt du«, fuhr sie fort, »in letzter Zeit hast du wirklich verdammt hart gearbeitet – warst zu jeder Tages- und Nachtzeit im Büro, hast mir mitten in der Nacht Zettel hingelegt. Ich vermisse dich.« Spielerisch schubste sie ihn mit der Hüfte. »Du hast doch nicht vergessen, wie schön es ist, nachts zu kuscheln, oder?«
Er küsste sie auf die Wange.
»Außerdem hat Triton einen Haufen Angestellte. Du musst nicht alles alleine machen«, fügte sie hinzu.
Als er sie anblickte, erkannte sie in seinen Augen Spuren tiefer Erschöpfung. »Sollte man eigentlich meinen, was?«
Sidney seufzte. »Wenn die Übernahme von CyberCom abgeschlossen ist, wirst du wahrscheinlich mehr denn je zu tun haben. Vielleicht sollte ich das Projekt sabotieren. Schließlich bin ich Tritons führende Anwältin.« Sie grinste.
Halbherzig lächelte er. Mit den Gedanken war er jedoch eindeutig woanders.
»Das Treffen in New York dürfte auf jeden Fall interessant werden.«
Plötzlich wandte er ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. »Wieso das?«
»Weil wir uns wegen der CyberCom-Übernahme treffen. Sowohl Nathan Gamble als auch dein Kumpel Quentin Rowe werden da sein.«
Langsam wich alle Farbe aus dem Gesicht ihres Mannes. »Ich … ich dachte, bei der Besprechung ginge es um das Bel-Tek-Angebot«, stammelte er.
»Nein, davon wurde ich vor einem Monat abgezogen, damit ich mich ganz auf den Fall CyberCom konzentrieren kann. Ich dachte, das hätte ich dir erzählt.«
»Warum findet das Treffen in New York statt?«
»Nathan Gamble hält sich diese Woche dort auf. Ihm gehört ein Penthouse am Park. Milliardäre kriegen ihren Willen. Also düse ich nach New York.«
Jason setzte sich auf; er wirkte so bleich, dass sie dachte, er müsste sich übergeben.
»Jason, was ist denn los?« Sie packte ihn an der Schulter.
Endlich bekam er sich wieder in den Griff und wandte sich ihr zu. Sein Gesichtsausdruck beunruhigte sie zutiefst, standen doch vor allem Schuldgefühle darin geschrieben.
»Sid, eigentlich reise ich gar nicht für Triton nach L. A.«
Sie zog die Hand von seiner Schulter zurück und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Jeder Verdacht, den sie während der letzten Monate verdrängt hatte, brach plötzlich wieder an die Oberfläche. Ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. »Was soll das heißen, Jason?«
»Das soll heißen –« Er atmete tief durch und ergriff ihre Hand. »Das soll heißen, dass es sich um keine Dienstreise handelt.«
»Um was genau handelt es sich dann?«, verlangte sie mit hochrotem Gesicht zu erfahren.
»Um eine Reise für mich, für uns! Sie ist für uns, Sidney.«
Mit grimmiger Miene lehnte sie sich gegen das Kopfteil und faltete die Arme vor der Brust. »Jason, du wirst mir erklären, was los ist, und zwar auf der Stelle.«
Mit niedergeschlagenem Blick zupfte er an der Decke herum. Sie nahm sein Kinn in die Hand und bedachte ihn mit einem forschenden Blick. »Jason?« Seinen inneren Kampf spürend, wartete sie einen Augenblick. »Stell dir vor, wir hätten Weihnachten, Liebling.«
Er seufzte. »Ich fliege nach L. A., um mich bei einer anderen Firma vorzustellen.«
Sie zog die Hand weg. »Was?«
Hastig fuhr er fort. »AllegraPort Technology. Einer der weltweit größten Produzenten von Spezial-Software. Sie haben mir … nun, sie haben mir den Posten des Vizepräsidenten angeboten und möchten mich über kurz oder lang ganz an der Spitze sehen. Dreimal so viel Gehalt wie jetzt, eine gewaltige Prämie am Jahresende, Aktienoptionen, einen wundervollen Altersvorsorgeplan – alles, was das Herz begehrt, Sid. Ein wahrer Volltreffer.«
Sogleich hellte sich Sidneys Gesicht auf. Erleichtert entspannte sie die verkrampften Schultern. »Das war dein großes Geheimnis? Jason, das ist doch wunderbar. Warum hast du es mir nicht schon früher erzählt?«
»Ich wollte dich in keine unangenehme Lage bringen. Schließlich bist du Tritons Anwältin. Die Nächte im Büro? Da habe ich versucht, meine Arbeit fertigzubringen. Ich wollte die Firma nicht hängen lassen. Triton ist ein mächtiges Unternehmen; ich möchte kein böses Blut zum Abschied.«
»Liebling, es gibt kein Gesetz, das dir verbietet, zu einer anderen Firma zu wechseln. Man würde sich für dich freuen.«
»Sicher!« Der sarkastische Tonfall verwirrte sie einen Augenblick, doch er berichtete eilig weiter, bevor sie nachhaken konnte: »AllegraPort würde auch für die Umzugskosten aufkommen. Wir werden mit diesem Haus sogar noch einen hübschen Gewinn herausschlagen – genug, um alle Schulden zu bezahlen.«
Sidney versteifte sich. »Umzug?«
»Die Zentrale befindet sich in Los Angeles. Da müssten wir hinziehen. Aber wenn du nicht willst, dass ich das Angebot annehme, werde ich deine Entscheidung respektieren.«
»Jason, du weißt doch, dass die Kanzlei in L. A. eine Niederlassung hat. Das wäre perfekt.« Abermals lehnte sie sich gegen das Kopfteil und starrte an die Decke. Dann schaute sie augenzwinkernd zu ihm hinüber. »Mal sehen, mit deinem dreifachen Gehalt, dem Gewinn, den wir mit dem Haus erzielen, und wenn wir die Aktien verscherbeln, kann ich vielleicht schon ein bisschen früher Ganztagsmutter werden, als ich dachte.« Er lächelte, als sie ihn überschwänglich umarmte. »Deshalb war ich so überrascht, als du mir erzählt hast, dass du zu einer Besprechung mit Triton musst.«
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Die glauben, ich hätte mir frei genommen, um ein paar Arbeiten rund ums Haus zu erledigen.«
»Oh. Verstehe. Mach dir keine Sorgen, Liebling. Ich sage schon nichts. Wie du weißt, gibt es ein Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant – und dann gibt es da noch ein wesentlich bedeutenderes Vertrauensverhältnis zwischen einer liebeshungrigen Ehefrau und ihrem großen, attraktiven Mann.« Ihre sanften Augen blickten in seine, und sie schmiegte die Lippen an seine Wange.
Jason schwang die Beine über die Bettkante. »Danke, mein Schatz. Ich bin froh, dass ich es dir erzählt habe.« Jason zuckte die Schultern. »Tja, eigentlich kann ich gleich unter die Dusche springen. Vielleicht erledige ich noch ein paar Dinge, bevor ich abreise.«
Ehe er aufstehen konnte, umklammerte sie mit den Armen seine Hüfte.
»Ich würde dir liebend gerne dabei helfen, etwas zu erledigen, Jason.«
Er wandte ihr das Gesicht zu und betrachtete sie. Sie war nackt. Das Nachthemd hing über dem Fußteil. Ihre wohlgeformten Brüste pressten gegen seinen Rücken. Grinsend ließ er die Hand über ihren glatten Rücken wandern und umfasste genießerisch den weichen Po.
»Ich hab’s ja schon immer gesagt, du hast den großartigsten Hintern der Welt, Sid.«
Sie grunzte. »Ein bisschen zu gut gepolstert, finde ich. Aber daran arbeite ich.«
Seine starken Arme glitten unter ihre Achseln und zogen sie hoch, so dass sie sich beide unmittelbar in die Augen blickten. Sein Mund bildete eine ernste Linie. »Du bist heute schöner als je zuvor, Sidney Archer, und ich liebe dich von Tag zu Tag mehr.« Er sprach die Worte bedächtig und zärtlich, und sie brachten Sidney zum Erbeben, so wie immer. Doch es waren nicht die Worte, die sie derart berührten. Dergleichen konnte man auf jeder Grußkarte lesen. Es war die Art und Weise, wie er sie aussprach – die absolute Überzeugung in seiner Stimme, die Augen, seine Berührungen auf ihrer Haut.
Abermals blickte Jason auf die Uhr und lächelte verschmitzt. »In drei Stunden muss ich los, um das Flugzeug zu erwischen.«
Sie schlang den Arm um seinen Hals und zog ihn auf sich. »In drei Stunden kann viel passieren.«
Zwei Stunden später, die Haare vom Duschen nass, ging Jason Archer den Flur in seinem Haus entlang und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer. Der Raum war als Heimbüro eingerichtet und verfügte über einen Computer, Aktenschränke, einen hölzernen Schreibtisch und zwei niedrige Bücherregale. Damit war das Zimmer zwar ziemlich vollgepfropft, aber alles hatte seine Ordnung. Ein kleines Fenster gab den Blick auf die draußen herrschende Dunkelheit frei.
Jason schloss die Tür zu seinem Büro, holte einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade und sperrte die oberste Lade des Aktenschrankes auf. Er hielt inne und lauschte. Selbst in den eigenen vier Wänden war ihm das zur Gewohnheit geworden, wie ihm plötzlich zu Bewusstsein kam, und es beunruhigte ihn.
Seine Frau hatte sich wieder hingelegt. Zwei Türen weiter schlief Amy wie ein Murmeltier. Jason griff in die Lade und holte behutsam einen großen, altmodischen Lederaktenkoffer mit Doppellaschen, Messingschnallen und abgegriffener Hochglanzoberfläche heraus. Er öffnete den Koffer und nahm eine leere Diskette daraus hervor. Die Anweisungen, die er erhalten hatte, waren präzise: alles auf eine Diskette kopieren, einen Ausdruck der Dokumente anfertigen, danach alles andere vernichten.
Er legte die Diskette in das Laufwerk ein und kopierte darauf das gesamte Material, das er gesammelt hatte. Nachdem er damit fertig war, schwebte sein Finger über der Löschtaste, um den Anweisungen zu folgen und alle entsprechenden Dateien von der Festplatte zu entfernen.
Doch plötzlich geriet er ins Wanken, und letztlich beschloss er, lieber seinem Instinkt zu folgen.
Eine Kopie der Diskette anzufertigen dauerte nur ein paar Minuten. Danach löschte er die Dateien von der Festplatte. Nachdem er den Inhalt der zweiten Diskette einige Augenblicke lang auf dem Bildschirm überprüft hatte, nahm Jason sich noch die Zeit, einige zusätzliche Funktionen mit dem Computer auszuführen. Während er auf den Monitor starrte, verwandelte sich der Text mit einem Schlag in Kauderwelsch. Er speicherte die Änderungen, schloss die Datei, holte die Diskette aus dem Laufwerk und steckte sie in einen kleinen, gepolsterten Umschlag, den er tief in einer Seitentasche des Lederkoffers verbarg. Dann fertigte er, gemäß den Anweisungen, einen Ausdruck des Inhalts der Originaldiskette an und steckte die Diskette mitsamt dem Ausdruck ins Hauptfach des Koffers.
Als Nächstes holte er seine Brieftasche hervor und entnahm ihr die Plastikkarte, die er zuvor benutzt hatte, um in sein Büro zu gelangen. Die würde er nun nicht mehr brauchen. Achtlos warf er sie in die Schreibtischschublade, die er daraufhin verschloss.
Während er den Aktenkoffer betrachtete, waren seine Gedanken weit entfernt von dem kleinen Zimmer. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, seine Frau belügen zu müssen. Das hatte er noch nie getan. Dieses Gefühl, ein Heuchler zu sein, widerstrebte ihm besonders. Aber es war fast vorbei. Beim Gedanken an all die Gefahren, die er auf sich genommen hatte, erschauerte Jason. Abermals durchlief ein Zittern seinen Körper, als er sich den Umstand vor Augen führte, dass seine Frau von all dem keinen blassen Schimmer hatte. Im Geiste ging er noch einmal den Plan durch: die Reiseroute, die Täuschungsmanöver, die Decknamen seiner Kontaktleute. Trotz allem begannen seine Gedanken ständig zu wandern. Er blickte aus dem Fenster und schien in weite Ferne zu starren. Die Augen hinter der Brille weiteten sich, als er rasch alle Möglichkeiten durchging. Nach dem heutigen Tag konnte er zum ersten Mal wirklich behaupten, dass die Sache das Risiko wert gewesen war. Aber erst musste er den heutigen Tag überleben.
Die Dunkelheit, die über dem Internationalen Flughafen Dulles hing, sollte schon bald vom rasch herannahenden Morgengrauen vertrieben werden. Während der neue Tag sich allmählich hervorwagte, fuhr ein Taxi vor das Hauptterminal des Flughafens. Die hintere Tür des Taxis öffnete sich, und heraus stieg Jason Archer. In einer Hand trug er den Lederkoffer, in der anderen den schwarzen Metallkoffer mit seinem Laptop darin. Auf dem Kopf hatte er einen dunkelgrünen, breitkrempigen Hut mit einem Lederband.
Unwillkürlich lächelte Jason, als die Erinnerung an die zärtliche Vereinigung mit seiner Frau in ihm aufstieg. Danach hatten sie beide geduscht, doch der Geruch von kürzlich genossenem Sex verharrte, und hätte er die Zeit dafür gehabt, Jason hätte seine Frau ein zweites Mal geliebt.
Er stellte den Koffer mit dem Computer einen Augenblick ab und langte zurück ins Taxi, um die übergroße Segeltuchtasche vom Sitz zu nehmen, die er sich über die Schulter schlang.
Am Ticketschalter von Western Airlines zeigte Jason seinen Führerschein vor, woraufhin ihm ein Sitzplatz zugewiesen und die Bordkarte übergeben wurde. Außerdem gab er die Segeltuchtasche auf. Danach nahm er sich einen Augenblick Zeit, um den Kragen des kamelfarbenen Mantels hochzuschlagen, den Hut tiefer ins Gesicht zu ziehen und die Krawatte zurechtzurücken, in der goldene, haselnussbraune und lavendelfarbene Spiralen eingewirkt waren. Seine weite Hose war dunkelgrau. Zwar wäre es wohl kaum jemandem aufgefallen, doch die Socken entpuppten sich als weiße Sportsocken, die dunklen Schuhe als Tennisschuhe. Ein paar Minuten später kaufte Jason sich an der Verkaufsstraße des Terminals eine Ausgabe von USA Today und eine Tasse Kaffee. Danach passierte er die Sicherheitskontrolle.
Der Zubringerbus zum mittleren Terminal war zu drei Vierteln voll. Jason stand inmitten von Männern und Frauen, von denen er sich nicht wesentlich unterschied – dunkle Kleidung, bunte Krawatten oder Tücher um den Hals, in den müden Händen Gepäckkarren voller Taschen und Koffer.
Den Lederkoffer gab Jason keine Sekunde aus der Hand. Den Koffer mit dem Computer hatte er sich zwischen die Beine gestellt. Gelegentlich ließ er den Blick durch den Zubringerbus schweifen und musterte die schläfrigen Fahrgäste. Danach wanderten die Augen stets zurück zu seiner Zeitung, während der Bus auf das mittlere Terminal zurollte.
Während er im großen, offenen Wartebereich vor Flugsteig 11 saß, blickte Jason auf die Uhr. Bald würde das Flugzeug zum Einsteigen bereit sein. Er schaute aus dem Panoramafenster, wo eine Reihe von Western-Airlines-Jets, erkennbar an den braunen und gelben Streifen, für den Abflug vorbereitet wurden. Rosarote Schlieren zogen sich über den Himmel, während die Sonne gemächlich aufstieg, um auf die Ostküste herabzuscheinen. Draußen drückte der Wind heftig gegen das dicke Glas. Mit eingezogenen Schultern kämpften sich Arbeiter der Fluggesellschaft gegen die unsichtbare Naturgewalt voran. Schon bald würde der Winter mit aller Härte einsetzen und die ganze Region bis zum nächsten April mit Wind, Schnee und Eis überziehen.